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FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG MITTWOCH, 8. DEZEMBER 2010 · NR. 286 · SEITE 29 Feuilleton Die Deutsche Oper Berlin wagt einen Kraftakt mit den kompletten „Trojanern“ von Berlioz. David Pountneys bunte Antikenregie gerät allerdings in Schieflage. Seite 31 Ein tolldreister Graf schlägt sich bei Monicelli mit dem Papst; Bruce Springsteen produziert eine Platte; und Roman Polanskis Fall wird noch einmal aufgerollt. DVD 32 Vor fünfundzwanzig Jahren lief die „Lindenstraße“ zum ersten Mal. Man wird nicht sagen, dass sich die Fernsehserie verändert hätte. Das erträgt nicht jeder. Medien 33 Sie lagen im Clinch, jetzt liegt sein Buch auf ihrem Empfehlungstisch: Oprah Winfrey lud Jonathan Fran- zen in ihre Sendung ein. Ein Treffen mit weitreichenden Folgen. Seite 30 Hectors Geist in Spree-Athen Die Dunkelheit am Rande In der Zeitmaschine Korrekturen einer Beziehung Heute Ein akademisch-publizistischer Schatz geht nach Marbach: Das Deutsche Lite- raturarchiv erhält den Vorlass von Hans Ulrich Gumbrecht. Der deutsch- amerikanische Literaturwissenschaft- ler überlasst dem Archiv umfangreiche Bestände an Arbeitsnotizen, Briefen, Urkunden und annotierten Handexem- plaren seiner Veröffentlichungen. Von besonderem theorie- und kulturge- schichtlichem Wert dürfte etwa die Korrespondenz zu den „Stanford Presi- dential Lectures“ und den „Symposia in the Humanities“ sein, mit Briefen von Jacques Derrida, Wolfgang Iser, Christo und Jeanne-Claude oder auch dem Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka. Hans Ulrich Gumbrecht, Le- sern dieser Zeitung auch als Kommen- tator und Rezensent bekannt, lehrt Ver- gleichende Literaturwissenschaft in Stanford und ist Autor zahlreicher Bü- cher, darunter „Eine Geschichte der spanischen Literatur“. F.A.Z. Von Derrida bis Iser Gumbrechts Vorlass für Marbach E ine vertrackte Folge von Gedan- kengängen führt vom Berliner Landwehrkanal, aus dem Rosa Luxem- burgs verweste Leiche gefischt wurde, über Joyces „Finnegan’s Wake“ zu ei- ner schwermütigen schottischen Balla- de über einen Ertrunkenen, der seiner Geliebten im Traum erscheint. Diese Elemente schwebten der schottischen Klangkünstlerin Susan Philipsz durch den Kopf, als sie die alte Weise „Low- lands Away“ für ihre gleichnamige In- stallation aufnahm. Dazu muss man wissen, dass das Wasser die zusammen- führende Idee bildet, der Kanal, in den die ermordete Rosa Luxemburg gewor- fen wurde, die Flüsse, welche die Wä- scherin Anna Livia Plurabelle in Joyces letztem Roman verkörpert, und das Meer, das den ertrunkenen Schotten aus der Ballade umspült. Ursprünglich in Glasgow, der Geburtsstadt der Künst- lerin, beim Internationalen Festival für bildende Kunst unter drei Brücken des Clyde dargeboten, wurde das aus drei überlagerten Varianten der Ballade be- stehende Werk für die diesjährige Schau der vier Turner-Preis-Bewerber in eine Galerie von Tate Britain trans- poniert. Bis auf drei Lautsprecher, aus denen der geisterhaft-melancholische Gesang von Susan Philipsz trieft, ist der Raum leer. Die Künstlerin versteht sich als Bildhauerin, die mit Lauten mo- delliert. Statt eines Meißels setzt die in Berlin lebende Schottin die eigene Stim- me als Werkzeug ein, wobei der Aus- gangspunkt stets die Plätze sind, auf de- nen sie ihre Werke ortet, seien es Gale- rien, Supermärkte oder Freiräume. Es geht ihr dabei um die skulpturalen Ei- genschaften des Klangs und um die emotionalen und psychologischen Ef- fekte, die ihr fast aufdringlich intimes, obgleich entkörperlichtes Singen beim Zuhörer erweckt. So weit, so gut. Die Strapazierung des herkömmlichen Be- griffs von bildender Kunst ist schon lan- ge Bestandteil des Turner-Preises. Je- des Jahr wird ein britischer oder ein in Britannien arbeitender Künstler von unter fünfzig Jahren mit dieser begehr- ten Auszeichnung versehen. Diesmal ist erstmals die Klangkunst prämiert worden. „Lowlands Away“ verlässt sich ganz auf gedankliche Bilder, die der Zu- hörer für sich malen muss, sofern er empfänglich ist für diesen sinnlichen Überfall und der Aufforderung folgt, über das Selbstgefühl im Raum zu reflektieren. Susan Philipsz treibt die Abstraktion auf einen Gipfel mit einer Kunst, die ohne visuelle Anhaltspunkte auskommt. Das sei nicht bildende Kunst, sondern Musik, rufen die Kriti- ker. Aber die Anything-goes-Kultur hat sich längst von solchen Kriterien verab- schiedet. G.T. Julian Assange hat etwas erreicht, für das so schnell kein Vergleich parat steht. Viel- leicht muss man ins achtzehnte Jahrhun- dert zurückgehen, um diesen Mann und seinen Effekt zu begreifen. Damals gab es eine klandestine Enthüllungsliteratur, die mit den Lastern des Ancien Régime ab- rechnete, die Korruption der Mächtigen geißelte, ihre Verachtung des Volkes, ihre schiere Dummheit. Man würzte solche Streitschriften gern auch mit pornogra- phischem Material über die Königin Ma- rie Antoinette. Abgesehen von diesem letzten Punkt erscheint Julian Assange als ein Wiedergänger jener Aufklärer, nur im globalen Maßstab und ohne Zeitverzöge- rung. Selbst wenn manche Neuigkeiten nicht so sensationell waren – für den Laien er- scheint es doch so, als wären die Scheiben des Aquariums einmal gründlich geputzt worden, und er sähe jetzt klarer die gro- ßen und die kleinen Fische und vor allem die Schwärme, die da miteinander im en- gen Verbund ziehen. Ein großer Fisch ist der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy, der schon vor seiner Wahl als der am deutlichsten proamerikanische Politi- ker seines Landes galt. Ausweislich von Botschaftskabeln erwog er die Entsen- dung französischer und internationaler Truppen in den Irak, um den Vereinigten Staaten bei der „Lösung“ zu helfen. Dass Sarkozy der Liquidator des traditionell amerikaskeptischen Gaullismus war und ist, kann auch nicht als übermäßig streng gehütetes Geheimnis erstaunen; aber es aus der Botschaft im O-Ton zu erfahren ist ein Gewinn für den Bürger. Ein kleiner Fisch wie der in der ameri- kanischen Botschaft plaudernde FDP- Mann Helmut Metzner, der in seinem Blog „MunterMacherMetzner“ inzwi- schen alle Inhalte gelöscht hat, ließ doch den Link zur „Achse des Guten“ intakt (neben der zu seiner Partei ist es der einzi- ge auf der Seite) – also zu einer, sagen wir es vorsichtig: publizistischen Einfluss- agentin der Vereinigten Staaten – und iro- nischerweise zu einem Eintrag dort, der ausgerechnet eine matte Witzelei zu „Wi- kileaks“ anbietet. Ansonsten: „Error 404 Not found“. Die Plaudertasche ist schweigsam geworden. Die FDP wieder- um hat ihre Verbindung zu Metzner, im Netz jedenfalls, ihrerseits gelöscht. Beide Seiten – die politische Klasse ebenso wie Julian Assange selbst – umge- ben sich mit Geheimnissen. Auch Wiki- leaks entgeht nicht der Dialektik von Auf- klärung und Konspiration, die sich mit ar- kanen Vereinigungen der Königs- und Kir- chenfeinde im achtzehnten Jahrhundert herausbildete. Assange überwarf sich mit manchen seiner Kampfgenossen, die für größere Transparenz von Wikileaks einge- treten waren. Die politische Klasse der Vereinigten Staaten hat mit großer Heftigkeit auf As- sange reagiert. Newt Gingrich, ein altes Schlachtross der Republikanischen Par- tei, sieht ihn förmlich als „kriegführende Partei“ („engaged in warfare“). Assange, so gab er zu Protokoll, solle als feindli- cher Kombattant behandelt werden, als „Informationsterrorist“. Und Wikileaks, so Gingrich weiter, solle man dauerhaft abschalten. Joe Lieberman, einst Vizeprä- sidentschaftskandidat, heute einfluss- reich im Komitee für „Homeland Securi- ty and Governmental Affairs“, also für die innere Sicherheit, spielte eine Rolle, als der Internet-Anbieter Amazon seine Verbindung zu Wikileaks vor einigen Ta- gen beendete – bis dahin hatte Assanges Organisation sich der Amazon-Server be- dienen können. Das „Handelsblatt“ sah „großen politi- schen Druck“ hinter dieser Entschei- dung, was Amazon umgehend (und er- wartbar) dementierte. Eine Sprecherin von Senator Lieberman teilte der Presse mit, man hoffe, der Fall Amazon werde eine „Botschaft“ auch für andere Unter- nehmen sein, die „unverantwortlichen“ Verbindungen zu Wikileaks zu kappen. Lieberman selbst erklärte auf seiner Web- site, man werde Amazon noch „ausführ- lich“ zum Grad der Zusammenarbeit mit Wikileaks befragen und dazu, wie Provi- der künftig daran gehindert werden könn- ten, gestohlene klassifizierte Informatio- nen zu verbreiten. Es gab in den Tagen davor größere Hacker-Angriffe auf Ama- zon, aber ein Zusammenhang wird von dem Unternehmen (auch wieder erwart- bar?) bestritten. Die offenkundige Nervosität deutet an, dass nicht alles in den Dokumenten so putzig und provinziell zu lesen ist wie die Geschichten des Berliner FDP-Maul- wurfs. Die Auswertung der Botschafts- mitteilungen hat erst begonnen, womög- lich ist es zu früh für eine endgültige Be- wertung von Nutzen und Schaden. Auch während des Vietnam-Krieges gab es Ge- heimnisse, die, hätte man sie früher er- fahren, der ganzen Politik eine andere Wendung hätten geben können, etwa der „Zwischenfall von Tonkin“, der tatsäch- lich eine Provokation war. Das geputzte Aquarium der weltpoliti- schen Urteile und, vor allem, der kurze Film über die Liquidierung einer Gruppe von Zivilisten im Irak aus einem Hub- schrauber heraus: Das wird, was immer nun mit Assange geschieht, was immer an den schwedischen Vergewaltigungs- vorwürfen dran ist, als bleibendes Ver- dienst dieses Mannes im Gedächtnis blei- ben. Solche Dinge vergisst die Weltöffent- lichkeit nicht so schnell. LORENZ JÄGER K lar, dass man am Eröffnungstag die Schauräume zeitweise wegen Überfüllung schließen musste. So üppige, frappant naturgetreue Faltenwür- fe, so zum Tasten reizende changierende Seide und samtige Haut, so viel entrückte, traurige Gesten und Gesichter: das ist doch mal etwas anderes als die ausgemer- gelten Zeichen- und Dingrätsel der zeit- genössischen Kunst. Obwohl, Rätsel stel- len die altmeisterlichen Öl- und Acrylge- mälde Michael Triegels auch nicht wenig: Schon das erste Bild kommt geheimnis- voll, scheint es doch eine lebensgroße, weiß verhüllte Heiligengestalt, ehe man erkennt, dass unter dem Gebausche und Geriesel absolute Leere ist, ein menschen- gestaltiges Nichts. Doch was macht das schon: Zwanzig Schritte weiter wartet, wo- von momentan alle reden: der Anlass al- len Andrangs – Triegels Papst-Porträt. Nicht nur eines ist zu sehen, sondern mehrere: Studien, ein unfertiges Bildnis und eins, das stutzen lässt. Auf ihm thront Benedikt XVI. zwar nicht so lässig ele- gant im Sessel wie der Papst bei Raffael, Triegels Vorbild, der 1511 Julius II. malte, sondern seltsam verkrümmt. Aber er schaut vergleichbar prüfend, fast tückisch. Da mag man das Changieren des weißen Ornats, den samtigen Glanz der weißen Tolle und das vogelbeerig leuchtende Rot des Sessels noch so sehr genießen, dieser Blick, der eher an den ehemaligen stren- gen Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre Ratzinger erinnert als an den heutigen Papst, lässt einen lange nicht los. Will Michael Triegel den Betrachter da- mit hinter den vatikanischen Glanz schau- en lassen? Die Frage lässt sich so schwer beantworten wie die, ob der in Leipzig ausgebildete Maler sich in die pathetische Tradition eines Werner Tübke oder die selbstverliebte Neue Sachlichkeit des Christian Schad stellen oder ob er die schale Postmoderne des Carlo Maria Ma- riani wiederbeleben will. Nur eines ist spä- testens nach zehn der siebzig ausgestell- ten, zwischen 1994 und 2010 entstande- nen Gemälde deutlich: Mehr als von Man- tegna, Raffael, Dürer, De La Tour, Veláz- quez, Caravaggio oder Otto Dix ist Micha- el Triegel besessen von sich selbst. Das klärt bereits der erste Saal im Leip- ziger Museum der bildenden Künste dis- kret, aber unmissverständlich: Auf einer weinroten Wand hängen zwei etwa gleich große Selbstporträts des Künstlers. Das eine, 1997 entstanden, zeigt ihn ver- schwenderisch drapiert und mit großem Dekolleté wie eine Salome von Lorenzo Lotto. Auf dem zweiten sorgt der weiße Streif eines T-Shirts, der am Rundkragen eines schlichten schwarzen Sweatshirts aufblitzt, für priesterliche Aura, die, Dü- rers berühmtem Selbstgemälde entlehnt, der christologische Gestus seiner vor die Brust gelegten Rechten steigert. Vollen- det wird das Arrangement von einem Ton- do, der zwischen beiden Selbstporträts das Genie Michelangelo zeigt, und einer altarhaften Vitrine mit einem Triptychon: in der Mitte Triegel à la Holbein, links ein Totenkopf, wie van Eycks Ratsherren mit Turban, rechts ein minutiös gemalter Holzkasten, in dem eine weiße Levkoje auffällt. „Die Verwandlung der Götter“ heißt die Ausstellung. Themengemäß wimmeln in ihr Dionysos und Ariadne, Medea, Pro- metheus, Mithras, Maria, Christus, Johan- nes und Salome nebst diversen anderen Märtyrern und Heiligen. Leicht macht der Künstler es sich und uns nicht mit diesen noch immer leidlich populären Gestalten: Sein asketischer Täufer ist zugleich der selbstverliebte Narziss, lässt sich aber ebenso schwer unter „Retro“ abhaken wie seine in Selbstgrauen versunkene Medea, deren eine Hand den Sohn so ehrfürchtig stützt wie Maria das Jesuskind, während die andere ein Messer hält, das aus dem aktuellen Solingen-Katalog für Haute- Cuisine-Köche stammt. Dazu kommt ein undurchschaubarer Attributkult. Über Kreuzabnahmen, die keine Auferstehung verheißen, hängen täuschend echt gemalte Eier an dünnen Fäden oder schweben brennende Herzen, aus denen sich die blutigen Stümpfe der Aorta krümmen, an Kreuzen schweben grünstichige Makrelen mit blutigen Au- gen. Und warum mischen sich immer wie- der – den Surrealisten abgeschaute – le- bensgroße hölzerne Gliederpuppen in das Geschehen der Bilder? Größenwahn, Koketterie, Kalkül oder Verzweiflung? Da gibt es das Triptychon „Prometheus“: Wieder stilisiert Triegel sich, den Maler, als einzigen Heilsbringer der Menschheit – und das Kunstwerk als Altar eines Phalluskults. Auf „Glaube, Lie- be, Hoffnung“ erscheint er als geschunde- ner Sebastian der Liebe, dem zwei kerzen- tragende Nonnengestalten glaubend und liebend die dem „Krieg der Sterne“ nach- gestalteten stählernen Wurfgeschosse durch pure Magie aus dem Körper ziehen. Nur wenn er Auftragsporträts erstellt, ei- nen Sammler, eine Äbtissin, scheint Ver- trautes auf, Humanität, Neugierde, wie seine Vorgängergeneration sie in der „Leipziger Schule“ aufbrachte. Humor, Ironie? Keine, außer vielleicht in „Adam und Eva“, wo das von Ziegel- mauern eingepferchte Paar neben einem Baumstumpf mit abgekratzter Rinde hockt wie Affen in einem kahlen Freigehe- ge. Oder man lässt den Sarkasmus gelten, mit dem Michael Triegel in „Auferste- hung“ einen bildschönen halbnackten Jüngling, umhüllt von der französischen Flagge, zwar nach oben, aber direkt gegen den festen Deckel einer riesigen Holzkiste schweben lässt. Bedeutungsschwere, wohin man schaut, Glaubenssuche, Sehnsucht nach Sinn vielleicht. Aber am Ende steigt ein leichtes Ekel- und Völlegefühl auf, wie es zu spüren ist, wenn man zu oft Süßstoff statt Zucker verwendet. Erleichterung bringt dann der Gang durch die Ergän- zungsschau mit frühen und letzten Zeich- nungen von Horst Janssen. Auch hier Ich- Besessenheit und Phallisches, schleichen Tod und Verwesung durch vordergründig pralles Leben. Aber dieser Maler trägt sei- ne Weltsicht rücksichtslos gegen sich selbst vor – und hat damit allen viel zu sa- gen. DIETER BARTETZKO Michael Triegel. Verwandlung der Götter. Bis zum 6. Februar 2011 im Museum der bildenden Künste Leipzig. Der Katalog kostet 39,90 Euro. Aufschrei in den hinteren Bänken der Berliner Lokalpolitik: Klaus Wowereit, der Regierende Bürgermeister von Berlin und damit auch Vorsitzender im Lotto- Stiftungsrat, beantragt eine Million Euro bei ebendieser Stiftung und bekommt sie, wenig überraschend, bewilligt – für ein Kunstprojekt, das schon im Vorfeld für allerlei Theater gesorgt hat. Im vergangenen Jahr hatte Wowereit Gelder für eine neue Kunsthalle bean- tragt, wurde dabei aber selbst von seiner Fraktion gründlich ausgebremst, und das mit guten Gründen: Wozu, so die Frage, braucht Berlin auf der Brachflä- che zwischen Hauptbahnhof und dem Ausstellungsort Hamburger Bahnhof, am sogenannten Humboldthafen, der in Wirklichkeit nur ein trauriges, vierecki- ges Wasserbassin ist, noch eine Kunst- halle – wo Berlin doch mit der NGBK, der Berlinischen Galerie, den Kunst- Werken und der damals noch existenten temporären Kunsthalle schon vier wahl- weise dysfunktionale oder böse unterfi- nanzierte Kunsthallen besaß? Um den Bürgermeister nicht ganz bloßzustellen, bewilligte man ihm aber sechshundert- tausend Euro für eine Ausstellung, die nach bisher unbekannter Berliner Ge- genwartskunst fahnden sollte. Das klang erst einmal so, als wolle man eine imagefördernde Kunstleistungsschau für die etwas verstottert klingende „Be- Berlin“-Kampagne ausrichten, weswe- gen das Projekt wahlweise nicht beson- ders ernst genommen oder als tourismus- kompatible Verrumpelung der Kulturpo- litik beschimpft wurde. Dann aber – und das ist typisch für Berlin, wo die besten Sachen immer aus gescheiterten Ambi- tionen wachsen – entwickelte sich aus dem zweifelhaften Vorhaben wie von Geisterhand etwas Spannendes und Viel- versprechendes, ein Projekt, für das man dem Bürgermeister sogar seine berline- risch-rustikale Art der Geldbeschaffung gern nachsieht. Mit den 1,6 Millionen Euro soll näm- lich nicht nur eine Ausstellung bestrit- ten werden, für die mit Angelique Campens, Magdalena Magiera, Jakob Schillinger und Scott Weaver gleich vier kluge junge Kuratoren bestellt wurden. Es wurde auch ein Architekturwettbe- werb ausgeschrieben, zu dem die unkon- ventionellsten deutschen und internatio- nalen Büros eingeladen wurden, dar- unter Arno Brandlhuber, Kuehn Malvez- zi und Raumlabor, international bekann- te Architekten wie Sou Fujimoto, aber auch jüngere Entdeckungen. Die Aufga- be für diese Architekten lautet nun, mit relativ wenigen Mitteln eine temporäre Architektur zu entwerfen, die Kunst nicht wieder im klassischen White Cube zeigt, sondern darüber nachdenkt, an welchen Orten Kunst noch gezeigt wer- den könnte. Damit könnte die Berliner Sommer- ausstellung 2011 einen grundsätzlichen Beitrag zur Frage leisten, welche Rolle Kunst in einer Stadt hat. Und ob ein Mu- seum oder Ausstellungshaus wirklich im- mer wie ein abstrahierter weißer Tem- pel aussehen muss, in den man andachts- voll hineinschreitet und mit stummer Miene die hineingestellten Objekte an- schaut – oder ob sich nicht die Formen, die Produktions- und Präsentations- bedingungen von Kunst längst so grund- legend verändert haben, dass man die Formen ihrer Ausstellung neu denken muss. Dabei könnte die Etymologie des Wor- tes „Museum“ helfen – denn mit dem Mu- seion war in der hellenistischen Antike nicht ein Tempel, sondern ein ganzer Stadtteil gemeint, der den Musen gewid- met war. Das Museion war kein Solitär, sondern eine Gegenstadt der Musen und der Gaukler, ein Labyrinth der Fiktio- nen, in der man nichts kaufen konnte, sondern wandelte, beieinander saß und spielte. Das Museion war eine aus der kommerziellen, vom Handel geprägten Stadt ausgekoppelte Gegenwelt des Han- delns. So eine Gegenstadt der Kunst könnte auch Berlin nicht schaden, zumal alle neuen Plätze, die nach 1989 entstan- den, mit erstaunlicher Boshaftigkeit die immergleiche Abfolge von öden Großki- nos und ausgemacht geschmacklosen („Alexa“) Shoppingmalls versammeln. Der Museumshafen könnte hier eine Al- ternative werden, ein Fanal für einen an- deren öffentlichen Raum. Vielleicht werden kleine Museumsin- seln gebaut, vielleicht ein Kunst- labyrinth – wie auch immer: Wenn die wie gelähmt daliegende Stadtplanung sieht, was sich hier für eine Chance ab- zeichnet für die Erfindung einer anderen Stadt, für einen Abschied von der bleier- nen Zeit in der Hauptstadtarchitektur, dann müsste sie mindestens noch eine Million dazugeben. Der amtierende Kul- tursenator dürfte nichts dagegen haben: Auch er heißt Wowereit. NIKLAS MAAK Große und kleine Fische Nach der Festnahme: Was von Assange bleibt Ein Kerl wie Samt und Seide Ein Gewinn für die Kunst der Zukunft Klaus Wowereit genehmigt sich eine Lottomillion – um ein Kulturprojekt zu realisieren, das dieses Geld verdient Klangkunst Michael Triegel ist offizieller Porträtmaler des Papstes. Doch in sei- nem Werk huldigt er in erster Linie neuen Rät- selmythen – und sich selbst. Leipzig staunt. Der Maler als ungläubiger Thomas, der sich selbst nicht glaubt? Odersieht sich Michael Triegel als Erlöser, dem sein Alter Ego den – dornigen? – Lorbeer aufsetzt? Foto Katalog

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  • FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG MIT T WOC H, 8. DEZEMBER 2010 NR. 286 SEITE 29Feuilleton

    Die Deutsche Oper Berlin wagteinen Kraftakt mit den komplettenTrojanern von Berlioz. DavidPountneys bunte Antikenregie gertallerdings in Schieflage. Seite 31

    Ein tolldreister Graf schlgt sich beiMonicelli mit dem Papst; BruceSpringsteen produziert eine Platte;und Roman Polanskis Fall wirdnoch einmal aufgerollt. DVD 32

    Vor fnfundzwanzig Jahren lief dieLindenstrae zum ersten Mal.Man wird nicht sagen, dass sich dieFernsehserie verndert htte. Dasertrgt nicht jeder. Medien 33

    Sie lagen im Clinch, jetzt liegt seinBuch auf ihrem Empfehlungstisch:Oprah Winfrey lud Jonathan Fran-zen in ihre Sendung ein. Ein Treffenmit weitreichenden Folgen. Seite 30

    Hectors Geist in Spree-Athen

    Die Dunkelheit am Rande

    In der Zeitmaschine

    Korrekturen einer Beziehung

    Heute

    Ein akademisch-publizistischer Schatzgeht nach Marbach: Das Deutsche Lite-raturarchiv erhlt den Vorlass vonHans Ulrich Gumbrecht. Der deutsch-amerikanische Literaturwissenschaft-ler berlasst dem Archiv umfangreicheBestnde an Arbeitsnotizen, Briefen,Urkunden und annotierten Handexem-plaren seiner Verffentlichungen. Vonbesonderem theorie- und kulturge-schichtlichem Wert drfte etwa dieKorrespondenz zu den Stanford Presi-dential Lectures und den Symposiain the Humanities sein, mit Briefenvon Jacques Derrida, Wolfgang Iser,Christo und Jeanne-Claude oder auchdem Literaturnobelpreistrger WoleSoyinka. Hans Ulrich Gumbrecht, Le-sern dieser Zeitung auch als Kommen-tator und Rezensent bekannt, lehrt Ver-gleichende Literaturwissenschaft inStanford und ist Autor zahlreicher B-cher, darunter Eine Geschichte derspanischen Literatur. F.A.Z.

    Von Derrida bis IserGumbrechts Vorlass fr Marbach

    E ine vertrackte Folge von Gedan-kengngen fhrt vom BerlinerLandwehrkanal, aus dem Rosa Luxem-burgs verweste Leiche gefischt wurde,ber Joyces Finnegans Wake zu ei-ner schwermtigen schottischen Balla-de ber einen Ertrunkenen, der seinerGeliebten im Traum erscheint. DieseElemente schwebten der schottischenKlangknstlerin Susan Philipsz durchden Kopf, als sie die alte Weise Low-lands Away fr ihre gleichnamige In-stallation aufnahm. Dazu muss manwissen, dass das Wasser die zusammen-fhrende Idee bildet, der Kanal, in dendie ermordete Rosa Luxemburg gewor-fen wurde, die Flsse, welche die W-scherin Anna Livia Plurabelle in Joycesletztem Roman verkrpert, und dasMeer, das den ertrunkenen Schottenaus der Ballade umsplt. Ursprnglichin Glasgow, der Geburtsstadt der Knst-lerin, beim Internationalen Festival frbildende Kunst unter drei Brcken desClyde dargeboten, wurde das aus dreiberlagerten Varianten der Ballade be-stehende Werk fr die diesjhrigeSchau der vier Turner-Preis-Bewerberin eine Galerie von Tate Britain trans-poniert. Bis auf drei Lautsprecher, ausdenen der geisterhaft-melancholischeGesang von Susan Philipsz trieft, istder Raum leer. Die Knstlerin verstehtsich als Bildhauerin, die mit Lauten mo-delliert. Statt eines Meiels setzt die inBerlin lebende Schottin die eigene Stim-me als Werkzeug ein, wobei der Aus-gangspunkt stets die Pltze sind, auf de-nen sie ihre Werke ortet, seien es Gale-rien, Supermrkte oder Freirume. Esgeht ihr dabei um die skulpturalen Ei-genschaften des Klangs und um dieemotionalen und psychologischen Ef-fekte, die ihr fast aufdringlich intimes,obgleich entkrperlichtes Singen beimZuhrer erweckt. So weit, so gut. DieStrapazierung des herkmmlichen Be-griffs von bildender Kunst ist schon lan-ge Bestandteil des Turner-Preises. Je-des Jahr wird ein britischer oder ein inBritannien arbeitender Knstler vonunter fnfzig Jahren mit dieser begehr-ten Auszeichnung versehen. Diesmalist erstmals die Klangkunst prmiertworden. Lowlands Away verlsst sichganz auf gedankliche Bilder, die der Zu-hrer fr sich malen muss, sofern erempfnglich ist fr diesen sinnlichenberfall und der Aufforderung folgt,ber das Selbstgefhl im Raum zureflektieren. Susan Philipsz treibt dieAbstraktion auf einen Gipfel mit einerKunst, die ohne visuelle Anhaltspunkteauskommt. Das sei nicht bildendeKunst, sondern Musik, rufen die Kriti-ker. Aber die Anything-goes-Kultur hatsich lngst von solchen Kriterien verab-schiedet. G.T.

    Julian Assange hat etwas erreicht, fr dasso schnell kein Vergleich parat steht. Viel-leicht muss man ins achtzehnte Jahrhun-dert zurckgehen, um diesen Mann undseinen Effekt zu begreifen. Damals gab eseine klandestine Enthllungsliteratur, diemit den Lastern des Ancien Rgime ab-rechnete, die Korruption der Mchtigengeielte, ihre Verachtung des Volkes, ihreschiere Dummheit. Man wrzte solcheStreitschriften gern auch mit pornogra-phischem Material ber die Knigin Ma-rie Antoinette. Abgesehen von diesemletzten Punkt erscheint Julian Assange alsein Wiedergnger jener Aufklrer, nur imglobalen Mastab und ohne Zeitverzge-rung.

    Selbst wenn manche Neuigkeiten nichtso sensationell waren fr den Laien er-scheint es doch so, als wren die Scheibendes Aquariums einmal grndlich geputztworden, und er she jetzt klarer die gro-en und die kleinen Fische und vor allemdie Schwrme, die da miteinander im en-gen Verbund ziehen. Ein groer Fisch istder franzsische Staatsprsident NicolasSarkozy, der schon vor seiner Wahl als deram deutlichsten proamerikanische Politi-ker seines Landes galt. Ausweislich vonBotschaftskabeln erwog er die Entsen-dung franzsischer und internationalerTruppen in den Irak, um den VereinigtenStaaten bei der Lsung zu helfen. DassSarkozy der Liquidator des traditionellamerikaskeptischen Gaullismus war undist, kann auch nicht als bermig strenggehtetes Geheimnis erstaunen; aber esaus der Botschaft im O-Ton zu erfahren istein Gewinn fr den Brger.

    Ein kleiner Fisch wie der in der ameri-kanischen Botschaft plaudernde FDP-Mann Helmut Metzner, der in seinemBlog MunterMacherMetzner inzwi-schen alle Inhalte gelscht hat, lie dochden Link zur Achse des Guten intakt(neben der zu seiner Partei ist es der einzi-ge auf der Seite) also zu einer, sagen wires vorsichtig: publizistischen Einfluss-agentin der Vereinigten Staaten und iro-nischerweise zu einem Eintrag dort, derausgerechnet eine matte Witzelei zu Wi-kileaks anbietet. Ansonsten: Error 404 Not found. Die Plaudertasche istschweigsam geworden. Die FDP wieder-um hat ihre Verbindung zu Metzner, imNetz jedenfalls, ihrerseits gelscht.

    Beide Seiten die politische Klasseebenso wie Julian Assange selbst umge-ben sich mit Geheimnissen. Auch Wiki-leaks entgeht nicht der Dialektik von Auf-klrung und Konspiration, die sich mit ar-kanen Vereinigungen der Knigs- und Kir-chenfeinde im achtzehnten Jahrhundertherausbildete. Assange berwarf sich mitmanchen seiner Kampfgenossen, die frgrere Transparenz von Wikileaks einge-treten waren.

    Die politische Klasse der VereinigtenStaaten hat mit groer Heftigkeit auf As-sange reagiert. Newt Gingrich, ein altesSchlachtross der Republikanischen Par-tei, sieht ihn frmlich als kriegfhrendePartei (engaged in warfare). Assange,so gab er zu Protokoll, solle als feindli-cher Kombattant behandelt werden, alsInformationsterrorist. Und Wikileaks,so Gingrich weiter, solle man dauerhaftabschalten. Joe Lieberman, einst Vizepr-sidentschaftskandidat, heute einfluss-reich im Komitee fr Homeland Securi-ty and Governmental Affairs, also frdie innere Sicherheit, spielte eine Rolle,als der Internet-Anbieter Amazon seineVerbindung zu Wikileaks vor einigen Ta-gen beendete bis dahin hatte AssangesOrganisation sich der Amazon-Server be-dienen knnen.

    Das Handelsblatt sah groen politi-schen Druck hinter dieser Entschei-dung, was Amazon umgehend (und er-wartbar) dementierte. Eine Sprecherinvon Senator Lieberman teilte der Pressemit, man hoffe, der Fall Amazon werdeeine Botschaft auch fr andere Unter-nehmen sein, die unverantwortlichenVerbindungen zu Wikileaks zu kappen.Lieberman selbst erklrte auf seiner Web-site, man werde Amazon noch ausfhr-lich zum Grad der Zusammenarbeit mitWikileaks befragen und dazu, wie Provi-der knftig daran gehindert werden knn-ten, gestohlene klassifizierte Informatio-nen zu verbreiten. Es gab in den Tagendavor grere Hacker-Angriffe auf Ama-zon, aber ein Zusammenhang wird vondem Unternehmen (auch wieder erwart-bar?) bestritten.

    Die offenkundige Nervositt deutetan, dass nicht alles in den Dokumentenso putzig und provinziell zu lesen ist wiedie Geschichten des Berliner FDP-Maul-wurfs. Die Auswertung der Botschafts-mitteilungen hat erst begonnen, womg-lich ist es zu frh fr eine endgltige Be-wertung von Nutzen und Schaden. Auchwhrend des Vietnam-Krieges gab es Ge-heimnisse, die, htte man sie frher er-fahren, der ganzen Politik eine andereWendung htten geben knnen, etwa derZwischenfall von Tonkin, der tatsch-lich eine Provokation war.

    Das geputzte Aquarium der weltpoliti-schen Urteile und, vor allem, der kurzeFilm ber die Liquidierung einer Gruppevon Zivilisten im Irak aus einem Hub-schrauber heraus: Das wird, was immernun mit Assange geschieht, was immeran den schwedischen Vergewaltigungs-vorwrfen dran ist, als bleibendes Ver-dienst dieses Mannes im Gedchtnis blei-ben. Solche Dinge vergisst die Weltffent-lichkeit nicht so schnell. LORENZ JGER

    Klar, dass man am Erffnungstagdie Schaurume zeitweise wegenberfllung schlieen musste. So

    ppige, frappant naturgetreue Faltenwr-fe, so zum Tasten reizende changierendeSeide und samtige Haut, so viel entrckte,traurige Gesten und Gesichter: das istdoch mal etwas anderes als die ausgemer-gelten Zeichen- und Dingrtsel der zeit-genssischen Kunst. Obwohl, Rtsel stel-len die altmeisterlichen l- und Acrylge-mlde Michael Triegels auch nicht wenig:Schon das erste Bild kommt geheimnis-voll, scheint es doch eine lebensgroe,wei verhllte Heiligengestalt, ehe manerkennt, dass unter dem Gebausche undGeriesel absolute Leere ist, ein menschen-gestaltiges Nichts. Doch was macht dasschon: Zwanzig Schritte weiter wartet, wo-von momentan alle reden: der Anlass al-len Andrangs Triegels Papst-Portrt.

    Nicht nur eines ist zu sehen, sondernmehrere: Studien, ein unfertiges Bildnisund eins, das stutzen lsst. Auf ihm throntBenedikt XVI. zwar nicht so lssig ele-gant im Sessel wie der Papst bei Raffael,Triegels Vorbild, der 1511 Julius II. malte,sondern seltsam verkrmmt. Aber er

    schaut vergleichbar prfend, fast tckisch.Da mag man das Changieren des weienOrnats, den samtigen Glanz der weienTolle und das vogelbeerig leuchtende Rotdes Sessels noch so sehr genieen, dieserBlick, der eher an den ehemaligen stren-gen Prfekten der Kongregation fr dieGlaubenslehre Ratzinger erinnert als anden heutigen Papst, lsst einen langenicht los.

    Will Michael Triegel den Betrachter da-mit hinter den vatikanischen Glanz schau-en lassen? Die Frage lsst sich so schwerbeantworten wie die, ob der in Leipzigausgebildete Maler sich in die pathetischeTradition eines Werner Tbke oder dieselbstverliebte Neue Sachlichkeit desChristian Schad stellen oder ob er dieschale Postmoderne des Carlo Maria Ma-riani wiederbeleben will. Nur eines ist sp-testens nach zehn der siebzig ausgestell-ten, zwischen 1994 und 2010 entstande-nen Gemlde deutlich: Mehr als von Man-tegna, Raffael, Drer, De La Tour, Velz-quez, Caravaggio oder Otto Dix ist Micha-el Triegel besessen von sich selbst.

    Das klrt bereits der erste Saal im Leip-ziger Museum der bildenden Knste dis-kret, aber unmissverstndlich: Auf einerweinroten Wand hngen zwei etwa gleichgroe Selbstportrts des Knstlers. Daseine, 1997 entstanden, zeigt ihn ver-schwenderisch drapiert und mit groemDekollet wie eine Salome von LorenzoLotto. Auf dem zweiten sorgt der weieStreif eines T-Shirts, der am Rundkrageneines schlichten schwarzen Sweatshirtsaufblitzt, fr priesterliche Aura, die, D-rers berhmtem Selbstgemlde entlehnt,der christologische Gestus seiner vor dieBrust gelegten Rechten steigert. Vollen-det wird das Arrangement von einem Ton-

    do, der zwischen beiden Selbstportrtsdas Genie Michelangelo zeigt, und eineraltarhaften Vitrine mit einem Triptychon:in der Mitte Triegel la Holbein, links einTotenkopf, wie van Eycks Ratsherren mitTurban, rechts ein minutis gemalterHolzkasten, in dem eine weie Levkojeauffllt.

    Die Verwandlung der Gtter heitdie Ausstellung. Themengem wimmelnin ihr Dionysos und Ariadne, Medea, Pro-metheus, Mithras, Maria, Christus, Johan-nes und Salome nebst diversen anderenMrtyrern und Heiligen. Leicht macht derKnstler es sich und uns nicht mit diesennoch immer leidlich populren Gestalten:Sein asketischer Tufer ist zugleich derselbstverliebte Narziss, lsst sich aberebenso schwer unter Retro abhaken wieseine in Selbstgrauen versunkene Medea,deren eine Hand den Sohn so ehrfrchtigsttzt wie Maria das Jesuskind, whrenddie andere ein Messer hlt, das aus demaktuellen Solingen-Katalog fr Haute-Cuisine-Kche stammt.

    Dazu kommt ein undurchschaubarerAttributkult. ber Kreuzabnahmen, diekeine Auferstehung verheien, hngentuschend echt gemalte Eier an dnnenFden oder schweben brennende Herzen,aus denen sich die blutigen Stmpfe derAorta krmmen, an Kreuzen schwebengrnstichige Makrelen mit blutigen Au-gen. Und warum mischen sich immer wie-der den Surrealisten abgeschaute le-bensgroe hlzerne Gliederpuppen indas Geschehen der Bilder?

    Grenwahn, Koketterie, Kalkl oderVerzweiflung? Da gibt es das TriptychonPrometheus: Wieder stilisiert Triegelsich, den Maler, als einzigen Heilsbringerder Menschheit und das Kunstwerk als

    Altar eines Phalluskults. Auf Glaube, Lie-be, Hoffnung erscheint er als geschunde-ner Sebastian der Liebe, dem zwei kerzen-tragende Nonnengestalten glaubend undliebend die dem Krieg der Sterne nach-gestalteten sthlernen Wurfgeschossedurch pure Magie aus dem Krper ziehen.Nur wenn er Auftragsportrts erstellt, ei-nen Sammler, eine btissin, scheint Ver-trautes auf, Humanitt, Neugierde, wieseine Vorgngergeneration sie in derLeipziger Schule aufbrachte.

    Humor, Ironie? Keine, auer vielleichtin Adam und Eva, wo das von Ziegel-mauern eingepferchte Paar neben einemBaumstumpf mit abgekratzter Rindehockt wie Affen in einem kahlen Freigehe-ge. Oder man lsst den Sarkasmus gelten,mit dem Michael Triegel in Auferste-hung einen bildschnen halbnacktenJngling, umhllt von der franzsischenFlagge, zwar nach oben, aber direkt gegenden festen Deckel einer riesigen Holzkisteschweben lsst.

    Bedeutungsschwere, wohin manschaut, Glaubenssuche, Sehnsucht nachSinn vielleicht. Aber am Ende steigt einleichtes Ekel- und Vllegefhl auf, wie eszu spren ist, wenn man zu oft Sstoffstatt Zucker verwendet. Erleichterungbringt dann der Gang durch die Ergn-zungsschau mit frhen und letzten Zeich-nungen von Horst Janssen. Auch hier Ich-Besessenheit und Phallisches, schleichenTod und Verwesung durch vordergrndigpralles Leben. Aber dieser Maler trgt sei-ne Weltsicht rcksichtslos gegen sichselbst vor und hat damit allen viel zu sa-gen. DIETER BARTETZKOMichael Triegel. Verwandlung der Gtter. Biszum 6. Februar 2011 im Museum der bildendenKnste Leipzig. Der Katalog kostet 39,90 Euro.

    Aufschrei in den hinteren Bnken derBerliner Lokalpolitik: Klaus Wowereit,der Regierende Brgermeister von Berlinund damit auch Vorsitzender im Lotto-Stiftungsrat, beantragt eine Million Eurobei ebendieser Stiftung und bekommtsie, wenig berraschend, bewilligt frein Kunstprojekt, das schon im Vorfeldfr allerlei Theater gesorgt hat.

    Im vergangenen Jahr hatte WowereitGelder fr eine neue Kunsthalle bean-tragt, wurde dabei aber selbst von seinerFraktion grndlich ausgebremst, unddas mit guten Grnden: Wozu, so dieFrage, braucht Berlin auf der Brachfl-che zwischen Hauptbahnhof und demAusstellungsort Hamburger Bahnhof,am sogenannten Humboldthafen, der inWirklichkeit nur ein trauriges, vierecki-ges Wasserbassin ist, noch eine Kunst-halle wo Berlin doch mit der NGBK,der Berlinischen Galerie, den Kunst-Werken und der damals noch existententemporren Kunsthalle schon vier wahl-weise dysfunktionale oder bse unterfi-nanzierte Kunsthallen besa? Um denBrgermeister nicht ganz blozustellen,bewilligte man ihm aber sechshundert-tausend Euro fr eine Ausstellung, die

    nach bisher unbekannter Berliner Ge-genwartskunst fahnden sollte. Dasklang erst einmal so, als wolle man eineimagefrdernde Kunstleistungsschaufr die etwas verstottert klingende Be-Berlin-Kampagne ausrichten, weswe-gen das Projekt wahlweise nicht beson-ders ernst genommen oder als tourismus-kompatible Verrumpelung der Kulturpo-litik beschimpft wurde. Dann aber unddas ist typisch fr Berlin, wo die bestenSachen immer aus gescheiterten Ambi-tionen wachsen entwickelte sich ausdem zweifelhaften Vorhaben wie vonGeisterhand etwas Spannendes und Viel-versprechendes, ein Projekt, fr das mandem Brgermeister sogar seine berline-risch-rustikale Art der Geldbeschaffunggern nachsieht.

    Mit den 1,6 Millionen Euro soll nm-lich nicht nur eine Ausstellung bestrit-ten werden, fr die mit AngeliqueCampens, Magdalena Magiera, JakobSchillinger und Scott Weaver gleich vierkluge junge Kuratoren bestellt wurden.Es wurde auch ein Architekturwettbe-werb ausgeschrieben, zu dem die unkon-ventionellsten deutschen und internatio-nalen Bros eingeladen wurden, dar-unter Arno Brandlhuber, Kuehn Malvez-

    zi und Raumlabor, international bekann-te Architekten wie Sou Fujimoto, aberauch jngere Entdeckungen. Die Aufga-be fr diese Architekten lautet nun, mitrelativ wenigen Mitteln eine temporreArchitektur zu entwerfen, die Kunstnicht wieder im klassischen White Cubezeigt, sondern darber nachdenkt, anwelchen Orten Kunst noch gezeigt wer-den knnte.

    Damit knnte die Berliner Sommer-ausstellung 2011 einen grundstzlichenBeitrag zur Frage leisten, welche RolleKunst in einer Stadt hat. Und ob ein Mu-seum oder Ausstellungshaus wirklich im-mer wie ein abstrahierter weier Tem-pel aussehen muss, in den man andachts-voll hineinschreitet und mit stummerMiene die hineingestellten Objekte an-schaut oder ob sich nicht die Formen,die Produktions- und Prsentations-bedingungen von Kunst lngst so grund-legend verndert haben, dass man dieFormen ihrer Ausstellung neu denkenmuss.

    Dabei knnte die Etymologie des Wor-tes Museum helfen denn mit dem Mu-seion war in der hellenistischen Antikenicht ein Tempel, sondern ein ganzerStadtteil gemeint, der den Musen gewid-

    met war. Das Museion war kein Solitr,sondern eine Gegenstadt der Musen undder Gaukler, ein Labyrinth der Fiktio-nen, in der man nichts kaufen konnte,sondern wandelte, beieinander sa undspielte. Das Museion war eine aus derkommerziellen, vom Handel geprgtenStadt ausgekoppelte Gegenwelt des Han-delns. So eine Gegenstadt der Kunstknnte auch Berlin nicht schaden, zumalalle neuen Pltze, die nach 1989 entstan-den, mit erstaunlicher Boshaftigkeit dieimmergleiche Abfolge von den Groki-nos und ausgemacht geschmacklosen(Alexa) Shoppingmalls versammeln.Der Museumshafen knnte hier eine Al-ternative werden, ein Fanal fr einen an-deren ffentlichen Raum.

    Vielleicht werden kleine Museumsin-seln gebaut, vielleicht ein Kunst-labyrinth wie auch immer: Wenn diewie gelhmt daliegende Stadtplanungsieht, was sich hier fr eine Chance ab-zeichnet fr die Erfindung einer anderenStadt, fr einen Abschied von der bleier-nen Zeit in der Hauptstadtarchitektur,dann msste sie mindestens noch eineMillion dazugeben. Der amtierende Kul-tursenator drfte nichts dagegen haben:Auch er heit Wowereit. NIKLAS MAAK

    Groe undkleine FischeNach der Festnahme:Was von Assange bleibt

    Ein Kerl wie Samt und Seide

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    Klangkunst

    Michael Triegel istoffizieller Portrtmalerdes Papstes. Doch in sei-nem Werk huldigt er inerster Linie neuen Rt-selmythen und sichselbst. Leipzig staunt.

    Der Maler als unglubiger Thomas, der sich selbst nicht glaubt? Oder sieht sich Michael Triegel als Erlser, dem sein Alter Ego den dornigen? Lorbeer aufsetzt? Foto Katalog