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Mehrsprachigkeitund
SchulbildungModelle, Forschungsergebnisse
und Kontroversen
Prof. Dr. İnci DirimUniversität Hamburg
Migrantinnen und Migranten im deutschen Bildungssystem
• Das Risiko auf Sonderschulbesuch ist bei Schülern ndH 2,5 mal so hoch wie bei deutschen Kindern (Kornmann 2003)
• Überproportional viele AusländerInnen und AussiedlerInnen in NRW besuchen Haupt- und Förderschulen. (Quelle: Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik Nordrhein-Westfalen: Bildungsreport NRW 2006)
Daten zur Ausbildungssituation
• Nur 31,9% der ausländischen Schülerinnen im Ausbildungsalter absolvieren eine Berufsausbildung. (deutsche Schülerinnen 71,6%)
• Nur 30,1% der ausländischen Schüler im Ausbildungsalter absolvieren eine Berufsausbildung. (deutsche Schüler 77,5%) (Quelle: Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik Nordrhein-Westfalen: Bildungsreport NRW 2006)
Ursachen des Scheiterns der Schülerinnen und Schüler
mit Migrationshintergrund
• Dreigliedrigkeit (+ Sonderschulsystem) des deutschen Bildungssystems
• Probleme beim Umgang mit Heterogenität (Rahmenbedingungen, Konzepte, Lehrkräfte)
• Institutionelle Diskriminierung (Gomolla & Radtke 2002)• monolinguale Grundorientierung im deutschen
Bildungssystem („monolingualer Habitus“, Gogolin 1994)• Mängel in der Sprachförderung von Schülerinnen und
Schülern nicht deutscher Herkunft• Fremdenfeindlichkeit bei Lehrerinnen und Lehrern (Weber
2003)• Bildungsferne des Herkunftsmilieus
Prinzipien der Deutschförderung
• Langfristigkeit der Förderung (Reich & Roth 2001: 24)
• Deutsch als Querschnittsaufgabe (Rösch 2003, dies. 2005)
• Spiralcurriculare Vorgehensweise (Rösch 2003, dies. 2005)
• Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit als Ausgangsbasis, auch für das sprachliche Lernen (Lütje-Klose 2005)
Handlungsmöglichkeiten im schulischen Bereich
1. Maßnahmen zur Förderung des Deutschen als Zweitsprache (auf der Basis förderdiagnostischer Informationen)
2. Maßnahmen zur Integration der Mehrsprachigkeit in die Schülerkommunikation
3. Behandlung der Mehrsprachigkeit als Unterrichtsthema4. Maßnahmen zur Nutzung der Mehrsprachigkeit als
Informationsquelle5. Maßnahmen zur Gestaltung des Sprachenangebots im
Hinblick auf den Ausbau der Mehrsprachigkeit(vgl. Dirim 2005)
Modelle sprachlicher Bildung
• Einsprachige Modelle: SubmersionImmersion
• Zweisprachige Modelle: Transitorische ModellenLanguage-maintenance-ModellenTwo-way-immersion-Modellen(Reich & Roth 2002: 17f)
Effekte der Modelle sprachlicher Bildung in den USA( Reich & Roth 2002:17f)
1.Bessere Ergebnisse der Kombination von Zweitsprachförderung und Unterricht im Medium der Herkunftssprache gegenüber einsprachigen Submersionsprogrammen.
2.»Two-way«-Programme, an denen Schülerinnen und Schüler, die die Mehrheitssprache als Erstsprache erworben haben, und Schülerinnen und Schüler, die eine Minderheitensprache als Erstsprache erworben haben, teilnehmen, sind allen anderen Modellen überlegen.
3. Sprachfördernde Maßnahmen, die den Schulerfolg zweisprachiger Schülerinnen und Schüler sichern sollen, müssen langfristig angelegt sein.
4. Eine didaktisch planvolle Verwendung von (Erst- und Zweit-) Sprache zum Zwecke des Lernens curricularer Inhalte ist Erfolg versprechender als bloße Sprachkurse.
Modelle sprachlicher Bildung in den USA und in Deutschland( Reich & Roth 2002:17f)
• Submersion: Umstandslose Integration in die Regelklassen („Einsprachigkeit in der Zweisprachigkeit“); dazu kann Förderunterricht in Deutsch als Zweitsprache kommen („gestützte Submersion“) und/oder zusätzlicher Unterricht in der Herkunftssprache („Submersion mit begleitendem Language-maintenance-Unterricht“). Manchmal gibt es zusätzlich den integrierten Unterricht eines Faches im Medium der Herkunftssprache („Submersion mit einem Element bilingualen Unterrichts“)
• Immersion:Einführungsklassen, Einführungskurse, Auffangklassen etc., in denen Deutsch-Anfänger in der deutschen Sprache unterwiesen werden – in der Regel nur für kurze Zeit und ohne weiterführende Orientierung an den schulischen Lernstrategien und Fachinhalten
• Language-Maintenance-Modelle:Minderheitenschulen, die die Herkunftssprache durchgehend als Unterrichtsmedium verwenden und die deutsche Sprache nur als Fach unterrichten1. Schulen der autochthonen Minderheiten (Dänen, Sorben)2. Schulen ausländischer Eliten und der griechischen Minderheit
• Two-way-immersion-ModelleBilinguale Modellschulen (Italienisch-deutsche Schule in Wolfsburg, Europaschulen in Berlin, Modellversuch Bilinguale Grundschule in Hamburg)
Zentrale Prinzipien der Gestaltung eines bilingualen Bildungsgangs
• Zusammensetzung der Schülerschaft• Qualifikation der Lehrkräfte• Unterrichtsorganisation• Didaktisch-methodische Prinzipien• Interkulturelle Kompetenz
Ziele bilingualer Schulen
große Palette besonderer Ziele einerbilingualen Schule / eines bilingualenBildungsgangs:• (domänenspezifische) Handlungsfähigkeit
in der Zielsprache• Erlangung einer Bildungszweisprachigkeit• Vermittlung interkultureller Kompetenz• Vermittlung eines detaillierten (hoch-)
kulturbezogenen Wissensbestands
(Sprachen-) Politische Einbettung bilingualer Schulen
• gesetzliche Bestimmungen• Gesellschaftliche Hierarchien der
Sprachen• Gesellschaftspolitische Ziele • Qualifikation der Lehrkräfte• Materielle Möglichkeiten
Hamburger Modellversuch Bilinguale Grundschule
• Beginn: Schuljahr 2000/01• Sprachenpaare:
Italienisch-DeutschPortugiesisch-DeutschSpanisch-DeutschTürkisch-Deutsch
Türkisch-deutsch bilinguale Klassen
• Heinrich-Wolgast-Schule• Schule Lämmersieth
Zusammensetzung der Schülerinnen undSchüler nach dem Prinzip:
50% der Kinder aus türkischsprachigen Elternhäusern, 50% der Kinder aus deutschsprachigen Elternhäusern
Qualifikation der Lehrkräfte• Lehrerkräfte für das Deutsche und das
Türkische stehen zur Verfügung• Die türkischen Lehrkräfte werden vom
türkischen Konsulat finanziert; sie können i.d.R. sehr gut Deutsch.
• Wünschenswert wäre, dass auch die deutschen Lehrkräfte Türkisch könnten.
• Sinnvoll wären außerdem eine Qualifikation im Bereich „Deutsch als Zweitsprache“ und „Türkisch als Zweitsprache“ (teilweise erfüllt)
Unterrichtsorganisationim Hinblick auf die Sprachenverteilung
• Pro Klasse stehen zusätzlich 12 Unterrichtsstunden einer Lehrkraft der nicht deutschen Partnersprache zur Verfügung. Diese Doppelbesetzung kann dafür genutzt werden, gemeinsam im Team die ganze Klasse oder je eine Halbgruppe zu unterrichten. In den meisten Klassen alphabetisieren die Lehrkräfte die Kinder parallel in beiden Sprachen, wobei dies in einigen Klassen um vier bis sechs Wochen zeitlich versetzt zunächst in Deutsch und dann in der Partnersprache geschieht (Neumann 2005).
Unterrichtsorganisationim Hinblick auf die Sprachenverteilung
Mathematik wird die gesamte Grundschulzeit hindurch auf Deutsch unterrichtet, während z.B. der Sachunterricht immer größere Anteile in der Partnersprache erhält, bevor er im vierten Schuljahr ganz auf Italienisch, Portugiesisch, Spanisch oder Türkisch erteilt werden soll. Bei dieser Verteilung hat der deutschsprachige Unterricht ein leichtes Übergewicht (Neumann 2005).
Vermittlung der Sprachen Deutsch und Türkisch(Prinzipien nach Vorstellung der Referentin; in den Klassen
teilweise berücksichtigt)
• Standardsprachliche Orientierung • Lebensweltliche (soziolinguistische) Orientierung
Berücksichtigung von Dialekten und Soziolekten und weiteren kulturellen Besonderheiten, die auf den Sprachgebrauch einwirken
Berücksichtigung ethnolektaler Sprechweisen
Didaktisch-methodische Prinzipien
Vermittlung der Sprachen Deutsch und Türkisch
• Berücksichtigung der Unterschiede des Erwerbs des Deutschen als Erstsprache und als Zweitsprache sowie des Erwerbs des Türkischen als Erst- und Zweitsprache bzw. Fremdsprache.
• Besonderes Alphabetisierungskonzept (bilinguale oder zeitlich versetzt)
Lehr- und Lernarrangements(Vorstellungen der Referentin)
• Vereinbarung von Regeln des Sprachgebrauchs in der Klasse (vgl. Heintze 2002)
• Unterschiedliche Zusammensetzung von Gruppen für die Aktivierung des Gebrauchs einer der Sprachen (vgl. Heintze 2002, Dirim 1998)
• Vereinbarung von Regeln für die sprachliche Korrektur (vgl. Dirim 2005)
• Vereinbarung von Regeln für die Bewertung der Schülerleistungen (vgl. Brügelmann 2003, Dirim 2005)
Weitere Prinzipien des Sprachenlernens
• Integriertes Sprachen- und Sachlernen (vgl. Vollmer 2000)
• Gestaltung bilingualer Unterrichtsmaterialien
• Förderung des Sprachbewusstseins, z.B. durch Sprachvergleiche (vgl. z.B. Dirim & Frik 2005)
Interkulturelle Kompetenz
Die Lehrkräfte sollten darauf achten • die Sprachen gleich zu bewerten und
jede Möglichkeit der Stärkung der Partnersprache zu nutzen
• kulturspezifische und negative Zuschreibungen zu unterlassen
• das Unterrichtsmaterial nach rassistischen und kulturalistischen Inhalten kritisch zu untersuchen.
Interkulturelle Kompetenz
• Etablierung einer „Streit“- und „Begegnungskultur“ (z.B. in der Kooperation der Lehrkräfte oder in der Elternarbeit)
• Bilinguale Schule als besonderer Ort der Begegnung
Öffentlicher Diskurs: Anzeichen des Linguizismus?
(Mainstream?-)Positionen im öffentlichen Diskurs:
• Abwertung der Herkunftssprachen und der Bilingualität in der Wissenschaft (z.B. durch Esser und Hopf) , u.a. durch allein marktbezogene Sichtweisen.
• Sanktionen auf der Ebene der Bildungsadministration (Reduzierung des Herkunftssprachlichen Unterrichts, z.B. in Niedersachsen)
(Mainstream?-)Positionen:• Abwertung ethnolektalen
Deutschgebrauchs, des Deutschen als Zweitsprache und des Türkischen in den Medien (z.B. in „Comedy“-Sendungen)
• Sprechverbote an Schulen (z.B. an der Rütli-Schule): Problematisches pädagogisches Konzept – Verbot statt Motivation
Verschränkung des möglichen Linguizismusmit verschiedenen Problematiken
• Verkürztes Wissenschaftsverständnis• Defizitorientierter Blick• Ignoranz der einwanderungsspezifischen
sprachlich-kulturellen Veränderung• Reduktion von kulturellen Bedürfnissen auf
Kosten-Nutzen-Rechnungen• Schwierigkeiten mit der Akzeptanz kultureller
Codes von Folgegenerationen
Projekte zur Nutzung der Bilingualität als Ressource
(Beispiele)• BLK-Modell FörMig (Förderung von
Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund; http://www.blk-foermig.uni-hamburg.de/)
• Bilinguale Schulen in Hamburg (www.erzwiss.uni-hamburg.de)
• Einzelne engagierte Lehrkräfte
Fazit
These: Mehrsprachigkeit wird in Deutschland mehrheitlich nicht als Lernvoraussetzung und Ressource gesehen. Für Migrantenkinder ist das Recht auf muttersprachliche Bildung weiterhin nicht realisiert und den Kindern deutscher Herkunft wird die Teilhabe an der Mehrsprachigkeit nicht ermöglicht.
Zitierte und weiterführende Literatur
• Brüggelmann, Hans (2001): Heterogenität, Integration, Differenzierung. Befunde der Forschung – Perspektiven der Pädagogik. Vortrag, gehalten vor der Kommission Grundschulforschung der DgfE, Halle. Verfügbar über: http://www.uni-siegen.de/~agprim/printbrue/brue-gsf-hall.vortrag.pdf
• Dirim, İnci (1998): "Var mı lan Marmelade?" - Türkisch-deutscher Sprachkontakt in einer Grundschulklasse. Münster (Waxmann)
• Dirim, İnci (2005). Leistungseinschätzung und Bewertung. In: Rösch, Heidi (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache. Sprachförderung in der Sekundarstufe 1 – Grundlagen, Übungsidee, Kopiervorlagen. Braunschweig (Schroedel), S. 9-94
• Dirim, İnci & Olga Frik (2005): Sprachen unserer Klasse. Vergleiche zwischen Deutsch, Türkisch und Russisch. In: Lernchancen. 8. Jg. 48/2005, S. 31-34
• Esser, Hartmut (2006): Sprache und Integration. Frankfurt / Main(Campus)
• Gogolin, I. (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule.Münster (Waxmann)
• Gomolla, M. & Radtke, F.-O. (2002): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer. Differenz in der Schule. Opladen (Leske + Budrich)
• Heintze, Andreas (2002): Handreichung zur Didaktik und Methodik eines zweisprachigen Fachunterrichts im Rahmen der zweisprachigen deutsch-türkischen Erziehung. Arbeitsstelle zweisprachige Erziehung im Berliner Landesinstitut für Schule und Medien, Berlin (mimeo.)
• Kornmann, R. (2003): Zur Überrepräsentation ausländischer Kinder und Jugendlicher in„Sonderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen“ In: Auernheimer, G. (Hrsg.): Schieflagen imBildungssystem. Die Benachteiligung der Migrantenkinder, Opladen: Leske+Budrich, S. 81-95
• Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik Nordrhein-Westfalen: Bildungsreport NRW 2006)
• Neumann, Ursula (2005): Didaktik des Unterrichts in bilingualen Klassen. Entwurf für den Bericht der Wissenschaftlichen Begleitung des Hamburger Modellversuchs „Bilinguale Grundschule)
• Reich, Hans H. und Hans Joachim Roth in Zusammenarbeit mit İnciDirim, Jens Norman Jørgensen, Gudula List, Günther List u.a. (2002): Spracherwerb zweisprachig aufwachsender Kinder und Jugendlicher.Ein Überblick über den Stand der nationalen und internationalen Forschung. Hamburg (Behörde für Bildung und Sport)
• Rösch, Heidi (Hrsg., 2003): Deutsch als Zweitsprache, Grundlagen, Übungsideen und Kopiervorlagen für die Sprachförderung. Hannover (Schroedel Verlag)
• Rösch, Heidi (Hrsg., 2005): Deutsch als Zweitsprache. Sprachförderung in der Sekundarstufe 1 – Grundlagen, Übungsidee, Kopiervorlagen. Braunschweig (Schroedel)
• Vollmer, Helmut (2000): Förderung des Spracherwerbs im bilingualen Sachfachunterricht. In: Bach, G. & Niemeier, S. (Hrsg.): Bilingualer Unterricht. Grundlagen – Methoden – Praxis – Perspektiven. Frankfurt/M.: Peter Lang, S. 139-158.
• Weber, M. (2003): Heterogenität im Schulalltag. Konstruktion ethnischer und geschlechtlicher Unterschiede. Opladen (VS Verlag für Sozialwissenschaften)
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