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1. Einleitung Nach Johann Wolfgang Goethes eigenen Worten ist das Stück die Natürliche
Tochter „ein Gefäss, worin ich alles, was ich so manches Jahr über die
französische Revolution und deren Folgen geschrieben und gedacht hatte, mit
geziemendem Ernste niederzulegen hoffte.“ Durch diesen Satz ist bereits
vorweggenommen, dass es die Absicht des Autors war, ein Stück zu schreiben,
welches sich mit der Französischen Revolution auseinandersetzt. Es wird
jedoch in einigen Interpretationen konstatiert, dass es ihm nicht gelungen sei,
dieses Vorhaben wirklich in die Tat umzusetzen, zumal die Handlung des
Stücks in keiner Weise in einem revolutionären Umfeld spiele oder direkte
Parallelen zum Ereignis der Französischen Revolution aufweise. Es gibt keine
Masse des Volkes, die aufbegehrend und für seine Rechte kämpfend auf die
Strasse geht. Es gibt auch kein Bürgertum, das seiner tatsächlichen Funktion
als Träger der Revolution und Quelle der Emanzipation in der Zeit um 1789
gerecht werden würde. Es lässt sich folglich festhalten, dass das Stück nicht
direkt von der Französischen Revolution handelt - in einem engeren Sinne
verstanden als: Handlung auf dem zeitlichen und räumlichen Schauplatz der
Französischen Revolution. Dennoch bleiben Goethes eigene oben zitierte
Worte haften, und man ist versucht, einen tieferen Blick in das Stück zu
wagen. Denn unterhalb der sichtbaren Handlungsebene, also Eugenies
Erscheinen in der Sphäre der Öffentlichkeit und der Politik, liegt eine
symbolisch-metaphorische Ebene, welche es zu ergründen und zu
entschlüsseln gilt. Es ist das Ziel der vorliegenden Seminararbeit eben diesem
tieferen Gehalt der Natürlichen Tochter nachzugehen, und die Elemente
hervorzuheben, die die Frage beantworten, inwiefern die Natürliche Tochter
ein Stück über die Französische Revolution ist?
Seminararbeit: Die natürliche Tochter und die Französische Revolution Verfasser: Dominik Schneider 01.06.2006 Prof. Bodo Würffel
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2. Methode Bevor der oben gestellten Frage nachgegangen werden kann, müssen zunächst
die Rahmenbedingungen geklärt sein, unter welchen der Versuch
unternommen wird, diese zu beantworten.
Es soll erwähnt sein, dass es sich bei der Untersuchung um eine Mischung
zwischen einer breit abgestützten Analyse vorhandener Sekundär- und
Interpretationsliteratur und der eigenen Erarbeitung des Textverständnisses
handelt.
Die Natürliche Tochter war ursprünglich eine geplante Trilogie, die jedoch nie
vollendet wurde, sei es weil der grosse Publikumserfolg des ersten Teils
ausblieb, oder weil für Goethe die Französische Revolution ein nicht fassbares
und nicht endgültig verarbeitbares Ereignis blieb. Der mangelnde
Publikumserfolg ist in einem gewissen Masse der wenigen mimischen
Bewegung und der ausserordentlichen Redefülle des Stücks zuzuschreiben.1
Das vorliegende Stück ist das einzige in sich abgeschlossene Werk innerhalb
der geplanten Trilogie. Es gibt ausser den Notizen Goethes zur Fortsetzung
keine anderen handfesten Informationen über den Ausgang der Handlung,
weshalb dieser erste Teil der Natürlichen Tochter das einzige
Untersuchungsobjekt dieser Arbeit darstellt. Auch Hans Meyer äusserte sich
über den fragmentarischen Charakter der Natürlichen Tochter, blieb aber der
Ansicht, dass das Stück in etwa darstelle, was Goethe insgesamt zur
Französischen Revolution zu sagen hatte.2
Des weitern wird bei dieser Interpretation auf eine Auseinandersetzung mit
dem Quellen-Stoff „Les Memoires de Staphanie Bourbon Conti écrit par elle-
même“, welche Goethe bekannterweise inspirierten und Anregungen für die
Rahmenhandlung lieferten, verzichtet. Es sind zwar einige Ähnlichkeiten
zwischen Eugenie und Stephanie, aber auch zwischen der Quelle und Goethes
Stück im Allgemeinen festzustellen.3 Dennoch würde uns die genaue
Berücksichtigung der Quelle keinen tieferen Einblick in den
1 vgl. Böhm 2002, S. 13. 2 vgl. Mayer 1973, S.35. 3 Die Quelle hat nicht nur inhaltliche Elemente zu Goethes Drama beigesteuert, „sondern eine Redeweise, die eine unerschütterliche moralisch-gesellschaftliche Position spiegelt und sich in manchen formelhaft rhetorischen Sätzen Goethe geradezu eingeprägt hat.“ In: Böschenstein1 1990, S. 319.
Seminararbeit: Die natürliche Tochter und die Französische Revolution Verfasser: Dominik Schneider 01.06.2006 Prof. Bodo Würffel
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revolutionsrelevanten politischen Gehalt des Stückes gewähren, zumal sich das
Drama nur an Geschehnisse aus den „Memoires de Staphanie Bourbon Conti
écrit par elle-même“ aus den Jahren 1773 und 1774 unter der Herrschaft
Ludwigs XV. anschliesst.4
Diese zeitliche Distanz zu 1789 und die revolutionsferne Handlung im Stück
sowie der Umstand, dass die Natürliche Tochter nur der erste Teil einer
geplanten Trilogie ist, lassen den Schluss zu, dass das vorliegende Stück eine
symbolisch-metaphorische Vorausdeutung auf die Französische Revolution ist.
Es ist keine faktengetreue Abhandlung derselben, sondern eine retrospektive
Nachbearbeitung Goethes Eindrücke des vergangenen Ereignisses, und zwar in
Form eines Einzelschicksals, welches die Auseinandersetzung grosser
gesellschaftlich und politisch wirkender Kräfte in der vorrevolutionären Zeit
veranschaulicht. Obwohl das Stück vor der Zeit der Französischen Revolution
handelt, muss festgehalten sein, dass es Goethe erst 14 Jahre nach deren
Ausbruch vollendet hat. Es ist somit zwar ein im Vorfeld der Revolution
handelndes Stück, jedoch mit Goethes gesamten Eindrücken dieses epochalen
Ereignisses und gleichfalls mit seinem bis dahin möglichen Wissen über
dessen Verlauf, Ausgang und Konsequenzen. Dies findet schliesslich
Ausdruck in einem vorrevolutionäre Handlung, aber auf der Ebene der
Symbolik und Metaphorik die gesamte Revolution umfassenden Stück.
2.1. Die Symbolik und Metaphorik in der Natürlichen Tochter
Das Geschehen der Natürlichen Tochter findet in einer Zeit statt, in der ein
möglicher politischer Umsturz kurz bevorsteht und in der es ein Königtum
samt Adel gibt. Auch von einem Bürgertum und von der breiten „gärenden“5
Masse ist die Rede. Genaueres lässt sich aus dem Text über die Zeit nicht
herausschälen. Dennoch deuten die genannten Indizien auf die
vorrevolutionäre Zeit im 18. Jahrhundert hin. Die Französische Revolution und
ihre Folgen werden aber direkt weder dargestellt noch erläutert. Goethe ging es
offensichtlich um Allgemeineres.6 Er bediente sich in diesem Stück in
4 vgl. ebd. , S. 320. 5 (1657/51). Die Versangaben und Seitenzahlen der direkten Zitate aus dem Stück „die natürliche Tochter“ beziehen sich auf die Reclamausgabe Nr. 114 und folgen der hier erstmals verwendeten Darstellung: [(Vers/Seitenzahl)]. 6 vgl. Conrady 1988, S. 125.
Seminararbeit: Die natürliche Tochter und die Französische Revolution Verfasser: Dominik Schneider 01.06.2006 Prof. Bodo Würffel
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auffälliger Weise der uneigentlichen Redeform, also der Symbolik und
Metaphorik.7 Metaphern und Symbole versuchen, die Distanz zum Unsagbaren
zu verringern. Sie sind erste Gehversuche, Ereignisse sprachlich festzuhalten,
ihnen einen sprachlichen Gehalt zu geben, und schliesslich sind sie auch
Verarbeitungsprozess einer noch nicht weit zurückliegenden und dem
rationalen Zugriff erschwert zugänglichen Katastrophe, wie es die
Französische Revolution für Goethe gewesen war8:
„Dass Goethe um die Jahrhundertwende erneut auf die Vorgeschichte der Revolution zurückgriff, zeigt, dass sie ihn wie eine Zwangsvorstellung beschäftigte, von der er nicht loskam. Er wusste, dass es ihm nur unvollkommen gelungen war, ’diesen unübersehlichen Gegenstand, der so lange Zeit [s]ein poetisches Vermögen fast unnützerweise aufgezehrt [hatte], dichterisch zu gewältigen.’“9
In der Betrachtungsweise der uneigentlichen Rede sind die Figuren, welche
alle ausser Eugenie keine Eigennamen tragen, nicht in einem herkömmlichen
Sinne typisiert, denn sie bleiben trotz allem Individuen: „Es ist von
symbolischer Bedeutung, dass die Figuren ohne Eigennamen auftreten, nicht
aber sind die Figuren symbolisch, weil sie ohne Eigennamen auftreten.“10 Im
weiteren ist das Stück gefüllt mit Elementen der Wassermetaphorik, der
Kreismetaphorik und der Netzmetaphorik, deren Bedeutung für das Drama in
den folgenden Kapiteln behandelt wird.
7 Auch „[einen] Tropus“ genannt. Vgl. Fricke/Zymner 2000, S. 44. 8 vgl. Wolff 1979, S. 7. vgl. Dedner 2003, S. 37. 9 Fink 1999, S. 72. 10 Stammen 1966, S. 114.
Seminararbeit: Die natürliche Tochter und die Französische Revolution Verfasser: Dominik Schneider 01.06.2006 Prof. Bodo Würffel
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3. Die Figuren Wie bereits weiter oben erwähnt, bewegen sich die Figuren der Natürlichen
Tochter in einem Spannungsfeld zwischen Typisierung, symbolischem Gehalt
und Aufrechterhaltung ihrer Individualität. Mit Ausnahme von Eugenie tragen
alle Figuren Standesbezeichnungen, womit die „persönlichen Namenlosen“
auf eine Funktion oder Rolle, die sie im gesellschaftlichen Ganzen
übernehmen, reduziert werden.11 Dennoch bleiben die Figuren in einer
gewissen Weise Individuen. Einige von ihnen haben sogar eine
Vergangenheitsgeschichte, wie der Mönch oder der Weltgeistliche12. Obwohl
diese Ereignisse keine individualpsychologisch und entwicklungsgeschichtlich
tief fundierten Erlebnisse sind, sondern eher nüchterne Fakten, offenbart der
Mönch dennoch seine tiefe Reue, den Schritt zurück in die „Wildnis frechen
Städtelebens“13, also den Schritt zurück in die verkommene Zivilisation jemals
angetreten zu haben. Die Hofmeisterin wird zunächst als klar umrissene und
genau differenzierte Figur dargestellt. Sie übernimmt die mütterliche Fürsorge
Eugenies, hat aber eine Liebesbeziehung zu dem Eugenie nicht wohlgesinnten
Sekretär, der Teil einer intriganten Oberschicht ist. In dieser ambivalenten
Ausgangssituation ist zu erkennen, in welch einer komplexen Problemlage sich
die Hofmeisterin in diesem Stück zu bewegen hat und zu dessen Lösung es
mehr bedarf, als einer flachen, einfältig gezeichneten Figur. Dennoch ist sie
keine „menschlich-psychologisch erfassbare Gestalt“14, wie die zwiespältige
Auffassung Eugenies verdeutlicht. Denn sie zerfällt in zwei verschiedene
unvereinbare Gestalten:
EUGENIE: O dass ich dich noch einmal freundlich hold
Vor meinen Augen sähe, wie du stets Von früher Zeit herauf mich angeblickt! […] Bist du denn ganz verwandelt? Äusserlich Erscheinst du mir die Vielgeliebte selber; Doch ausgewechselt ist, so scheint’s dein Herz – 15
11 vgl. Stammen 1966, S. 114. 12 Der Mönch erzählt von seiner Rückkehr von den fernen Inseln und der Weltgeistliche vom Verlassen seiner kleinen Gemeinde. 13 (2772/84) 14 vgl. Bänninger 1957, S. 19. 15 (2311ff./70)
Seminararbeit: Die natürliche Tochter und die Französische Revolution Verfasser: Dominik Schneider 01.06.2006 Prof. Bodo Würffel
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Einer ähnlich doppeldeutigen Auslegung lässt sich der Sekretär unterziehen.
Einerseits ist er ein gewissenloser Opportunist, dessen eigener Nutzen über
allem steht. Dieser Lebensstil wird in der folgenden Maxime deutlich:
SEKRETÄR: Und was uns nützt, ist unser höchstes Recht.16
Andererseits äussert er sich in gewissen Situationen, in denen eine
heuchlerische Fassade nicht hinpasst, fast schon beklemmend einfühlsam. So
kommentiert er die Trauerstimmung im Palast nach Eugenies inszeniertem Tod
in emphatisch-melancholischer Weise mit folgenden Worten:
SEKRETÄR: Tritt still herein in diese Totenstille! Der Herzog schläft, und alle Diener stehen, Von einem Schmerz durchdrungen, stumm gebeugt. Er schläft! Ich segnet ihn, als ich ihn sah […].17
Diese Beispiele sollen zeigen wie symptomatisch die Widersprüchlichkeiten
einzelner Figuren für die geheimen Machenschaften in der aristokratischen
Welt vor und während der Revolutionszeit sind.18 Keine Figur ist bloss das
was sie vordergründig zu sein scheint. Ihnen fehlt die Kontinuität des
psychologischen Wesens19:
EUGENIE: Der Schein, was ist er, dem das Wesen fehlt?20
Auf Grund der exemplifizierten Zwei- oder Mehrdeutigkeit handelt es sich
nicht um eindeutige Charaktere, jedoch ebenfalls nicht um auf die Grundlinie
eines Wesenszuges reduzierte und somit typisierte Figuren. Deshalb ist es
sinnvoller, von Rollen zu sprechen, die die Figuren einnehmen und während
des Stückes wechseln.21
3.1. Der Herzog
Besonders deutlich treten die verschiedenen Rollenbilder beim Herzog, bei der
Hofmeisterin und beim König zu Tage. Alle drei bewegen sich allgemein
16 (861/28) 17 (1149ff./38) 18 vgl. Bänninger 1957, S. 19f. 19 vgl. ebd., S. 22. 20 (1066/35) 21 vgl. Bänninger 1957., S. 28. Stammen 1966, S. 114. Grabowsky 1952, S. 11.
Seminararbeit: Die natürliche Tochter und die Französische Revolution Verfasser: Dominik Schneider 01.06.2006 Prof. Bodo Würffel
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formuliert zwischen den beiden Polen „Menschlichkeit“ und „Politik“. Es
handelt sich dabei um unvereinbare sich gegenseitig ausschliessende
Aufgabenbereiche.
Der Herzog, der den ganzen Sinn seiner Existenz auf seiner Tochter und seiner
Vater-Rolle aufbaut, der in seiner Eugenie einen „edle[n] Schatz“22, ja gar ein
„Götterbild“23 erblickt und dessen Leben ohne sie keinen Sinn mehr macht,
HERZOG: Was hab ich in der Welt zu suchen, wenn Ich sie nicht wieder finde, die allein Ein Gegenstand für meine Blicke war?24
Dieser Mann, der Oheim des Königs ist und seine Rolle auch in der politischen
Sphäre ausüben muss, hat kein dringenderes Verlangen, kein eiligeres
Geschäft, als diese Tochter aus dem geschützten häuslich-familiären Kreise
herauszubewegen, um sie in die verworrene, „Gefahren“25 bergende und von
„Misstrauen“26 geprägte politische „Sorgen“-Welt27 einzuführen:
HERZOG: Ich darf ihn [den König] bitten: sie zu mir herauf, Zu sich heraufzuheben, ihr das Recht Der fürstlichen Geburt vor seinem Hofe, Vor seinem Reiche, vor der ganzen Welt Aus seiner Gnadenfülle zu bewähren.28
Der Herzog gibt für sein zwiespältiges Verhalten gleich selbst den nötigen
Vorwand in dem er sagt:
HERZOG: Das Grosse wie das Niedre nötigt uns, Geheimnisvoll zu handeln und zu wirken.29
Das Grosse, also der Adel und der Königshof, wie das Niedre, die breite
Volksmasse, welche in der Revolutionszeit keine festen Positionen mehr
einnehmen, sondern im Begriff sind, sich selbst zu wandeln und sich
gegenseitig abzulösen und untereinander zu bekämpfen, nötigen die darin
handelnden Figuren geheimnisvoll zu wirken, um selber weiter bestehen zu
können.30
22 (241/12) 23 (1535/48) 24 (1603ff./50) 25 (467/18) 26 (468/18) 27 (467/18) 28 (97ff./7) 29 (82f./7) 30 vgl. Bänninger 1957, S. 21.
Seminararbeit: Die natürliche Tochter und die Französische Revolution Verfasser: Dominik Schneider 01.06.2006 Prof. Bodo Würffel
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3.2. Die Hofmeisterin
Wie der Herzog in seiner Vaterrolle, so verwirklicht sich die Hofmeisterin in
ihrer Mutterrolle. Zwar ist sie nicht leibliche Mutter Eugenies, sie versteht aber
ihre Aufgabe darin, diese beschützende Rolle auszuüben:
HOFMEISTERIN: Mich ruft es auf, die schreckliche Gefahr Vom holden Zögling kräftig abzuwenden, [...].31
Auch Eugenie sieht in der Hofmeisterin einen Mutterersatz:
EUGENIE: Und zog sich ins Verborgene meine Mutter Vor ihres Kindes Blicken früh zurück,
So reichtest du ein überfliessend Mass Besorgter Mutterliebe mir entgegen.32
Doch so sehr die Hofmeisterin liebende und fürsorgende Mutter ist, so sehr ist
sie durch die Liaison mit dem Sekretär in die politische Welt miteingebunden
und nicht fähig, sich von dieser völlig zu entbinden. Eigentlich müsste die
Hofmeisterin, um Eugenie zu beschützen, deren öffentliches Erscheinen zu
unterbinden versuchen. Denn auch die Hofmeisterin kennt die bösen
Machenschaften der herrschenden Elite und ist sich der Pläne des Sekretärs
und Eugenies Bruder bewusst. Doch trotz ihres Wissens drängt sie Eugenie
dazu, das Kästchen mit dem Schmuck zu öffnen und ihr Festkleid frühzeitig
anzuziehen, obwohl es vom Herzog strengstens untersagt worden ist. Somit
treibt sie Eugenie dem gefahrvollen Ziel entgegen, von dem sie sie ja
eigentlich abhalten möchte. Auch am Ende des Stückes organisiert die
Hofmeisterin zunächst das Gespräch mit dem Gerichtsrat, um dann wenig
später ein Zeichen für eine Abreise zu geben.33
3.3. Der König
Schliesslich erscheint auch der König in diesem Zwielicht, das die bereits
beschriebenen Figuren charakterisiert. Gleich zu Beginn des Stückes wird klar,
dass wir es mit einem unsicheren König zu tun haben, der den Zuständen am
Hof und in der Gesellschaft nicht mehr gewachsen ist. Er ist in dieser von
Wandlung, Umbrüchen und Intrigen geprägten Welt offensichtlich
orientierungslos: 31 (864f./28) 32 (2319ff./70) 33 vgl. Bänninger 1957, S. 19-26.
Seminararbeit: Die natürliche Tochter und die Französische Revolution Verfasser: Dominik Schneider 01.06.2006 Prof. Bodo Würffel
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KÖNIG: Wo sind wir Oheim? Herzog, sage mir, zu welchen Hügeln schweiften wir heran?34
Der König zeigt offenkundig Schwäche. Doch es handelt sich dabei nicht nur
um eine Auflösungserscheinung der alten Ordnung oder um den Untergang der
Monarchie, sondern auch um ein Fortstreben aus der politischen Welt in die
von Menschlichkeit beherrschten Kreise. Er tendiert also als oberste Instanz
von der Politik zur diametral entgegengesetzten Entwicklung, wie der Herzog
und die Hofmeisterin. Dies wird deutlicher, wenn man der Stichomythie von
Herzog und Eugenie folgt:
EUGENIE: Wie edel hat ihn die Natur gebildet. HERZOG: Doch auf zu hohen Platz hinaufgestellt. EUGENIE: Und ihn mit so viel Tugend ausgestattet. HERZOG: Zur Häuslichkeit, zum Regimente nicht.35
Es fällt auf, dass sich der König in die „Vaterpflichten“36 des Herzogs
einmischen will. Doch am deutlichsten offenbart sich des Königs Verdruss, auf
dem Throne zu regieren, und das Verlangen, sich in einen väterlich-familiären
Bereich zu begeben, in den folgenden letzten Versen des Königs im Stück:
KÖNIG: Bis an den letzten Herd im Königreich Empfände man des Vaters warme Sorge. [...] Und hätt’ ich einmal ihres Glücks genossen, Entsagt’ ich gern dem Throne, gern der Welt.37
Es wird darin deutlich, dass der König aus seiner Rolle des Herrschers
hinausschlüpft und sich stattdessen des Verhaltens eines liebenden und
sorgenden Vaters bedient. Dadurch wird aber seine Unfähigkeit, in der Welt
Ordnung zu stiften, deutlich. Folglich zieht er richtigerweise den Schluss
abzudanken, und auf sein Amt zu verzichten. Er tritt in diesem Stück auch kein
weiteres Mal mehr auf.
Es gibt ein weiteres Indiz für die Zwiespältigkeit des Königs. Er steht zunächst
hinter der Emporhebung Eugenies in den Adelsstand und unterstützt diese
Vorhaben des Herzogs sogar aktiv. Es zeigt sich uns zu Beginn ein milder und
gütiger König, dessen Absichten nur positiv sind. Am Ende des Stückes
34 (6f./5) 35 (435ff./17) 36 (211/11) 37 (419ff./17)
Seminararbeit: Die natürliche Tochter und die Französische Revolution Verfasser: Dominik Schneider 01.06.2006 Prof. Bodo Würffel
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müssen wir jedoch in Erfahrung bringen, dass ebendieser König die
Verbannungsschrift für Eugenie eigenhändig unterschrieben hat. Es gibt im
Stück zwar nirgends einen definitiven Beweis dafür, ob das Dekret gefälscht
ist oder nicht. Es ist wahrscheinlich auch Absicht des Dichters, den Leser im
Dunkeln tappen zu lassen. Doch wie der Herzog zuvor, gibt auch der König ein
andeutungsvolles Indiz dafür, dass solch geheime Machenschaften zum
täglichen Geschäft der korrumpierten Politik dazugehören müssen:
KÖNIG: Selbst wer gebieten kann, muss überraschen.38
3.4. Eugenie
Es wurde bereits weiter oben erwähnt, dass die Figuren Standesbezeichnungen
als Namen tragen, welche ihre Funktion in einem gesellschaftlichen Ganzen
darstellen. Eugenie, die als einzige Figur mit einem eigenen Namen auftritt,
fehlt eine solche Standeszugehörigkeit. Darin liegt das zentrale Ereignis in
diesem Stück begründet. Eugenie als reines, aber bisher der Öffentlichkeit
verborgenes Wesen will sich in der politischen Sphäre des Adels entfalten und
etablieren, um so ihren festen Platz in der Gesellschaft zu erhalten.39 Mehr
noch, sie will in dieser politischen Welt edle und heroische Taten vollbringen,
zu denen sie sich berufen fühlt:
EUGENIE: Ich nehme Teil an jeder edlen Tat, An jeder grossen Handlung, die den Vater Dem König und dem Reiche werter macht.40
Ihren politischen Schaffensdrang versucht sie in der Sphäre des unter dem
Monarchen vereinten Reichsadels zu verwirklichen. Die vom Herzog
geäusserten Warnungen vor den Gefahren, die diese Welt in sich birgt
HERZOG: […] wie der jähe Sturz Dir vorbedeutet, bist du in den Kreis Der Sorgen, der Gefahr herabgestürzt.41
und
HERZOG: Was du erwartest, schätzest du zu sehr.42
38 (414/16) 39 vgl. Stammen 1966, S. 114. 40 (485ff./18) 41 (465ff./18) 42 (501/19)
Seminararbeit: Die natürliche Tochter und die Französische Revolution Verfasser: Dominik Schneider 01.06.2006 Prof. Bodo Würffel
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ignoriert sie, da sie von einem falschen Bild der politischen Zustände
geblendet ist. An Stelle einer von der Einigkeit der dem König dienenden
Grossen geprägten Politik ist das intrigante Machtspiel der verschiedenen
Parteien getreten, welches der König nicht mehr zu kontrollieren im Stande ist.
Eugenie wird erst gegen Schluss des Stücks klar, dass ihre naive
Weltvorstellung nichts mehr als ein „Gespenst“43 einer blühenden
Vergangenheit ist. Dies vermag nicht zu verwundern, zumal Eugenie, die
Wohlgeborene, einen Kern von den vergangenen ehrenvollen Grundwerten des
Adels in sich tragend, ihr ganzes Leben in der Verborgenheit, im Schutze vor
der rauen Welt, verbracht hat. Sie ist bisher von der Verfallsgeschichte des
Reiches nicht berührt worden und ist insofern natürlich gebliebene Tochter
einer vergangenen Tradition. Dieses Erbe konnte sie in sich bewahren, da sie
die dem Adel ursprünglich zugehörigen reinen Werte ausleben konnte, ohne in
der tagespolitischen Auseinandersetzung dazu genötigt gewesen zu sein, eine
Rolle in der korrumpierten Welt einzunehmen. Durch ihr „Erscheinen“44, also
ihr öffentliches Auftreten in der politischen Welt, wird die Diskrepanz
zwischen alter und neuer Ordnung, beziehungsweise neuer Unordnung,
offenbar. Eugenies Bruder, der um sein Erbe wie um eine Umwälzung des
Machtgefüges fürchtet, will durch einen geheimen Plan ihr Erscheinen wieder
rückgängig machen. Würde nämlich der König dem Wunsche des Herzogs
nachkommen, Eugenie öffentlich anzuerkennen, hätte dies positive
Auswirkungen auf die kriselnde Beziehung zwischen dem Herzog und dem
König, welche symbolisch ist für die durch gegenseitige Machtansprüche
zwischen Adel und Thron ins Wanken geratene jedoch für die Stabilität der
ganzen Ordnung essentielle Bindung:
SEKRETÄR: Lässt nach und nach sie [Eugenie] öffentlich erscheinen; […] Entwirft geheime Plane, nähert sich, Dem Hofe wieder und entsagt zuletzt Dem alten Groll, versöhnt sich mit dem König Und macht sich’s zur Bedingung: dieses Kind Als Fürstin seines Stamms erklärt zu sehn.45
43 (2837/85) 44 (741/25) 45 (741ff./25f.)
Seminararbeit: Die natürliche Tochter und die Französische Revolution Verfasser: Dominik Schneider 01.06.2006 Prof. Bodo Würffel
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Der Sekretär, der mit dem Bruder Eugenies unter einer Decke steckt, versucht
diese durch die Annäherung des Herzogs bevorstehende Stärkung des Königs
zu verhindern, da er selbst an einer Stärkung der eigenen „Partei“46 interessiert
ist. Dieses Spiel, das „Grosse gegen Grosse“47 reizt, scheint sich zunächst
durch die „doppelt neuvereinte Kraft“48 für den Königshof und den Herzog zu
entscheiden. Doch durch Eugenies fingierten Tod, verschwindet auch der
Anstoss für die Wiedervereinigung von Adel und König, was insofern die
mangelnde Einheit der Herrschenden und die daraus folgende Schwäche und
Revolutionsanfälligkeit enthüllt. Die blind ihre Bahnen verfolgenden Parteien,
welche sich gegeneinander erheben, vermag der Staat nicht zu einem
Gesamtinteresse zu vereinigen, wodurch er selbst zerfällt. Eugenies
Verschwinden kann somit als symbolischer Untergang des „abendländischen
Festglanzes“49 gedeutet werden, zumal sie die Repräsentantin und Trägerin der
Werte der alten intakten Ordnung ist und ein Idealbild der Einstellung des
Adels gegenüber dem König in Form von „Ergebenheit“50 vermittelt.51
Da der Herzog durch den Verlust seiner Eugenie die alten Werte verloren sieht,
will er dieser ein Denkmal setzen, um sie in Erinnerung zu behalten, und für
die Ewigkeit zu erhalten:
HERZOG: Das Denkmal nur, ein Denkmal will ich stiften. […] Ich fühle keine Zeit; denn sie ist hin, An deren Wachstum ich die Jahre mass.52
Eugenie als natürliche Tochter ist Stellvertreterin eines natürlichen Zustandes,
welcher durch die die Revolution auslösenden Gründe aus einem im
Gleichgewicht ruhenden Zustand in Dynamik ausbricht. Der natürliche
Zustand ist in einem politischen Sinne zu verstehen, als vorrevolutionäre
Ordnung des Ancien Régime.
46 (1109/36) 47 (373/15) 48 (371/15) 49 Böschenstein2 1990, S. 375. 50 (345/15) 51 vgl. Brandmeyer 1987, S. 63-94. Stammen 1966, S. 111-117. Voser 1949, S. 134-145. 52 (1580ff./49f.)
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4. Die Elemente Auffallendes Element in der Natürlichen Tochter ist Goethes Verwendung von
Metaphern aus dem Bereich der Natur anhand derer man die analoge
Beziehung, in welche die moralische und physische Welt zueinander treten,
erkennen kann. Die physische Welt präsentiert Goethe durch die aus den
Fugen geratenen Naturgewalten, welche die Zivilisation in ihrer bisherigen
Erscheinungsform bedrohen. Demgemäss widerspiegelt die physische, im
Stück metaphorisch dargestellte Welt den chaotischen, revolutionären Zustand,
in dem sich die moralische Welt befindet.53 Die Naturmetaphorik avanciert „zu
einer prädestinierten Beschreibungskategorie politischer Sachverhalte[…].“54
Im Stück sind Metaphern aller Elemente der Vier-Element-Lehre vertreten,
Luft, Feuer, Erde und Wasser. Sie werden in Form von Stürmen55, Bränden56,
Erdbeben57 und Fluten58 als rohe und nach Autonomie trachtende
Naturgewalten thematisiert, welche vom Menschen nicht mehr zu bändigen
sind. Folge davon ist das Auseinanderbrechen der durch die einzelnen
Elemente zusammengefügten Ordnung:
EUGENIE: […]diesem Reich droht Ein jäher Umsturz. Die zum grossen Leben Gefugten Elemente wollen sich Nicht wechselseitig mehr mit Liebeskraft Zu stets erneuter Einigkeit umfangen.59
Eugenie sieht den Grund für dieses Missverhältnis im Scheitern des Königs,
die verschiedenen Interessengruppen „zu einem Zweck“60 zu vereinigen. Und:
EUGENIE: […] wo er [der König] wankt, wankt das gemeine Wesen, Und wenn er fällt, mit ihm stürzt alles hin.61
Insofern gestattet das Versagen des Herrschers das willkürliche und durch
egoistische Interessenvertretung geprägte Verhalten der oberen Schichten,
53 vgl. Stammen 1966, S. 96f. 54 Dedner 2003, S. 56. 55 exemplarisch (1661/52) 56 exemplarisch (1331/43) 57 exemplarisch (2799/84) 58 exemplarisch (1322/42) 59 (2825ff./85) 60 (2832/85) 61 (387f./16)
Seminararbeit: Die natürliche Tochter und die Französische Revolution Verfasser: Dominik Schneider 01.06.2006 Prof. Bodo Würffel
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welches seinerseits die Entbindung der Elemente aus dem Zusammenhalt
ermöglicht.62
Von diesen die Ordnung bedrohenden, oder besser gesagt, die auf Grund der
Unfähigkeit der ordnungsstiftenden Instanzen zur gewaltsamen Entfaltung
befähigten Elemente, ist das Wasser der auffälligste und im Stück am
prominentesten vertretene Urstoff, den es in der Folge genauer zu betrachten
gilt.
4.1. Die Wassermetaphorik
Uwe Wolff unterteilt das Stück in fünf der Wassermetaphorik zugehörige
Themen, welche sinnbildlich für die Entwicklung Eugenies, wie aber auch für
die Entwicklung des revolutionären Gärungsprozesses in Gesellschaft und
Politik stehen. Es handelt sich dabei um „das Staatsschiff“, „die tosende See“,
„den Hafen“, „den Dammbruch“ und „den Balken“, wobei letztere zwei in der
Folge nur am Rande erwähnt werden sollen.
4.1.1. Das Staatsschiff
Die Metapher vom „Schiff“63 beschreibt treffend ein Staatsmodell, in dem nur
die Balance der Kräfte eine Ordnung, beziehungsweise eine ruhige Seefahrt
gewährleisten kann. Ebenso treffend ist es, dass es auf einem Schiff nur einen
Steuermann gibt, hier in diesem Stück den König. Doch seine bereits weiter
oben erwähnte Schwäche, dem ganzen Staatsgefüge zur Stabilität zu verhelfen,
wird auch in der Schiffsmetaphorik bestätigt:
KÖNIG: Schnell regt sich Wog’ auf Woge, Sturm auf Sturm; Das Fahrzeug treibt an jähe Klippen hin, Wo selbst der Steurer nicht zu retten weiss.64
Einerseits sind es die bedrohenden Wellen von aussen, die das Schiff in eine
gefährliche, dem Untergang nahe Lage bringen, und auf der anderen Seite die
bereits mehrfach angesprochene Zerstrittenheit im Inneren des Staates, welche
durch die Unfähigkeit des Königs und der Eliten, das Gefährt zu steuern und
auf den richtigen Kurs zu bringen, ersichtlich wird. Dass das Staatsschiff von
62 vgl. Stammen 1966, S. 194-204. 63 (374/15) 64 (408ff./16)
Seminararbeit: Die natürliche Tochter und die Französische Revolution Verfasser: Dominik Schneider 01.06.2006 Prof. Bodo Würffel
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einer durch den Ozean symbolisierten Masse des Volkes getragen wird, welche
durch ihr Aufbegehren in Form von Sturm und wilden Wellen das Staatsschiff
zum Untergang bringt, lässt sich durch den Text nicht direkt erhärten. Es gibt
keine konkreten Hinweise darauf, ob das Volk Teil des Schiffes ist, also
sozusagen Passagier auf diesem, oder Teil des tragenden Wassers. Die äussere
Bedrohung des Staatsschiffes könnte auch Ursache der allgemein sehr
stürmischen Lage des gesamtgesellschaftlichen Klimas sein.65
4.1.2. Die tosende See
Der Ozean wird im Verlaufe des Stücks zu einer immer grösser werdenden
Bedrohung für Eugenie. Aus einzelnen „Wellen“66 entwickelt sich ein
„Sturm“67 und wird über „Fluten“68 schliesslich zu einem willkürlichen und
ziellosen „Treiben“69, welches sie zu verschlingen droht. Aus dem Mund des
Sekretärs erfahren wir, dass „Willkürlich handeln […] des Reichen Glück!“70
ist. Es sind diese willkürlichen Zustände in den oberen Ständen, die Eugenie
daran hindern, in der politischen Welt, als anerkannte Adlige zu erscheinen,
die sie „von des Vaters Brust ans wilde Meer“71 tragen.72 Ihre Verbannung
folgt denn auch dem Dammbruch, dem ungeordneten Treiben der Elemente:
EUGENIE: […] Ihr Fluten, schwellt, Zerreisst die Dämme, wandelt Land in See! Eröffne deine Schlünde wildes Meer, Verschlinge Schiff und Mann und Schätze! […]73
Noch vor ihrer geplanten Erhebung in den Adelsstand konnte Eugenie zwar die
Elemente beherrschen und war ihnen als göttliche Gebieterin sogar überlegen:
HERZOG: Zu Pferde sollte sie, im Wagen sie, Die Rosse bändigend, als Heldin glänzen. Ins Wasser tauchend, schwimmend, schien sie mir Den Elementen göttlich zu gebieten.74
65 vgl. Wolff 1979, S. 12-20. 66 (374/15) 67 (408/16) 68 (1322/42) 69 (1635/51) 70 (776/26) 71 (2431/74) 72 vgl. Wolff 1979, S. 23. 73 (1322ff./42) 74 (1386ff./44)
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Doch schliesslich vermag auch Eugenie, wie das „tiefgebäugt[e], vermindert[e]
Volk“, das Element nicht mehr zu „bändigen“75, muss sich ihm unterwerfen
und statt ihren Erscheinungsprozess weiter voranzutreiben, wird sie zum
Verschwinden in eine unbeachtete, ihr unwürdig erscheinende Sphäre
gezwungen.76 Oder in den Worten des Herzogs:
HERZOG: Oh! Wehe! Dass die Elemente nun, Von keinem Geist der Ordnung mehr beherrscht, Im leisen Kampf das Götterbild [Eugenie] zerstören.77
Welche Konsequenzen die Nichtanerkennung Eugenies auf das
Ordnungsgefüge hat, lässt sich in Bezug auf die Sternmetapher erneut
bestätigen. Der König nennt sie einen „neuen Stern“78, dessen Aufgang man
bewundern könne. Als Himmelsgestirn hat sie eine hervorragende Stellung als
Orientierungshilfe und Lichtquelle für die astronomische Navigation in der
Nacht.79 Verschwindet dieses, ist das Staatsschiff auf den Weiten des Ozeans
verloren und treibt orientierungslos umher.
4.1.3. Der Hafen
Wie das Staatsschiff, ist auch Eugenie dazu genötigt, in der stürmischen See
nach Rettung und Orientierung zu suchen. Sie ist nahe daran, ihr Leben
aufzugeben und es den Wellen zu überlassen:
EUGENIE: Das letzte Brett, das mich hinüberführt, Soll meiner Freiheit erste Stufe werden. Empfangt mich dann, ihr Wellen, fasst mich auf, Und fest umschlingend senket mich hinab In eures tiefen Friedens Grabesschoss.80
Doch Rettung in Form eines Balkens naht. Der Balken kann zwar nur als eine
Zwischenlösung betrachtet werden, da ein längeres Weiterexistieren auf
demselben nicht denkbar ist, dennoch stellt er eine feste Grösse dar, an der sich
Eugenie festhalten kann. Des weitern deutet der Balken auf ein bereits
75 (2805ff./84) 76 vgl. Stammen 1966, S. 202. 77 (1533ff./48) 78 (105/7) 79 vgl. Wolff 1979, S. 14f. 80 (2649ff./80)
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zerbrochenes Staatsschiff hin, welches in der Folge in einzelnen Fragmenten
auf dem Meer von Strömungen herumgetrieben wird81:
EUGENIE: Schiffbrüchig fass ich noch die letzte Planke! Dich halt ich fest und sage wider Willen Zum letzten Mal das hoffnungslose Wort: Aus hohem Haus entsprossen, werd ich nun Verstossen, übers Meer verbannt und könnte Mich durch Ehebündnis retten, das Zu niedren Sphären mich herunterzieht.82
Eugenie hat die Qual der Wahl zwischen drei ihr unbeliebten Möglichkeiten zu
wählen, nämlich zwischen der Verbannung, dem Selbstmord und dem
Ehestand. Sie entscheidet sich schliesslich, wie vom Mönch geraten, für
dasjenige, welches ihr das geringste Übel darstellt und ihr die Möglichkeit
bietet, auch in der Zukunft noch politischen Einfluss für das Wohlergehen des
geliebten Vaterlandes zu nehmen. Denn der „schönste[…] Port“83, in dessen
beschützende Umrandung sie nach ihrem Kampf mit dem wilden Ozean nun
einzulaufen gedenkt, stellt ja auch nur eine Zwischenlösung dar, da die
Möglichkeit eines Widerauslaufens besteht. Dennoch ist der Hafen als
Zufluchtsort für den Moment die beste Lösung. Des „Reiches letzte[r]
Hafenplatz“84 hebt die Bedeutung des allerletzten ruhigen Ankerplatzes hervor.
Demnach müssen sich die revolutionären Zustände bereits über das ganze
Land verbreitet haben. Aus diesen Gründen wählt Eugenie das Dasein im
Hafen des Ehestandes, weil sie hier Schutz vor den gegenwärtigen politischen
Ereignissen findet.85
81 vgl. Wolff 1979, S. 32. 82 (2717ff./82) 83 (2178/66) 84 (1171/38) 85 vgl. Wolff 1979, S. 36-39.
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5. Die Kreismetaphorik
Der metaphorische Gehalt des Kreises in der Natürlichen Tochter ist
vorwiegend der einer schützenden Sphäre gegen die rohen gesellschaftlichen
Verhältnisse der Revolutionszeit. Der abgeschlossene Kreis ist aber nicht nur
eine Mauer, die Gefahren abwendet, sondern für die darin Eingesperrte auch
eine Einschränkung und Freiheitsberaubung im physischen wie aber auch im
mentalen Sinne. Der „offene Kreis“86 schliesslich repräsentiert die negative
Umkehrung der schützenden Sphäre und stellt sich als eine Welt voll von
Sorgen und Gefahren dar.
Für Eugenie ist der Kreis zunächst Ausgangspunkt ihrer menschlichen
Entwicklung, ein „stiller Kreis“87 aus dem sie nun heraustritt.88 Das Leben vor
ihrem öffentlichen Erscheinen, also vor der Berührung mit der politischen
Welt, stellt sich ihr als „Paradies“89 dar und wird als Zeit des naiven
Lebensgenusses noch einmal beschworen90:
EUGENIE: Wer hat es reizender als ich gesehen, Der Erde Glück mit allen seinen Blüten! Ach, alles um mich her, es war so reich, So voll und rein, und was der Mensch bedarf, Es schien zur Lust, zum Überfluss gegeben?91
Ganz zentral für diesen wehmütigen Rückblick auf die „Unschuld [der]
Kindertage“92, welche sie zu konservieren trachtet, ist die Rolle des Vaters. Ihr
verdankt sie all die schönen Jahre, in denen sie sich ungefährdet von
politischen und familiären Machtinteressen zu der wohlgeborenen
„Amazonentochter“93, zu einem „edlen Kind“94 und reinen Gestalt entwickeln
konnte, die sie jetzt ist, und fährt in der Folge auf das obere Zitat fort:
EUGENIE: Und wem verdankt’ ich solch ein Paradies? Der Vaterliebe dankt’ ich’s, die, besorgt Ums Kleinste wie ums Grösste, mich verschwenderisch Mit Prachgenüssen zu erdrücken schien Und meinen Körper, meinen Geist zugleich,
86 (334/14) 87 (1122/37) 88 vgl. Stammen 1966, S. 236. 89 (471/18) 90 vgl. Brandmeyer 1987, S. 84. 91 (1945ff./60) 92 (2006/61) 93 (127/8) 94 (130/8)
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Ein solches Wohl zu tragen, bildete.95
Wie Eugenie sehnt sich auch der Weltgeistliche nach den idyllischen
Zuständen einer vergangenen Zeit. Bevor er sich auf die trügerischen
Geschäfte mit dem Sekretär eingelassen hatte, infolgedessen aus der
schützenden Sicherheit seiner häuslichen Enge und somit ebenfalls in Kontakt
mit der politischen Welt getreten ist, offenbarte sich auch ihm die Welt als
Paradies96:
WELTGEISTLICHER: […] als ich noch Im Paradies beschränkter Freuden weilte, Als, von des Gartens engem Hag umschlossen, Ich selbstgesäte Bäume selber pfropfte, Aus wenig Beeten meinen Tisch versorgte, Als noch Zufriedenheit im kleinen Hause Gefühl des Reichtums über alles goss, […].97
Der enge Hag, welcher sich um den Garten schliesst, symbolisiert gleichfalls
einen schützenden Kreis. Diesen hat der Weltgeistliche aber verlassen und
wurde somit in der politischen Welt der Intrigen zum „Sklaven“98 gemacht.99
In den ersten drei Akten des Stücks erscheint der Kreis als gut geschützter
Ausgangspunkt für Eugenies Entwicklung, von ihrer Kindheit bis hin zum
Zeitpunkt ihres öffentlichen Erscheinens. In den letzten zwei Akten, in denen
Eugenie gegen ihre Verbannung und gegen ihren Tod kämpfen muss, wächst
dem Kreismotiv eine neue Funktion zu. Der Kreis wird zum Sinnbild für die
bürgerliche Ehe und für den Bürgerstand schlechthin.100
5.1. Das Bürgertum!
Eugenie hat in ihrer Problemlage die Wahl zwischen drei Möglichkeiten101. Sie
kann sich entweder dem sicheren Tod stellen oder aber auf eine Insel verbannt
werden, auf der sie - durch Seuchen geplagt - gleichfalls den Verlust ihres
95 (1945ff./60) 96 vgl. Brandmeyer 1987, S. 98. 97 (1201ff./39) 98 (1226/40) 99 vgl. Stammen 1966, S. 236-238. 100 vgl. Stammen 1966, S. 238. 101 (2663/81): „Verbannung, Tod, Entwürdigung“.
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Lebens erleiden würde. Diese zwei Möglichkeiten sind unvermeidlicher Art,
da sie bei Unterlassung jeglicher alternativer Handlung ihr Schicksal besiegeln
würden und es nicht in Eugenies Gewalt steht, auf deren Wirken Einfluss zu
nehmen. Die dritte Variante ist die für sie unmöglich zu akzeptierende
Eheschliessung mit dem ihr in Standeshöhe nicht gleichwertigen
Gerichtsrat102:
EUGENIE: Und nennst du Wahl, wenn Unvermeidliches Unmöglichem sich gegenüberstellt?103
Ein Ehebündnis würde für Eugenie den Verlust ihrer Adelsprivilegien sowie
auch die von ihr angestrebte Möglichkeit politischer Einflussnahme bedeuten.
So sieht sie in der Ehe mit einem bürgerlichen zunächst bloss eine
einschränkende Freiheitsberaubung. Der Kreis dient in diesem Falle nicht als
Schutzwall, sondern als eine Art Gefängnis:
EUGENIE: Der Gatte zieht sein Weib unwiderstehlich In seines Kreises abgeschlossne Bahn. Dorthin ist sie gebannt, sie kann sich nicht Aus eigner Kraft besondre Wege wählen.104
Erst nach dem bereits erwähnten Dialog mit dem Mönch, entschliesst sich
Eugenie auf das Angebot einzugehen, da sie auf dem Festland bleibend, jedoch
in Verborgenheit lebend, die besten Aussichten auf eine zukünftige
Hilfeleistung für ihr Vaterland sieht.
Für Goethe stellt das Bürgertum ein sicheres Refugium zwischen der
unkalkulierbaren Masse („so endet ohne Glück, / Was ohne Plan zufällig sie
[die rohe Menge] begonnen“105) und dem willkürlich handelnden Adel dar:
SEKRETÄR: Willkürlich handeln ist des Reichen Glück! Er widerspricht der Fordrung der Natur, Der Stimme des Gesetzes, der Vernunft, Und spendet an den Zufall seine Gaben.106
„Natur“, „Gesetz“ und „Vernunft“ sind Leitbegriffe des bürgerlichen
politischen Denkens im 18. Jahrhundert. Ihnen gegenüber stehen „Willkür“,
102 vgl. Stammen 1966, S. 242. 103 (2275f./69) 104 (2295ff./69) 105 (2354f./71) 106 (776ff./26)
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„Zufall“ und „Verschwendung“ des pervertierten Adels.107 Es überrascht nicht,
dass Goethe den Repräsentant des Bürgerstandes in den beruflichen Bereich
des Gesetzes stellt, herrschen doch hier noch geregelte und gesittete Zustände.
So sagt der Gerichtsrat:
GERICHTSRAT: In abgeschlossnen Kreisen lenken wir, Gesetzlich streng, das in der Mittelhöhe Des Lebens wiederkehrend Schwebende. Was droben sich, in ungemessnen Räumen, Gewaltig seltsam hin und her bewegt, Belebt und tötet ohne Rat und Urteil, […].108
Adolf Grabowsky ist der Meinung, dass Goethe dem in der Mittelhöhe
agierenden Gerichtsrat die Mission zugeschrieben hat, „Zwischenexistenz [im
Sinne einer zentralen Figur zu sein], um sowohl das Recht des Volkes wie das
der oberen Schichten, die nun einmal bisher den Staat getragen haben und in
denen deshalb ein spezifisches Staatsbewusstsein wohnt, zu bejahen.“109
Insofern schlägt Grabowsky vor, dass der rechtlich neutrale Bürgerstand eine
Synthese aus den sich antithetisch widerstrebenden Parteilichkeiten
bewerkstelligen sollte, im Sinne einer neuen Gesellschafts- und
Rechtsordnung, in der jedem sein Recht zugesprochen wird.
Zu den im oberen Zitat erwähnten abgeschlossenen Kreisen in der Mittelhöhe,
also die Position zwischen dem Adel und der breiten Masse, gehört nun eben
auch der Ehestand, in den der Gerichtsrat Eugenie einbinden will.110 Denn:
GERICHTSRAT: Im Hause, wo der Gatte sicher waltet, da wohnt allein der Friede, den vergebens Im Weiten du, da draussen, suchen magst.111
In „des Bürgers hohen Sicherstand“112 findet Eugenie Schutz vor dem
„parteiische[n] Bestreben“, welches nicht auf diesen „heil’gen Kreis“113 wirkt.
Auch die Hofmeisterin versucht Eugenie „vom Glück zu überzeugen, das im
Kreise des Bürgerstandes hold genügsam weilt.“114 Schliesslich kann Eugenie
107 vgl. Borchmeyer 1977, S. 324. 108 (2009ff./61) 109 Grabowsky 1952, S. 20. 110 vgl. Borchmeyer 1977, S. 327. 111 (2180ff./66) 112 (2205/67) 113 (2184f./66) 114 (1806f./56)
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den Unterschied zwischen dem Unmöglichen und dem Unvermeidlichen
erkennen und entscheidet sich für die Ehe mit dem Gerichtsrat, die sie vor
Verbannung und Tod zu schützen vermag. Durch ihre innere Metamorphose
macht sie das ihr vorher unmöglich erscheinende möglich:
EUGENIE: Hier meine Hand: wir gehen zum Altar.115
5.2. Das Bürgertum?
Trotz der zentralen Bedeutung des Bürgertums in Person des Gerichtsrates in
der Natürlichen Tochter, kommt diesem nicht die tragende Rolle zu, die ihm in
Geschichtsbüchern über die Französische Revolution attestiert wird.
Rudolf Brandmeyer ist der Meinung, Goethes Deutung der
Revolutionsursachen gehe an der bürgerlichen Emanzipationsgeschichte
vorbei, da die Französische Revolution allein aus dem Versagen des Ancien
Régime gedeutet würde, welches sich in der Unfähigkeit der alten Ordnung zur
Regeneration der Herrschaft manifestiere.116
Auch Hans Meyer ist der Meinung, Goethe habe die französische bürgerliche
Revolution nicht verstanden, sondern allein den Untergang des Ancien
Régime. Er zeige den Zerfall der aristokratischen und monarchistischen
Ordnung, dem es an einem gesellschaftlichen Gegenspiel fehle. Die
aufsteigende bürgerliche Welt werde nicht zur Gegensphäre oder gar zur
Gegenkraft. Es bleibe eine Immanenztragödie innerhalb der Adelswelt.117
Tatsächlich treten in der Natürlichen Tochter vorwiegend Figuren aus den
oberen Ständen auf, was die These nach Goethes Fixiertheit, die
Revolutionsursachen bloss als Versagen der Elite abzuleiten, und die Rolle des
aufstrebenden Bürgertums weitgehend auszublenden, untermauert.
Theo Stammen hält dem entgegen, dass Goethe und Schiller - im Bemühen um
eine klassische Dichtungstheorie - die alte Lehre von der Trennung der Stile
wieder aufgenommen haben. Demnach verlange die Tragödie, dem hohen Stil
zugehörig, Figuren, die höchstem oder höherem menschlichem Range
zugehören.118
115 (2955/88) 116 vgl. Brandmeyer 1987, S. 93. 117 vgl. Mayer 1973, S. 35-40 und 359. 118 vgl. Stammen 1966, S. 94.
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5.3. Die Entsagung
Indem Eugenie die eheliche Bindung mit dem Gerichtsrat eingeht, entsagt sie
ihrem angestrebten Adelsstatus mitsamt den dazugehörigen Privilegien. Sie
muss sich ebenso von ihrem in der politischen Welt auf Heldentaten
fokussierten Dasein lösen und begibt sich in den bürgerlichen Stand, nimmt
schliesslich des Gerichtsrates „Geschenk mit Freuden an.“119 Und sie
entgegnet ihm:
EUGENIE: […] Aber denke nicht, Dass Bangigkeit mich dir entgegentreibe. Ein edleres Gefühl – lass mich’s verbergen! – Hält mich am Vaterland, an dir zurück.120
Es liegt ihr also daran klarzustellen, dass sie nicht aus Verzweiflung in den
Ehestand treten will, sondern aus der bereits erwähnten Erkenntnis, ihrer
Heimat in den Zeiten der Not auf diesem Wege am besten beistehen zu
können.121
Eugenie wird erst durch ihren Entschluss, dem Adelstitel zu entsagen, und
somit auf den ganzen Prunk und alle Privilegien zu verzichten, welche
Ausdruck des äusseren Scheins der Aristokratie sind, ihrem Wesen nach
Idealgestalt des adeligen Auftretens. Ihr Bekenntnis zur Liebe zum Vaterland
und ihr Wille, diesem zu dienen, entspricht dem ursprünglichen
Aufgabenbereich des Adels. So wird sie paradoxerweise erst durch ihren
ständischen Abstieg zur wahrhaften Adeligen und somit ihrem inneren Wesen
nach auf einen höheren Stand gehoben.122 Es handelt sich aber nicht nur um
eine Erhebung auf eine höhere moralische Stufe, sondern auch um die
Entstehung einer heiligen Figur, wie es ihr der Mönch vorbedeutet hat123:
MÖNCH: Und wähle, was dir noch den meisten Raum Zu heil’gem Tun und Wirken überiglässt, Was deinen Geist am wenigsten begrenzt, Am wenigsten die frommen Taten fesselt.124
119 (2875/86) 120 (2883ff./87) 121 vgl. Brandmeyer 1987, S. 89f. 122 vgl. Vaget 1980, S. 218. 123 vgl. Brandmeyer 1987, S. 90. 124 (2731ff./82)
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Ihr Weiterleben, „die Welt vermeidend, im Verborgenen“125, ist aber in ihrer
Vorstellung kein bleibender gesellschaftlicher Tod. Es handelt sich um eine
Metamorphose, um eine Persönlichkeitsentwicklung, um ein Sammeln von
neuer Schöpfungskraft und Energie.126 Eugenie rechnet nicht damit, für alle
Ewigkeit im Untergrund zu leben, sondern sieht es als eine vorübergehende
Lösung und hegt die Hoffnung auf ein erneutes Erscheinen:
EUGENIE: Sobald ich dich die Deine nenne, lass, Von irgendeinem alten zuverläss’gen Knecht Begleiten, mich, in Hoffnung einer künft’gen Beglückten Auferstehung, mich begraben.127
Eugenies Entsagung kann nicht nur als zeitlich begrenztes Untertauchen vor
den Gefahren der Revolution sondern auch als Goethes Lösungsvorschlag
eines zukünftigen Weltgefüges verstanden werden. Indem der Adel einem Teil
seiner Privilegien entsagt und sich auf eine Ständeebene mit dem Bürgertum
herabsenkt, könnten die sozialen und politischen Spannungen in der
Gesellschaft entlastet werden.128 Der Gerichtsrat nennt die entsagende Eugenie
selbst ein „höchstes Musterbild.“129 Da Eugenies Absichten jedoch nicht auf
ein dauerhaftes Verweilen in diesem Bündnis beruhen, bleibt es fraglich, ob
Goethe damit eine politisch definierbare Lösung anzubieten gewillt war.130
Oder aber Goethe deutet durch ihre Verbindung mit dem Gerichtsrat eine
„Verlagerung des zukünftigen gesellschaftlichen Entscheidungsfeldes auf das
Bürgertum“131 an.
125 (2900/87) 126 vgl. Böhm 2002, S. 53. 127 (2911ff./87) 128 vgl. Rothe 1989, S. 27. 129 (2945/88) 130 vgl. Brandmeyer 1987, S. 96. 131 Böhm 2002, S. 43.
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6. Die Netzmetaphorik
Im letzten Kapitel wurde der Blick auf Eugenies Heraustreten aus dem Kreis
des väterlichen Schutzes und aus der jugendlichen Unschuld, wie auf ihre
Einfahrt in den sicheren Hafen des bürgerlichen Ehestandes geworfen. In
diesem Kapitel gilt es nun eine genauere Vorstellung davon zu erhalten,
welche Welt Eugenie zwischen diesen Sphären der Gefahrlosigkeit in
Erfahrung bringen musste. Die Welt des Netzes.
Schon alleine durch die Betrachtung der geometrischen Struktur ist der
Unterschied zwischen Kreis und Netz verständlich. Der Kreis ist in sich
geschlossen und kann gegen aussen schützen. Er setzt aber auch Grenzen von
innen gegen aussen, wirkt also einschränkend. Gleichzeitig ist aber dieser
begrenzte Entwicklungsbereich auch Orientierungshilfe, da er einen festen
Anhaltspunkt darstellt. Das Netz hingegen ist etwas verwirrendes, ein
Labyrinth, in dem man sich verirren kann. Nicht umsonst spricht man von:
„etwas ist ins Netz gegangen“ im Sinne von „etwas ist in die Falle gegangen.“
Schon von der ersten Szene des ersten Aktes an durchziehen Netz und
Labyrinth-Bilder das Stück und bilden durchgehend eine feste Bildstruktur, die
das Wesen der Welt darstellt. Eugenie ist dieser gefährlichen Welt nicht
gewachsen, da sie ihr bisheriges Leben in einem goldenen Käfig, weit entfernt
von allem Bösen, verbracht hat.132 So bedeutet ihr öffentliches Erscheinen das
Ende dieses vergangenen Paradieses:
HERZOG: So musste dir der Jugend heitres Glück Beim ersten Eintritt in die Welt verschwinden. […] Das Ziel erreichst du; doch des falschen Kranzes Verborgne Dornen ritzen deine Hand.133
Der Herzog deutet hier bereits an, dass sie, um ihr Ziel zu erreichen, zunächst
den falschen Weg einschlägt. Ihr Ziel hat sie am Ende des Stückes erreicht,
indem sie sich auf einen moralisch höheren Stand hinauf hebt und nicht - wie
von ihr zunächst erhofft - auf eine höhere Gesellschaftsschicht. Um dies zu
erkennen, musste Eugenie in der Welt des Netzes viele Gefahren bewältigen
und Strapazen auf sich nehmen, die am Ende einige Narben hinterlassen haben.
132 vgl. Stammen 1966, S. 171. 133 (454ff./18)
Seminararbeit: Die natürliche Tochter und die Französische Revolution Verfasser: Dominik Schneider 01.06.2006 Prof. Bodo Würffel
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Auch die Hofmeisterin erkennt die gefahrenvolle weite Welt, in der sich
Eugenie nun bewegt:
HOFMEISTERIN: Aus stillem Kreise tritts du nun heraus In weite Räume, wo dich Sorgendrang, Vielfach geknüpfte Netze, Tod vielleicht Von meuchelmörderischer Hand erwartet.134
Es handelt sich um ein Netz, das voller „Misstrauen“135, „Neid“136 und
„Kummer“137 ist und nicht mehr die von Eugenie freudig erwartete grosse
Welt. In diesem neuen Kosmos, in dem sie sich wieder findet, ist es ihr ein
Unmögliches geworden, sich auf die erwünschte Art und Weise am Hofe und
in der politischen Welt zu entfalten. Denn diese Welt paralysiert sie in ihrem
Bestreben:
HERZOG: Du wirst fortan, mit mir ins Netz verstrickt, Gelähmt, verworren, dich und mich betrauern.138
Dass sie am Ende zwar vor der Welt des Netzes untertauchend kapitulieren
muss, diese ihr aber nicht den Tod bringt, verdankt sie - neben den bereits zur
Genüge erwähnten Faktoren - auch ihrem nicht zu bändigendem Willen und
Tatendrang und ihrer inneren Reinheit, welche ihr die Hofmeisterin attestiert:
HOFMEISTERIN: […] Dieser Geist, der mutvoll sie beseelt, ererbte Kraft Begleiten sie, wohin sie geht, zerreissen Das falsche Netz, womit ihr sie umgabt.139
Durch ihren mit Kraft beseelten Geist kann sie also das „dunkle
Traumgeflecht“140 und die „verworrenen Todesnetze“141 zerreissen, findet
einen Weg aus dem „Labyrinth“142 und kann schliesslich in der Hoffnung auf
eine Wiederauferstehung optimistisch in die Zukunft blicken:
HERZOG: Lass uns getrost, wie immer, vorwärtsgehen! Das Leben ist des Lebens Pfand; es ruht Nur auf sich selbst und muss sich selbst verbürgen.143
134 (1122ff./37) 135 (468/18) 136 (469/18) 137 (470/18) 138 (475f./18) 139 (819ff./27) 140 (1713/53) 141 (1714/53) 142 (140/8) 143 (643ff./22f.)
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7. Fazit In Irmgard Wagners Buch über die Rezeptionsgeschichte der Natürlichen
Tochter ist die These festgehalten, dass Goethe in diesem Stück nicht die
Französische Revolution behandelt, sondern das Thema der Revolution „an
sich“.144 Tatsächlich ist nirgends im Text ein konkreter Bezugspunkt zur
Französischen Revolution festzustellen. Möglicherweise ist das vorzeitige
Anlegen des Festgewandes und des Schmuckes eine Anspielung auf die
Halsbandaffäre, welche in Frankreich vor der Revolution für einiges Aufsehen
gesorgt hatte und für Goethe ein Inbegriff der dekadenten Prunksucht der
elitären Schichten war. In seinen Augen war diese Verwegenheit ein Indiz und
mit ein Grund für ihre Unfähigkeit, dem Staat als ordnungsstiftende Instanz
vorzustehen und diesen zu regieren.145
Hans Rudolf Vaget geht mit dieser These, dass das Stück die Revolution als
allgemeines Thema behandle, nicht einig. Für ihn stellt der historische
Bezugspunkt der Natürlichen Tochter die Französische Revolution dar, da zum
Beispiel keine Ähnlichkeiten zur Amerikanischen Revolution zu konstatieren
seien. Seiner Gegenbehauptung ermangelt es jedoch an genaueren
Ausführungen über den im Stück immanenten spezifischen Gehalt der
Französischen Revolution.146
Einig sind sich diejenigen Literaturwissenschafter, die den französischen
Charakter der dargestellten Revolution anerkennen, darüber, dass die
Natürliche Tochter als ein Drama zu verstehen sei, welches die Ursachen der
Französischen Revolution und das Ende einer Epoche thematisiere.147 Ähnlich
Karl Conrady, der der Meinung ist, dass die Natürliche Tochter eindrucksvolle
Passagen enthalte, in denen auf das weite Themenfeld ‚Revolution und ihre
Ursachen’ angespielt würde und die Gärung der Zeit sowie der drohende
Untergang in Worte gefasst seien.148
Trotzdem kann nicht über den Fakt hinweggetäuscht werden, dass in der
Natürlichen Tochter kein direkter Bezug auf das Revolutionsgeschehen
genommen wird. Dies habe aber nicht weiter zu erstaunen zumal Goethe auch 144 vgl. Wagner 1995, S. 152. 145 vgl. Böhm 2002, S. 36. 146 Vaget 1980, S. 222. 147 vgl. Brandmeyer 1987, S. 94. 148 vgl. Conrady 1988, S. 125f.
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in seinen anderen Revolutionsstücken in den 1790er Jahren einer direkten
Auseinandersetzung mit der Revolution aus dem Weg gehe. Deshalb liesse
sich eine solche auch nicht von der Natürlichen Tochter erwarten.149
In der im Kapitel 5.2. behandelten unhistorischen Implementierung des
Bürgertums erkennen einige Kritiker ein Scheitern Goethes, den politischen
Gehalt der Französischen Revolution verstanden zu haben. Hans Rudolf Vaget
setzt dem entgegen, dass ein Scheitern nur zu konstatieren sei, wenn man
Goethes eigene Anforderungen zum Kriterium nehme, wonach er, wie in der
Einleitung dieser Arbeit in einem Goethe-Zitat deutlich wurde, die „Revolution
und ihre Folgen“ habe gestalten wollen. Davon könne aber nicht die Rede sein,
insofern das Bürgertum im Stück nicht wie in der Geschichte eine aktive und
tragende Rolle des Umwälzungsprozesses eingenommen habe. Auch das
Schlussszenario einer engen Vereinigung von Bürgertum und Adel entspreche
nicht der historischen Faktenlage. Unabhängig davon sei aber dem Werk ein
denkwürdiges Gelingen anzuerkennen, da es die Rolle des Adels und des
Monarchen im Selbstzerstörungsprozess der alten Ständeordnung aufs Beste
behandle.150
Nicht abschliessend kann die Frage beantwortet werden, ob Goethe mit der
Natürlichen Tochter ein Stück geschrieben hat, welches das Thema der
Französischen Revolution mit all seinen gesellschaftlichen und politischen
Ursachen und Folgen behandelt. Dennoch hat die vorliegende Arbeit einen
Beitrag dazu geleistet, zu erörtern, inwiefern die Symbolik und Metaphorik in
diesem Stück sich mit der Französischen Revolution auseinandersetzt.
Die Figuren haben symbolischen Charakter, weil ihnen die Zweideutigkeit
korrupter und unglaubwürdiger Charaktere eigen ist. Die Elementmetaphorik,
welche die stärkste Ausprägung in Wasser- und Schiffsbildern findet, zeigt mit
aller Deutlichkeit die auf einen Untergang und Umbruch zusteuernde
Gesellschaft. Die Kreismetaphorik bildet einerseits den Kontrast zu diesen
Untergangsbildern in Form einer beschützenden Sphäre der väterlichen Obhut.
Andererseits wird der Kreis dem Bürgertum zugeschrieben, welches, in der
politischen Mitte stehend, der Hoffnungsträger einer zukünftigen neuen 149 Vaget 1980, S. 212. 150 vgl. Vaget 1980, S. 221.
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Ordnung und gleichzeitig Eugenies rettender Hafen ist. In der Netzmetaphorik
schliesslich wird die gefahrenvolle Welt thematisiert, in der Eugenie zu
erscheinen gedenkt. Es ist eine Welt voller Intrigen, dunklen Machenschaften,
Geheimnistuereien, Misstrauen und Sorgen.
Goethe ging der direkten und eindeutigen Darstellung der Französischen
Revolution aus dem Weg und zeichnete stattdessen mit der Natürlichen
Tochter ein atmosphärisches Bild der vorrevolutionären und ansatzweise auch
der revolutionären Zustände.
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8. Bibliographie
Primärliteratur:
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Sekundärliteratur:
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S. 317 – 345.
Böschenstein, Bernhard2: Goethes Natürliche Tochter als Antwort auf die
Französische Revolution. In: Johann Wolfgang Goethe. Die natürliche
Tochter. Mit den Memoiren der Stéphanie de Bourbon-Conti und drei
Studien von Bernhard Böschenstein. Hg. v. Trunz, Erich. Frankfurt am
Main 1990, S. 346 – 363.
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Andreas. Weimar 1952. S. 1-27.
Mayer, Hans: Goethe. Ein Versuch über den Erfolg. Frankfurt am Main 1973.
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1949.
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