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SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 55
Der Tsunami 10 Jahre danach
Eine Flut von Gefühlen
Beim Tsunami verlieren PETRA RINDOVA und RAINER STELZER ihre Partner. Aus gegen-seitigem Beistand wird Liebe. Heute sind die beiden verheiratet und haben zwei Kinder. Wie aus Trümmern neues Leben entsteht.
DIE FAMILIE Petra Rindova, 46, und Rainer Stelzer, 54, mit ihren Kindern Anna, 6, und Anton, 3. Sie wohnen in der Nähe des Zürichsees.
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TEXT MARCEL HUWYLER FOTOS KURT REICHENBACH
Vor einigen Tagen haben
sie es Anna erzählt. Ganz
unverhofft war der rich-
tige Moment gekommen.
Anna, das fröhliche,
plapprige Mädchen mit dem langen,
welligen Haar, das viel, gern und gewitzt
fragt, ist so etwas wie die Schlüsselfigur
in dieser Geschichte. Anna ist sechs.
Ihre Eltern haben oft überlegt, wann sie
mit ihr über das Vergangene reden sol-
len. Und wie? Wie formuliert man etwas
kindgerecht, was man selbst Erwach -
senen nich erklären kann? Doch dann
war plötzlich alles ganz einfach. Sie
schauten sich einen Fernsehfilm an, Anna
und ihre Eltern. In einer Szene flüchten
Rainer Stelzer und seine Frau
Christine bewohnen Bungalow Nr. 201
des Hotels Baan Khao Lak. Das Paar ist
seit 24 Jahren zusammen. An diesem
Morgen wartet Stelzer ein paar Kilome-
ter südlich des Hotels auf ein Boot, das
ihn zum Tauchen abholen soll. Seine
Ehefrau ist im Hotel geblieben.
Petra Rindova und ihr Partner
machen ebenfalls auf Khao Lak Ferien,
keine drei Kilometer von den Stelzers
entfernt. Noch in der Nacht sind sie von
Bangkok hierhergeflogen.
Khao Lak wird um 10.11 Uhr von
einer 10,6 Meter hohen Welle getroffen.
Die Wasserwand erfasst Petra Rin-
dova und schwemmt sie fort, an einer
Leute vor Sturmwinden, da wollte Anna
mehr wissen über Naturgewalten und
wie das wohl sei, wenn man um sein
Leben rennt. Der richtige Moment …
Also haben Mama und Papa zu er-
zählen begonnen, von ihrem «Leben
davor». Vom früheren Leben der Petra
Rindova, vom früheren Leben des Rai-
ner Stelzer, von ihren damaligen Part-
nern – und vom Tsunami. Anna erfuhr
von Mamas und Papas liebsten Men-
schen, die damals starben, und wie sie
Jahre später zusammenfanden, wieder
glücklich wurden, eine Familie gründe-
ten, zwei Kinder bekamen, Anna und
Anton, 3. Das Mädchen habe still zuge-
hört und genickt, sagt ihre Mutter. Anna
weiss jetzt: «Wellen sind gekommen
und haben Menschen mitgenommen.»
Dachrinne bleibt sie hängen, in 15 Me-
tern Höhe. Es ist das einzige Bungalow
weit und breit, das noch steht. Stunden-
lang, in brütender Hitze, harrt sie auf
dem Dach aus. Rainer Stelzer rennt um
sein Leben und rettet sich auf einen
Wasserturm. Als alles vorbei scheint,
wagt er sich zum Hotel zurück. Dort ist
nichts mehr, nur Trümmer, ineinander-
verkeilte Esstische, Klimageräte, Weih-
nachtsdekoration. In den Bäumen
hängen Leichen. Später notiert Stelzer
folgenden Satz: «Zum ersten Mal allein
nach 24 Jahren – und im Bauch das
leere Gefühl, dass es so bleiben wird.»
Überall Wasser. Familie Stelzer
bewohnt ein älteres, sanft umgebautes
Am Morgen des 26. Dezember
2004 wird vor der Küste Sumatras ein
Unterseebeben der Stärke 9,1 registriert
(das drittstärkste je gemessene Beben).
Die Energie von 23 000 Atombomben
wird freigesetzt, der Meeresboden sackt
ab, federt wieder hoch und löst einen
Tsunami aus. Flutwellen rasen mit 800
km/h über den Indischen Ozean. Auch
in Richtung Thailand, auch nach Khao
Lak, den Ferienort nördlich von Phuket.
Haus am Hang. Rundherum Wiesen,
vom Stubenfenster aus blickt man auf
den winterbleichen Zürichsee, im Gar-
ten ruht ein grosser Teich. Überall Was-
ser. Stelzer wiegelt ab: Er und seine
Frau hätten kein Problem damit, sie
gingen oft und gern baden und schwim-
men, auch im Meer. Nur das Tauchen
hat er aufgegeben. Stelzer, barfuss und
mit T-Shirt, stellt eine Schale mit Weih-
nachtsguetsli auf den Tisch, selbst geba-
cken, reizvoll bepuderzuckert. Die Kin-
der sitzen am Tisch, Anna malt, Anton
spielt mit seinen Spielzeugautos Stau.
In der Stube hängen Kinderzeichnun-
gen, der jadegrüne Kachelofen wärmt,
und überall stehen Deko-Gegen-
Wellen sind gekommen und
haben Menschen mitgenommen
ANNA, 6
BILDER DES NEUANFANGS Petra Rindova und Rainer Stelzer blättern in ihrem Hochzeitsalbum. Im März 2008 heirateten sie.
KHAO LAK, 19. MÄRZ 2005: RAINER STELZERErst zwei Monate nach dem Tsunami wird seine Frau Christine gefunden. Er lässt sie vor Ort kremieren, einen Teil der Asche streut er beim zerstörten Hotel ins Meer. Eine Art Grabstein markiert den Ort. Den Rest der Asche bewahrt Stelzer daheim in einer Urne auf.
KHAO LAK, 29. DEZEMBER 2004: PETRA RINDOVADrei Tage nach der Flut wird ihr Partner vor Ort kremiert. Nach einem letzten Adieu schaut sie fassungslos zu. Petra hilft als Ärztin in einem Spital und trägt darum OP-Kleidung. Zufällig trifft sie am Brandplatz auf Globetrotter-Chef André Lüthi (mit roter Kappe).
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stände aus Asien. Viele aus Thailand.
Erinnerungen. Am Fahnenmast im Gar-
ten schlackern die Schweizer- und die
Tschechien-Fahne. Petra Rindova, 46,
geboren in Tschechien, ist Fachärztin
für Rheumatologie, Rainer Stelzer, 54,
Gesundheitsökonom. 2008 haben sie
geheiratet, bald danach kam Anna zur
Welt, drei Jahre später Anton. Eigene
Kinder haben sich in früheren Partner-
schaften nicht ergeben. «Doch jetzt»,
sagt Stelzer, «wo Petra und ich ein
zweites Leben bekamen, wuchs unser
Wunsch, selber Leben weiterzugeben.»
Drei Tage nach der Flut sieht
Petra Rindova ihren Partner wieder, auf
einem buddhistischen Tempelgelände
liegt er, inmitten Hunderter Leichen.
Eine Kremation vor Ort scheint die
im Kopf: Tsunami, Tsunami, Tsunami …
Spricht Petra Rindova über das Erlebte,
das Überlebte, tut sie das schnell, fast
hastig, unerwartet detailgetreu und der-
art nüchtern, als verlese sie ein Protokoll.
Die Monate nach der Tragödie seien
so schlimm gewesen wie der Tsunami
selber. Sie lebt wie in Trance, isst nicht
richtig, schläft kaum und schaut oft auf
den Zürichsee, ob von dort draussen
auch wirklich nichts kommt … Auch für
Rainer Stelzer «ist die Welt eine andere
geworden». Alles wird noch schlimmer,
wenn das Umfeld Mitleid statt Mitgefühl
zeigt. Beide reisen, jeder für sich, immer
wieder nach Thailand. Wollen sehen,
spüren, verstehen. Und selber vor Ort
helfen, um wegzukommen von der
Opferrolle, in die sie sich gedrängt fühlen.
beste Lösung. Dazustehen, zuzusehen,
aufzupassen, dass die Flammen den
ganzen Sarg erfassen, «es waren 24 Stun-
den zwischen Himmel und Hölle», er-
zählt sie, «meine persönlichen Grenzen
habe ich um Lichtjahre überschritten».
Stelzers Ehefrau wird erst zwei
Monate später gefunden und per DNA-
Abgleich identifiziert. Auch er entschei-
det sich für eine Kremation in Thailand,
einen Teil Asche streut er ins Meer, am
Strand von Khao Lak, den Rest nimmt
er in einer Urne mit nach Hause. Wieder
in der Schweiz vermittelt ihm ein Be-
kannter ein Treffen mit einer Frau, die
ebenfalls ihren Partner im Tsunami ver-
loren hat. Vielleicht hilft beiden der Er-
fahrungsaustausch, das Reden. Rainer
Stelzer und Petra Rindova treffen sich.
Drei Jahre nach dem Tsunami
wird aus der unverbindlichen Freund-
schaft Liebe. Rainer und Petra sind ein
Paar. Es sei nicht einfach, wenn ein Tsu-
nami das Fundament einer neuen Bezie-
hung ist. Schuldgefühle den verstorbe-
nen Partnern gegenüber? Nein, sagen
beide bestimmt, in dieser Liebe hätten
Trauer, Schmerz und Glück Platz. Das
Paar spricht von einer «sehr reichen
Erfahrung». «Was Rainer und ich erlebt
haben, wird immer ein Teil von uns sein,
das kann man nicht verdrängen. Aber
wir waren am Leben, also wollten wir
weiterleben.» Er sagt: «Wir haben heu-
te ein wunderbares Leben, das ist auch
darum so, weil es den Tsunami gab.»
Zwischen Petra und Rainer
besteht ein inniges Band, da ist diese
Zufriedenheit über das Hier, die Dank-
barkeit über das Jetzt und diese uner-
schütterliche Wir-sind-angekommen-
Aura, wie sie sonst nur sehr alte
Ehepaare ausstrahlen. Und doch sind
beide grundverschieden: Er plant gern
weit voraus, die Weihnachts-Lichterket-
ten im Garten beispielsweise hat er
noch im milden November installiert,
«weil ich ungern mit klammen Fingern
arbeite». Sie hingegen nimmt jeden Tag,
wie er kommt. Dementsprechend prag-
matisch und Hektik-erprobt ist sie,
wirbelt von Beruf zu Familie und wie-
der zurück, wirkt trotz Stress geerdet
und glücklich; nichts bringt sie aus der
Sie erinnert sich noch heute, «wie lei-
chenblass er aussah». Keiner der beide
empfindet zu dem Zeitpunkt irgendet-
was, alles ist taub, betäubt. Einen Alltag,
geschweige denn Liebe – da sind sie
sich sicher – wird es nie wieder geben.
«Zwei Jahre lang habe ich alle be-
neidet, die im Tsunami umkamen», sagt
Petra Rindova. Nach dem Leid kommt
das Leiden. Das Erlebte, die Bilder, der
Geruch – alles ist da, hämmert immerzu
Ruhe – selbst wenn Antons Wünsche
wieder mal so wild sind wie seine Frisur.
Heute ist Besuch gekommen.
Damals, in Khao Lak, als Petra ihren
Partner kremierte, trat ein Mann an
sie heran. André Lüthi, Chef des Reise-
unternehmens Globetrotter, auf der Su-
che nach Schweizer Gästen. Für Petra
war dieser Lüthi ein Symbol, das erste
Si gnal aus der Heimat nach dem Welt-
untergang. Als im Juli 2008 Anna zur
Welt kommt, ist für Petra klar: Als Götti
kommt nur André Lüthi infrage.
Die Feiertage verbringt die Fami-
lie in Thailand am Meer. Wie schon die
Jahre davor. Stelzer unterstützt dort
Schulkinder finanziell; eines hat eben
sein Jus-Studium abgeschlossen. Wäh-
rend der Katastrophe half Petra Rindo-
va freiwillig als Ärztin in einem Spital.
Der Kontakt ist geblieben, sie hat dem
Spital zwei medizinische Geräte aus der
Schweiz geschenkt. Petra Rindova sagt:
«In den ersten Jahren musste ich immer
wieder nach Thailand, jetzt darf ich.»
Rainer Stelzer sagt: «Ich fühle mich dort
am Meer sehr wohl und froh.» Was,
Herr Stelzer, wenn Ihre verstorbene
Frau Sie jetzt sehen könnte? Er überlegt
keine Sekunde: «Sie wäre wohl glück-
lich, mich so glücklich zu sehen.»
230 000 Menschen starben beim
Tsunami in Südostasien. 113 Schweize-
rinnen und Schweizer verloren ihr
Leben, 5 werden bis heute vermisst.
Zwei Jahre lang habe ich alle benei-det, die im Tsunami
umkamen PETRA RINDOVA
WO TRAUER UND GLÜCK PLATZ HABEN
Links: Die Familie, hier daheim am Stubentisch, ver-bringt die Festtage jedes Jahr in Thailand am Meer.Oben: Annas Götti ist André Lüthi. Der Globetrotter-Chef traf Petra Rindova in Khao Lak, als sie ihren Partner kremierte.
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