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8/17/2019 Philosophie Des Subjekts
1/57
102
Teil I Kap. IIL Selbstbewußtsein, Selbstanschauung, Selbsterkenntnis
4
Das Subjekt in der empirischen und rationalen
Psychologie
der Metaphysik-Pölitz
Die
einzige uns überlieferte Nachschrift
der Kantischen
Metaphysikvorlesungen
aus den siebziger Jahren ist zuerst 1821 anonym von Karl Heinrich Ludwig Pö
Jitz89
publiziert
worden. Heinze hat in einer wegweisenden Studie
1894 gezeigt,
daß das
Manuskript LI,
aus
dem
Pölitz die Abschnitte
über
die Metaphysica
specialis zum Druck beförderte, nahezu identisch ist
mit zwei weiteren Abschrif
ten H
und
K
1.
Bei allen drei
Manuskripten handelt
es
sich
also um
Abschriften
einer
(oder
mehrerer kompilierter)
Vorlesungsnachschrift(en)
im eigentlichen
Sinne, die uns nicht erhalten ist (sind). Leider hatte
Pölitz
jedoch
die Ontologie
nach
dem Manuskript
L2 abgedruckt, welches auf eine Vorlesung zurückgeht, die
mit Sicherheit nach der Publikation
der
Kritik
von
1781 gehalten wurde. Die On
tologie
von
L 1
die
umfangreicher als die von L2 ist, wurde
dagegen
niemals ver
öffentlicht.
Sie ist
uns heute nur durch die
Darstellung
von Heinze bekannt, der
auch kurze Exerpte aus ihr abdruckt. Der Abschnitt »Prolegomena«, der sich nach
Heinze
nicht
in LI findet,90 wurde
von
ihm nach H
(mit
Varianten aus Kl) als
Beilage
I
seiner
Arbeit publiziert; als Beilage II brachte er ein Manuskriptteil mit
dem
Titel
»Begriff
von
Raum
und
Zeit«,
welches
er nach
H,
Kl
und
Ll
edierte.
Beide Beilagen sind in die
Akademie-Ausgabe,
die die Metaphysica
specialis
nach Pölitz (also Ll )
91
abdruckt,
übernommen
worden. Dabei
wurden
jedoch die
Ausführungen
über
den »Begriff von Raum und Zeit« fälschlich zusammen
mit
den »Prolegomena« abgedruckt. Dem
Benutzer dieses
Bandes
der
Akademie
Ausgabe wird so nicht deutlich, daß Kant die »transcendentale Aesthetik«
(XXVIII: 181) im Rahmen der Ontologie
abhandellen
Das Manuskript
LI
geht auf eine Vorlesung zurück, welche
spätestens
im
Winter
1779/80, also vor der Publikation
der Kritik
der reinen
Vernunft,
gehalten
wurde, wie nicht zuletzt aus einem Vergleich mit der
Metaphysik Mrongovius
aus
dem Winter
1782/83 (oder 1783/84) sinnfällig wird. Der terminus a quo ist jedoch
umstritten. Heinze hat gezeigt, daß die Vorlesung nicht vor dem Winter 1775176
gehalten
worden
sein kann: In
der
Vorlesung wird von
Crusius, der
im Oktober
1775 verst:ub, als jemandem gesprochen, der
bereits verstorben
ist.93 Dasselbe
Argument gilt für eine Erwähnung von Sulzer,
der im
Februar 1779 verstarb.
Heinze machte jedoch darauf aufmerksam, daß die Passage, in der
Sulzer erwähnt
wird,
korrupt
ist,
so
daß sie nicht als
ein harter
Beleg für eine Datierung des ter
minus
a
quo
auf den
Winter
1778179 gelten kann.94 Carl
legt den terminus post
89
Die Vorrede dieser Ausgabe, in der Pölitz über
seine
Editionstätigkeit
Rechenschaft
ab-
legt, ist abgedruckt in XXIX: 151 l-1514.
90
Vgl. Heinze 894: 49 l
91
Diese Manuskriptteile lagen schon Heinze nicht mehr vor.
92
Vgl.
Heinze
1894: 526. Kant folgt damit
Baumgartens
Metaphysica, in
der
wie in den
Schriften Wolffs
Raum
und Zeit in der Ontologie abgehandelt werden (vgl.
u a
XVII: 79, § 239).
93
Vgl. Heinze 1894: 516. Zur Datierung vgl. auch XXVI l: 1340-1346 (Lehmann).
94
Vgl.
Heinze
1894: 515-516.
4. Das Subjekt in der empirischen und rationalen Psychologie der Mctapllys'K-Pöl1t/. l'J3
quem auf den Winter 1777/78, da sich seiner Einschätzung nach in L 1 eine Theo
rie der Einbildungskraft findet, die inhaltlich
von
Tetens' 1777 publizierten
Philo
sophischen Versuchen
über
die
menschliche Natur »abhängig ist«
. Carl spricht
von einer
» vermögenstheoretischen Wende ,
die sich in Kants Entwürfen zu einer
Deduktion
der
Kategorien nach
1775
[sc. nach den Aufzeichnungen des Duisburg
Nachlasses] feststellen läßt und die die erste
Auflage
[der Kritik]
geprägt
hat.«
( 989: 115)
Heinze
hatte
schon
aufgrund
der Nähe
einzelner Lehrstücke der Onto
logie von LI mit der Kritik für eine Datierung der Vorlesungsnachschrifl »auf den
Ausgang
der
siebziger Jahre«96 plädiert.
Diese Vorlesung, aus der wir
bereits ausführlich
zitiert haben, verdient aus
verschiedenen
Gründen
unsere besondere
Aufmerksamkeit. Zunächst
äußert sich
Kant in ihr zu allen Bereichen der
Metaphysik,
der Metaphysica generalis und
speCialis, und zwar nach dem
Leitfaden
von Baumgartens
Metaphysica.
Dabei ist
zu beachlen, daß Kant
sowohl Positionen
Baumgartens referiert und kritisiert als
auch seine eigenen Vorstellungen zu den diversen
Theorien
entwickelt.
In der
Metaphysik Pölitz
thematisiert Kant wie in
seiner
ebenfalls im Winter
halbjahr
gelesenen Anthropologie die
empirische
Psychologie.
Wir haben damit
die einmalige Situation, an
zwei
verschiedenen
Orten
Äußerungen Kants über die
sen
Bereich
der Schulmetaphysik zu finden, die
vielleicht
sogar aus
demselben
Semester
stammen,
ohne daß
Kant
in seiner
Anthropologievorlesung
auf die
Me
taphysikvorlesung und vice versa verweisen würde. Anders die
Philosophische
Enzyklopädie97;
in ihr wird
der
Teil
der »Wißenschaft der denkende
Natur, das ist
9
5
Carl 1989: l 18; vgl. 115- l
J
6 und 119-138.
Diese Abhängigkeit
reduziert sich bei Carl
aber schließlich darauf, daß es
»gut
möglich [ist], daß die transzendentale Theorie der Erkenntnis
vermögen durch Kants Lektüre von
Tetens
1777 erschienenen
Philosophische
Versuche über die
menschliche
Natur beeinflußt wurde. Kant hat deutlich gesehen, daß er und Teteno verschi,cdene
Fragen stellten und unterschiedliche Ziele verfolgten. Insofern kann
der
Einl1uß
nur
darin bestan
den haben, daß Kant sich genötigt sah, diese Differenzen durch Betonung des ttanszenclentalen
Charakters seiner Theorie der Erkenntnisvermögen stärker herauszustellen.« (Carl 1989: 174) Der
für die Theorie
der
Einbildungskraft essentielle Terminus
der
produktiven Einbildungskraft (vgl.
Kritik
A 120
Anm.)
begegnet nicht in der
Metaphysik-Pölitz
(vgl. XXVIII: 230-231
u
235-238),
wohl
aber
in
dem
nach
dem Januar
1780
geschriebenen Losen Blatt
B 12
(XXlll:
18; vgl. Carl
1989: 128) sowie in der Anthr.-Petersburg (1781/82) p. 107 (vgl. Giordanetti
1991: 680)
und
in
der Reflexion 341 (XV: 134, datiert 1780-1783). In der
Reflexion
2884 wird ebenfalls von dem
»Vermögen der productiven Einbildungskraft« (XVI: 558) gesprochen. Sie stammt nach Adickes
wahrscheinlich aus den neunziger Jahren, wobei
er
jedoch eine
Datierung
auf die Jahre 1776-78
nicht ausschließt.
96
Heinze
1894: 521; vgl.
auch Satura
1971: 14, der wohl selbst eine Datierung
auf
den
Zeitraum zwischen 1781 bis 1785 nicht ausschließen will. In L 1 findet sich auf der Seite
234
die
Unterscheidung zwischen fraus und illusio (»Demnach werden wir den Satz merken:
s
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2/57
104
Teil L Kap. l L Selbstbewußtsein, Selbstanschauung, Selbsterkenntnis
der Seele,« der die Seele empirisch betrachtet, Anthropologie98
oder
empirische
Psychologie genannt
99
Zudem
behandelt Kant natürlich in seiner Metaphysikvorlesung auch die ra
tionale Psychologie, deren Seelenerörterung wir bisher im
Rahmen der
Kanti
schen Vorlesungen über Anthropologie aus den siebziger Jahren
nur
beiläufig
diskutiert haben. Schon Heinze hatte mit Blick auf diesen Abschnitt der Metaphy
sikvorlesung festgestellt, daß Kant noch in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre
nicht von Paralogismen der reinen Seelenlehre
spricht oo
Wir
werden uns fragen müssen, in welchem Verhältnis Kants Ausführungen
über das Ich-Bewußtsein und die Seele in der empirischen
zu
der in der rationalen
Psychologie stehen, Es wird sich zeigen, daß die von ihm in der empirischen Psy
chologie (wie in der Anthropologie) thematisierte Selbsterkenntnis, die auf einer
Selbstanschauung des Ich beruht, aus methodischen und inhaltlichen Erwägungen
heraus keinesfalls mit der Wesenserkenntnis der Seele, die in
der
rationalen Psy
chologie vorgetragen wird, verwechselt oder gar explizit mit ihr identifiziert wer
den darf, obgleich in beiden der Sache nach von der Seele als
einer
res cogitans
gesprochen wird. Die Argumente, die für diese klare Trennung
der
beiden Zu
gangsweisen
zur
Wesenserkenntnis der menschlichen Seele angeführt werden
können, sind so zwingend, daß es schwer fällt zu verstehen,
warum
sie bisher,
soweit ich sehe, noch von keinem Kant-Interpreten gewürdigt worden sind.
1 1
Wißenschaften aus den Vorlesungen des Herrn Profeßors Immanuel Kant« (vgl. Stark 1984: 295
und 298; XXIX: 663 ist der Titel fehlerhaft angegeben). Die Nachschrift geht auf eine Vorlesung
zurück, die J775, 1777178 oder 1779/80 gehalten worden ist. Für eine Datierung auf den Sommer
1775 argumentiert Kuehn (1983: 310-313). während Tonelli (1962: 513) für 1777178 oder 1779/80
plädiert. Nach Stark (1987: 134 u. 153, Anm. 66; vgl. l 984: 296-304) ist der Terminus a quo auf
das Jahr 1777 zu legen. - Über die tatsächlich gehaltenen Vorlesungen sind eigens Verzeichnisse
geführt worden, aus denen auch die Anzahl der Studenten, die den Kollegia beiwohnten, hervor
geht. Zur Enzyklopädievorlesung des Sommers 1775 vgl. die »Halbjährige Tabelle Von den im
Sommerhalbenjahre von Ostern biß Michaelis, 1775 auf der Vniversität
zu
Königsberg wirklich zu
stande gekommenen und gelesenen Collegiis. In Facultate philosophica.« Darin heißt es für dieses
Kolleg Kants: »Encyclopaedie aller philos. Wissenschaften [nach]
Feder
privatim [vor] 20
[Studenten].« (Olsztyn XXVIII/ , Nr. 200, Seite 686; diese Angaben verdanke ich Werner Euler).
98
Sie
mu[ von der praktischen Anthropologie unterschieden werden, die als Ethik oder
Tugendlehre »von dem guten Gebrauch der Freyheit
in
Ansehung des Menschen« (XXIX:
12
handelt.
99
Vgl. XXIX: 11; vgl. 44. In der
Metaphysik-L2
wird an einer Stelle eindeutig auf das An-
thropologiekolleg verwiesen (vgl. XXVIII: 585).
100
Vgl. Heinze 1894: 545.
101
Vgl. etwa Cramer 1915: 228-229, 232-233, 242-244, Saturn 1971: 27-28 sowie Brandt
1992: 105 u. 109 und l994a: 16. Car schreibt: »We have seen [sc. im Duisburg-Nachlaß] that the
apperception is based on the unity of the subject understood
as
res cogitans. At that time the para
logisms were yet to be discovered; their discovery is to be dated rather late. Even his lectures on
metaphysics given about 1777 or later, Kant adopted the dogmatic position
of
Rational Psycholo
gy (28: 224-27, 265-69).« (1989a: 19) Auf den Seiten 224 his 227 der Metaphysik-Pölitz handelt
Kant aber nicht von der rationalen, sondern von der empirischen Psychologie, in der die Seele
ebenfails als res cogitans gefaßt wird.
4. Das Subjekt
in
der empirischen und rationalen Psychologie der Metaphysik-Pölitz 105
Dies trifft auch für die Einschät zung der Leistungsfähigkeit der rationalen
logie zu. Die Tatsache, daß Kant in
der Metaphysik-Pölitz
die Paralogismen der
reinen Seelenlehre noch nicht entdeckt hat, isl nicht gleichbedeutend mit der Aus
sage, Kant habe in dieser Vorlesung dogmatische rationalpsychologiscl1e Einsich
ten vorgetragen, die inhaltlich eine Erweiterung dessen darstellen, was wir über
die Seele in der empirischen Psychologie kennengelernt haben.
Dies gilt mit umgekehrten Vorzeichen auch für den im Jahre
1910
von Theo
dor Haering vorgelegten Kommentar
zum
Duisburg-Nachlaß. Haering übersieht
nämlich seinerseits, daß Kant auch
im
Duisburg-Nachlaß, dessen Reflexionen
iil-
ter als die
Metaphysik-Pölitz
sind, an einer substantiellen Selbstanschauung des
Ich festhält. Es kann daher keine Rede davon sein, daß in diesen Ausarbeitungen
Kants »schon alle grundlegenden Gedanken der Kritik vorhanden« 1910: 151)
seien, die es nur noch auszuformulieren gelte. Haer ing weiß denn auch mit Kants
explizitem Rekurs
auf
die rationale Psychologie
auf
der Seite II von Blatt
18
des
Duisburg-Nachlasses nichts anzufangen
1 2
und beraubt sich damit der Möglich
keit, die Überlegungen, die
zur
Analytik der
Kritik
führen, in ein Verhältnis zu
denen zu setzen, die sich 1781 im Paralogismuskapitel niederschlagen. In dieses
Bild fügt sich auch Erdmanns Versuch, die
Metaphysik-Li
zeitlich vor die Nieder
schrift der Reflexionen des Duisburg-Nachlasses zu datieren. Seines Erachtens ist
L1 »sicher nicht vor dem Winter 1773/4 und
kaum
viel später nachgeschrie
ben«I03
worden.
Beginnen
wir
mit einigen terminologischen Vorbestimmungen, die uns
zum
Teil bereits vertraut sind: Die Erkenntnis
der Gegenstände
der Sinne ist die Phy
siologie, die entweder empirisch oder rational und entweder eine Physiologie des
äußeren Sinnes (Physik) oder des inneren Sinnes (Psychologie) ist.
1
0
4
Das Objekt
des inneren Sinnes ist das Ich.1os
Die
empirische Physik und die empirische Psy
chologie gehören nicht zur Metaphysik, weil diese »eine Wissenschaft der reinen
Vernunft ist«
1
06,
die ihre Prinzipien also nicht aus der Erfahrung gewinnt. »Psy
chologia empirica
ist die Erkenn tniß von den Gegenst änden des inneren Sinnes, so
fern sie aus der Erfahrung geschöpft ist.
[ .. ]
Die
rationale Psychologie
ist die
Erkenntniß er Gegenstände des innern Sinnes, so fern sie aus der reinen
r-
nunft entlehnt
ist.«
1 7
Demnach hat Kant zur
Zeit
der
Metaphysik-Pölitz
das Un
terfangen einer Wesenserkenntnis der Seele durch reine Verstandesbegriffe noch
nicht mit der transzendentalen Dialektik und
einem
Vernunftbedürfnis in Verbin
dung gebracht. »Die denkenden Wesen betrachte ich ent weder blos aus Begriffen,
und das ist die psychologia ralionalis; oder durch Erfahrung, die theils innerlich in
102 Vgl. Haering 1910: 7 u. 96.
103
Erdmann 1884: 65; vgl. 1883: 140. Erdmann geht zudem von der irrigen Annahme aus,
es handele sich hierbei um eine direkte Nachschrift der Vorlesung (vgl. Heinze 1894: 487).
104
Vgl. XXVIII: 221-222 u.
Danziger Physik,
XXIX: 100-101.
ios Vg XXVIII
225
io6 XXVIII: 223; vgl. XXIX: 11-12
Enzyklopädie).
1 1
XXVIII: 222-223.
8/17/2019 Philosophie Des Subjekts
3/57
06
Teil L Kap. HI. Selbstbewußtsein, Selbstanschauung, Selbsterkenntnis
mir selbst geschiehet, oder äußerlich, die ich an andern Naturen wahrnehme, und
nach der Analogie, die sie mit mir haben, erkenne; und das ist die psychologia
empirica, wo ich denkende Naturen durch Erfahrung betrachte.«
1
08
Wie sieht nun das Verfahren der empirischen Psychologie aus, und zu welchen
Erkenntnissen gelangt sie? »Das substratum, welches zum Grunde liegt, und wel
ches das Bewußtseyn des inneren Sinnes ausdrückt, ist
der Begriff
109
von Ich
welcher blos ein Begriff der empirischen Psychologie ist. Der Satz:
[eh bin
ist
von
Cartesius
als der erste Erfahrungssatz angenommen worden, der evident ist;
denn die Vorstellungen vom Körper könnte ich haben, wenn auch keine Körper da
wären; aber mich schaue ich selbst an, ich bin mir unmittelbar bewußt.«
110
Wäh
rend ich mich im inneren Sinn selbst anschaue , schließe ich bloß
auf
die Exi
stenz der äußeren Gegenstände.1
1
1 Und bei Schlüssen können uns bekanntlich
Fehler unterlaufen, insbesondere dann, wenn es sich um lange Schlußketten han
delt. Die Anschauung des Ich ist nach Kants Auffassung also ein Erfahrungssatz
und gehört in die empirische Psychologie. Das Selbstbewußtsein (das
»subjective
Bewußtseyn«) »ist ein auf sich selbst gekehrtes Beobachten; es ist ni cht discursiv,
sondern intuitiv.«
2
Damit
jedoch
nicht genug. Wie
in
der
Anthropologie-Friedländer
macht Kant
sodann
darauf
aufmerksam, daß sich das Ich auf sich selbst als
Mensch
und als
Intelligenz beziehen kann. »Diese Intelligenz, die mit
dem
Körper verbunden ist,
und den Menschen ausmacht, heißt
Seele;
aber
allein betrachtet
ohne den Körper
heißt sie Intelligenz. Die Seele ist also nicht blos denkende Substanz, sondern
in
so fern sie mit
dem
Körper verbunden eine Einheit ausmacht.«
113
In der Reflexi
on 4728 aus der Mitte der siebziger Jahre lesen
wir
entsprechend: »Geist ist eine
reine intelligentz. (rein ist, was von allem fremdartigen abgesondert ist.) Also ist
Geist eine intelligentz, abgesondert von aller Gemeinschaft mit Korpern. Wenn
ich
in
der psychologia rationalis von allem commercio mit Körpern abstrahire, so
ios XXVIII: 224
1 9 Vgl. unten S. 298-300.
11 XXVIII: 224. - Carl geht auf die spezifische Lehre der empirischen Psych ologie der Me
taphysik-Pölitz wohl unter der Annahme nicht ein, daß die »Lehre von der Substantialität, Simpli
zität und Freiheit der Seele« (1989: 118) grundsätzlich zur rationalen Psychologie zu zählen ist.
111
Diese
Position wird in einer Reflexion aus den späten
achtziger
Jahren
unter der
Über
schrift »Gegen den (materialen) ldealism« erörtert. Dieser »gründet sich darauf, daß wir unserer
eigenen Existenz uns unmitlelbar
bewust
sind,
äußerer Dinge
aber nur durch
einen Schlus
von
dem unmittelbaren Bewustseyn bloßer Vorstellungen von Dingen ausser uns auf die Existenz der
selben, welcher Schlus aber in seiner Folgerung nicht evident ist
[„.].«
(XVIII: 306, RefL 5653,
datiert 1785-89) n der Metaphysik-Mrongovius expliziert Kant die Position des Idealismus: »Daß
ich als Mensch existire, ist schon ein Schluß, und zwar ein Schluß, der keine mathematische Ge-
wißheit giebt, denn der Idealist leugnet das Dasein der Körper.« (XXIX: 877)
2 XXVIII: 227.
113
XXVIII: 224-225. Vgl. auch die frühen Ausführungen in der Logik-Philippi: » eh bin mir
nur meiner eigenen Erfahrung bewust. Ich wie ich mich durch meine innere Sinne allein erkenne
ist meine Seele. Ich wie ich mich nach den äussern und innern Sinnen erkenne, bin ein Mensch.
Ich wie ich mich bloß durch den äußern Sinne erkenne ist mein Körper.« (XXIV: 403)
4. Das Subjekt in der empirischen und rationalen Psychologie der Metaphysik-l
ölil;,
1 f/
wird aus dem
Begrif
der Seele der des Geistes und psychologia
wjrd
gia. Wenn ich die intelligentz weglasse und blos Seele in Gemeinschaft mit Kor
per nehme, so bleiben animae brutorum.« (XVII: 689)
Entscheidend dafür, mich als Intelligenz oder als Geist denken zu können, isl
nach Kant das Verfahren
der
Abstraktion, welches gewissermaßen an die Stelle
von Descartes' methodischem Zweifel tritt. Auch in den späteren kritischen Schrif
ten, nicht zuletzt in der
Kritik der reinen Vernunft
greift Kant darauf zurLck, um
wesentliche Ergebnisse der transzendentalen Ästhetik und Logik
zu
gewinnen.114
Anders als bei Descartes wird die Existenz, die im Aktus des 'Ich denke' gedacht
wird und aufgrund dieses Verfahrens zu Bewußtsein kommt, als ein bloßes
Daß
gedacht, welches aber dennoch auf eine Realität verweist, die als unabhängig vom
Denkakt selbst gedacht werden muß; die Abstraktion setzt ein Mannigfaltiges der
Sinnlichkeit voraus.
Während ich als Seele also mit
dem
Körper in einem Commercium stehe und
»meinen Ort in der Welt als Seele durch den Körper« (XXVIII: 225) bestimme,
bin ich als Intelligenz
5
an keinem Ort. Es fällt auf, daß Kant
an
dieser Stelle
seiner Ausführungen nicht, was nahegelegen hätte,
auf
seine Apperzeptionstheorie
eingeht, über die er sich in den sie bziger Jahren nicht zuletzt in den (privaten) Re-
flexionen des Duisburg-Nachlasses geäußert hat. Stattdessen wendet er sich dem
Begriff
Ich
auf eine Art und Weise zu, die uns bereits aus den frühen Anthropo
logievorlesungen vertraut ist und die die Unt erscheidung zwischen logischem und
psychologischem Ich nicht kennt. Nach Kant »drückt« der Ich-Begriff nämlich die
Substantialität und die Simplizität meiner Seele, »die in mir denkt« (XXVIII:
226), aus. Ohne Vorbild in den Anthropologievorlesungen (aber durch die
Meta
physica
Baumgartens nahegelegt) ist es schließlich, daß Kant an dritter und letzter
Stelle die lmmaterialität
meiner
selbst nennt. Die Immaterialität, Substantialität
und Einfachheit folgen aus der »Zergliedrung von sich selbst.« (ihid.)
Nach Kant bin ich mir meines »Subjekts
und
meines Zustandes« einerseits,
»der Dinge außer mir«
6 andererseits bewußt. Als Intelligenz bin ich »ein We-
114
Der Terminus der Abstraktion ist grundlegend für das Kantische Modell von Selbstbe
wußtsein und Selbsterkenntnis in der zweiten Auflage der Kritik; vgl. Teil
ll
Kap. sowie zum
Verfahren der Isolation A 22/B 36 u A 62/B 87. Bereits im§ 8 der lnaugurald;.sserta ion disku
tiert Kant das Abstraktionsverfahren.
115
Der Ausdruck 'Intelligenz' begegnet nur in der empirischen Psychologie der Metaphysik·
Pölitz. In der rationalen Psychologie fragt Kant danach, ob die Seele auch ein Geist sei. »Zum
Geiste wird erfordert nicht allein, daß er ein immaterielles Wesen sey, sondern daß er auch ein von
aller Materie abgesondertes selbst denkendes Wesen sey.« (XXVIII: 273) Der Geist wäre sozusa
gen eine Intelligenz, die für sich selbst existieren, d. h. denken kann, ohne in einem Kommetzium
mit dem Körper zu stehen (vgl. XXVIII: 278).
'
16
Crusius unterscheidet in § 16 seiner Schrift Entwurf der
nothwendigen
Vernunft-Wahr
heiten zwischen innerer und äußerer Empfindung, womit er sich die Möglichkeit eröffnet, die Exi
stenz äußerer
Gegenstände
wie
später
Kant
auf
das
unmittelbare
Zeugnis des Bewußtseins zu
gründen. »Wir nehmen in uns Gedancken wahr. In einigen derselben sind wir bey wachendem
Zustande genöthiget, Dinge unmittelbar uns als wircklich und gegcnwartig vorzustellen, und die
ser Zustand heißt Empfindung§ 16. Wir nennen es äusscrliche Empfindung wenn wir uns darin-
8/17/2019 Philosophie Des Subjekts
4/57
108 Teil
I Kap.
IIL Selbstbewußtsein,
Selbstanschauung, Selbsterkenntnis
sen, das denkt, und das will.
Das Denken un Wollen kann aber nicht angeschaut
werden;
also bin ich auch kein Object
der
äußeren Anschauung. Was
aber
kein
Object der äußern Anschauung ist, das ist immateriell.« (XXVIII 226) Wird in der
Kritik von
I 781
der Beweis der Immaterialität der Seele im Rahmen des zweiten
Paralogismus
der
reinen Seelenlehre
117
erörtert und kritisiert, wird in
der Meta
physik-Pölitz ein positiver Beweis der Immaterialität der menschlichen Seele be
reits
auf dem
Boden der empirischen Psychologie geführt.
Wenden wir uns
dem
Abschnitt über die rationale
Psychologie
in
der
Meta
physik-Pölitz
zu. In ihm folgt Kant der Baumgartensehen Bestimmung der rationa
len Psychologie als einer Erkenntnis aus Begriffen, die jedoch von Kant näher als
Begriffe a priori gekennzeichnet werden. In
der
rationalen
Psychologie
»sollen
wir [sc. nach den Direktiven von Baumgartens Lehrbuch] untersuchen, wie viel
wir von der menschlichen Seele durch die Vernunft erkennen können.«
(XXVIII:
263) Nach Kant ist der Begriff der Seele ein Erfahrungsbegriff; in der rationalen
Psychologie, die auf eine »metaphysische Erkenntniß« der Seele zielt, wird jedoch
der »bloße« Begriff der Seele in Anspruch genommen,
der
in nicht
mehr
bestehen
soll, als
»daß
wir eine Seele haben.« (ibid.) Dies entspricht der Ausgangssituation
im späteren Paralogismuskapitel; die rationale Psychologie appliziert die Katego
rien als transzendentale Prädikate auf das als existierend gedachte Ich
denke ,
wobei Kant in der
Kritik
die Syllogismen, die eine Selbsterkenntnis der Seele stif
ten sollen, tatsächlich als Paralogismen ausweist.1 is
Uns soll zunächst nur der von Kant als transzendental bezeichnete erste Teil
der rationalen Psychologie in der
Metaphysik-Pölitz
interessieren, in
dem
die See
le aus einem absoluten Gesichtspunkt »Schlechthin an un für sich selbst ihrem
Subjecte nach, aus blos reinen Verstandesbegriffen allein« (XXVIII: 263) betrach
tet wird.
In dem transzendentalen Teil der rationalen Seelenlehre wenden wir die
»transscendentalen Begriffe der Ontologie« auf die Seele an, welche sind: »l) daß
die Seele eine Substanz sey; 2) daß sie einfach; 3) daß sie eine einzelne Substanz,
und 4) daß sie simpliciter spontanea agens sey.«119
Der
Syllogismus wird hier
also noch nicht, wie dann in der
Kritik
als medium veritatis der rationalen Psy-
nen Dinge als ausser demjenigen Dinge, das in uns denckt, vorstellen, und diese richten sich nach
dem Zustande gewisser Werckzeuge unseres Leibes. Innerliche Empfindungen aber heissen sie,
wenn wir uns darinnen etwas als in dem Dinge selbst, welches in uns dencket, vorstellen. Durch
dieselben sind wir uns unserer selbst, unserer Gedancken, und unseres Gemülhs-Zustandes, be
wust.«
§
426: 824-825)
7
Vgl.A356-36l.
8
Vgl. Teil
II,
Kap.
IV.
9
XXVIII: 265.
Leibniz
schreibt in seinen
Principes de
l
Nature et de
l
Grace fondes en
raison: »
.
La Substance est un Etre capable d'Action. Elle est simple ou composee.
La
Substance
simple est celle qui
n
a
point
de parties. La composee est l assemblage
des
substances simples, ou
des Monades. Monas est un
mot
Grece, gui signifie l Unite, ou ce gui est un.
Les
composes ou les
corps sont des Multitudes;
et
les substances simples,
es
Vies,
es
Ames,
es
Esprits sont
des
Unites.« (Leibniz 1965, VI: 598)
4. Das Subjekt in der empirischen und rationalen Psychologie der Metapl;ysik.Pölnz 109
chologie verstanden.
Mit einer
gewisse n Parallelität zu den in der
empirischen
Psychologie
wird
zwischen dem
Ich in sensu stricto und in sensu
latiori unterschieden. In sensu stricto ist der »Gegenstand des innern Sinnes, die
ses Subject das Bewußtseyn« (ibid.) die Seele; in sensu latiori drückt das Ich
»aber mich als ganzen
Menschen
mit Seele und Körper aus« (ibid.)_ Für die
Me·-
thode der rationalen Psychologie ist es kennzeichnend, die oben angeführten
»transscendentalen
Begriffe«
(XXVIII: 266) auf das Ich in sensu stricto in der
Absicht anzuwenden, apriorische Erkenntnisse über die Natur der Seele überhaupt
zu gewinnen_ Es ist nicht klar, ob dies überhaupt ein sinnvolles Unternehmen ist.
Denn wenn in der empirischen Psychologie gezeigt wird, daß die Anschauung des
Ich eine Erfahrung ist, die den inneren Sinn voraussetzt, dann scheint in der ratio
n;ilen Psychologie, die die so gewonnene Existenz des Ich als Seele voraussetzt,
immer auch ein empirischer Gehalt mitgegeben zu sein. Sie wäre dann im stren
gen Sinne
keine
rationale
Psychologie
mehr. Wird die Existenz der Seele in der
empirischen Psychologie jedoch nicht als eine Erfahrung ausgezeichnet, dann fin
det sich in ihr umgekehrt ein Lehrstück, welches per definitionem nicht ein Teil
ihrer selbst sein darf. In
der Kritik
hat
die
Existenz, die
im
Ich
denke
gedacht
wird, jedoch keinen empirischen Inhalt; sie bezeichnet ein bloßes Faktum.
Viel wichtiger ist
zunächst
aber die
Beobachtung,
daß
Kant
in
der
rationalen
Psychologie der Metaphysik-Pölitz als möglich behauptet, was er in der Kritik der
reinen Vernunft
scharf zurückweisen wird, nämlich daß wir durch die Anwendung
reiner Verstandesbegriffe
auf
das Ich apriorische Erkenntnisurteile über die Seele
treffen können. Die Seele
muß
hier als eine zentrale Ausnahme von seiner bereits
in der
Metaphysik-Pölitz
vertretenen Ansicht gelten: Kategorien haben nur dann
Sinn und Bedeutung, wenn sie
auf
ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit angewandt
werden.
In den Auszügen der Metaphysik-Pölitz (Ontologie), die uns von Heinze über
liefert sind, findet sich ein klarer Hinweis auf Bedingungen, unter denen ein syn
thetischer Gebrauch der Kategorien in eine transzendentale Dialektik führt: »Alle
synthetischen Principia sind nichts anders als Principia der Exposition der Erfah
rung, weil sie auch Principia der Composition der Erfahrung sind, und ohne sie
keine Erfahrung mög lich ist. - Alle synthetischen Princ ipia sollen nicht von Din
gen überhaupt urtheilen, sondern vom Gegenstande der Sinne, denn sons: sind sie
transcendent und dialektisch.«
12
Kategorien eignen sich also nur insofern als
synthetische Prinzipien der Erfahrung, als sie auf diese Erfahrungen selbst bezo
gen werden. Zweifelsohne will die Vernunfterkenntnis der Seele durch reine Be
griffe jedoch eine synthetische Erkenntnis apriori sein, da sie, wie es in der
Kritik
heißen wird; über die Seele als solche, nicht nur über mein 'Ich denke' urteilt. Wie
kann aber die rationale Psychol ogie synthetische Urteile apriori bezüglich der See-
120
XXVIII: 187 (Auszug-Heinze von LI). - Diese Überlegungen werden im Grundsatzkapi
tel der
Kritik
weiterentwickelt; vgl. auch XXVIII: 185
u.
188. Nach der auf die Jahre 1773.75 da
tierten Reflexion 1601 führt der Gebrauch der allgemeinen Logik als Organon in eine Diitlektik
(vgl. XVI: 31-32).
8/17/2019 Philosophie Des Subjekts
5/57
l lO
Teil I Kap. lt Selbstbewußtsein, Selbstanschauung, Selbsterkenntnis
Je stiften, wenn sie doch keine empirische Erfahrung voraussetzen darf? Die ratio
nale Psychologie
abstrahiert
gerade von aller Erfahrung
und
bezieht sich allein
auf
die Existenz der Seele, die zwar in der Erfahrung gegeben ist, aber,
da
sie als
solche keinen empirischen Inhalt hat, nicht geeignet scheint, synthetische Urteile a
priori bezüglich der Seele
zu
formulieren. »Der Begriff der Seele an sich selbst ist
ein Erfahrungsbegriff
Wir
nehmen aber
in
der rationalen Psychologie nichts mehr
aus der Erfahrung, als den bloßen
Begriff
der Seele,
daß
wir eine Seele haben.
Das Uebrige muß aus der reinen Vernunft erkannt werden. Diejenige Erkenntniß,
wo wir den Leitfaden der Erfahrung verlassen, ist die
metaphysische Erkenntniß
der Seele.«
(XXVlll:
263) Was erkennen wir dann aber in der rationalen Psycho
logie, was uns nicht bereits aus der empirischen Psychologie vertraut ist? Kants
eindeutige Antwort lautet: »Wenn wir nun von der Seele a priori reden; so werden
wir von ihr nichts mehr sagen, als sofern wir alles von dem Begriffe vom Ich her
leiten können, und sofern wir auf dieses Ich die transscendentalen Begriffe an
wenden können.« (XXVIII: 266) Dieses Zitat gibt zu erkennen, daß wir in der ra
tionalen über den Wissensbestand der empirischen Psychologie
keinesfalls
hin
ausgehen können. Der Unterschied zwischen der empirischen und der rationalen
Psychologie besteht nicht darin, daß wir in der letztem einen Zuwachs an Wissen
bezüglich der Seele erlangen können, sondern ist allein begründet in den ver
schiedenen methodischen Zugangsweisen. Die rationale Psychologie setzt die
empirische Psychologie und mit ihr die (metaphysische) Deduktion der reinen
Verstandesbegriffe voraus, die das Muster der Exposition sowohl der empirische n
als auch
der
rationalen Psychologie abgibt. Also gerade diejenigen Charakteri
stika, die das Ich als Gegenstand der empirischen Psychologie ausdrückt , kön
nen dann im Bereich der rationalen Psychologie auf das als bloß existierend ge
dachte Ich appliziert werden 121
121
In der ersten Auflage der Kritik eruiert Kant die Bedingung, unter der es möglich sein
würde, mich selbst im Sinne der rationalen Psychologie zu erkennen: »Dieses
ch
müßte eine An
schauung sein, welche, da sie beim Denken überhaupt (vor aller Erfahrung) vorausgesetzt würde,
als Anschauung a priori synthetische Sätze lieferte, wenn es möglich sein sollte, eine reine Ver
nunfterkenntnis von
der
Natur eines denkenden Wesens überhaupt zustande zu bringen. Allein
dieses Ich ist sowenig Anschauung, als Begriff von irgendeinem Gegenstande, sondern die bloße
Form des Bewußtseins, welches beiderlei Vorstellungen begleiten, und sie dadurch
zu
Erkenntnis
sen erheben kann, sofern nämlich dazu noch irgend etwas anderes in der Anschauung gegeben
wird, welches zu einer Vorstellung von einem Gegenstande
Stoff
darreicht.« (A 382) Eine An
schauung a priori habe ich von mir im inneren Sinn nicht. Nach der Kritik haben wir jedoch eine
Anschauung a priori des Raumes. Die Wissenschaft, die sich auf diese Anschauung bezieht, ist die
Geometrie: »Geometrie ist eine Wissenschaft, welche die Eigenschaften des Raumes synthetisch
und doch a priori bestimmt. Was muß die Vorstellung des Raumes denn sein, damit eine solche
Erkenntnis von ihm möglich sei? Er muß ursprünglich Anschauung sein; denn aus einem bloßen
Begriffe lassen sich keine Sätze, die über den Begriff hinausgehen, ziehen, welches doch in der
Geometrie geschieht (Einleitung V). Aber diese Anschauung muß a priori, d. i. vor aller Wahr
nehmung eines Gegenstandes, in uns angetroffen werden, mithin reine, nicht empirische Anschau
ung sein.« (B 40-41) Würden wir, so Kant in der
Kritik,
eine Anschauung a priori des Ich haben,
dann hätten wir mit der rationalen Psychologie eine Wissenschaft vorliegen, die sich auf die Zeit
1-.. .„:aht „
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h 1t K;int in seiner lnau2uraldisserta
4. Das Subjekt in der empirischen und rationalen Psychologie der Metaphysik·Pölitz 1l1
Der wohl entscheidende Grund dafür, daß die rationale Psychologie
in
positi
ver Hinsicht nicht über den Wissensbest and der empirischen Psychologie hinaus
gehen kann, sofern es um die Wesensmerkmale der Seele geht, ist wohl
dann zu
sehen, daß die rationale Psychologie gerade die nur
auf
dem Boden der empiri
schen Psychologie verifizierbare Existenz des denkenden Subjekts voraussetzt. Es
macht nach Kant keinen Sinn, von der Existenz eines Subjekts
zu
sprechen.
wcl
ches nicht auf ein im inneren Sinn gegebenes Mannigfaltiges angewiesen ist; die
Existenz des denkenden Subjekts kann nicht more geometrico bewiesen werden.
Die nun in der rationalen Psychologie der
Metaphysik-Pölitz
genannten vier
»transscendentalen Begriffe« (XXVIII: 266) stimmen mit einer bedeutenden Aus
nahme mit der Tafel der »transzendentalen Prädikate«
122
überein, auf die sich die
Paralogismen in der
Kritik
beziehen.
123
Während Kant in der Vorlesung
an
vier
ter Stelle die Freiheitsproblematik diskutiert, wird in der
Kritik
an dieser System
stelle die Idealismusproblematik erörtertI
24
, die an die Kategorie der Modalität
anschließt.
Vielleicht ist einer der Gründe, warum Kant im Abschnitt über die rationale
Psychologie der Metaphysikvorlesung die Freiheit an der vierten Systemstelle er
örtert, darin zu sehen, daß er zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Kategorien der
Modalität
in
den Kanon der Kategorientafel aufgenommen hat. Im Abschnitt über
die Ontologie, aus der Heinze zitiert, wird die Modalität von den drei anderen
Kategorien separiert. Über die Kategorien der Qualität, Quantität und Relation
heißt es bestimmt: »dies sind die Kategorien des Verstandes, und ausser ihnen gibt
es keine mehr.«
12
5
Zu der Modalität schreibt Heinze referierend: »Eine gewisse
Unsicherheit, abgesehen von dem Fehlen der unendlichen Urtheile und der diesen
entsprechenden Kategorien der Einschränkung, zeigt sich nur noch betreffs der
Modalität. Später [sc. in der Kritik] werden die modalen Kategorien ganz unmit
telbar neben die andern gestellt. In den Vorlesungen folgen diese den andern erst
tion die These vertreten, daß es eine Wissenschaft von der reinen Zeitanschauung gibt: »Daher
betrachtet die REINE MATHEMATIK den
Raum
in der GEOMETRIE, die
Zeit in
der reinen ME
CHANIK« (W V: 45, Sectio II, § 12) Die empirische Psychologie beschäftigt sich nach Maßgahe
dieses Paragraphen zwar nur mit den Phaenomena des inneren Sinnes, aber mit der reinen Mecha
nik ist ein Systemort angegeben, den Kant nach 1770 auch mit der reinen Anschauung a priori des
Ich hätte füllen können.
122 A 343-344/B 401-B 402.
123
An der dritten Stelle wird in
der
Metaphysik Pölitz davon gesprochen, daß die Seele
»eine
einzelne Seele
(die Unität, die Einheit der Seele)« (XXVIII: 267) ist, ohne jedoch zu erwäh
nen, daß dies nichts anderes als die numerische Identität meiner Seihst als Person bezeichnet (vgl.
den dritten Paralogismus der Kritik .
i
24
Nach Cramer stehen ldealismuswiderlegungen »bei den deutschen Philosophen außer
halb des systematischen Zusammenhangs der rationalen Psychologie, wenn sie sich auch
in
den
Abhandlungen der rationalen Psychologie finden (Wolff). Dies ist jedoch nicht immer
cter
Fall.
Man betrachtet den Idealismus auch als kosmologisches Problem (Baumgarten) und in der Form
des Egoismus als theologisches Problem (Wolf ). Widerlegungen des Idealismus in Kompendien
der Logik sind keine Seltenheit (Knutzen und Crusius).« (1915: 31, Anm. 2)
125
XXVIII: 186.
8/17/2019 Philosophie Des Subjekts
6/57
112 Teil L Kap. III. Selbstbewußtsein, Selbstanschauung, Selbsterkenntnis
nach, als hätten sie nicht dieselbe Giltigkeit und Bedeutung wie die früheren.«126
Da die Freiheit jedoch überhaupt nicht als Kategorie bezeichnet wird, gibt Kant in
der rationalen Psychologie der Metaphysik-Pölitz eine Exposition der Seelenlehre,
die nicht mit der Kategorientafel zur Deckung
zu
bringen ist.
Im
Gegensatz zur
Kritik er reinen Vernunft wird die Freiheit in der Metaphysikvorlesung aber im
Rahmen der rationalen Psychologie erörtert, weil die Freiheit mit der Spontaneität
identifiziert wird, womit dem Selbstbewußtsein ein priviligierter Zugang zur prak
tischen Selbsterkenntnis eröffnet wird.
Wir haben oben gesehen, daß Kant bezüglich der Freiheitsproblematik in der
empirischen und in der rationalen Psychologie mit der praktischen und der trans
zendentalen Freiheit zwei gänzlich unterschiedliche Konzepte von Freiheit auf
greift, ohne daß dabei die rationale Psychologie zu einer Erweiterung unserer spe
kulativen Erkenntnis beitragen würde. Wie sieht es aber
mit
den anderen Berei
chen dieser zwei Wissenschaften aus? Sieht der Beweis für die Substantialität und
die Einfachheit der Seele, au f die ich mich hier beschränken möchte, in der empi
rischen Psychologie anders aus als in der rationalen?
( l) Die Substantialität der Seele wird in der empirischen Psychologie zwar in
Form eines Syllogismus
S 1
thematisiert, dabei wird aber als unproblematisch
vorausgesetzt, daß wir die Substanz der Seele »Unmittelbar anschauen kön
nen« 127.
Der
Syllogismus stiftet hier also keine neue Erkenntnis (wie in
der
In
terpretation Wolffs), sondern bestimmt nur den Ausdruck
'Substanz'; d. h„
es
wird gerechtfertigt, warum das Ich-Subjekt eine Substanz genannt werden kann.
Er lautet:»[ .]
Substanz ist das erste Subject aller inhärirenden Accidenzen.
[2.)
Es ist dieses Ich aber ein absolutes Subject, dem alle Accidenzen und Prädicate
zukommen können, und was gar kein Prädicat von einem andern Dinge seyn
kann. [3.] Also drückt das Ich das Substantiale aus; [„.].«128
Auch die Argumentation in
der
rationalen Psychologie wird in einem Syllo
gismus
S 2
vorgetragen:
»[ l.
Was kein Prädicat von ei nem andern Dinge ist, ist
eine Substanz. [2.] Das Ich ist das allgemeine Subject aller Prädicate, alles Den
kens, aller Handlungen, aller möglichen Urtheile, die wir von uns als einem den
kenden Wesen fällen können.
[„.].
Es geht also gar nicht an, daß das Ich ein Prä
dicat von etwas anderm wäre.
[„.].
[3.] Folglich ist das Ich, oder die Seele, die
durch das Ich ausgedrückt wird, eine Substanz.«129 Gibt es einen inhaltlichen
Unterschied zwischen diesen beiden Syllogismen?
126
Zitiert nach XXV Il: 186.
127
XXVIII: 226.
128
XXVIII:
225 226
die
in eckigen
Klammern
beigefügte
Numerierung stammt
von mir,
R K.). Knutzen bestimmt den Zusammenhang von Subjekt und Substanz wie foiot: »Eine Sub
stanz ist ein fortdauerndes Subject, welches dem Wechsel der Zufälligkeiten u n t r ~ o r f n ist;
[.„].
Durch ein Subject aber verstehe man ein Ding, in wie weit man es als so etw as betrachtet, was ein
Wesen hat, und noch überdem anderer Beschaffenheiten fähig ist.« (1744: 25-26) Nach Knutzen
ist es eine »innere Erfahrung« (1744: 20), die uns von der Einheit und Identität des Subjekts über
zeugt.
129
XXVIII: 266 (die
in
eckigen Klammern beigefügte Numerierung
stammt
von mir, H.K.).
4. Das Subjekt
in
der empirischen und rationalen Psychologie der Mctaphysik-i'ölitz
1
Wenn ich richtig sehe, besteht der Unterschied darin, daß die Substantialität
des Ich oder der Seele in ihnen in zwei verschiedenen Hinsichten
wird.
In
S
1
geht es Kant darum, das Ich als Subjekt aller möglichen Akzidcnlicn
und Prädikate auszuweisen. Das Ich drückt »nicht allein die Substanz, sondern
auch das Substantiale selbst aus. Ja was noch
mehr
ist, den Begri ff den wir über
haupt von allen Substanzen haben, haben wir von diesem Ich entlehnt«
130
Dies
steht in direktem Widerspruch zu Kants Ausführungen zum ersten Paralogismus
der Substantialität in der ersten Kritik in denen er darauf hinweist, »daß wir viel
mehr die Beharrlichkeit eines gegebenen Gegenstandes aus der Erfahrung zum
Grunde legen müssen, wenn wir
auf
ihn den empirisch brauchbaren Begriff von
einer Substanz
anwenden wollen.«
1
31
Das Ich ist als absolutes Subjekt aller mög
lichen Prädikate ausgewiesen. In der Major ist vorausgesetzt, daß ich »in mir«
»die Substanz unmittelbar« (XXVIII: 226) anschaue. Von Substanz kann ich aber
nur dann sinnvoll sprechen, wenn das Ich als Subjekt aller möglichen Prädikate
gedacht werden muß, es etwas gibt, was nicht es selbst ist. Es ist dieser Sinn der
Substantialität des Ich, der in den Anthropologievorlesungen thematisiert und in
der ersten
Kritik
in die Theorie der transzendentalen Apperzeption überführt wer
den wird.
Es ist kein Zufall, daß Kant in
der
rationalen Psychologie S 2 nicht dalünge-
hend erläutert, daß wir eine anschauende Kenntnis der Substantialität der Seele
haben, weil es innerhalb der Methodik der rationalen Ps ychologie nicht erlaubt ist,
von einer solchen zu sprechen. Kant geht es
nunmehr
um einen anderen Aspekt,
hinsichtlich dessen wir von der Substantialität des Ich bzw. der Seele sprechen
können Hierbei steht nun nicht im Vordergrund, daß, wie es in der Minor heißt,
das Ich kein »Prädicat von etwas anderm« sein kann.
132
Die Perspektive ist also
vertauscht. In S
1
ist gewissermaßen die Objektseite, in S
2
die Subjektseite the
matisiert. Ferner s cheint in S
1
und S
2
ein Unterschied bezüglich des Gegenstan
des, dem
wir
die Eigenschaft zuschreiben, eine Substanz zu sein,
Während in S 1 das Ich Substanz genannt wird, ist es in S 2 die Seele; nur in S 2
ist von »uns« die Rede. Diese Beobachtung scheint die eigentliche sachliche Dif
ferenz zwischen S 1 und S 2 zu bezeichnen, was auch mit dem Gegenstandsbe
reich der empirischen und rationalen Psychologie übereinstimmt. In der empiri
schen Psychologie beschäftigen wir uns mit unserem je eigenen lch, m der ratio-
uo XXVIII: 226; vgl. XVIII: 174, RefL 5404. Bereits Aristoteles hat
in
der Kategorienlchre
darauf hingewiesen, daß die Substanz Voraussetzung aller Prädikation ist, selbst aber nicht prädi
ziert werden kann (vgl. Kategorien 2a-b).
111 Kritik
A 349. In der
Metaphysik-L2
(wohl Anfang der neunziger Jahre) dagegen heißt es
entsprechend: »In dem Begriff vom Ich liegt die Substanz,
es
drükt das Subject aus, dem alle acci
dentia inhaeriren. Substanz ist ein Subject, das andern Dingen nicht als accidens inhae.rircn kann.
Das substantiale ist das eigentliche Subject. Wenn ich mir meiner selbst bewust bin, habe ich als
denn einen
Begriff
von dem Substantiale?
auf
keinerley Weise. Das algemeine Merkmal, wodurch
wir in der Welt alle Substanzen kennen, ist die Beharrlichkeit.« (XXVIII: 590)
m
In der Nachschrift
heißt
es auch,
daß
das Ich kein
»Prädicat
von einem andern Wesen
seyn« kann (XXV Il: 266).
8/17/2019 Philosophie Des Subjekts
7/57
114
Teil . Kap. Ul Selbstbewußtsein, Selbstanschauung, Selbsterkenntnis
nalen Psychologie aber mit einem Subjekt überhaupt, das sich mit dem Ausdruck
' ich' auf sich bezieht. Im Paralogismuskapitel der ritik wird dieser Gesichts
punkt eine große Rolle spielen.
133
Mir scheint nicht eindeutig aus der Metaphy
sik-Pölitz
hervorzugehen, ob Kant selbst die Konzeption vertreten hat, wir könn
ten allen Subjekten, die Ich sagen können, das Prädikat der Substanz zusprechen,
oder ob er hier nur die Ansicht der traditionellen Metaphysik referiert, daß alles,
was denkt, eine res cogitans ist.
134
(2) Der Beweis der Einfachheit der Seele wird sowohl in der empirischen als
auch in der rationalen Psychologie mit der Überlegung erbracht, daß »die Seele,
die in mir denkt, eine absolute Einheit
135
ausmache, ein singulare in sensu abso
luto, und also die Simplicität; denn viele Substanzen können nicht zusammen eine
Seele ausmachen.«136 Bezüglich der Einfachheit der Seele ist also kein inhaltli
cher Unterschied zwischen den beiden Teilbereichen der S eelenlehre festzustellen.
Wir hatten bei der Exposition der empirischen und rationalen Psychologie ge
sehen, daß Kant in der ersteren von dem Erfahrungssatz Ich denke ausgeht, wäh
rend er in der rationalen Psychologie nach eigener Auskunft um eine Anwendung
der »lransscendentalen Begriffe« (XXVIU: 266) auf die Seele bemüht ist. In der
empirischen Psychologie unterscheidet er objektives und subjektives Bewußtsein
und versucht deutlich zu machen, was es mit der intuitiven Erkenntnis unserer
selbst auf sich hat: »Das objective Bewußtseyn, oder die Erkenntniß von Gegen
ständen mit Bewußtseyn, ist eine nothwendige Bedingung, von allen Gegenstän
den eine Erkenntniß zu haben. Das subjective Bewußtseyn ist aber ein gewaltsa
mer Zustand. Es ist ein auf sich selbst gekehrtes Beobachten; es ist nicht discursiv,
sondern intuitiv.«1
3
7 Die empirische Selbsterkenntnis hat also bereits in den sieb
ziger Jahren einen besonderen -problematischen - Status.
Die rationale Psychologie setzt, wie bereits herausgestellt, den »gewaltsamen
Zustand« der empirischen Psychologie voraus, insofern sie sich der Prädikate be
dienen muß, die uns intuitiv zugänglich sind. Dem obigen Zitat nach zu urteilen
ist die rationalpsychologische Erkenntnis der Seele aber eine diskursive, und zwar
der
Seele überhaupt. Wir betrachten hier die Seele also mit den »transscendenta
len Begriffen der Ontologie«
138
.
Die Methodiken der empirischen und der ratio
nalen Psychologie verhalten sich somit invers zueinander: Während in der empiri
schen Psychologie aus der intuitiven Erfahrung gezeigt wird, welche Begriffe das
133
Vgl. A 353-354.
1
3
4
Zu Lamberts Auffassung vgl. oben S 76 (Anm. 2).
135
Auch Knutzcn definiert die »Einheit des Subjects« als absolute: »Die Einheit wird zwar
sonst im unterschiedenen Verstande genommen, indem sie bald eine eigentliche, (absolutam unita
tem), die gar keine Menge anderer Subjecte in sich faßet, anzeiget, bald eine zusammengesetzte
Einheit, (unitatem per aggregationem) bedeutet, in welcher letzten Absich t man auch ein ganz
Regiment Soldaten, und eine ganze Welt voll Creaturen, ein Regiment, eine Welt nennet.« (1744:
18
Anm.)
136
XXVIII: 226; zum Wortlaut der rationalen Psychologie vgl. 266-267.
137
XXVIII 227
138
XXVIII
264
4. Das Subjekt in der empirischen und rationalen Psychologie der Metaphys ik-Pöiit, ; 15
Ich ausdrückt l39, werden gerade diese Begriffe in der rationalen
auf das Ich bzw. die Seele als Gegenstand des inneren Sinnes angewandt Wir
»wenden« (XXVIII: 265) die transzendentalen Begriffe der Ontologie auf die See
le an. fü ist klar, daß die Anwendung der Begriffe ihren Erwerb (die metaphysi
sche Deduktion) voraussetzt. Es dürfte daher nicht überraschen, daß die empiri
sche und die rationale Psychologie dort, wo sie nicht verschiedene Thematiken
aufnehmen, zu identischen bzw. vergleichbaren Ergebnissen kommen. Auch dort,
wo mit der transzendentalen Freiheit eine Problematik aufgenommen wird, wel
che im Rahmen der empirischen Psychologie
nicht
verhandelt wurde bzw. ver
handelt werden konnte, bringt die rationale Psychologie keine neuen dogmati
schen metaphysischen Erkenntnisse
hervor 140
Ihr Nutzen ist, um eine Formulie
rung aufzunehmen, die auch im Paralogismuskapitels der Kritik entscheidend ist,
rein negativ.
141
Die rationale Psychologie kann zeigen, daß es keine Argumente
geben kann, mittels derer die Unmöglichkeit der transzendentalen Freiheit be
weisbar ist.
Dieser negative Nutzen der reinen Seelenlehre zeigt sich nun auch in den zwei
verbleibenden Abschnitten dieser Disziplin, in denen die S eele mit anderen. Din
gen (körperliche und denkende Naturen) verglichen (2. Abschnitt) bzw. über die
Verknüpfung der Seele mit diesen anderen Dingen
(3.
Abschnitt) gehandelt wird.
Erst in diesen Abschnitten wird die Frage aufgew01fen, deren Beantwortung nach
Kant die »größte Sehnsucht« (XXVIII: 263) des Menschen und somit das oberste
Beweisziel der rationalen Psychologie darstellt: Wie sieht der zukünftige Zustand
der Seele aus? Sind wir Personen, die unsterblich sind? Sollte es dogmatische Ein
sichten geben, die der rationalen Psychologie nach Kant eigen sind, dann müßte er
sie an diesem Ort der
Metaphysik-Pölitz
präsentieren.
Wenden wir uns diesen Abschnitten zu, so fällt schon durch den Gebrauch der
Termini hypothetisch (XXVIII: 264) und
'problematisch'
142 auf, daß Kant hier
im Gegensatz etwa zu Wolff und Baumgarten gerade keine dogmatischen Behaup
tungen aufstellen will, die unsere
auf
dem Felde der empirischen Psychologie
gewonnenen Erkenntnisse der Natur und der Eigenschaften der Seele in theoreti
scher Perspektive erweitern würden. Für alle diesbezüglichen Ausführungen gilt:
»Wir werden also hier
unsere Unwissenheit
kennen lernen, und
den Grund der
selben einsehen; warum es unmöglich ist, daß hierin kein Philosoph weiter gellen
139
Wie bereits deutlich geworden sein dürfte, handelt es sich hierbei um einen trrminus
technicus, der in der rationalen Psychologie nicht vorkommt: »Denn dieser Begriff von
kl i
drückt
aus« (XXVIII: 225). In der Amhr.-Collins heißt es entsprechend: »D er er;,te Gedancke der uns auf.
stößt, wenn wir uns selbst betrachten drückt das Ich aus; es drückt aus die Beschauung seiner
selbst.
[„ ]
Es drückt ferner meine Substantialität aus
[.„ .«
(p. 2-3) Auch
in
der
ritik
finden sich
für ihn Belege: »Denn, wenn diese [sc. die Kategorien) nicht eine bloß logische Bedeutung haben,
und die Form des Denkens analytisch ausdrücken sollen,
[„. .«
(A 219/B 267; vgl. B 157 Anm)
14
Dennoch unterscheidet sie sich hier inhaltlich von der Erörterung der Seele in der empiri
schen Psychologie.
141
Der Terminus begeg net XXVIII: 291
»negativen
Nutzen«).
1
4
2
Vgl. XXVIII: 276
u
278.
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116
Teil . Kap. HI. Selbstbewußtsein, Selbstanschauung, Selbsterkenntnis
kann, und auch nicht gehen wird; und wenn wir das wissen, so wissen wir schon
viel.« (XXVIII: 274) Dieser Grund wird uns einleitend genannt: Wir werden »er
sehen, daß unsere transscendentalen Begriffe nicht weiter gehen, als uns die Er
fahrung leitet, und daß sie nur die Erkenntniß a posteriori dirigiren.
Bis n die
Grenzen der Erfahrung können wir zwar kommen, so wohl
aparte
ante als post,
aber nicht bis über die Grenzen der Erfahrung. Allein hier werden wir mit Nutzen
philosophiren, indem wir dadurch die falsche Vernünftelei in Schranken halten,
die die wahre Erkenntniß nur untergräbt.« (XXVIII: 264) Kant gibt bereits hier zu
erkennen, daß die Frage nach dem zukünftigen Zustand der menschlichen Seele
nicht mehr in der von Wolff oder Baumgarten vertrauten Weise beantwort et wer
den kann: »Wir werden hier nicht dogmatisch von dem Zustande der Seele vor der
Geburt und nach dem Tode reden;
obgleich man davon, wovon m n nichts weiß,
weit mehr reden kann, als davon, wovon man etwas weiß.« (XXVIII: 264-265)
Beschränken wir uns auf die Kardinalfrage der rationalen Psychologie. Wenn
wir sie nicht dogmatisch beantworten können, wie dann? Zunächst eine Vorbe
merkung zum Ausdruck dogmati sch : Kants Verwendung dieses Ausdrucks
macht deutlich, daß mit ihm eine Abgrenzung gegenüber der Schulmetaphysik
vorgenommen werden soll, so wie sie dem Studenten, der die Kantische Vorle
sung hört, etwa in Form des Baumgartensehen Metaphysik-Kompendiums ver
traut ist. Kants Position selbst ist aber aus der Sicht der Kritik der reinen Vernunft
post festum auch als dogmatisch zu bezeichnen, allerdings aus einem anderen
Grunde. Der Kantische Dogmatismus der siebziger Jahre leitet sich her vom Aus
gangspunkt seines Philosophierens, dem Ich- oder Selbstbewußtsein, welches
deshalb als ein Grund dogmatischer Einsichten (im Sinne der Kritik anzusehen
ist, weil Kant die Kategorien als reale Eigenschaft en des Ich-Subjekt s selbst
begreift, also nicht bloß als die Formen der Gegenstände der Erfahrung. Die empi
rische Psychologie ist dogmatisch, weil sie eine anschauende Erkenntnis unserer
selbst behauptet.
Die Kategorien sind dezidiert intellektuelle Relationen, so daß Tiere, die kein
Selbstbewußtsein haben, weder eine Erkenntnis von Gegenständen der Erfahrung
haben, noch sich selbst als Subjekte begreifen können: »Sie [sc. die Tiere] werden
keine allgemeine Erkenntniß durch Reflexion haben, nicht die Identität der Vor
stellungen, auch nicht die Verbindungen der Vorstellungen nach dem Subjecte
und Prädicate, nach Grund und Folge, nach dem Ganzen und nach den Theilen;
denn das sind alles Folgen des Bewustseyns, dessen die Thiere ermangeln.«143 Es
bedarf keiner exegetischen Subtilitäten, um in diesen Verbindungsfunktionen die
Urteilsfunktionen der Relation zu erkennen, auf denen alle Verbindung zwischen
Vorstellungen gründet. In der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant:
»
] Alle
Verhältnisse des Denkens in U1teilen sind die a des Prädikats zum S ubjekt, b) des
143
XXVlll: 276. Nach Ameriks ist Kants These, Tiere haben keinen inneren Sinn, wohl so
zu verstehen, »that they [sc. die Tiere] lacked the judgmental capacity that he
later
designated as
apperception.« (1982: 25 J) Demgegenüber ist aber darauf hinzuweisen, daß
Kant
den Tieren noch
in
den achtziger Jahren neben dem Vermögen der Apperzeption
auch
den inneren Sinn abspricht.
4. Das Subjekt
in
der empirischen und rationalen Psychologie der Metaphysik Polit1. i l 7
Grundes zur Folge, c) der eingeteilten Erkenntnis und der gesammelten Uliedcr
der Einteilung untereinander.« (A 73/B 98)
Nun vertritt Kant die Auffassung, daß auch die Unsterblichkeit der Seele aus
schließlich in Rekurs auf diejenige Instanz zu beweisen ist, mittels derer wir über
haupt nur Erkenntnisse über die Seele gewinnen können: das Selbstbewußtsein.
Seines Erachtens ist der einzig mögliche Beweis für die Unsterblichkeit der Seele
transzendental und wird demnach a priori geführt. 'Leben' wird von ihm definiert
»als ein Vermögen aus dem innern Princip, aus der Spontaneität , zu handeln_ Nun
liegt es schon im allgemeinen Begriff der Seele, daß sie ein Subject sey, das Spon
taneität in sich enthält, sich selbst aus dem Princip zu determiniren. Sie ist der
Quell des Lebens, der den Körper belebt.« (XXVIII: 285) Das »Bcwustscyn des
bloßen Ich« stellt also einen hinreichenden Beweis dafür dar, »daß das Leben
nicht im Körper, sondern in einem besondern Princip liegt, welches vom Körper
unterschieden isl; daß folglich dieses Principium auch ohne Körper fortdauern
kann, und dadurch sein Leben nicht vermindert, sondern vermehrt wird.«
(XXVIII: 287) Dieser Beweis ist bekanntlich nur auf der Grundlage der Kanti
schen Ich-Theorie zu führen und kann sicherlich nicht als ein spezifisches Lehr
stück der rationalen Psychologie angesehen werden. Das einzig Rationale an die
sem Beweis ist, daß hier ein Be griff von Selbstbewußtsein vorausgesetzt wird, der
sich auf das bloße Denken und Wollen des Subjekts, also die Intelligenz, bezieht.
»Denken und Wollen sind bloß Gegenstände des inneren Sinnes.« (XXVIII: 279)
Die Betonung liegt hier auf dem Wort 'bloß'. Denn die Seele ist zwar ein Gegen
stand des inneren Sinnes, aber ein solcher, der in einem (wie immer zu fassenden)
Kommerzium mit dem Körper steht, als einer wechselseitigen Bestimmung von
denkendem Wesen und Körper. Der Ausdruck menschliche Seele' setzt voraus,
daß wir es mit einem Subjekt zu tun haben, welches sowohl einen inneren ais auch
einen äußeren Sinn hat.
Von
der Beziehung zum äußeren Sinn wird aber beim
Denken und Wollen als 'bloßen' Gegenständen des inneren Sinnes (also des Be
wußtseins) abstrahiert. Sie drücken die Intelligenz eines Subjekts aus, ohne dabei
zu prätendieren, daß dieses Subjekt als Seele gänzlich unabhängig von außeren
Empfindungen denken und wollen kann. Das Bewußtsein des bloßen Denkens und
Wollens ist systematisch gesehen der Ausgangspunkt der reinen oder transzenden·
talen Apperzeption, von der die
Kritik
spricht. Das Bewußtsein unseres Denkens
und Wollens ist also ein solches, welches als Spontaneität überhaupt noch keinen
Bezug auf den Begriff der Seele hat, wohl aber auf den der Substanz. Einern (wie
immer gearteten) Subjekt Spontaneität zuzuschreiben, heißt zugleich, ihm die
Eigenschaft der Substantialität zuzueignen. Die Unsterblichkeit der Seele, die
Kant aus dem Sponlaneitätsbewußts ein gewinnt, kann erst dann sinnvoll behaup
tet werden, wenn das denkende Subjekt als ein solches verstanden wird, welches
in einem Kommerzium mit dem Körper steht.
Während dieser apriorische Beweis der Unsterblichkeit der Seele nur in einem
uneigentlichen Sinne Teil der rationalen Psychologie ist, werden die traditionellen
dogmatischen Beweise der Unsterblichkeit der Seele als undurchführbar abge
lehnt: der theologisch-moralische, der empirische aus der Psychologie und der
8/17/2019 Philosophie Des Subjekts
9/57
118 Teil I, Kap. lll. Selbstbewußtsein, Selbstanschauung, Selbsterkenntnis
analogische.
144
Überraschend gibt Kant gegen
Ende der Ausführungen
zur ratio
nalen Psychologie zu erkennen,
»daß es
ganz und gar
nicht hier unserer Bestim
mung gemäß ist uns um die künftige Welt viel zu bekümmern; sondern wir müssen
den Kreis zu dem wir hier bestimmt sind vollenden und abwarten wie es in An
sehung der künftigen Welt seyn wird.«
(XXVIII:
300-301 Und
nun wird eine
Überlegung vorgetragen, die auch in der Kritik in den Vordergrund treten wird:
Nicht der theoretische Beweis der Unsterblichkeit der Seele und die
Beschaffen
heit der zukünftigen Welt stellt die
»Hauptsache«
unseres irdischen Strebens dar,
sondern die Moralität, »daß wir uns
auf
diesem
Posten
rechtschaffen und sittlich
gut verhalten, und uns des künftigen
Glücks würdig
zu machen suchen.«145 Aus
diesem Grund fand Kant den theologisch-moralischen Unsterblichkeitsbeweis als
»practisch hinreichend genug, einen künftigen
Zustand
zu glauben.« (XXVIII:
289) Dasselbe gilt für die transzendentale Freiheit; auch sie ist »practisch hinrei
chend, aber nicht speculativ.« (XXVIII:
270)
Wenn nicht die spekulative, sondern
die Moralphilosophie die
»Hauptsache«
darstellt, auf
deren Grundlage ein
prak
tisch hinreichender Unsterblichkeitsbeweis geführt werden kann, dann sind die
spekulativen Anstrengungen
im Bereich der
rationalen
Psychologie
nur insofern
von Bedeutung, als durch sie gezeigt werden kann, daß die Sterblichkeit der Seele
keinesfalls mit den Mitteln der
spekulativen
Vernunft zu beweisen ist. In
diesem
Sinne gesteht Kant dem
empirischen
Beweis aus der Psychologie
einen
»negati
ven
Nutzen« (XXVIII: 291) zu: Aus
Erfahrungsgründen
kann niemals die Sterb
lichkeit der Seele bewiesen werden,
da wir
im
Leben Erfahrungen
nur in Verbin
dung mit dem Körper anstellen. Welche Folgen der Verlust des Körpers hat, bleibt
unvoraussehbar: Der Tod ist nicht von dieser Welt. Aus dem selben Grunde kann
der Sitz der Seele ebensowenig eingesehen werden wie es eine Wissenschaft von
Geistern geben kann; durch die Vernunft kann nichts eingesehen werden,
»als daß
solche Geister möglich sind.« (XXVIII:
300
5. Was heißt es eine Anschauung seiner selbst zu haben?
Der Kantischen Distinktion zwischen empirischer und rationaler Psychologie
entspricht auf der Ebene der Methode die
zwischen
zwischen intuitiver und dis
kursiver Erkenntnis der Seele.
Wir
hatten in unseren bisherigen Ausführungen of
fen gelassen, was genau Kant in den
siebziger Jahren
des 18. Jahrhunderts unter
einer intuitiven oder anschauenden Selbsterkenntnis versteht.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die Konzeption e iner intuitiven Selbster
kenntnis nicht mit einer intellektuellen
Anschauung
identifiziert werden darf.
144
Vgl. XXVIII: 288, 291 u. 292.
145
XXVIII: 301: vgl. 265. In der Reflexion 4934 (1776-78) wird der hyperphysische Ge
brauch der Kategorien in spekulativer Hinsicht ausgeschlossen, gleichzeitig aber seine Bedeutung
für den moralischen betont: »Die transscendentalen Begriffe sind von gar keinem hyperphysischen
Gebrauch ausser in subsidium der moralischen.« (XVIII: 33)
5. Was heißt es, eine Anschauung seiner selbst zu haben?
19
Kant hat zu
keinem Stadium seiner
philosophischen
Entwicklung angem mmen,
daß der menschliche diskursive Verstand einer intellektuellen der
Seele oder der Gegenstände der Erfahrung fähig ist.146
Anschauen können
wir nur mit
unseren Sinnen.
In der
Metaphysik-Pölitz
heißt es entsprechend:
»kh
selbst schaue mich an, die Körper aber nur so, wie sie
mich affizieren. [„ ] Wenn ich
aber
in den Bestimmungen weiter gehen will; so
verfalle ich in den
mystischen
Idealismus. Beha upte ich denkend e Wesen von
denen ich intellectuelle Anschauung habe; so ist das mystisch.
Die Anschauung ist
aber
nur
sensuell; denn nur die Sinne schauen an; allein der Verstand schaut nicht
an, sondern reflectirt.«
47
Im
Duisburg-Nachlaß lesen wir: »Wenn wir intellectu
ell anschaueten, so bedürfte es keiner titel
der
apprehension, um ein Obiect sich
vorzustellen.« (XVII:
658,
Refl.
4677)
In
einer
anderen Reflexion ersetzt Kant
den Ausdruck Verstand durch den des Geistes . Der Geist ist - Kant folgt der
Tradition -
eine
Seele, die (funktional) nicht mit
einem
Körper
in
Verbindung
steht. »[„.] Daß
unsre Seele ohne Körper
als Geist andere
Dinge,
cl i. äußerlich
anschaue, ist
eine
Überschreitung
der
Schranken des dati.
Denn
die Seele erken
nen wir nur als den Gegenstand des inneren Sinnes und den Körper
ab
das Mittel
der äußeren. Unser Anschauen ist physisch und nicht mystisch; das physische ist
nicht pneumatisch, sondern organisch.«148
So ist Platon in Kants Verständnis ein mystischer Philosoph, weil er
eme
intel
lektuelle Anschauung des Verstandes angenommen hat: »Das mystische ideal der
intellectuellen
Anschauung
des Plato.«149 Und: »Plato der intellectualphilosoph.
Mystisch. / Epicur der
empirische
philosoph.
/Aristoteles der
[bricht ab].«150
146
Hinsichtlich der Inauguraldissertation vgl. den § 10.
147
XXVIII: 207; vgl. 179: »Intellectuale Anschauung bei den Menschen ist ein Unding.« In
der
Metaphysik-Pölitz
heißt es einschränkend: »Weil also Raum und Zeit nur Formen der Sinn
lichkeit sind, so können wir erstlich nicht allgemein behaupten, dass alle Dinge im Raume und in
der Zeit sind, weil nicht alle Dinge Gegenstände der Sinnlichkeit sind, z. E. Gott und unsere
Seele.« (XXVIII: 181)
1
4
s XVIII: 13, Refl. 4863 (datiert 1776-78).
149
XIX: 108, Refl. 6611 (sechziger Jahre). Gegen die Vorstellung Swedenbmgs, man könne
andere Geister in dieser Welt anschauen, vgl. neben den Träumen eines Geistersehers auch Meta
physik-Pölitz
XXVIII: 300 und
Metaphysik-Volck111a11n
XXVIII: 371.
150
XVIII: 21, Refl.
4894;
vgl. Refl. 4867 (»Der Gebrauch des Verstanucs ist
entweder
my
stisch oder logisch; der letztere metaphysisch oder physiologisch. Aristoteles und epicur.« XV II:
15
und Refl. 4868 (»Plato trug mystisch intellectualia, Aristoteles logische intellectualia vor, letz
terer fehlte darin, daß er sagte, sie wären auch in den Sinnen gelegen. Denn der Begrif der Ursache
lag niemals in der sinnlichen Anschauung.« XVIII: 15) Siehe auch die Refle.
8/17/2019 Philosophie Des Subjekts
10/57
20
Teil I, Kap. lll. Selbstbewußtsein, Selbstanschauung, Selbsterkenntnis
Noch
in
der
Kritik der reinen Vernunft
spricht Kant hinsichtlich der Frage nach
dem Ursprung reiner Vernunfterkenntnisse von Platons »mystischem Systeme«
(A 854/B 882).
Die intellektuelle Anschauung beinhaltet also die These, daß ich mich und die
Dinge außer mir auf eine nicht-physische Weise anschaue. Neben dem Element
der Diskursivität des Verstandes hebt Kant demgegenüber bezüglich der Selbster
kenntnis der Seele hervor, daß der Verstand ein reflektierendes Vermögen ist. Die
Anschauung meiner selbst im Sinne Kants bezieht sich i mmer auf die Seele, nicht
auf den Verstand oder auf den Geist. Insbesondere dadurch, daß er niemals be
hauptet, wir würden unseren
eist
anschauen, ist klar herausgestellt, daß die An
schauung unserer selbst immer eine sinnliche Anschauung sein muß. Allerdings
muß er dabei ausschließen, daß ich mich als Seele a uf dieselbe Art und Weise wie
die Körper außer mir anschaue, denn dann würde ich meine Seele nur als Phae
nomenon anschauen.
Kants Theorie der Selbstanschauung scheint in den siebziger Jahren mit einem
Widerspruch konfrontiert zu sein, der sich aus der möglichen Nichtvereinbarkeit
von zwei Thesen ergibt: 1) Nur die Sinne schauen an. 2) Die Anschauung mei
ner selbst beruht auf einer Reflexion des Verstandes bzw. der Apperzeption.
(Ad
1)
Dasjenige, dessen ich mir im inneren Sinn bewußt bin, ist ein Erfah
rungssatz, nämlich Ich bin
5
• »Das erste, was ich bey mir gewahr werde, ist
das Bewußtseyn. Dies ist kein besonderes Denken, sondern dasjenige worunter
ich die übrige Vorstellungen etc. bringen kann, es ist die Bedingung und die form
unter der wir denkende Wesen oder intelligentzen sind.« (XXIX: 44) Dies heißt
nichts anderes, als daß ich deshalb eine Anschauung von mir selbst haben kann,
weil es sich bei dem Bewußtsein meiner selbst im inneren Sinn um einen Erfah
rungssatz handelt. Im Gegensatz zu den äußeren Körpern,
zu
denen ich
in
einem
Affektionsverhältnis stehe, welches derart beschaffen ist, daß ich es hier mit ei
nem Mannigfaltigen von Vorstellungen in der Erscheinung zu tun habe, bin ich
mir selbst im inneren Sinn so gegeben, wie ich an mir selbst beschaffen bin. Da
nur die Sinne anschauen und ich eine Anschauung meiner selbst habe, schaue ich
mich im inneren Sinn an. Ich habe also eine »physische« Anschauung und zwar
meiner individuellen Seele.
(Ad
2) Die Unterscheidung zwischen der Anschauung von mir, so wie ich an
mir selbst als Seele beschaffen bin, und der Anschauung von etwas als Erschei
nung kann Kant nur dadurch rechtfertigen, daß
er
die Selbstanschauung im inne
ren Sinn als solche versteht, die au f der Beobachtung seiner selbst, also auf einem
reflexiven Akt, gegründet ist. Da Tiere über kein Reflexionsbewußtsein verfügen,
haben sie auch keinen inneren Sinn; eine Position, die Kant schon in den fünfziger
Jahren vertreten hatl52 und, soweit ich sehe, in der Schulmetaphysik ohne Vor-
bild ist. Hiermit erklärt sich jedoch der ansonsten überraschend anmutende Sach-
151
Vgl. XXVIII: 224.
152
»Das
Bewust
seyn ist sensus internus. [ .. ] animalia ha bent sensum extern um, non inter
num,« (XVI: 80, Retl. 1680, datiert 1755/56)
5. Was heißt es, eine Anschauung seiner selbst zu habcn'I
2
verhalt, daß Kant keine Tierpsychologie vorträgt.
Von
Wesen, die keinen inneren
Sinn haben, kann man schwerlich eine empiri sche Psychologie schreiben.
Ein Widerspruch in der Kantischen Theori e scheint sich nun dadurch
zu
erge
ben, daß er zwar einerseits reflexives Bewußtsei n und inneren Sinn identifizieren
muß, dies aber aus systematischen Gründen nicht machen darf. Es gehört zur De
finition des inneren wie des äußeren Sinnes, daß dasjenige, was i n ihnen ist , ih
nen gegeben worden ist. Schauen wir uns im inneren Sinn an, muß dasjenige, was
wir dort anschauen, gegeben worden sein. Gleichzeitig können wir uns die An
schauung unserer selbst nur aufgrund eines reflexiven Aktes
zu
Bewußtsein brin·
gen. Subjekt und Objekt unserer Aufmerksamkeit fallen also zusammen. 153 Da
bei sind wir uns als eines handelnden, spontanen Wesens bewußt. Aus diesem
Bewußtsein folgt nun die grundlegende Bestimmung unserer selbst, nämlich daß
wir eine Substanz sind: »WO eine Handlung ist, da ist substanz« (XVII: 663). In
der Reflexion 4495 spricht Kant gar vom »verbum activum ich
8/17/2019 Philosophie Des Subjekts
11/57
22
Teil I, Kap. llL Selbstb ewußtsein, Selbstanschauung, Selbsterkenntnis
veranlaßt haben, Kant generell eine »Unsinnliche, intellektuelle Selbstanschau
ung« (1989: 189) in den siebzi ger Jahren zu unterstell en. Wenden wir uns diesen
Texten zu, muß jedoch festgehalten werden, daß die Konzeption einer intellektuel
len Anschauung von Kant
in
einem sehr spezifischen Sinne gebraucht wird und
keinen Widerspruch mit seiner Auffassung einer Anschauung der Seele als eines
Gegenstandes des inneren Sinnes beinhalte . Alle diesbezüglichen Dokumente
sprechen von einer intellektuellen Anschauung immer dann, wenn es um die
Spontaneität oder Freiheit der Seele und zwar im Sinne der transzendentalen oder
absoluten Freiheit geht. Der
Begriff
des Intellektuellen bezeichnet nämlich ein
Bewußtsein von einem Tun; Freiheit und Intelligenz gehören also zusammen.
55
Als Intelligenz bin ich kein Gegenstand des inneren Sinnes.
»Die Wirklichkeit
der
Freyheit könen wir nicht aus der Erfahrung schließen.
Aber wir haben doch nur einen
Begrif
von ihr durch unser intellectuelles inneres
Anschauen (nicht den inneren Sinn) unsrer Thatigkeit, welche durch motiva intel
lectualia bewegt werden kan; und wodurch practische Gesetze und regeln des
Guten Willens selbst in ansehung unsrer möglich sind. Also ist die Freyheit eine
nothwendige practische Voraussetzung. Sie wiederspricht auch nicht der theoreti
schen Vernunft.«IS6 In
der
Reflexion 4228
vom
Ende
der
sechziger oder vom
Anfang der siebziger Jahre schreibt Kant: »Wir sehen uns durch das Bewustseyn
unsrer Persöhnlichkeit in der intellectualen Welt und finden uns frey. Wir sehen
uns durch unsre Abhängigkeit von Eindrüken in der Sinnenwelt und finden uns
determinirt. Unsere Anschauungen der Körper gehören alle zur Sinnenwelt; dem
nach stimen die Erfahrungen mit den Gesetzen derselben determinirenden grün
den. aber unsre intellectuale Anschauungen vom freyen Willen [sc. nicht von der
Seele ] stimen nicht mit den Gesetzen der phaenomenorum.« (XVII: 467) In
der
Reflexion 5552 vom Ende der siebziger oder
dem
Anfang der achtziger Jahre
heißt es: »Dreyerley intellectuelles [sc. Gott, Freiheit, Unsterblichkeit] (intelligi
beles) (noumenon) enthält das Unbedingte, und von der Freyheit und ihren Geset
zen kann man Erkentnis haben und dadurch die obiective Realit ät der Menschheit
als noumenon mitten im mechanism desselben als phaenomenon beweisen.
[„.]
Die categorien aufs Intelligible angewandt können doch praktisch-dogmatische
Erkenntnisse begründen, wenn sie nämlich auf die Freyheit gerichtet sind und das
Subject derselben nur in relation darauf bestimmen; [ .. ] « (XVIII: 221) Kant ist
also Ende der siebziger Jahre der Meinung, daß auf der Ebene der praktischen Phi
losophie von Kategorien ein dogmatischer Gebrauch gema cht werden kann, wäh
rend dies für den Bereich der theoretischen Philosophie ausgeschlossen ist.
57
155
XVII: 447, Refl. 4182 (datiert 1769-1777) sowie XVIII: 7, Refl. 4849 (datiert 1776-78).
156 XVI :
509-510,
Refl.
4336
(wahrscheinlich aus den siebziger Jahre).
157 Diese Position wird auch in der Reflexion
5119
vertreten: »Der Nutze [sc. der Metaphy
sik] ist also durchgängig negativ.
1.
Dogmatische Verneinungen, welche die empirische Ausbrei
tung der Erkentnis einschränken, wegzuräumen. 2. Dogmatische Behauptungen, welche die Ver
nunft über den praktischen Gebrauch unnütz ausdehnen wollen, einzuschränken.« (XVIII: 97, da
tiert 1776-78)
5.
Was heißt es, eine Anschauung seiner selbst zu haben ?
23
In
der Reflexion 5049 ( 1776-78) wird dabei der Begriff der log•schen Persön
lichkeit als Äquivalent zur transzendentalen Persönlichkeit eingeführt: »[Der inne
re Sinn]I58 Bewustseyn ist das Anschauen seiner Selbst. Es wäre nicht Bewust
seyn, wenn es Empfindung wäre. In ihm liegt alles Erkentnis, wovon es auch sey,
Wenn ich von allen Empfindungen abstrahire, so setze ich das Bewustscyn vor
aus. Es ist die [transzendenta e]l
5
9
logische Persohnlichkeit, nicht die practische:
diese ist das Vermögen der Freyheit, kraft dessen man, ohne äußerlich bestimmt
zu
seyn, von selbst Ursache seyn kann. Die moralische personlichkeit ist die Fä
higkeit der Bewegungsgründe der bloßen Vernunft, kraft deren ein Wesen der
Gesetze fähig ist und also auch der Zurechnungen.«160
Alle diese Texte kreisen also um das Problem der transzendentalen Freiheit
bzw. der Spontaneität und behaupten, daß wir eine intellektuelle Anschauung von
uns als einem freien und spontanen Wesen haben. Warum spricht Kant hier von
einer intellektuellen Anschauung? Die Antwort liegt
auf
der Hand: Weil wir als
freie Wesen Teil der noumenalen Welt sind; die Freiheitsges etze sind die Gesetze,
die
in
der intelligiblen Welt gelten. Es kann also per definitionem keine andere als
eine intellektuelle Anschauung unserer selbst dafür herangezogen werden. 'An
schauung' meint hier nicht mehr als ein reines Bewußtsein. Das Freiheilsbewußt
sein ist somit bereits in den siebziger Jahren vor allen anderen Arten von Bewußt
sein oder Erkenntnis ausgezeichnet. Der Begriff der praktischen Freiheit ist hier
für aber ungenügend, weil
er
nicht zu erklären vermag,
wie
es möglich ist, bloß
durch intellektuelle Motive bestimmt zu werden. Die transzendentale Freiheit
wird von Kant denn auch in der
Metaphysik Pölitz
in
der
rationalen Psychologie
abgehandelt, wo es ausgeschlossen ist, daß ein empirischer oder Empfindungsge
halt
in
unserem Bewußtsein eine Rolle spielt. Das heißt aber noch lange nicht, daß
wir von unserer Seele (unserem Geist) eine intellektuelle Anschauung haben.
Mir
ist keine Reflexion oder Vor esungsnachschrift bekannt, in der Kant eine solche
behaupten würde.
Ein Subjekt, welches eine reine Spontaneität besitzt, nennt Kant
in
den siebzi
ger Jahren Intelligenz, eine Redeweise, die uns auch in den achtziger Jahren be
gegnen
wird.161
Der Mensch ist eine Intelligenz, weil
er
als praktisches Subjekt
Glied des mundus intelligibilis
ist.162
In der
Metaphysik Mrongovius
wird das Existenzbewußtsein cbcnfalb als blo
ße
Intelligenz gefaßt: »Das Vermögen, den Gedanken zu fassen: Ich bin. gehört
158 ( ] Von Kant gestrichen.
159
]Von
Kant gestrichen.
60 XVIII:
72-73;
vgl. die Refl.
6860
(zweite Hälfte siebziger, Anfang achtziger Jahre): »Die
apperception sein er selbst als eines intellectuellen wesens, was thätig ist, ist
freyhe1t.
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12/57
124
Teil
,
Kap. IU. Selbstbewußtsein, Selbstanschauung,
e l b s t e r k e n n t n i ~
bloß für die Intelligenz. Dieses Ich bleibt, und wenn sich alles geändert hat, wenn
sich Körper und Grundsätze geändert haben. Was nun die Identitaet seines Selbst
ausmacht, ist schwer zu wissen;
auf
dieses bezieht sich alles, alles kann sich än
dern, nur das Bewußtsein und die Apperzeption oder das Vermögen, die Vorstel
lungen auf sein Selbst zu referieren.« (XXIX: 878) Auch in der zweiten Auflage
der
Kritik
wird dieser Gedanke expressis verbis vorgetragen, ohne daß Kant dabei
auf die Konzeption einer intellektuellen Anschauung zurückgreifen würde. In
§ 25
führt er aus, daß ich mir »in der ursprünglichen Einheit der Apperzeption« weder
bewußt bin, wie ich mir erscheine, noch, wie ich an mir selbst beschaffen bin,
»sondern nur daß ich bin. Diese
Vorstellung
ist ein
Denken
nicht ein
Anschauen.«
(§
25, B 157) Dieser Gedanke wird in einer Anmerkung wie folgt kommentiert:
»[„.]
ich stelle mir nur die Spontaneität meines Denkens, d.
i
des Bestimmens,
vor, und mein Dasein bleibt i mmer nur sinnlich,
d i
als das Dasein einer Erschei
nung, bestimmbar.
Doch
macht diese Spontaneität, daß ich mich
Intelligenz.
nenne.« (B 158 Anm.)
Auch die oft zitierte Äußerung in A 546/B 574, wonach der Mensch sich selbst
»auch durch bloße Apperzeption« erkennt, meint eine Erkenntnis als Intelligenz,
nicht als Seele.163 Während Kant in den siebziger Jahren auf die Idee einer intel
lektuellen Anschauung zurückgreift, um den Gedanken, mich selbst als spontanes
und frei handelndes Wesen fassen zu können, wird es seit der
Kritik
als ein bloßes
Bewußtsein gefaßt, welches im eigentlichen Sinne gerade keine Erkenntnis, son
dern vielmehr ein bloßes Bewußtsein markiert. Zu
jeder
Erkenntnis gehört näm
lich noch eine »bestimmte Art der Anschauung«(§ 25, B 157).
Intelligenzen werden so von Kant als Wesen beschrieben, denen das Vermö
gen des Verstandes und der Vernunft und damit der Spontaneität und der Freiheit
zukommt.1
64
Seelen sind Subjekte, die zugleich Intelligenzen sein können, aber
nicht müssen (siehe Tiere). Zudem stellt sich nur bei Seelen, nicht aber bei bloßen
Intelligenzen, die Frage, ob sie unsterblich und immateriell sind. Die menschl iche
Seele hat dabei nach M aßgabe der rationalen Psychologie das Vermögen der Intel
ligenz und die Eigenschaften der Unsterblichkeit und der Immaterialität, die zu
beweisen nach A
383-384
der
Kritik
zu den Hauptaufgaben dieser Disziplin ge
hört. Intelligenzen als solche können aber weder sterblich noch unsterblich sein.
In
den achtziger Jahren benötigt Kant das Spontaneitätsbewußtsein,
um
We
sen, die eine ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption haben, als Intel
ligenzen ausweisen zu können; es ist die Intelligenz, die macht, daß ich in der
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