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DoKoLL, 14. März 2013
Diversität als Herausforschung für Unterricht, Schule und Lehrerbildung
- Zentrale Konzepte und ausgewählte Befunde
Harry Kullmann
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Gliederung
1. Diversität als Herausforderung
institutionalisierter Bildungsprozesse
2. Ausgewählte Befunde zu Diversitätsfaktoren
3. Inklusion: Bedeutung und Herausforderungen
4. Diskussion und Ideen für das DoKoLL
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Diversität aus der Perspektive der empirischen Bildungsforschung
„Im internationalen Vergleich gibt es kaum leistungshomogenereSekundarschulen alsin Deutschland.“
Es muss die „in Deutschland häufig zu hörende Klage […] über die zu große Leistungsheterogenitätin Sekundarschulen verblüffen.“
(Baumert & Schümer 2001
S. 545)
Zum Ziel einer gerechten Auslese
lautet die Aufgabe für alle gleich: Klettert
auf den Baum!
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Heterogenität der Leistungsfähigkeit –aus Sicht der Schulpraktiker/innen
Zum Ziel einer gerechten Auslese lautet die Aufgabe für
alle gleich: Klettert auf den Baum!
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Diversität und Bildungserfolg
Vielfalt jener Faktoren,
welchen ein Einfluss auf individuelle Bildungsprozesse nachgewiesen werden kann
Heterogenität =Verschiedenartigkeit
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Drei zentrale Faktoren von Diversitätim Hinblick auf Bildungserfolg
Diversität
erworbeneKompetenzen
angeboren herkunftsbedingt
Beispiele: Alter Geschlecht kognitive Grundfähigkeiten
Beispiele: Schulbezogene Unterstützung Bildungssprache Bildungsaspirationen der Peers
Beispiele: Wissen & Können Interesse & Motivation Sozialfähigkeit
Überlagerung der Faktoren:„Katholisches Arbeitermädchen vom Lande“
Überlagerung der Faktoren:
„Junge ohne Deutsch als Muttersprache aus der Großstadt“
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Barometer der Hattie-Studie (2009)
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Diversität als Herausforderunginstitutionalisierter Bildungsprozesse (I)
„Immer wird der Erzieher das Problem aufzulösen haben:
Wie bearbeitest Du den rohen Geist der Jugend am besten?
Wie spornst Du den Trägen?
Wie zäumst Du den Voreiligen? […]
Wie machst Du aus einem jeden Kopf und Herzen, was daraus werden kann?
Welches ist die natürlichste Folge der Ideen, Kenntnisse und Beschäftigungen? […]
Und besonders, wie hast Du dies alles anzufangen bei einem Haufen Kinder,
deren Anlagen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Neigungen, Bestimmungen verschieden sind,
die aber doch in einer und eben derselben Stunde von Dir erzogen werden sollen?“
Ernst Christian Trapp (1745 – 1818)Inhaber des ersten Lehrstuhls für Pädagogik
an der Universität Halle
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Diversität als Herausforderunginstitutionalisierter Bildungsprozesse (II)
Johann Friedrich Herbart (1776-1841)
„Die Verschiedenartigkeit der Köpfe
ist das größte Hindernis der Schulbildung.“ (Herbart 1806)
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Zentrale Herausforderungender Schulsysteme in Deutschland
Schulsystem zu effektiv
- große Risikogruppe(n) - kleine Spitzengruppe (- teuer) Enge Kopplung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg Geringer Bildungserfolg von Schüler/innen mit
Migrationshintergrund Geschlechterunterschiede in Basiskompetenzen UN-Behindertenrechtskonvention (Inklusion)
Demografischer Wandel Öffentliche Finanzen (Haushaltssperre) Neue Steuerungsphilosophie (Standards, VERA)
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Soziale Herkunft und Bildungserfolg
nach der Grundschulempfehlung… oder dem Auswahlgespräch zum Deutschlandstipendium?
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Schulische Ursachen von Disparitäten
(Stubbe et al. 2012)
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Verstärkung sozialer Disparitäten durch die Schule?
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Schulformvergleich, Mathematik bei PISA 2009
(Frey et al. 2010)
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Schulformen als differenzielle Entwicklungsmilieus für schulisches Lernen
Gymnasium
Realschule
GesamtschuleHauptschule
Mathematikleistung (Kontrolliert: Vorwissen, kognitive Fähigkeiten, sozialer Hintergrund)
(MPIB 1996)
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Sozialer Hintergrund Indikator: Bücheranzahl
(Stubbe et al.
2012)
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Jugendliche mit „Migrationshintergrund“
Jugendlicher selbst oder
mindestens ein Elternteil
ist im Ausland geboren
(z.B. Klieme et al. 2010)
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Grundschüler/innen mit „Migrationshintergrund“
(Schwippert et al. 2012)
Unterschied „kein Elternteil“ vs. „beide Elternteile“ 2011: über ein Schuljahr! keine (wesentliche) Entwicklung seit 2001: „uneinheitliche Schwankungen“
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Benachteiligung von Schüler/innen mit Migrationshintergrund
überrepräsentiert bei niedrigen Schulabschlüssen höhere Klassen-Wiederholungsrate, vor allem in der
Grundschule höhere Schulabbrecherquote geringere Kompetenzen in zentralen Domänen Deutsche Besonderheit:
2. Ausländergeneration (in Deutschland geboren)mit schwächeren Leistungen als 1. Generation (selbst nach Deutschland eingewandert)
Fazit: Es liegen „erhebliche Integrationsprobleme“ vor.
(Pisa-Konsortium 2006, 251)
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Bildungserfolg von Mädchen und Jungen
gemäß PISA 2009:
Mädchen mit deutlich höherenKompetenzen im Leseverständnis
Jungen mit höheren Kompetenzenin Mathematik
→ KEIN Lückenschluss für beide Bereiche seit 2000 bzw. 2006→ Länder ohne Unterschiede in Mathematik (z.B. SWE, NZ, J)
Insgesamt kein signifikanter Unterschied in Naturwissenschaften (Klieme et al. 2010)
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Heterogenität von Leistung und Interesse im Unterricht am Beispiel Physik
kognitiveFähig-keiten
Interessean Physik
Physik-wissen
Selbst-konzept in Physik
%Jungen
%Mädchen
%von
Gesamt
(VBW 2007, 76)
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Bedeutung der peer group
Attribuierungen gegenüber Jugendlichen mit Interessen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich:
geringere physische und soziale Attraktivität mehr Selbstbezogenheit; weniger Emotionalität
jeweils im Vergleich zu Jugendlichen mit Interessen für sprachlich-geisteswissenschaftliche Fächer
gute Physikleistungen von Mädchen werden mit geringerer sozialer Beliebtheit assoziiert
Schulklasse ist bedeutsame Referenzgruppe
Schulinterne Maßnahmen: Steigerung des Image der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer
(Pisa-Konsortium 2006, 219)
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Exklusion - Integration - Inklusion
Ein-Gruppe-Theorie bzw. dem transnormalistischen Normalitätsmodell, gemäß dessen keine Zuschreibungen von (A-)Normalität (mehr) auftreten (Hinz 2008, Lingenauber 2008
Eine-Gruppe-Theorie bzw. transnormalistisches Normalitätsmodell,
keine Zuschreibungen von (A-)Normalität (z.B. Lingenauber 2008)
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UN-BehindertenrechtskonventionBildung: Artikel 24, Absatz 2b,d
(VN-BRK 2008)
Englisch (offizielle UN-Sprache) Deutsch (Sicherstellung, dass…
Persons with disabilities can access an inclusive, quality and free primary education and secondary education on an equal basis with others in the communities in which they live
Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben
Effective individualized support measures are provided in environments that maximize academic and social development, consistent with the goal of full inclusion
in Übereinstimmung mit dem Ziel der vollständigen Integration wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem Umfeld, das die best-mögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet, angeboten werden.
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Integration vs. Inklusion
Integration Inklusion (enges Verständnis) Eingliederung behinderter Kinder in
die allgemeine Schule Differenziertes System je nach
Schädigung Zwei-Gruppen-Theorie
(behindert/nicht-behindert) Individuumszentrierter Ansatz SonderpädagogInnen als
Unterstützung für Kinder mit Behinderungen
Ausweitung von Sonderpädagogik in die Schulpädagogik hinein
Ressourcen für Kinder mit besonderem Bedarf
Leben und Lernen aller Kinder in der allgemeinen Schule
Umfassendes System für alle
Theorie einer pädagogisch unteilbaren heterogenen Gruppe
Systemischer Ansatz SonderpädagogInnen als
Unterstützung für heterogene Klassen und KollegInnen
Synthese von Schul- und Sonderpädagogik
Ressourcen für ganze Systeme (Klasse, Schule)
(z.B. Hinz 2003)
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Perspektiven und Utopien
“We are approaching the day when, for each child, the law
require that the schooling fit the child, his needs, his capacities,
and his wishes; not the child fit the school. Thus, special
education may become general and general education, special .”(Gilhool 1976, S. 13)
„Integration ist er dann erreicht, wenn buchstäblich KEIN Schüler
mehr eine andere Schulform besuchen muss, als seine
Alterskameraden.“ (Feuser 1989, S. 16)
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Zentrale Entwicklungsbereiche und Herausforderungen für die Lehrerbildung
Unterricht in maximal heterogenen Lerngruppen, daher:
Individuelle Diagnostik, individualisierte Curricula und individuelle Förderpläne
Adaptiver Unterricht und Binnendifferenzierung
Balancierung von Individualisierung und Gemeinschaftlichkeit
Konstitutives Co-Teaching
Individuelle Auseinandersetzung mit Behinderung und dem Normalitätskonzept
(Kullmann u.a., eingereicht)
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Perspektiven für das DoKoLL
gemeinsame Projekte zu Lehrer(fort)bildung oder
Forschung mit der Fakultät 13 (Reha)
Praktikum im GU für alle LA-Studierende verpflichtend
Hochschularbeitskreis „Schulische Inklusion“ mit allen
Interessensgruppen (u.a. DoBus, Arbeiterkind)
Forschungsschwerpunkt Inklusion erwünscht?
außerdem:
eigene Lehrerfortbildungen
eigene Vortragsreihen
News per E-Mail-Verteiler aufbauen
Beratungskonzept publizieren
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Baumert, J. & Schümer, G. (2001): Schulformen als selektionsbedingte Lernmilieus. In: J. Baumert, E. Klieme, M. Neubrand, M. Prenzel, U. Schiefele, W. Schneider, et al. (Hrsg.): PISA 2000: Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich (S. 454–467). Opladen: Leske + Budrich.
Feuser, G. (1989): Allgemeine integrative Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik. Behindertenpädagogik, 28(1), 4–48.
Frey, A., Heinze, A., Mildner, D., Hochweber, J. & Asseburg, R. (2010): Mathematische Kompetenz von PISA 2003 bis PISA 2009. In: E. Klieme, C. Artelt, J. Hartig, N. Jude, O. Köller, M. Prenzel, et al. (Hrsg.): PISA 2009. Bilanz nach einem Jahrzehnt (S. 153–175). Münster: Waxmann.
Gilhool, T. (1976): Changing public policies: roots and forces. In: M. Reynolds (Hrsg.): Mainstreaming: origins and implications (S. 8–13). Reston: The Council for Exceptional Children.
Hattie, J. (2009): Visible Learning. A synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement. Oxon: Routledge.
Herbart, J. F. (1806/1997): Allgemeine Pädagogik aus dem Zwecke der Erziehung abgeleitet. In: D. Benner (Hrsg.): Johann Friedrich Herbart: Systematische Pädagogik. Band 1 (S. 57–158). Weinheim: Dt. Studien-Verl.
Klieme, E., Artelt, C., Hartig, J., Jude, N., Köller, O., Prenzel, M., Schneider, W. & Stanat, P. (Hrsg., (2010): PISA 2009. Bilanz nach einem Jahrzehnt. Münster: Waxmann.
Kullmann, H., Lütje-Klose, B. & Textor, A. (eingereicht): Eine allgemeine Didaktik für inklusive Lerngruppen – fünf Leitprinzipien als Grundlage eines Bielefelder Ansatzes der Inklusiven Didaktik. In: B. Amrhein & M. Dziak-Mahler (Hrsg.): LehrerInnenbildung gestalten: Fachdidaktik inklusive. Münster: Waxmann.
Lingenauber, S. (2008): Normalität. In: S. Lingenauber (Hrsg.): Handlexikon der Integrationspädagogik (S. 160–168). Bochum: Projekt.
Literatur I
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Literatur II
MPIB - Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (1996): Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugendalter (BIJU) 2. Bericht für die Schulen. Berlin: MPIB - Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.
PISA-Konsortium Deutschland (2006): PISA 2003. Untersuchungen zur Kompetenzentwicklung im Verlauf eines Schuljahres. Münster: Waxmann.
Schwippert, K., Wendt, H. & Tarelli, I. (2012): Lesekompetenzen von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund. In: W. Bos, I. Tarelli, A. Bremerich-Vos & K. Schwippert (Hrsg.): IGLU 2011. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich (S. 191–207). Münster: Waxmann.
Stubbe, T. C., Bos, W. & Euen, B. (2012): Der Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe. In: W. Bos, I. Tarelli, A. Bremerich-Vos & K. Schwippert (Hrsg.): IGLU 2011. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich (S. 209–226). Münster: Waxmann.
Trapp, E. C. (1780/1977): Versuch einer Pädagogik. Mit Trapps hallischer Antrittsvorlesung: Von der Nothwendigkeit, Erziehen und Unterrichten als eine eigne Kunst zu studiren. Halle 1779. Unveränderter Nachdruck der 1. Ausgabe. Paderborn: Schöningh.
VBW - Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (Hrsg., 2007): Bildungsgerechtigkeit. Jahresgutachten des Aktionsrats Bildung. Wiesbaden: VS.
VN-BRK (2008): Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 21. Dezember 2008. Bundesgesetzblatt Teil II Nr. 35, ausgegeben zu Bonn am 31. Dezember 2008, S. 1419-1457.
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