Rezension: Ein “Diplomat aus den Wäldern des Orinoko”. Alexander von Humboldt als Mittler...

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Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33 (2010): Rezensionen

Konzept „Kameralismus“ verankert; zwischenihnen organisierte sich kameralistisches Wissen alsIdee, das Gemeinwohl zu f�rdern, indem mandem F�rsten Geld verschafft, und dem F�rstenGeld zu verschaffen, indem man das Gemeinwohlf�rdert. Die Zange des doppelten Anspruchs istwissenschaftlich in zweierlei gem�ndet: erstens ineine Umsetzung von Staatsutopie in System undim zweiten Schritt in die Autorisierung des eige-nen Felds der Kameralisten, der Wissenschaft, alsdie objektive Realisation von System. Was beiMorus noch Staatsutopie war, hieß bei Seckendorffund Justi Staatswissenschaft, die Autorit�t ge-wann, indem sie sich Physik, Chemie, Botanik,Agrar- und Verwaltungswissenschaft als Hilfswis-senschaften zuordnete und sobald es gelang, nachder Institutionalisierung dieses Lernkanons in

Schulen, eine derartige Ausbildung f�r Staatsbe-amte obligatorisch zu machen.

Wakefield hat sein Buch schwungvoll geschrie-ben. Man lasse sich davon nicht t�uschen: dasBuch ist, wie in den USA �blich, ein vielfach �ber-arbeiteter Text, dessen Lesbarkeit nichts von seinerSubstanz nimmt, wie schon das Literatur- und Ar-chivverzeichnis ausweisen. Man solle niemandemtrauen, gerade Wissenschaftlern nicht, wenn sievon System reden, schließt Wakefield sein Buch.Ich f�rchte, sein Schlussappell kommt f�r uns allezu sp�t. Wakefields Demonstration jedoch, dass essich bei Wissenschaft und Kontext um die Einheitvon Wissen, Praxis und Institutionalisierung han-delt, kommt, scheint mir, gerade recht.

Martin Gierl (G�ttingen/M�nchen)

102 i 2010 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Ber. Wissenschaftsgesch. 33 (2010) 100–112

DOI: 10.1002/bewi.201001439

Ulrich P�ßler, Ein „Diplomat aus den Waldern des Orinoko“. Alexander vonHumboldt als Mittler zwischen Preußen und Frankreich. (Pallas Athene. Beitr�gezur Universit�ts- und Wissenschaftsgeschichte; 29). Stuttgart: Franz Steiner2009. 244 S., geb. e 45,00. ISBN-13: 978-3-515-09344-6.

Dass die Humboldtforschung noch lange nicht er-sch�pft ist, wird von Ulrich P�ßler in dieser �ber-arbeiteten Fassung seiner im Jahre 2007 an derUniversit�t Mannheim vorgelegten Dissertationaufgezeigt. Der Autor befasst sich mit einem be-sonderen Aspekt der Pers�nlichkeit Alexandervon Humboldts, n�mlich seinen beachtlichenKommunikationsf�higkeiten und seinem diploma-tischen Geschick, um schließlich seine Stellungund seine Bedeutung innerhalb der wissenschaftli-chen und politischen deutsch-franz�sischen Netz-werke n�her zu bestimmen. Die Untersuchungvon P�ßler st�tzt sich dabei auf eine solide Analyseder Literatur �ber Humboldt und insbesondereder Archivbest�nde zur Korrespondenz zwischendeutschen und franz�sischen Naturwissenschaft-lern in der ersten H�lfte des 19. Jahrhunderts. Me-thodisch bezieht er sich dar�ber hinaus haupts�ch-lich auf die unter anderem von Michel Espagnevertretene Theorie des Kulturtransfers.

Auf dieser Basis zeichnet der Autor die wissen-schaftliche Karriere Humboldts nach und richtetsein besonderes Augenmerk auf dessen akademi-sche Verankerung in Frankreich. Den themati-schen Leitfaden seiner Studie stellt dabei die Ent-stehung und Pflege der freundschaftlichen Bezie-hungen Humboldts zur Pariser Wissenschaftsge-meinschaft dar, angefangen bei seiner ersten Paris-reise im Jahre 1790 als Begleiter von Georg

Forster, �ber seinen l�ngeren Aufenthalt zwischen1807 und 1827, bis hin zum Ende der Julimonar-chie. Zun�chst werden die Beitr�ge Humboldtsbeim preußischen Kultusministerium und beimfranz�sischen Unterrichtsministerium vor allem inForm von Gutachten, Bekanntmachungen undBittschriften betrachtet, anschließend stellt derAutor die Zusammenarbeit Humboldts mit derFranz�sischen Akademie der Wissenschaften, seinEngagement bei der F�rderung von Nachwuchs-wissenschaftlern und sein Handeln als „Diplomat“in den Mittelpunkt seiner �berlegungen.

In diesem Rahmen wird aufgezeigt, wie esHumboldt gelang, sich in die Einflusssph�re derPariser Akademie einzubinden und vor allem, wiegeschickt er seine politischen Verbindungen im la-bilen Kontext Frankreichs zu nutzen und pflegenvermochte, so etwa am Beispiel seiner alles andereals unwichtigen Vermittlerrolle zwischen Louis-Philippe und seinen Ministern, wie Fran�ois Gui-zot, und Friedrich Wilhelm IV. Dabei liegt das In-teresse der vorliegenden Studie nicht so sehr imVergleich zwischen dem gesch�ftigen TreibenHumboldts in Paris bzw. in Berlin – wobei P�ßlermit Recht darauf aufmerksam macht, dass seineVortr�ge und Publikationen im Rahmen der Preu-ßischen Akademie der Wissenschaften vorwiegendvon seinen Pariser Erfahrungen gepr�gt waren –,sondern vor allem darin, dass es ihm gelingt, den

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Einfluss Humboldts auf die Dynamik des deutsch-franz�sischen Wissensaustauschs zu verdeutli-chen.

Außerdem hebt der Autor die besondere Ver-bindung zwischen Humboldt und dem Astrono-men Fran�ois Arago hervor sowie deren Bedeu-tung f�r die Einbindung deutscher Naturforscherwie Christian Gottfried Ehrenberg in die „Acad�-mie des Sciences“ und dar�ber hinaus f�r die F�r-derung seiner franz�sischen „prot�g�s“ AchilleValenciennes und Jean-Baptiste Boussingault. Inder Tat liefert uns Ulrich P�ßler ein lebhaftes Bildvon der Pariser Wissenschaftsgemeinschaft undderen zuweilen eher schwach ausgepr�gtem Inte-resse an der Rezeption wissenschaftlicher Litera-tur aus Deutschland. Eine Auflistung und detail-lierte Beschreibung seines Engagements in der inP�ßlers Buch nur sehr knapp erw�hnten außeraka-demischen Welt von Paris h�tte jedoch diese allge-meine Skizzierung der Aktivit�ten Humboldts ge-winnbringend erweitern k�nnen. Das betrifft etwasein Engagement in weiteren gelehrten PariserKreisen, wie beispielsweise in der „Soci�t� d’Ar-cueil“, seinen Umgang mit dem Bankier BenjaminDelessert, der eine renommierte botanischeSammlung besaß, seine Pr�senz in den Pariser Sa-lons (siehe Antoine Lilti, Le monde des salons: so-ciabilit� et mondanit� � Paris au XVIII�me si�cle,Paris 2005) oder im Kreis der Herzogin von Mon-tauban, wo Humboldt eine Reihe von Vortr�genzur „Physique du monde“ hielt (Bettina Hey’l,Das Ganze der Natur und die Differenzierung desWissens: Alexander von Humboldt als Schriftstel-ler, Berlin 2007).

War Humboldt nur ein hervorragender Mittlerzwischen Preußen und Frankreich? Mitunterk�nnte dieser Eindruck bei der Lekt�re diesesBuchs entstehen. P�ßler betont jedoch mit Recht:„Humboldts Arbeit als preußisch-franz�sischerMittler stand in der Biologie demnach in einer�lteren, ungebrochenen Tradition transnationalerKontakte. Mehr als in anderen naturwissenschaft-lichen Disziplinen ist es daher in der Biologiem�glich, seine Transferarbeit im erweiterten Kon-text bestehender Kommunikationsstrukturen ein-zuordnen.“ (S. 75) In diesem Sinne erl�utert erauch die Einstellungen Humboldts zu verschiede-nen Themen wie z.B. zur Erforschung des Erdma-gnetismus. Gleichzeitig entfernt sich P�ßler aber –wie zum Beispiel in Kapitel 4 �ber Humboldt alsF�rderer der Biologie – oftmals zu weit vom ei-gentlichen Kern des von Humboldt unterst�tztenWissenstransfers, n�mlich zum einen dem natur-wissenschaftlichen Wissen selbst und zum anderenvon Humboldts eigener Forschungspraxis.

Solche Erg�nzungsw�nsche beeintr�chtigen al-lerdings weder die Qualit�t der Studie im Ganzennoch P�ßlers spezifischen Verdienst um die hand-schriftlichen Befunde, u. a. zu den Aktivit�tenHumboldts als informeller Diplomat zwischenPreußen und Frankreich w�hrend der Julimonar-chie – und eine schon jetzt ausgesprochen vielseiti-ge Humboldtforschung (siehe u.a. http://www.avhumboldt.de) gewinnt durch P�ßlers empfeh-lenswerten Beitrag eine weitere wichtige und auf-schlussreiche Facette hinzu.

Nicolas Robin (Leiden/Freiburg)

Ber. Wissenschaftsgesch. 33 (2010) 100–112 i 2010 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 103

DOI: 10.1002/bewi.201001465

Holger Stoecker, Afrikawissenschaften in Berlin von 1919 bis 1949. Zur Geschichteund Topographie eines wissenschaftlichen Netzwerkes. (Pallas Athene. Beitr�ge zurUniversit�ts- und Wissenschaftsgeschichte; 25). Stuttgart: Franz Steiner 2008.359 S., e 49,00. ISBN-13: 978-3-515-09161-9.

Nach vielen Jahren intensiven Forschens liegt nunendlich die an der Humboldt-Universit�t zu Berlinangenommene Dissertation von Holger Stoeckerin gedruckter Form vor. Sie behandelt ein regionalwie zeitlich eingegrenztes Kapitel der Geschichteder deutschen Afrikawissenschaft. Der Autor setztsich explizit mit der Zwischenkriegsperiode aus-einander, also mit der „klassischen Periode“. DerBand gibt am Beispiel Berlins Einblicke in dieFachgeschichte der deutschen Afrikawissenschaf-ten w�hrend der Weimarer Republik und des Na-tionalsozialismus, einer Zeit, in der die deutsche

Afrikaforschung an internationalem Renommeegewann, und fragt nach dem Platz, den Afrika alsForschungsgegenstand in der akademischen Ge-meinschaft im In- und Ausland einnahm. Gest�tztauf eine breite Quellenbasis werden die BerlinerAfrikawissenschaften im Kontext der Wissen-schaftspolitik der Zeit verortet, ihre Anbindung aneurop�ische Netzwerke dargestellt sowie ihre pro-fessionelle Selbstmobilisierung zu kolonialwissen-schaftlichen Großprojekten seit Ende der 1930erJahre untersucht. Dar�ber hinaus beleuchtet derAutor umfassend den Anteil von Afrikanern an

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