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Persönliche Lebensgeschichten niedergeschrieben von KursteilnehmerInnen des Basisbildungszentrums abc-Salzburg
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Sonne, wo warst du?
Persönliche Lebensgeschichten niedergeschrieben
von KursteilnehmerInnen
des abc Lesen und Schreiben
für Erwachsene
Inhalt Schulzeit Der Schein trügt (Angelika) 1 Endlich 9 Jahre abgesessen (Michael) 3 Als die Schule dunkel wurde (Günther) 4 Jugendzeit Nie wieder 15 (Maria) 6 Eine Geschichte über das schwierige Leben (Anton) 8 Ein Ereignis, das mein Leben verändert hat Meine Geschichte von meiner Krankheit (Nicole) 11 Mädchenhaus und du musst raus (Maria) 12 Mein erster Weg zum abc (Erich) 15 Lesen und Schreiben... Mein Erlebnis im Messezentrum (Adele) 16 Lesen und Schreiben ist wichtig, aber längst nicht alles auf der Welt (Angelika) 20 Appell an die Politiker (Anton) 22 Lesen und Schreiben.... (Nicole) 28 Lesen und Schreiben ist wichtig, aber längst nicht alles auf der Welt (Stefan) 29 Lesen und Schreiben ist wichtig! (Michael) 32 Die Stunde der Wahrheit (Nicole) 33
Anmerkung: Die Namen der KursteilnehmerInnen wurden von der Redaktion geändert.
Der Schein trügt
Die Frau Direktor unserer Volksschule
war meine Lehrerin in der ersten Klasse.
Sie war eine große, korpulente Frau. Ihre
Haare immer perfekt frisiert und das
Gesicht geschminkt. Das Auftreten sehr
gepflegt und seriös, aber der Schein trog,
denn sie konnte sehr gemein sein.
Zum Beispiel mochte sie die Kinder
nicht, die sich schwer taten. Mich mochte
sie zum Glück trotzdem. Warum, weiß
ich nicht. Vielleicht weil ich sehr
zurückgezogen und ruhig war.
Ich kann mich noch gut erinnern, dass sie
einmal den Willi an den Haaren und
Ohren gezogen hat, nur weil er etwas
nicht begriffen hatte.
1
Sie schickte ihn dann weinend in den
Kindergarten.
Er schämte sich sehr über den Vorfall
und wir übrigen Kinder waren
schockiert.
Wann immer sie danach die Klasse
betrat, war Angst und Ruhe im
Klassenzimmer.
Angelika (29 Jahre)
2
Endlich 9 Jahre abgesessen
Beim Lesen in der Schule hab ich mir immer
schwer getan. Das Ganze fing in der
Volksschule an, weil ich nie aufgepasst und
öfter den Unterricht ohne Erlaubnis
verlassen habe. Das war doch klar, dass
mich
das Schule Gehen nicht interessiert hat.
Schule kam mir vor, wie in Haft zu sein. Man
muss eine Zeit absitzen und ein paarmal
darf
man im Garten seine Runden drehen. Und
wenn man sich nicht korrekt benimmt, wird
der Aufenthalt verlängert.
Aber meine neun Jahre habe ich schnell
abgesessen.
Michael (16 Jahre)
3
Als die Schule dunkel wurde
Ich ging in den Privatkindergarten Schwarzstraße, wo wir
Kinder sehr umsorgt wurden. Die Klosterschwestern, die
diesen Kindergarten führten, gingen auf die
Leistungsfähigkeit jedes Kindes ein und förderten uns
dementsprechend. Die Vorschule wurde sehr individuell
gestaltet. Es war niemals ein zu großer Leistungsdruck
gegeben. Außerdem war ich in die wunderschöne
Schwester Wilburgis unsterblich verliebt. Ich war im
Kindergarten regelrecht glücklich.
Eines Tages stand die Einschulung ins Haus. Ich fuhr mit
meiner Mutter in die Schule nach M., wo ich dem
Direktor vorgeführt wurde. Zu diesem Zweck mussten wir
eine düstere Treppe hinaufsteigen, die zu einem
dunklen Büro führte, wo ein schrecklich autoritärer Mann
saß.
Er befehligte meine Mutter und mich hinein. Er unterhielt sich mit
meiner Mutter über mich und befahl mir einen
Baum zeichnen.
4
Während ich diesen Baum zeichnete, wurde ich
andauernd von ihm korrigiert, wie ein Baum auszusehen
habe. Als wir das Büro verließen, war mir bereits klar,
dass ich den Kindergarten nicht verlassen möchte.
Als die Schule begann, bekamen wir das Klassenzimmer
direkt neben dem dunklen Büro. Ich musste also jeden
Morgen die Mutprobe bestehen, über die schreckliche
Treppe an der monströsen Bürotüre vorbei, in das
Klassenzimmer zu gelangen, wo mich eine überaus
strenge Lehrerin erwartete. Das verleidete mir jegliche
Freude am Lernen.
Kürzlich begegnete ich dem damaligen Direktor am
Zebrasteifen und ich bekam einen Schweißausbruch vor
lauter Angst vor diesem alten Mann.
Günther (30 Jahre)
5
Nie wieder 15
Das Kinderdorf verlässt man nach der Schule mit 15 Jahren. Ich machte aber noch ein freiwilliges Schuljahr, weil ich meinen Traumlehrer haben wollte. Ich hab ihn dann auch bekommen. Zu dieser Zeit wusste ich, dass nach der Schulzeit der Einzug ins Mädchenhaus bevorstehen würde. Die Leiterin und eine Betreuerin kamen mal vorbei, um mit uns über meine Zukunft zu reden. Danach stand sofort fest, dass ich nach Unken ins Schloss Oberrain kommen würde. Dort gibt es eine Berufsvorschulung für Sonderschüler und diejenigen, die nicht wissen was sie tun wollen.
6
Ich hatte Angst vor all dem Neuen. Von nun an folgte ich nicht mehr. Traktierte im Kinderdorf meine Hausgeschwister, war frech und rebellisch. Nur in der Schule gings. Ich machte auch den Hauptschulabschluss in Form einer Externistenprüfung. Bis auf ein paar schöne Momente habe ich nur schlechte Erinnerungen. Schade, dass man solche Zeiten nicht einfach überspringen kann. Maria (30 Jahre)
7
Eine Geschichte
über das schwierige Leben
Ich bin im Jahr 1954 geboren. Ich kann mich noch
an die erste und zweite Klasse erinnern. Ich hatte
Angst. Ich kam in die Sonderschule.
Meine Jugend war sehr schwer. Wir waren neun
Kinder und ich war der älteste Sohn. Ich hatte noch
zwei Brüder und sechs Schwestern. Da ich der
älteste Sohn war, hatte ich gewisse Aufgaben zu
erfüllen. Ich musste mit dem Vater Holz schneiden,
musste Holz hacken, Hasenfutter brocken, die
Hasen füttern und manches andere tun.
Im Sommer, wenn wir baden gingen, war die
Ausführung der Arbeiten nicht immer genau so wie
es mein Vater wollte. Wenn er von der Arbeit nach
Hause kam und betrunken war, war er oft sehr
böse. In den Schulferien ging ich Tennisball klauben
oder half in einer Gärtnerei. Es machte Spaß und
ich bekam auch Geld dafür. Ich kaufte mir eine
eigene Hose: Jeans. Als mein Vater diese enge
Hose sah, schnitt er sie ab.
8
Es kam wieder einmal zum Streit zwischen Mutter
und Vater, der betrunken war. Ich kam damals
gerade von der Arbeit nach Hause und sagte:
„Vater, schlag nie mehr auf die Mutter und uns
ein!“ Es wurde leichter.
Mit 16 Jahren bekam ich mein Zeugnis und zwei
Tage später ging ich in die Arbeit. Mit 17 Jahren
nahm ich mir ein Zimmer und mit 20 Jahren lernte
ich meine geliebte und geschätzte Freundin und
spätere Frau kennen. Da kam ein großes Problem
auf mich zu.
Ich kann nicht richtig schreiben. Wie bring ich das
meiner Freundin bei? Ich hatte große Sorge. Aber
meine Freundin hielt zu mir und ich habe ihr meine
ganze Geschichte erzählt. Sie war sprachlos, aber sie
hielt zu mir. Wir bauten uns ein Eigenheim!
Der Leidensweg ging weiter. Die Firma machte
mich zum Vorarbeiter. Ich sollte den Arbeitsbericht
schreiben. Der zuständige Kontrolleur wollte mir den
Baubericht ansagen. Ich fing zu zittern an. Die
Hände waren nass. Er brach das Gespräch ab und
fuhr mit dem Auto nach Hause. Ich kündigte den
Arbeitsplatz und hatte bald eine neue Arbeit.
9
Als mein Kind in die Schule kam, traute ich mich
nicht zu helfen, denn ich hatte Angst, ich würde
ihm nur etwas Verkehrtes beibringen. Es war sehr
schwer, aber meine Frau konnte ihm helfen wie es
für eine Familie sein soll. Unser Kind hat einen Beruf
erlernt und ich bin auch stolz auf ihn.
Eines Tages sah ich im Fernsehen ein Gespräch
über Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung.
Mein Herz schlug hoch. Es gab eine Frau, die ein
großes Problem in Österreich aufgriff. Es gibt sehr
viele Leute, die eine Rechtschreibschwäche
haben. Sie bot einen Kurs an. Der nennt sich abc in
Salzburg. Die Hände waren nass. Ich suchte einen Stift,
um die Telefonnummer aufzuschreiben.
Anton (45 Jahre)
10
Meine Geschichte von meiner Krankheit
Vor zwei Jahren haben die Ärzte Krebs bei mir festgestellt. Das war ein harter Schlag
für mich und meine Familie. Und ein harter Weg.
Ich lag fünf Wochen im Krankenhaus und hab hinterher eine Chemotherapie
bekommen. Es war ein schreckliches halbes Jahr und manchmal habe ich
geglaubt, dass ich es nicht aushalte. Aber man ist doch sehr stark, wenn es um sein
Leben geht. Ich habe eineinhalb Jahre nicht mehr gearbeitet und fühlte mich
nicht so richtig wohl. Seit ich wieder arbeite, geht’s mir wieder gut. Ich muss
halt alle zwei Monate zum Arzt zur Kontrolle, aber das mach ich gern. Man
muss das Leben nicht gleich aufgeben, wenn das Schicksal es mal nicht so gut
meint.
Nicole (49 Jahre)
11
Mädchenhaus und du musst raus
1986 mein Einzug ins Mädchenhaus. Ein Mädchenhaus ist ein Haus, in das Mädchen mit 15 Jahren nach dem Kinderdorf hinkommen, bis sie volljährig sind. In dieser Zeit beginnen manche eine Lehre, gehen in die Arbeit oder machen eine Schule fertig. Nach alledem mussten wir im Heim die Wäsche selber waschen, putzen und am Sonntag kochen. Ich fühlte mich wie ein Kind. So wurden wir einerseits behandelt, andererseits wie Erwachsene. Zum Arbeiten, Putzen, Kochen und Wäsche Waschen waren wir alt genug. Aber um am Wochenende allein zu Hause bleiben zu dürfen, dafür waren wir selbstverständlich zu jung – und das im Alter von 15 bis 18 Jahren!
12
Ich wollte am Wochenende auch den Hausschlüssel, so wie die 18-Jährigen, musste aber warten. Das hat mir gar nicht gefallen, so habe ich eben rebelliert. Ich habe mit den anderen Mädchen die Erzieher geärgert. An einem Sonntag machten einige einen Spaziergang. Die Mädchen, die nicht mitgehen wollten, mussten trotzdem raus aus dem Haus. Da stieg ich eben bei meinem Fenster wieder ein. Meine Minderjährigkeit wurde verlängert, weil sie mich noch nicht für erwachsen genug hielten, um auszuziehen. Das hinderte sie aber nicht daran, mich noch vor meinem 21. Lebensjahr rauszuhauen. Ich habe mich öfter selbst verletzt, in den Arm geschnitten. Darum trag ich jetzt immer Hemden.
13
Von November 1987 bis Februar 1990 waren auch Selbstmordversuche darunter. So etwas konnten sie nicht gebrauchen, da sie ja so gute Erzieher sind. Deshalb kam sogar die Fürsorge. Wir haben einige andere Heime angeschaut, von denen mir keins gefallen hat. Am Schluss holten sie mich sogar von der Arbeit und sagten zum Chef, ich käme nie wieder. Das war ein Irrtum. Im Bus taten sie die Kindersicherung rein. Doch bei einer roten Ampel machte ich das Fenster auf und war weg. Am nächsten Tag ging ich wieder zur Arbeit. Der Andi, ein Angestellter hat mir dann geholfen. Sonst wäre mein Leben anders verlaufen. Ich bin glücklich, dass er mir geholfen hat. So schwierig fand ich mich gar nicht, dass sie mich zuerst verminderjährigen mussten um mich dann doch vor meinem 21. Lebensjahr rauszuhauen.
Maria (30 Jahre)
14
Mein erster Weg zum abc
In der ersten Klasse wusste ich schon, dass ich mir
beim Lesen und Schreiben schwer tat. Ich musste
die erste Klasse wiederholen und auch die zweite.
Dann kam ich in die Sonderschule.
Mit 15 Jahren arbeitete ich schon, hatte nichts
gelernt. Ich konnte auch keinen Führerschein
machen. Immer mehr wuchs die Angst in mir. Dann
habe ich mit dem Alkohol Kontakt gehabt. Es
wurde immer mehr und das Leben wurde immer
schwieriger. Ich habe immer viele Ausreden
gebraucht.
Ich arbeite in einer Gießerei. Es weiß nur der
Betriebsrat, dass ich nicht lesen und schreiben
kann. Eines Tages kam er zu mir und sagte, dass es
eine Schule gibt, in der ich Lesen und Schreiben
lernen kann. Mir wurde heiß und kalt. Ich hatte
große Angst. Am nächsten Tag fuhr er mit mir nach
Salzburg. Wir wurden sehr herzlich aufgenommen.
Ich möchte mich sehr bemühen, dass ich das Lesen
und Schreiben lerne, um im Leben leichter
zurechtzukommen, keine Angst mehr zu haben.
Erich (43 Jahre)
15
Mein Erlebnis im Messezentrum
Vor vierzehn Tagen bin ich kurz
entschlossen ins Messezentrum
gefahren.
Die Abteilung Gesundheit war
gleich rechts hinter der Kassa.
Dort wurde mein Blutdruck und
mein Blutzucker gemessen. Zum
ersten Mal in meinem Leben
wurden auch meine Fettwerte
gemessen. Die sind super! Der Arzt
hat mir gesagt: „Machen Sie nur so
weiter!“ Als dies beendet war,
ging ich in der Messehalle weiter.
Da ist mir noch ein Standl mit
bunten Biolikör- und Schnaps-
16
flaschen aufgefallen. Ich
betrachtete diese Flaschen und
dabei fiel mein Blick auf ein Blatt
mit Blumen, die ich bis auf eine
alle kenne. Der Herr kam zu mir
und fragte, ob ich die Blumen
kenne und ich möchte doch die
Namen dazuschreiben. Ich
begann beim Löwenzahn und
blieb dabei stecken. Im wahrsten
Sinn des Wortes beim w vom
Löwenzahn – und beim
Weiterüberlegen des Wortes
Löwenzahn stellte sich die Frage,
ob mit „h“ oder ohne. Und indem
ich das nicht wusste, hab ich
aufgegeben zu schreiben.
17
Der Herr hat dann noch gesagt,
das sei nicht wichtig, wie ich’s
schreib. Dennoch half es mir nicht,
denn beim nächsten Bild, dem
Vierklee war genau dasselbe
Problem. Ich hab dann ganz
aufgegeben und hab’ ihm gesagt,
dass ich so spät dran bin
und noch zur Reiseabteilung will.
Mit dieser Begründung bin ich von
ihm weg. Das Blatt hab ich aber
mitgenommen, denn ich wollte
nicht, dass es von ihm gelesen
wird.
Ich hatte wohl den Mut zu
beginnen, aber ich habe gemerkt:
Es geht noch nicht.
18
Es überkam mich wieder die
Unsicherheit des Schreibens. Mir ist
heiß geworden. Ich hab mich
einigermaßen aus der Schlinge
gezogen, bin weggegangen und
hab einfach abgeschaltet.
In der Tourismusabteilung hab ich
noch einige Reiseprospekte mit
schönen Aufnahmen gesammelt,
weil ich die so gern anschau und
auch so gerne reise. Und dann fuhr
ich mit meinen Prospekten und
Gesundheitswerten nach
Hause.
Adele (64 Jahre)
19
Lesen und Schreiben ist wichtig,
aber längst nicht alles auf der Welt
Dieser Satz ärgert mich, weil so etwas nur
jemand sagen kann, der selbst mit dem
Schreiben keine Probleme hat.
Für mich war es sehr lebensbestimmend und
hatte einen hohen Stellenwert. Habe mich so
hineingesteigert, dass ich mich dumm und
minderwertig gefühlt habe. Ganz zu
schweigen von der Angst, etwas schreiben zu
müssen. So richtig Angst mit Schweiß und
was sonst noch dazu gehört. Auch sich
gewisse Arbeiten nicht zuzumuten, sich nicht
bewerben auf Grund der schlechten
Rechtschreibung, Angst ausgelacht zu werden.
Hinzu kommt noch die Sorge, dass es meinem
Sohn gleich gehen könnte.
20
Ich setzte ihn oft unter Druck. Das ging leider
auch oft nach hinten los und belastete ihn sehr.
Das war für mich sehr schlimm, aber erst recht
ein Ansporn etwas dagegen zu tun.
Zum Glück habe ich erfahren, dass es „Lesen
und Schreiben für Erwachsene“ gibt. Jetzt
geht es mir schon viel besser, habe auch
gelernt mit dem Problem umzugehen und dazu
zu stehen. Es ist ein sehr großer Druck weg.
Angelika (29 Jahre)
21
Appell an die Politiker
Manche haben Schwierigkeiten in
der Jugendzeit, teils gibt es
Familienprobleme, teils
Desinteresse im Umfeld.
Weil man ein Kind ist, hat man
andere Interessen, macht in der
Schule kleine Streiche. Es
kümmert sich keiner um das
Kind, keiner legt ihm nahe, was
am Lernen alles dranhängt.
Das ganze Lebensglück, die
Lebensqualität und die
Gesundheit hängt daran. Wenn
man Probleme mit dem Lesen und
Schreiben hat zieht man sich
zurück. Man fühlt sich
beobachtet. Man muss vieles
entbehren: Bücher, geistige
Beschäftigung.
22
Man kann Fahrpläne nicht
entziffern und kann viele
Formulare nicht ausfüllen. Die
Hände fangen an zu zittern, sie
werden nass und man ist nicht
fähig zu schreiben.
Meine Erfahrung ist, dass einem
am Amt schon geholfen wird,
wenn man darum bittet. Aber
diese Bitte schmerzt.
Das erste große Problem gibt
es, wenn man eine Frau kennen
lernt. Die kann lesen und
schreiben. Was ist, wenn sie es
merkt? Wie sag ich es ihr?
Viele verschweigen deshalb ihr
Problem.
23
Das zweite Problem gibt es,
wenn man eine Familie gründen
will und dem eigenen Kind das
alles ersparen will. Man hat so
Angst dem Kind beim Lernen zu
helfen. Man möchte helfen, kann
aber nicht. Das tut so weh im
Herzen. Man denkt so nach. Man
hat Angst dem Kind etwas
Falsches zu sagen.
Wenn das Kind dann schreiben
kann und Respekt vor dem Vater
haben soll, hat man Angst, dass
das Kind redet und irgendwer
davon erfährt. Man bekommt
Schweißausbrüche und Gefühle,
die man nicht beschreiben kann.
24
Ich finde, dass die Politiker
als Volksvertreter gefordert
sind, das Problem aufzugreifen,
weil es totgeschwiegen wird.
Die Betroffenen hüllen sich in
den Deckmantel des Schweigens
aus Schamgefühl und der Angst
verspottet zu werden.
Als ich im Fernsehen gehört
habe, dass es das abc gibt, bin
ich schnell gerannt und hab
einen Schreiber gesucht. Zuerst
hab ich keinen gefunden.
Hoffentlich verpass ich die
Telefonnummer nicht! Dann hab
ich einen gefunden, meine Hände
waren ganz nass und ich hab die
Nummer aufgeschrieben. Ich
wurde auf eine Warteliste
gesetzt.
25
Womöglich komm ich in den Kurs
gar nicht hinein? Dann hab ich
einen Anruf bekommen, dass ich
aufgenommen bin. Alleine das
war schon eine Erleichterung.
Es ist auch gut, dass eine
Psychologin da ist. Man will
auch einmal reden.
Ich habe vorher auch schon
einmal einen Kurs gemacht. Sie
haben ganz von vorne mit dem
ABC angefangen. Dort hab ich
keinen Weg zum Lernen gefunden.
In Salzburg habe ich die Hilfe
gefunden, die ich gesucht habe.
Da gibt es eine Frau, die das
Problem aufgreift und sie muss
kämpfen, damit Geld zur
Verfügung gestellt wird.
26
Man ist kein Almosenempfänger .
Wer es in der Kindheit schwer
hatte, muss die Möglichkeit
bekommen ein lebenswürdiges
Leben ohne seelischen Druck zu
leben. Wer Hilfe sucht und von
ganzem Herzen lernen will, soll
Hilfe kriegen.
Anton (45 Jahre)
27
Lesen und Schreiben....
Froh stimmt mich der Gedanke, dass ich schon ein bisschen schreiben kann. Ich bin stolz auf mich, dass ich den Weg zum abc gefunden habe. Früher, wenn ich an das Schreiben denken musste, dann ist mir ganz anders geworden. Ich fühlte mich so minderwertig. Ich finde, ohne Schreiben ist man nur ein halber Mensch. Nicole (49 Jahre)
28
Lesen und Schreiben ist wichtig, aber längst nicht alles auf der Welt!
Viele Menschen haben mir viele Jahre eingetrichtert, wie wichtig Lesen und Schreiben ist. Das „Eintrichtern“ geschah natürlich auf verschiedene Weise. Je nach Temperament und Einstellung meiner Eltern, Großeltern und Lehrer übten sie geduldig, liebevoll, konsequent, aber auch weniger verständig, nörgelnd und abwertend, mittels aller möglichen und unmöglichen Methoden mit mir, um besagte Fähigkeiten zu lernen. Bis heute habe ich natürlich kein Argument gefunden, auf das ich mich stützen könnte, um zu sagen: „Alles Schmarren, das brauch ich nicht!“ Ich muss gestehen, dass Lesen und Schreiben doch einiges leichter macht, vorausgesetzt, dass ich auf dieser Welt leben will, in diesem Land, mit diesen Menschen, mit diesen Notwendigkeiten.
29
Wenn ich also nicht Robinson auf einer leeren Insel sein will, muss ich mich darauf einlassen. Im Beruf (Metall) muss ich Anleitungen und Erklärungen lesen und verstehen können und wenn ich einen Abschluss machen will, stehen wohl noch einige Kurse ins Haus. Den Führerschein zu machen, werde ich nicht verzichten. Im Allgemeinen will ich natürlich auch nicht abseits unsere Informationsgesellschaft stehen. Zeitungen zu lesen ist noch immer nicht meine Stärke, aber es kommt schon noch! Sie merken schon: Ein wenig belastet ist diese Seite meines Lebens schon, aber es gibt ja auch noch andere. Und da behaupte ich nun lautstark: Diese sind genau so wichtig. Zum Glück habe ich erkannt, dass ich viele lebenswichtige Fähigkeiten doch habe, die ich brauche.
30
Mit Menschen zu reden, zum Beispiel, geht recht gut. (Das hab ich sogar bei den Lehrern eingesetzt, sonst hätte es noch viel schlimmer ausgeschaut.) Ich genieße es sehr, mit Freunden fortzugehen, Spaß zu haben, Fröhliches und Ernsthaftes zu besprechen. Seit einem Jahr habe ich auch eine Sportart entdeckt, die mich sehr reizt. Ich bin durch einen Arbeitskollegen zum Klettern gekommen. Du kannst dabei so toll abschalten, du denkst an nichts anderes, du musst dich nur darauf konzentrieren, auf dich und den Partner natürlich auch. Die Natur und die berge haben dadurch einen großen Stellenwert im Leben bekommen. Ich glaube nicht, dass ich gefährdet bin, auf Drogen und Alkohol hereinzufallen. Sport und Freunde sind für mich das wichtigste Lebenselixier. Manchmal sage ich das auch anderen und versuche sie zu überzeugen. Stefan (20 Jahr)
31
Lesen und Schreiben ist wichtig!
Der Satz „Lesen und Schreiben ist
wichtig!“ ist schon ein guter Satz, aber
für mich war das auch nicht alles.
Seinen Spaß soll man ja auch haben. Und
ich wollte den Spaß.
Ich bereue es kein bisschen, dass
Schule für mich nicht wichtig war.
Nachlernen kann man alles, wenn man
nur will. Aber seine Jugend bekommt
man nie wieder zurück.
Michael (16 Jahre)
32
Die Stunde der Wahrheit Am letzten Mittwoch habe ich mit meinen Freundinnen Karten gespielt. Ich habe ein, zwei Gläser Wein getrunken und als wir uns so unterhielten, kam auf einmal die
Sprache aufs Schreiben. Mir war ganz flau im Magen. Ich fasste mich ans Herz und gab mir einen Ruck. Ich erzählte ihnen, dass ich nicht schreiben kann. Die Monika konnte es gar nicht glauben. Sie sagte, wenn man lesen kann, kann man auch schreiben. Und alle bewunderten, dass ich
noch das Schreiben lerne. Nun ist es mit den Ausreden vorbei und ich bin sehr erleichtert. Das ist meine Geschichte von der Stunde der Wahrheit. Nicole (49 Jahre)
33
Impressum: Herausgeber: Verein abc - Lesen und Schreiben für Erwachsene
Auerspergstraße 15, 5020 Salzburg Tel. 0699-10 10 20 20
Für den Inhalt verantwortlich: Brigitte Bauer Preis: € 4.- (ATS 55,04)
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