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9lfiif ^ünürr drilling AUSLAND 097-009 Freitag, 26. April 1996 Nr. 97 Tschernobyl und das Ende der Sowjetunion Versagen des kommunistischen Systems und seiner Führung Die Explosion im Atomkraftwerk Tschernobyl vor zehn Jahren unterminierte die Funda- mente der Sowjetmacht und beschleunigte ihren Zusammenbruch. Das totalitäre System selbst erwies sich als Ursache dieser Katastrophe und war unfähig, sie zu bewältigen. Die Kremlführung verlor durch ihr langes Schweigen an Glaubwürdigkeit und Autorität. In den direkt betroffenen Republiken Weissrussland und Ukraine sowie bei den Nachbarn Osteuro- pas wurde nationales Selbständigkeitsstreben geweckt. Tschernobyl gab Anstoss zu den Reformen der Perestroika wie auch zur rapiden Auflösung der sowjetischen Supermacht. j //flepBbifl 3aweciHiejib // I /j MHHHCTpa i // / {'/ J sjimpn^HKawiii CCCP // Hin«. Momi. «.;4. Unikal «», 7, £6.04.86 CM. Otf. Kx. Am 26. April 1986 erhielt das Zen- tralkomitee der KPdSU, die Führungs- zentrale in Moskau, eine dringende Mel- dung des Ministeriums für Energie und Elek- trizität, dass im Atom- kraftwerk Tschernobyl um 1 Uhr 21 der für Reparaturen stillgeleg- te Reaktor Nr. 4 ex- plodiert sei. Das Feuer sei gelöscht, der Re- aktorkern werde abge- kühlt. Sondermassnah- men, wie die Evakuie- rung der Bevölkerung, seien nicht notwendig (siehe Kasten). Diese Information, Muster der Sowjetbürokratie, befand sich mit ande- ren Geheimdokumen- ten über Tschernobyl im Präsidialarchiv von Gorbatschew, das 1992 von Jelzin zugänglich gemacht wurde. Das Politbüro riegelte wie gewohnt als erste Massnahme die Gefah- renzone ab und ver- hängte eine Nachrich- tensperre. Schwelgen und Panik Die Welt, die in den Jahren des kalten Kriegs in Angst vor einem atomaren Unter- gang, sei es durch ei- nen drohenden Atom- krieg der beiden Super- mächte, sei es durch technisches Versagen mit der neuen Energie, ge- standen hatte, war alarmiert. Die strategischen Aufklärungsmittel der USA und die Messgeräte der Nachbarn der Sowjetunion hatten eine Nuklearexplosion und gefahrliche radioaktive Wolken registriert, und die Medien waren überall höchst beunruhigt, weil niemand genau wusste, was geschehen war. Moskau aber schwieg. Die Katastrophe bei der Nachrichtenvermittlung, ur- teilte Roy Medwedew später, war ebenso gross wie die Katastrophe selbst. Natürlich wusste das Moskauer Politbüro ge- nau, was sich in Tschernobyl ereignet hatte, wie aus den Geheimdokumenten hervorgeht. Bereits 1979 hatte der KG B-Chef Andropow in einem geheimen Memorandum das Politbüro vor techni- schen Fehlern und Misswirtschaft beim Ba u des Atomkraftwerks Tschernobyl gewarnt, die zu einem gefährlichen Unglück führen konnten. Aus- gelöst wurde nur eine Flut von wirkungslosen bürokratischen Entschuldigungen und Schuld- zuweisungen - Zeugnisse für Erstarrung und In- effizienz des Systems. Nach der Katastrophe erhielt die Führung schon bald ungeschminkte und kritische Berichte aus Tschernobyl. Im Atomkraftwerk hatten die nötigen Vorsichtsmassnahmen, Alarmeinrichtun- gen und Kontrollen wie auch Messinstrumente oder Geigerzähler gefehlt. Dem zuständigen Energieministerium wurde vorgeworfen, dass es Atomkraftwerke gleich wie Wärme- und Wasser- kraftwerke behandelte, Lieferungen von Anlagen und Ersatzteilen wurden durch den Papierkrieg verzögert und hatten sich oftmals als defekt erwie- sen. Die Rettungsmannschaften wurden ohne Schutz und Warnung in den schmelzenden Atom- meiler geschickt. Die gesamte Zivilverteidigung war gelähmt. In der nahen Stadt Pripjat wurde kein Alarm gegeben und die Evakuierung der 40 000 Einwohner unterlassen, obwohl die Strah- lung von Stunde zu Stunde stieg. Die lokalen Be- hörden warteten auf Befehle aus Moskau, und niemand wollte Verantwortung übernehmen. Aus den lange geheimgehaltenen Texten gehen das Durcheinander, der Dilettantismus, die feh- lende Koordination und die Leichtfertigkeit am Unglücksort hervor. Ein Redaktor der «Prawda», dessen Bericht nicht veröffentlicht werden durfte, empörte sich darüber, dass Marschälle und Gene- rale der Sowjetarmee in Paradeuniform in Tscher- nobyl auftauchten, gleichzeitig den Soldaten aber die Mittel für den tödlichen Einsatz fehlten. Ge- rühmt wurden in diesen Berichten aber auch der Mut und die Einsatzbereitschaft der Arbeiter und Soldaten, verbunden mit der Forderung, sie ohne bürokratische Hürden zu «Heiden der Sowjet- union» zu befördern, da sie nicht mit einer langen Lebenserwartung rechnen konnten. Aus dem nahen Kiew trafen im Kreml Meldungen über Panik unter der Bevölkerung, genährt durch Nachrichten aus dem Ausland, ein. Ohne Rück- Bes npasa nyfiJimiauMH. Cexpemo 3X3..» UK HJICC «pfo CCCP, A. T. i. »0 Sin . .v>; I769-2C 1 r -: . hintern sanas W SBapHH Ha fijioKe Jf 4 1 MepHoSbUibcKoa A3C CFOTiUt ßßWCUm 20.04.86 r. b 1 wac 21 tarn, npn Bunche SHeprotoHa » 4 «tepHoömibcKO» A3C B Maneas pemrn, nowie octshobk., peawopa npOIMOBM BSpb-B B BepXHe£l«CTMjeaKT0pHOr0 OTAWieHH«. no cooömeHnm anpeKiepa <;tepHoffwkCKofl A3C npn iwpme npon- 3c*o eterne h yaoiM creHOBux newell peaKTopHoro OTfle- xemn, HeoKOJibKfcx naHeaea Kpnim MamHHoro sajia n Bjioke ucriOMora- Te^Hux CK0T6M peaxTopHoro OTwieHiui. a tbkw soapopaHne KpoB B 3 Mac* 30 muh. BOsropoitne Öujio JiMKBHAnpcBaHO. du»«» nepooHBjia A3C npHHHManro« nepn no pacxojiaaHBaHnn aKTHBHOR 30HU pCBKTOpa. no msma 3 r^aBHoro ynpaBjieHna npn Mnn3flpaBe CCCP npntwne cneuHajibw« Mep, b tom w attxymn Hacuiemui H3 ropoAa. He TpeSyeTcn. roeiBiTajiwanpoBaHo 9 qeaoBeK 3KcrwyaTaUHOHHoro nepcoHajia ;i 25 nejiOBeK BoemoKpoBaHno» noxapHoH oxpamj. npMHMMajoica Mepu no mkbmaqiwk nocjieACtBMB n pacuienoBamin CJiyimBiaer'ocfl. A.rl.Slai&Srft Original der enten Meldung an Moskau (Übersetzung im Kasten unten). sicht auf steigende Strahlung wurde in Kiew die übliche Demonstration am 1. Mai abgehalten, während die KP-Führer selbst, wie der Kreml er- fuhr, ihre Kinder bereits evakuiert hatten. Anstoss für Glasnost Erst nach drei Tagen brach Moskau sein Schweigen. Wie aus dem Protokoll der Sitzung des Politbüros vom 29. April hervorgeht, nahm dieses Kenntnis davon, dass die Lage in der Um- gebung des Kraftwerks «kompliziert» sei und ko- ordinierte Massnahmen erfordere. Das Protokoll wies ausdrücklich und ungewöhnlich auf einen Meinungsaustausch über die Informationspraxis hin, der nach Gorbatschews «Erinnerungen» hart und kontrovers gewesen sein muss. Ein Stand- punkt war, erst allmählich ausführliche Nachrich- ten auszugeben, um Panik und grösseren Schaden zu verhindern, der andere, Informationen ohne Einschränkung zu veröffentlichen. Das Politbüro fand es zweckmässig, die eigene Bevölkerung und das Ausland zu informieren, und genehmigte, offensichtlich als Kompromiss, eine Erklärung der Sowjetregierung, die in den Medien beiläufig und am Rande publiziert wor- den ist. Darin hiess es knapp und karg, bei der Havarie im Atomkraftwerk Tschernobyl sei ein Teil des Reaktorgebäudes zerstört und «einiges radioaktives Material» freigesetzt worden. Die radioaktive Situation im Kernkraftwerk und in seiner Umgebung habe sich stabilisiert. Als ob da- mit nun alles in Ordnung wäre, wurde hervor- gehoben, dass eine Regierungskommission aus Leitern von Ministerien und aus Wissenschaftern am Ort tätig sei. Einen Tag später trat die Sowjetregierung Mel- dungen westlicher Nachrichtenagenturen über Tausende von Opfern entgegen und bezifferte diese mit 2 Toten und 197 Strahlengeschädigten, die sich in Spitalpflege befänden. Die Umgebung werde mit modernsten technischen Mitteln entgif- tet, hiess es, während die internen Informationen das Gegenteil feststellten. Fabriken und Kolcho- sen würden normal arbeiten. Das Politbüro be- auftragte die Sowjetbotschafter in den kommuni- stischen «Bruderländern», die Strahlenschäden erlitten hatten und lange im dunkeln gelassen wurden, den «Freunden» sofort mitzuteilen, die radioaktive Strahlung würde sich nicht in west- licher, nördlicher und südlicher Richtung ausbrei- ten. Sie übersteige zwar die «zulässige Norm», er- fordere aber keine Sondermassnahmen zum Schutze der Bevölkerung. Den westlichen Regie- rungen, darunter auch Bern, wurde auf diploma- tischem Weg zu verstehen gegeben, «die Sowjet- union besitzt genügend materielle, wissenschaft- liche und technische Mittel für die Beseitigung der Folgen der Havarie und benötigt keine Hilfe von anderen Ländern», wie es in den Geheimtele- grammen an die Sowjetbotschafter geheissen hatte. Jelzin informiert offen in Hamburg Während die Kremlführung mit Information geizte und beschwichtigende Communiques ver- breitete, sprach der damals noch unbekannte und eben erst zum Parteichef von Moskau und zum Politbürokandidaten beförderte Boris Jelzin bei seinem Besuch in Hamburg am 2. Mai offen und ausführlich über die Katastrophe in Tschernobyl und erregte internationales Aufsehen. Jelzin unterschied sich damit nicht nur von den ge- heimnisvollen Gerontokraten im Kreml, er setzte sich schon damals von dem weiter schweigsamen Gorbatschew ab. Gorbatschew, der übrigens nie persönlich die Gefahrenzone und die Opfer besucht hatte, nahm erst am 14. Mai im Fernsehen Stellung und for- derte, aus Tschernobyl die nötigen Lehren zu zie- hen. Allerdings lehnte er Abstriche am sowjeti- schen Atomenergieprogramm ab. Dem Westen warf er vor, die Tragödie für eine antisowjetisch e Kampagne zu benutzen. Tschernobyl müsste An- stoss zur nuklearen Abrüstung geben, forderte der Sowjetführer, ein Anliegen, das er dann auf dem Gipfeltreffen mit Reagan in Reykjavik im Oktober 1986 ernsthaft vorantrieb. Die negativen Auswir- kungen des Informationsdefizits im In- und Aus- land, der sichtbar gewordene Vertrauensverlust der Führung im Volk und das evidente Versagen des Partei- und Regierungsapparats veranlassten Gorbatschew im Sommer 1986, Glasnost und Demokratisierung im Rahmen seiner ursprünglich nur wirtschaftlich orientierten Perestroika wirklich durchzusetzen. Beginn der Auflösung Die zentralistische Machtordnung des Sowjet- systems und seine Geheimhaltungspraxis waren, wie sowjetische Kritiker eingestanden, Ursachen der Katastrophe in Tschernobyl, sie verhinderten auch rechtzeitige und wirksame Rettungsmass- nahmen und erschwerten die Beseitigung der Fol- gen. An der Politbürositzung vom 3. Juli 1986, die den Abschlussbericht über Tschernobyl behan- delte, wetterte Gorbatschew: «Im gesamten System hat der Geist der Liebedienerei und Ein- schmeichelung, des Gruppenunwesens und der Verfolgung Andersdenkender, zusammen mit Im- poniergehabe und reinem Eigennutz, die Führung korrumpiert.» Ändern konnte Gorbatschew dies mit seiner Perestroika aber nicht mehr. Nach Tschernobyl brachen Stützen und Dämme dieses Systems. Am 10. Mai hatten erstmals Fernsehen Publikation verboten Erster Stellvertreter des Ministeriums für Energie und Elektrifizierung der UdSSR 26. 4. 86 Nr. 1789-2c Über die Havarie im Block Nr. 4 AES Tschernobyl Geheim Ex. Nr. An das ZK KPdSU DRINGENDE MELDUNG Am 26. April 1986 um 1 Uhr 21 Minuten ereignete sich bei der Stillegung des Energieblocks Nr. 4 für ge- plante Reparaturen und nach Abschaltung des Reaktors eine Explosion im oberen Reaktorteil. Nach der Meldung des Direktors der AES Tschernobyl kam es bei der Explosion zum Einsturz des Daches und der Wandkonstruktion des Reaktorteils, von Teilen der Dachkonstruktion des Maschinensaals und des Blocks der Unterstatzungssysteme, und das Dach fing Feuer. Um 3 Uhr 30 Minuten wurde das Feuer gelöscht Das Personal der AES trifft Massnahmen, die aktive Zone des Reaktors abzukühlen. Nach Meinung der Hauptverwaltung 3 des Gesundheitsministeriums der UdSSR sind Sondermassnahmen, darunter die Evakuierung der Bevölkerung der Stadt, nicht notwendig. 9 Personen des Betriebspersonals und 25 Personen der paramilitärischen Feuerwehr wurden hospitalisiert Massnahmen zur Liquidierung der Folgen und zur Untersuchung des Unglücks sind eingeleitet A. N. Makuchin Die deutsche Übersetzung der enten Meldung an das Zentralkomitee der KPdSU, die am 28. April 1986 in Moskau eintraf. Gescheiterte Tory-Scheidungsreform Abstimmungsniederlage im Unterhaus cer. London, 25. April In einer vom Koalitionszwang befreiten Ab- stimmung sind am Mittwoch abend die Be- mühungen der Regierung um eine Liberalisierung des britischen Scheidungsrechts gescheitert. Die Peinlichkeit der Abstimmungsniederlage wurde dadurch vergrössert, dass nicht nur zahlreiche konservative Hinterbänkler, sondern auch 4 Kabi- nettsmitglieder und 27 «junior ministers» (Staats- sekretäre) sich den insgesamt 165 Tory-Abgeord- neten anschlossen, welche gegen die Regierungs- vorlage stimmten. Die von rechtsgerichteten Kon- servativen, unter anderen Innenminister Howard, Gesundheitsminister Dorrell und Sozialversiche- rungsminister Lilley, als grundlegend antikonser- vativ kritisierte Vorlage unterlag mit 200 gegen 196 Stimmen. Kernpunkt der beabsichtigten Reform war die Einführung einer nur einjährigen Trennungsperiode, nach welcher die Gerichte eine Ehe automatisch als gescheitert betrachtet hätten. Das Unterhaus billigte einen Gegenvor- schlag, in welchem die Forderung erhoben wird, diese sogenannte Abkühlungsperiode auf 18 Monate zu verlängern. Erfolgreich war hingegen der Vorschlag, den Aspekt des Verschuldens künftig aus Scheidungs- verfahren auszuklammern. Die konservativen Gegner dieser Vorlage fordern, dass die Regie- rung nunmehr auf das gesamte Reformprojekt verzichtet, wozu sie nach dem Abstimmungs- fiasko durchaus geneigt sein dürfte. Die Frage nach der Weisheit, dem Unterhaus vor dem Be- ginn des Wahlkampfes für die kommenden Parla- mentswahlen und nur eine Woche vor landeswei- ten Gemeindewahlen eine parteiintern derart um- strittene Vorlage zu unterbreiten, wird man ver- geblich stellen. Selbst der Generalsekretär der Konservativen, Brian Mawhinney, hatte davor ge- warnt. Schon kürzlich waren seine Warnungen - mit verheerenden Folgen - in den Wind geschla- gen worden. Erfolglos hatte er davor abgeraten, die Nachwahl in Staffordshire South-East vor den Gemeindewahlen abzuhalten, um einen negativen Signaleffekt zu verhindern . Der nahezu rekord- trächtige Stimmenumschwung von 22 Prozent zu- gunsten Labours in jenem Urnengang und die in den letzten Tagen erneut zutage getretene Zwie- tracht der Tories in der Europapolitik und jetzt zudem in der die konservative Wertbasis tangie- renden Ehescheidungsfrage werden ihre Auswir- kungen auf die Wähler kaum verfehlen. und Journalisten Zugang zum Unglücksort erhal- ten und informierten offen und kritisch wie nie zuvor. In der Folge tauchten auch Berichte über frühere- nukleare Unglücksfälle in der Sowjet- union auf. Der Machbarkeitsglauben, mit dem Lenin den Kommunismus als Sowjetmacht plus Elektrifizierung definiert, Stalin gigantische Indu- strieprojekte aus dem Boden gestampft und Mos- kau in den Weltraum gegriffen hatte, geriet in Zweifel (übrigens nicht nur in der Sowjetunion). Wie durch eine Bresche strömten Enthüllungen über Korruption im Parteiapparat, die Arroganz und Verantwortungslosigkeit der Bürokratie und die Missstände in der Gesellschaft in die öffent- lichkeit. Die Berichterstattung über das Ausland wurde objektiver und regte Vergleiche mit den eigenen Verhältnissen an. Aus Sorge für die Um- welt bildeten sich Gruppierungen, die nicht mehr von der Partei kontrolliert wurden und die ihre Forderungen durchsetzen konnten. Nicht mehr ein paar isolierte Dissidente, wie in den siebziger Jahren, sondern prominente Wissenschafter, Wirtschaftsmanager und hohe Funktionäre in Partei, Regierung, Armee und KGB äusserten offen Kritik und forderten Reformen. Der Schock von Tschernobyl mobilisierte aber auch die kon- servativen Kräfte im Parteiapparat und in der Sowjetbürokratie, die sich Gorbatschews Pere- stroika zu widersetzen begannen . Erwachen nationalen Bewusstseins In den von der Katastrophe direkt betroffenen Republiken Ukraine und Weissrussland wie auch in den baltischen Ländern Estland, Lettland und Litauen erwachte das lange unterdrückte natio- nale Bewusstsein, das fünf Jahre später zu ihrer Unabhängigkeit von Moskau führte. In Osteuropa wagten Bürgerbewegungen, voran die Charta 77 in Prag, gegen die Verseuchung ihrer Länder zu protestieren; treue Führer von Satellitenstaaten sahen sich von Moskau im Stich gelassen und be- gannen eigene Wege zu suchen. Die Unfähigkeit und die Grenzen der Sowjetmacht wurden sicht- bar. Die Sowjetunion war durch Tschernobyl, wie Gorbatschew im Rückblick feststellte, aus dem Gleis geraten. Auch nach dem Ende des Sowjet- imperiums bleiben die Auswirkungen der Kata- strophe in Tschernobyl ungelöst und ungewiss. Es schwand immerhin, eine Gerechtigkeit der Ge- schichte, nach dem Ende des kalten Kriegs die Gefahr eines globalen Atomkriegs in unserer Zeit. 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9lfiif ^ünürr drilling AUSLAND097-009

Freitag, 26. April 1996 Nr. 97

Tschernobyl und das Ende der SowjetunionVersagen des kommunistischen Systems und seiner Führung

Die Explosion im Atomkraftwerk Tschernobyl vor zehn Jahren unterminierte die Funda-mente der Sowjetmacht und beschleunigte ihren Zusammenbruch. Das totalitäre System

selbst erwies sich als Ursache dieser Katastrophe und war unfähig, sie zu bewältigen. DieKremlführung verlor durch ihr langes Schweigen an Glaubwürdigkeit und Autorität. In dendirekt betroffenen Republiken Weissrussland und Ukraine sowie bei den Nachbarn Osteuro-pas wurde nationales Selbständigkeitsstreben geweckt. Tschernobyl gab Anstoss zu denReformen der Perestroika wie auch zur rapiden Auflösung der sowjetischen Supermacht.

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CM. Otf.

Kx. Am 26. April1986 erhielt das Zen-tralkomitee derKPdSU, die Führungs-

zentrale in Moskau,eine dringende Mel-dung des Ministeriumsfür Energie und Elek-trizität, dass im Atom-kraftwerk Tschernobyl

um 1 Uhr 21 der fürReparaturen stillgeleg-

te Reaktor Nr. 4 ex-plodiert sei. Das Feuersei gelöscht, der Re-aktorkern werde abge-

kühlt. Sondermassnah-men, wie die Evakuie-rung der Bevölkerung,

seien nicht notwendig(siehe Kasten). DieseInformation, Musterder Sowjetbürokratie,

befand sich mit ande-ren Geheimdokumen-ten über Tschernobyl

im Präsidialarchiv vonGorbatschew, das 1992von Jelzin zugänglichgemacht wurde. DasPolitbüro riegelte wiegewohnt als ersteMassnahme die Gefah-renzone ab und ver-hängte eine Nachrich-tensperre.

Schwelgenund Panik

Die Welt, die in denJahren des kaltenKriegs in Angst voreinem atomaren Unter-gang, sei es durch ei-nen drohenden Atom-krieg der beiden Super-mächte, sei es durchtechnisches Versagen mit der neuen Energie, ge-

standen hatte, war alarmiert. Die strategischenAufklärungsmittel der USA und die Messgeräte

der Nachbarn der Sowjetunion hatten eineNuklearexplosion und gefahrliche radioaktiveWolken registriert, und die Medien waren überallhöchst beunruhigt, weil niemand genau wusste,was geschehen war. Moskau aber schwieg. DieKatastrophe bei der Nachrichtenvermittlung, ur-teilte Roy Medwedew später, war ebenso gross

wie die Katastrophe selbst.

Natürlich wusste das Moskauer Politbüro ge-nau, was sich in Tschernobyl ereignet hatte, wieaus den Geheimdokumenten hervorgeht. Bereits1979 hatte der KG B-Chef Andropow in einemgeheimen Memorandum das Politbüro vor techni-schen Fehlern und Misswirtschaft beim B au desAtomkraftwerks Tschernobyl gewarnt, die zueinem gefährlichen Unglück führen konnten. Aus-gelöst wurde nur eine Flut von wirkungslosen

bürokratischen Entschuldigungen und Schuld-zuweisungen - Zeugnisse für Erstarrung und In-effizienz des Systems.

Nach der Katastrophe erhielt die Führung

schon bald ungeschminkte und kritische Berichteaus Tschernobyl. Im Atomkraftwerk hatten dienötigen Vorsichtsmassnahmen, Alarmeinrichtun-gen und Kontrollen wie auch Messinstrumenteoder Geigerzähler gefehlt. Dem zuständigenEnergieministerium wurde vorgeworfen, dass esAtomkraftwerke gleich wie Wärme- und Wasser-kraftwerke behandelte, Lieferungen von Anlagen

und Ersatzteilen wurden durch den Papierkriegverzögert und hatten sich oftmals als defekt erwie-sen. Die Rettungsmannschaften wurden ohneSchutz und Warnung in den schmelzenden Atom-meiler geschickt. Die gesamte Zivilverteidigungwar gelähmt. In der nahen Stadt Pripjat wurdekein Alarm gegeben und die Evakuierung der40 000 Einwohner unterlassen, obwohl die Strah-lung von Stunde zu Stunde stieg. Die lokalen Be-hörden warteten auf Befehle aus Moskau, undniemand wollte Verantwortung übernehmen.

Aus den lange geheimgehaltenen Texten gehen

das Durcheinander, der Dilettantismus, die feh-lende Koordination und die Leichtfertigkeit amUnglücksort hervor. Ein Redaktor der «Prawda»,dessen Bericht nicht veröffentlicht werden durfte,empörte sich darüber, dass Marschälle und Gene-rale der Sowjetarmee in Paradeuniform in Tscher-nobyl auftauchten, gleichzeitig den Soldaten aberdie Mittel für den tödlichen Einsatz fehlten. Ge-rühmt wurden in diesen Berichten aber auch derMut und die Einsatzbereitschaft der Arbeiter undSoldaten, verbunden mit der Forderung, sie ohnebürokratische Hürden zu «Heiden der Sowjet-

union» zu befördern, da sie nicht mit einer langenLebenserwartung rechnen konnten. Aus demnahen Kiew trafen im Kreml Meldungen überPanik unter der Bevölkerung, genährt durchNachrichten aus dem Ausland, ein. Ohne Rück-

Bes npasa nyfiJimiauMH. Cexpemo

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A.rl.Slai&Srft

Original der enten Meldung an Moskau (Übersetzung im Kasten unten).

sicht auf steigende Strahlung wurde in Kiew dieübliche Demonstration am 1. Mai abgehalten,

während die KP-Führer selbst, wie der Kreml er-fuhr, ihre Kinder bereits evakuiert hatten.

Anstoss für Glasnost

Erst nach drei Tagen brach Moskau seinSchweigen. Wie aus dem Protokoll der Sitzung

des Politbüros vom 29. April hervorgeht, nahmdieses Kenntnis davon, dass die Lage in der Um-gebung des Kraftwerks «kompliziert» sei und ko-ordinierte Massnahmen erfordere. Das Protokollwies ausdrücklich und ungewöhnlich auf einenMeinungsaustausch über die Informationspraxishin, der nach Gorbatschews «Erinnerungen» hartund kontrovers gewesen sein muss. Ein Stand-punkt war, erst allmählich ausführliche Nachrich-ten auszugeben, um Panik und grösseren Schadenzu verhindern, der andere, Informationen ohneEinschränkung zu veröffentlichen.

Das Politbüro fand es zweckmässig, die eigeneBevölkerung und das Ausland zu informieren,und genehmigte, offensichtlich als Kompromiss,eine Erklärung der Sowjetregierung, die in denMedien beiläufig und am Rande publiziert wor-den ist. Darin hiess es knapp und karg, bei derHavarie im Atomkraftwerk Tschernobyl sei einTeil des Reaktorgebäudes zerstört und «einiges

radioaktives Material» freigesetzt worden. Die

radioaktive Situation im Kernkraftwerk und inseiner Umgebung habe sich stabilisiert. Als ob da-mit nun alles in Ordnung wäre, wurde hervor-gehoben, dass eine Regierungskommission ausLeitern von Ministerien und aus Wissenschafternam Ort tätig sei.

Einen Tag später trat die Sowjetregierung Mel-dungen westlicher Nachrichtenagenturen überTausende von Opfern entgegen und beziffertediese mit 2 Toten und 197 Strahlengeschädigten,

die sich in Spitalpflege befänden. Die Umgebung

werde mit modernsten technischen Mitteln entgif-tet, hiess es, während die internen Informationendas Gegenteil feststellten. Fabriken und Kolcho-sen würden normal arbeiten. Das Politbüro be-auftragte die Sowjetbotschafter in den kommuni-stischen «Bruderländern», die Strahlenschädenerlitten hatten und lange im dunkeln gelassenwurden, den «Freunden» sofort mitzuteilen, dieradioaktive Strahlung würde sich nicht in west-licher, nördlicher und südlicher Richtung ausbrei-ten. Sie übersteige zwar die «zulässige Norm», er-fordere aber keine Sondermassnahmen zumSchutze der Bevölkerung. Den westlichen Regie-rungen, darunter auch Bern, wurde auf diploma-tischem Weg zu verstehen gegeben, «die Sowjet-

union besitzt genügend materielle, wissenschaft-liche und technische Mittel für die Beseitigung

der Folgen der Havarie und benötigt keine Hilfevon anderen Ländern», wie es in den Geheimtele-grammen an die Sowjetbotschafter geheissen

hatte.

Jelzin informiert offen in Hamburg

Während die Kremlführung mit Informationgeizte und beschwichtigende Communiques ver-breitete, sprach der damals noch unbekannte undeben erst zum Parteichef von Moskau und zumPolitbürokandidaten beförderte Boris Jelzin beiseinem Besuch in Hamburg am 2. Mai offen undausführlich über die Katastrophe in Tschernobyl

und erregte internationales Aufsehen. Jelzinunterschied sich damit nicht nur von den ge-

heimnisvollen Gerontokraten im Kreml, er setztesich schon damals von dem weiter schweigsamen

Gorbatschew ab.Gorbatschew, der übrigens nie persönlich die

Gefahrenzone und die Opfer besucht hatte, nahmerst am 14. Mai im Fernsehen Stellung und for-derte, aus Tschernobyl die nötigen Lehren zu zie-hen. Allerdings lehnte er Abstriche am sowjeti-

schen Atomenergieprogramm ab. Dem Westenwarf er vor, die Tragödie für eine antisowjetischeKampagne zu benutzen. Tschernobyl müsste An-stoss zur nuklearen Abrüstung geben, forderte derSowjetführer, ein Anliegen, das er dann auf demGipfeltreffen mit Reagan in Reykjavik im Oktober1986 ernsthaft vorantrieb. Die negativen Auswir-kungen des Informationsdefizits im In- und Aus-land, der sichtbar gewordene Vertrauensverlustder Führung im Volk und das evidente Versagen

des Partei- und Regierungsapparats veranlasstenGorbatschew im Sommer 1986, Glasnost undDemokratisierung im Rahmen seiner ursprünglich

nur wirtschaftlich orientierten Perestroika wirklichdurchzusetzen.

Beginn der Auflösung

Die zentralistische Machtordnung des Sowjet-systems und seine Geheimhaltungspraxis waren,wie sowjetische Kritiker eingestanden, Ursachender Katastrophe in Tschernobyl, sie verhindertenauch rechtzeitige und wirksame Rettungsmass-

nahmen und erschwerten die Beseitigung der Fol-gen. An der Politbürositzung vom 3. Juli 1986, dieden Abschlussbericht über Tschernobyl behan-delte, wetterte Gorbatschew: «Im gesamtenSystem hat der Geist der Liebedienerei und Ein-schmeichelung, des Gruppenunwesens und derVerfolgung Andersdenkender, zusammen mit Im-poniergehabe und reinem Eigennutz, die Führungkorrumpiert.» Ändern konnte Gorbatschew diesmit seiner Perestroika aber nicht mehr. NachTschernobyl brachen Stützen und Dämme diesesSystems. Am 10. Mai hatten erstmals Fernsehen

Publikation verboten

Erster Stellvertreterdes Ministeriumsfür Energie

und Elektrifizierung der UdSSR

26. 4. 86 Nr. 1789-2c

Über die Havarie im Block Nr. 4AES Tschernobyl

GeheimEx. Nr.

An das ZK KPdSU

DRINGENDE MELDUNG

Am 26. April 1986 um 1 Uhr 21 Minuten ereignete sich bei der Stillegung des Energieblocks Nr. 4 für ge-plante Reparaturen und nach Abschaltung des Reaktors eine Explosion im oberen Reaktorteil.

Nach der Meldung des Direktors der AES Tschernobyl kam es bei der Explosion zum Einsturz des Dachesund der Wandkonstruktion des Reaktorteils, von Teilen der Dachkonstruktion des Maschinensaals und desBlocks der Unterstatzungssysteme, und das Dach fing Feuer.

Um 3 Uhr 30 Minuten wurde das Feuer gelöscht

Das Personal der AES trifft Massnahmen, die aktive Zone des Reaktors abzukühlen.

Nach Meinung der Hauptverwaltung 3 des Gesundheitsministeriums der UdSSR sind Sondermassnahmen,darunter die Evakuierung der Bevölkerung der Stadt, nicht notwendig.

9 Personen des Betriebspersonals und 25 Personen der paramilitärischen Feuerwehr wurden hospitalisiert

Massnahmen zur Liquidierung der Folgen und zur Untersuchung des Unglücks sind eingeleitet

A. N. Makuchin

Die deutsche Übersetzung der enten Meldung an das Zentralkomitee der KPdSU, die am 28. April 1986in Moskau eintraf.

GescheiterteTory-Scheidungsreform

Abstimmungsniederlage im Unterhauscer. London, 25. April

In einer vom Koalitionszwang befreiten Ab-stimmung sind am Mittwoch abend die Be-mühungen der Regierung um eine Liberalisierung

des britischen Scheidungsrechts gescheitert. DiePeinlichkeit der Abstimmungsniederlage wurdedadurch vergrössert, dass nicht nur zahlreichekonservative Hinterbänkler, sondern auch 4 Kabi-nettsmitglieder und 27 «junior ministers» (Staats-sekretäre) sich den insgesamt 165 Tory-Abgeord-neten anschlossen, welche gegen die Regierungs-vorlage stimmten. Die von rechtsgerichteten Kon-servativen, unter anderen Innenminister Howard,Gesundheitsminister Dorrell und Sozialversiche-rungsminister Lilley, als grundlegend antikonser-vativ kritisierte Vorlage unterlag mit 200 gegen

196 Stimmen. Kernpunkt der beabsichtigten

Reform war die Einführung einer nur einjährigenTrennungsperiode, nach welcher die Gerichteeine Ehe automatisch als gescheitert betrachtethätten. Das Unterhaus billigte einen Gegenvor-schlag, in welchem die Forderung erhoben wird,diese sogenannte Abkühlungsperiode auf 18Monate zu verlängern.

Erfolgreich war hingegen der Vorschlag, denAspekt des Verschuldens künftig aus Scheidungs-

verfahren auszuklammern. Die konservativenGegner dieser Vorlage fordern, dass die Regie-rung nunmehr auf das gesamte Reformprojektverzichtet, wozu sie nach dem Abstimmungs-

fiasko durchaus geneigt sein dürfte. Die Frage

nach der Weisheit, dem Unterhaus vor dem Be-ginn des Wahlkampfes für die kommenden Parla-mentswahlen und nur eine Woche vor landeswei-ten Gemeindewahlen eine parteiintern derart um-strittene Vorlage zu unterbreiten, wird man ver-geblich stellen. Selbst der Generalsekretär derKonservativen, Brian Mawhinney, hatte davor ge-

warnt. Schon kürzlich waren seine Warnungen -mit verheerenden Folgen - in den Wind geschla-gen worden. Erfolglos hatte er davor abgeraten,

die Nachwahl in Staffordshire South-East vor denGemeindewahlen abzuhalten, um einen negativenSignaleffekt zu verhindern. Der nahezu rekord-trächtige Stimmenumschwung von 22 Prozent zu-gunsten Labours in jenem Urnengang und die inden letzten Tagen erneut zutage getretene Zwie-tracht der Tories in der Europapolitik und jetztzudem in der die konservative Wertbasis tangie-

renden Ehescheidungsfrage werden ihre Auswir-kungen auf die Wähler kaum verfehlen.

und Journalisten Zugang zum Unglücksort erhal-ten und informierten offen und kritisch wie niezuvor. In der Folge tauchten auch Berichte überfrühere- nukleare Unglücksfälle in der Sowjet-

union auf. Der Machbarkeitsglauben, mit demLenin den Kommunismus als Sowjetmacht plusElektrifizierung definiert, Stalin gigantische Indu-strieprojekte aus dem Boden gestampft und Mos-kau in den Weltraum gegriffen hatte, geriet inZweifel (übrigens nicht nur in der Sowjetunion).

Wie durch eine Bresche strömten Enthüllungen

über Korruption im Parteiapparat, die Arroganz

und Verantwortungslosigkeit der Bürokratie unddie Missstände in der Gesellschaft in die öffent-lichkeit. Die Berichterstattung über das Auslandwurde objektiver und regte Vergleiche mit deneigenen Verhältnissen an. Aus Sorge für die Um-welt bildeten sich Gruppierungen, die nicht mehrvon der Partei kontrolliert wurden und die ihreForderungen durchsetzen konnten. Nicht mehrein paar isolierte Dissidente, wie in den siebzigerJahren, sondern prominente Wissenschafter,Wirtschaftsmanager und hohe Funktionäre inPartei, Regierung, Armee und KGB äussertenoffen Kritik und forderten Reformen. Der Schockvon Tschernobyl mobilisierte aber auch die kon-servativen Kräfte im Parteiapparat und in derSowjetbürokratie, die sich Gorbatschews Pere-stroika zu widersetzen begannen.

Erwachen nationalen Bewusstseins

In den von der Katastrophe direkt betroffenenRepubliken Ukraine und Weissrussland wie auchin den baltischen Ländern Estland, Lettland undLitauen erwachte das lange unterdrückte natio-nale Bewusstsein, das fünf Jahre später zu ihrerUnabhängigkeit von Moskau führte. In Osteuropawagten Bürgerbewegungen, voran die Charta 77in Prag, gegen die Verseuchung ihrer Länder zuprotestieren; treue Führer von Satellitenstaatensahen sich von Moskau im Stich gelassen und be-gannen eigene Wege zu suchen. Die Unfähigkeit

und die Grenzen der Sowjetmacht wurden sicht-bar. Die Sowjetunion war durch Tschernobyl, wieGorbatschew im Rückblick feststellte, aus demGleis geraten. Auch nach dem Ende des Sowjet-imperiums bleiben die Auswirkungen der Kata-strophe in Tschernobyl ungelöst und ungewiss. Esschwand immerhin, eine Gerechtigkeit der Ge-schichte, nach dem Ende des kalten Kriegs dieGefahr eines globalen Atomkriegs in unserer Zeit.

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Neue Zürcher Zeitung vom 26.04.1996