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150 Jahre Max Havelaar/ 150 Years Max Havelaar; … · zählte Sigmund Freud Multatulis Briefe und Werk 1907 zu seiner persönlichen literarischen Bestenliste, und Hermann Hesse nahm

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Vorwort

Multatulis Max Havelaar (1860) ist Multatulis wichtigstes Werk und war Thema eines Kongresses, der am 16. und 17. Dezember 2010 an der Freien Universität Berlin stattfand. Zwei Tage lang widmeten sich Literaturwissenschaftler aus verschiedenen europäischen Ländern unterschiedlichen Aspekten dieses Werks, das 2010 den 150. Jahrestag seines Erscheinens feiern konnte.

In den Niederlanden und im niederländischsprachigen Teil Belgiens erregen die Person Multatuli (lateinisch für: Ich habe viel gelitten) – das Pseudonym von Eduard Douwes Dekker (1820-1887) – und sein Werk noch immer großes Inter-esse. Der Max Havelaar wurde sogar von den Mitgliedern der „Maatschappij der Nederlandse Letterkunde“ (Gesellschaft für niederländische Literatur) 2002 zum wichtigsten Werk der niederländischsprachigen Literatur gewählt. Ein Jahr später erhielt Dik van der Meulen für seine Biographie Multatuli. Leven en werk van Eduard Douwes Dekker den AKO-Preis, einer der angesehensten Literatur-preise des niederländischen Sprachgebiets. Die gesammelten Werke, Volledige Werken, wurden 1995 beendet und bestehen aus sieben Bänden mit den literari-schen Werken und achtzehn Bänden mit Briefen und Dokumenten von, an und über Multatuli.

Die ersten Übersetzungen des Max Havelaar erschienen früh, die englische 1868, die deutsche 1875 und die französische 1876. Doch erst um 1900 erlangte das Werk in Europa seine größte Verbreitung und hatte sehr berühmte Leser. So zählte Sigmund Freud Multatulis Briefe und Werk 1907 zu seiner persönlichen literarischen Bestenliste, und Hermann Hesse nahm den Max Havelaar in seine Bibliothek der Weltliteratur (1929) auf. D.H. Lawrence verfasste ein Vorwort zur englischen Übersetzung von William Siebenhaar (1927), in dem er unter an-derem urteilte: „As far as composition goes, it is the greatest mess possible.“ Er sah in dem Werk eine Satire auf das niederländische Bürgertum und zog Ver-gleiche zu Uncle Tom’s Cabin von Harriet Beecher Stowe, einem Werk, das im Max Havelaar auch erwähnt wird. Zudem entdeckte er Gemeinsamkeiten mit Mark Twain und Jean Paul.1 Außer den international bekannten niederländischen Schriftstellern W.F. Hermans und F. Springer äußerten sich auch Autoren wie der Russe Konstantin Paustowski oder der Indonesier Pramoedya Ananta Toer positiv über das Werk. Der Roman wurde zu mehreren Theaterstücken umgear-

1 D.H. Lawrences Essay ist abgedruckt in Roy Edwards’ Übersetzung des Max Havelaar

aus dem Jahr 1982, mit einem Vorwort von E.M. Beekman. Multatuli: Max Havelaar. Or the Coffee Auctions of the Dutch Trading Company, Amherst, 1982, S. 11-15.

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beitet, 1976 verfilmt und 2010 sowohl in einer modernsprachlichen Fassung als auch als Comic veröffentlicht.

Leben und Werk Eduard Douwes Dekker wurde als fünftes Kind einer Mennonitenfamilie in Am-sterdam geboren. Nach der Grundschule besuchte er die Lateinische Schule und sollte, wie einer seiner Brüder, Pastor werden. Weil seine Leistungen in der Schule jedoch zu wünschen übrig ließen, beschloss der Vater 1835, dass sein Sohn besser Kaufmann werden solle. 1838 reiste Dekker als Leichtmatrose auf dem Schiff seines Vaters, Kapitän auf großer Fahrt, nach Niederländisch-Indien, dem heutigen Indonesien, das bis 1949 eine niederländische Kolonie bleiben sollte. Dort machte er rasch Karriere: 1839 wurde er Kanzleiangestellter bei der Allgemeinen Rechenkammer in Batavia (dem heutigen Jakarta), danach Ver-waltungsbeamter in Natal. Hier wurden ihm finanzielle Unregelmäßigen vorge-worfen, die in der niederländischsprachigen Forschung vielfach zu Spekulatio-nen darüber führten, ob die Beschuldigungen berechtigt waren oder nicht. Wie auch immer, er wurde gezwungen, den Fehlbetrag zu erstatten. 1845 lernte er Tine (Everdina Huberta van Wijnbergen, 1819-1874) kennen, eine protestanti-sche Baronesse, die er ein Jahr später heiratete. Ihr Adelstitel und der damit ver-bundene Status ebneten Dekker den Zugang zur Elite in Niederländisch-Indien und den Niederlanden. Die Jahre 1852 bis 1855 verbrachten Dekker und Tine in Europa. Multatuli wollte in den Spielbanken Belgiens und Deutschlands ein Vermögen machen, verlor aber stattdessen riesige Summen. Geldmangel wird ihn sein ganzes Leben lang begleiten, wobei jedoch erwähnt werden muss, dass er immer wieder großzügig denjenigen half, die in Not waren. Hochverschuldet nahm er seinen Dienst in Niederländisch-Indien wieder auf.

1855 wurde er zum Assistenzresident in Lebak ernannt, doch schon nach wenigen Monaten kündigte er enttäuscht und kehrte ein Jahr später zunächst ohne Frau und Kinder in die Niederlande zurück. Nicht nur der Plan, einige po-litische Ziele zu verwirklichen, trieb ihn zurück, sondern vor allem sein Bedürf-nis nach Rehabilitation. Dafür erschien ihm ein Roman das geeignete Mittel, und er verfasste 1859 in wenigen Wochen im Brüsseler Gasthaus „Au Prince Belge“ den Max Havelaar. Als Tine und die Kinder kurz danach ebenfalls nach Europa zurückkamen, dauerte das Familienglück nicht lange, denn Multatuli hatte inzwischen Mimi Hamminck Schepel kennen gelernt, die er 1874 nach Ti-nes Tod auch heiraten wird. Er führte ein rastloses Leben. 1881 ermöglichte ihm die finanzielle Zuwendung eines Bewunderers den Erwerb eines Hauses im deutschen Nieder-Ingelheim, wo er bis zu seinem Tod wohnen wird.

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Dekker blieb sein ganzes Leben lang intensiv schriftstellerisch tätig, nach dem Max Havelaar erschienen Minnebrieven (1861), Causerieën (1869) und Millioenenstudiën (1870-1873), die durch kleinere Arbeiten über politische und kolonialpolitische Themen ergänzt wurden (u.a. Een en ander over Pruisen en Nederland, 1867, und Over vrije arbeid in Nederlands-Indië, 1861-1862). In seinen Ideen, die zwischen 1862 und 1877 erschienen, legte er seine Ansichten über die verschiedensten Themen wie Natur, Geschichte, Wissenschaft, Bil-dungstheorie, Literatur, Politik, Religion und – ein populäres Thema im 19. Jahrhundert – über Sprache nieder. Die sieben Bände setzen sich aus 1282 Para-graphen zusammen, in denen auch Teile des Romans Geschiedenis van Wou-tertje Pieterse und des Theaterstücks Vorstenschool erarbeitet wurden.

Multatuli gelang es, sich auf den ersten Blick widersprechende Auffassun-gen zu vereinen. Seine Ideen sind der Tendenz nach sowohl reaktionär wie auf-klärerisch. So war er zum Beispiel kein Anhänger der parlamentarischen Demo-kratie, sondern zog eine aufgeklärte Monarchie vor. Er war zwar Atheist, war aber beeindruckt von der Stilistik der Bibel, sah sich selbst als eine Art Jesus und besaß tatsächlich eine Reihe von jüngerhaften Bewunderern. Er protestierte einerseits gegen die Unterdrückung der einheimischen javanischen Bevölkerung durch die Kolonialmacht der Niederlande, war aber dennoch kein Gegner des Kolonialismus.

Hintergründe Das Kolonialsystem der Niederlande in Niederländisch-Indien gründete auf der Zusammenarbeit zwischen niederländischen Beamten und den lokalen Regen-ten, den einheimischen Fürsten. Das Verhältnis zwischen Regent und Assistenz-resident, der Funktion, die Douwes Dekker in Lebak inne hatte, wurde als das zwischen Brüdern betrachtet, wobei der Fürst die Stellung des jüngeren Bruders zu erfüllen hatte. Für die vielfältigen Aufgaben in den Kolonien durchlief das Korps der niederländischen Beamten keine spezielle Ausbildung, weshalb es zwangsläufig zu Konflikten kommen musste. Außerdem war es zahlenmäßig relativ klein, ein Grund dafür, dass Douwes Dekker vergleichsweise rasch Kar-riere machen konnte.

Bei Amtsantritt in Lebak arbeitete Douwes Dekker das Archiv seines ver-storbenen Vorgängers Carolus durch, dessen Witwe überzeugt war, dass ihr Ehemann vergiftet worden sei, weil er veranlasst hatte, Fälle von Misshandlung und Unterdrückung der Bevölkerung durch die einheimischen Fürsten untersu-chen zu lassen. Douwes Dekker nahm sich dieser Anschuldigungen an und stellte Nachforschungen an. Aufgrund dessen beschloss er, den lokalen Regen-

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ten tatsächlich unter Anklage zu stellen, obwohl er sich klar darüber war, dass er sich damit selbst in Gefahr brachte. In der Sekundärliteratur über den Max Ha-velaar wird vielfach diskutiert, ob Dekker richtig gehandelt habe und ob eine derartige Anklage gegen einen Regenten eine Ungeheuerlichkeit darstelle. Der Historiker Cees Fasseur fand jedoch heraus, dass zwischen 1839 und 1848 nicht weniger als zwölf Regenten auf Java entlassen wurden, von denen acht sogar wegen Ausbeutung verurteilt worden waren.2 Douwes Dekkers Entscheidung, den Regenten von Lebak anzuklagen, war also nicht ungewöhnlich. Kritiker warfen ihm allerdings einen Mangel an Takt vor, da er den Regenten aus dem Amt entlassen wollte, ohne hieb- und stichfeste Beweise zu liefern. Zudem habe er überhastet und aus Unkenntnis gegen die adat, die ungeschriebenen Regeln und Gesetze der javanischen Bevölkerung, gehandelt. Seine Vorgesetzten waren verstimmt und entschieden sich dafür, Douwes Dekker zu versetzen. Dieser weigerte sich und reichte seine Entlassung ein.

Publikation Nach Fertigstellung des Manuskripts galt es einen Verlag zu finden. Zunächst nahm er Kontakt zu van Hasselt auf, einem Logenbruder. Ohne das Manuskript gelesen zu haben, gab er zu bedenken, dass eine Publikation gewisse Gefahren in sich berge. Trotzdem schrieb er in dieser Sache an J.J. Rochussen, den amtie-renden Kolonialminister. Das Manuskript des Romans gelangte über Dekkers Bruder wiederum zu van Hasselt, der es aber auch diesmal nicht las, in die Hände des Politikers Jacob van Lennep, der gleichzeitig einer bekanntesten Schriftsteller der Niederlande war. Auch er ein Freimaurer. Van Lennep war be-geistert. Er war sich wie van Hasselt der Tatsache bewusst, dass der Inhalt des Romans für große Aufregung sorgen würde, und setzte sich ebenfalls mit dem Kolonialminister Rochussen in Verbindung. Dieser versuchte nun, Douwes Dekker davon abzubringen, das Manuskript zu veröffentlichen, und schlug ihm vor, das Verfahren, das ihm wegen der Vorfälle in Niederländisch-Indien an-hängig war, einzustellen. Dekker stellte jedoch weitere Bedingungen: Er wollte auf Java Resident werden, einen königlichen Orden erhalten, einen Gehaltsvor-schuss und schließlich die Anrechnung seiner gesamten Dienstzeit für seine Pension erwirken. Der Minister ging darauf nicht ein, sondern stellte ihm im Gegenzug eine Anstellung in den niederländischen südamerikanischen Kolonien Westindiens in Aussicht. Das kam wiederum für Dekker nicht in Frage, und er erhöhte seine Forderungen. Jetzt wollte er Mitglied des „Rats von Indien“

2 Cees Fasseur: „Het ,Indië‘ van Multatuli“. In: Over Multatuli, Jg. 2, Nr. 3, 1979, S. 1-14.

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(„Raad van Indië“) werden, dem höchsten Gremium der Kolonialregierung. Doch der Spieler Douwes Dekker pokerte zu hoch. Er ging schließlich leer aus.

Das Buch sollte also gedruckt werden. Van Lennep ließ Dekker wissen, das er erst im Besitz des „kopijregts“, des Copyrights, sein müsse, um einen Vertrag mit einem Verleger schließen zu können. Leichtsinnig trat Dekker alle Rechte an van Lennep ab. Dieser redigierte das Manuskript und führte eine Kapiteleintei-lung ein, machte die Jahreszahlen unkenntlich und anonymisierte Orte und Per-sonen. Zudem war er mit Dekkers Schluss nicht einverstanden. Douwes Dekker adressiert darin König Wilhelm III und stellt ihm die Frage, ob es tatsächlich sein Wille sei, dass in Niederländisch-Indien „Ihre mehr als dreißig Millionen Un-tertanen mißhandelt und ausgebeutet werden in ihrem Namen?“ (457). Die ab-schließende Darstellung von Gewalt missfiel van Lennep ebenfalls, er wollte Sätze wie diese gestrichen haben: „Und ich würde Klewang wetzende Kriegsge-sänge hinausschleudern in die Gemüter der armen Märtyrer, denen ich Hilfe zu-gesagt habe“ (456). Dagegen protestierte Dekker allerdings in einem Brief vom 10. Januar 1860: „Soll Max H. seinen Schwanz einbüßen? Es verhält sich damit wie mit dem Paradiesvogel. Das ganze Tier wurde nur um seines Schwanzes willen erschaffen.“3 Der „Schwanz“ blieb.

Die Auflage des Romans zählte 1300 Exemplare, das Dreifache eines nor-malen Debüts. Doch der Absatz in Niederländisch-Indien ließ zu wünschen übrig. Dort wurde das Buch kaum verkauft, und es war im Allgemeinen auch zu teuer für ein größeres Publikum. Dekker wollte eine Volksausgabe und einen weitreichenderen Vertrieb, Van Lennep weigerte sich. Den Prozess, den Douwes Dekker daraufhin anstrengte, um von van Lennep sein Copyright zurückzu-erhalten, verlor er. Erst 1875 bekam er die Gelegenheit, van Lenneps Eingriffe rückgängig zu machen und fügte der Neuausgabe eine Liste mit „Bemerkungen und Erläuterungen“ zu, die er bei einer weiteren Auflage 1881 nochmals er-weiterte.

Rezeption Für die Rezeption ist Multatulis Bemerkung „ich will gelesen werden“ (453) von großem Belang. Wenn die Leserschaft in den Niederlanden ihm nicht glau-ben wolle, dann wolle er sein „Buch in die wenigen Sprachen, die ich kenne, und in die vielen Sprachen, die ich lernen kann, übersetzen, um Europa um das zu bitten, was ich in den Niederlanden so vergeblich versucht hätte“ (455f.). 3 Vgl. dazu den Brief an van Lennep vom 10. Januar 1860. In: Multatuli: Volledige Wer-

ken, Band X. Brieven en dokumenten uit de jaren 1858-1862, Amsterdam, 1976, S. 187 (Deutsche Übersetzung von Ira Wilhelm).

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Doch hoffte er, nicht nur moralische Unterstützung zu finden, sondern auch ei-nen Verkaufserfolg damit zu erlangen.

Multatulis hohe Erwartungen, dass nach der Publikation des Max Havelaar die Unterdrückung des javanischen Volks endlich ein Ende finden würde, zer-schlugen sich. Er glaubte, dass die ästhetischen Qualitäten höher geschätzt wur-den als der Inhalt des Buches. Doch Nop Maas macht in seiner Übersicht der Reaktionen auf den Roman deutlich, dass sehr wohl über den Inhalt diskutiert wurde. Nahezu alle Rezensenten des Max Havelaar hielten den Roman für ein literarisches Meisterwerk, teilten aber auch mit dem Autor die Meinung, dass die Missstände in den südostasiatischen Kolonien beseitigt werden müssen. Au-ßerdem habe man zu schätzen gewusst, dass Multatuli die Diskrepanzen zwi-schen den offiziellen Berichten der Kolonialverwaltung und der herrschenden Wirklichkeit aufgezeigt habe. Viele Rezensenten äußerten sich jedoch negativ über den Schluss, in dem Multatuli Gewalt als Mittel nicht ausschloss.4

Große Bewunderung erntete Multatuli in den Kreisen der Arbeiter, Freiden-ker, Anarchisten und Lehrer. Der Führer der niederländischen Sozialisten, Fer-dinand Domela Nieuwenhuis, unterstützte Multatuli, doch dieser betonte in aller Öffentlichkeit, dass er mit den politischen Zielen der Sozialisten nicht sympathi-siere. Auch im Ausland waren es vor allem die Sozialisten und Anarchisten wie Wilhelm Spohr, die Multatulis Werk lasen und schließlich dann auch übersetz-ten. Spohrs Übersetzungen, die um 1900 entstanden und im deutschen Sprach-gebiet großen Erfolg hatten, bildeten die Grundlage für die Übersetzungen in weitere Sprachen. Vor allem seine Anthologie Multatuli. Auswahl aus seinen Werken (1899) war aufgrund einer beigefügten umfangreichen Biographie ein großer Erfolg.5 Spohrs einseitige Interpretation – Multatuli als Gesellschafts-reformer und Sozialist – und die Verbreitung der Werke durch den „Friedrichs-hagener Dichterkreis“, einem lockeren Verband anarchistischer und sozialisti-scher Schriftsteller, erwiesen sich für Multatulis imago in Deutschland als erfolgsentscheidend

Max Havelaar wurde in ungefähr vierzig Sprachen übersetzt und fand weite Verbreitung innerhalb und außerhalb Europas. Das Interesse im Ausland hält bis heute an: immer noch entstehen Erst- und Neuübersetzungen. Die übersetzeri- 4 Nop Maas liefert erstmals eine systematische Übersicht aller zeitgenössischen Diskus-

sionen, die in Zeitungen und Zeitschriften geführt wurden. Vgl. Nop Maas: „,Dat boek is meer dan een boek – het is een mensch‘. Reacties op Max Havelaar in 1860“. In: Nop Maas: Multatuli voor iedereen (maar niemand voor Multatuli), Nijmegen, 2000, S. 7-49.

5 Multatuli: Multatuli. Eine Auswahl aus seinen Werken, eine Übersetzung aus dem Hol-ländischen, eingeleitet durch eine Charakteristik seines Lebens, seiner Persönlichkeit und seines Schaffens von Wilhelm Spohr. Mit Bildnissen und handschriftlicher Beilage. Titelzeichnung von Fidus, Minden, 1899.

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sche Rezeption der Werke Multatulis nahm bis 1950 zwei verschiedene Wege. Entweder wurden sie auf Grundlage von Spohrs Übersetzungen erstellt, was vor allem für die Übersetzungen in die slawischen und skandinavischen Sprachen gilt, oder sie gingen, wie die Übersetzungen in die romanischen Sprachen, vom zweisprachigen Belgien aus oder von Niederländern, die wie Alexander Cohen in Paris wohnten. Die Übersetzungen ins Englische nahmen einen Sonderweg. Für die erste englische Übersetzung aus dem Jahr 1868 konnte Multatuli übri-gens erstmals einige von Lenneps Korrekturen ungeschehen machen, bevor ihm dies dann 1875 auch für eine neue niederländische Ausgabe möglich war.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde fast durchweg aus der Original-sprache übersetzt.6 In Indonesien kam es sogar erst 1972 zu einer kompletten Übersetzung des Max Havelaar; bis dahin war nur die im Max Havelaar sich befindende Geschichte von Saïdjah und Adinda erhältlich gewesen.

Max Havelaar in der Literaturwissenschaft Bisherige Studien und Artikel über den Max Havelaar konzentrierten sich auf die Editionsgeschichte, die Textanalyse und die Rezeption, die vor allem in den letzten Jahren auch die Rezeption des Romans im Ausland mit einschließt.7 Dis-sertationen über den Max Havelaar sind rar. A.L. Sötemann konzentriert sich 1966 ausschließlich auf den Text, seine Interpretation der Romanstruktur war von großem Einfluss.8 Er geht davon aus, dass Multatuli im Max Havelaar eine autonome Welt erschaffen habe, die einen eigenen Charakter und eine eigene Struktur besitze, eine Welt, in der alles mit allem zusammenhängt. Inzwischen wird der Max Havelaar auch mit Hilfe der Gendertheorie und des Postkolonia-lismus interpretiert.9 Für Letzteren gilt Multatuli als einer der ersten niederländi-

6 J.J. Oversteegen war der erste, der sich 1962 den Übersetzungen von Multatulis Werk

zuwandte. Vgl. J.J. Oversteegen: Multatuli in het buitenland, 100 Jaar Max Havelaar. Essays over Multatuli, Rotterdam, 1962, S. 134-148. Die Zeitschrift Over Multatuli brachte zwar seit 1978 immer wieder Artikel über Übersetzungen, doch erst seit der Heftnummer 59 (2007) geschieht dies systematisch. Inzwischen ist die Forschung nach der Rezeption von Multatulis Werk in den europäischen Sprachen nahezu vollständig.

7 Für eine Übersicht über die Multatuli-Forschung siehe Olf Praamstra: „Honderd jaar Max Havelaar-studie“. In: Over Multatuli, Jg. 15, Nr. 29, 1992, S. 61-80.

8 Für die früheste Untersuchung der Struktur des Max Havelaar vgl. J.J. Oversteegen: „De organisatie van Max Havelaar“. In: Merlyn, Jg. 1, Nr. 6, 1962-1963 (Okt. 1963), S. 20-45.

9 Theo D’haen (Hrsg.): Europa buitengaats. Koloniale en postkoloniale literaturen in Europese talen. Twee delen, Amsterdam, 2002. Judit Gera: Van een afstand. Multatuli’s Max Havelaar tegendraads gelezen, Amsterdam, 2001.

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schen Autoren, die den Kolonialismus kritisierten. Doch bereits Jacob Haafner (1754-1809) war in seinen Berichten über seine Reisen durch Niederländisch-Indien, Indien und Ceylon davon ausgegangen, dass alle Kulturen gleichwertig seien, und hatte die christliche Mission und den Kolonialismus einer Kritik un-terzogen, die weitaus schärfer war als das, was Douwes Dekker sich erlaubte.10

Der diesem Band vorabgehende Multatuli-Kongress hatte zum Ziel, verfe-stigte und veraltete Einsichten über Multatuli zur Diskussion zu stellen und ge-gebenenfalls zu revidieren. Es galt auch, die Entwicklungen in der Literaturwis-senschaft der letzten Jahre für den Max Havelaar fruchtbar zu machen. Bart Vervaeck geht in „Seeing the Real: Word and Image in Max Havelaar“ auf eine Reihe von zentralen Aspekten des Textes ein, u.a. auf die Spannung zwischen Fakten und Fiktion, das Problem des Idealismus und Realismus, auf das Phäno-men des unzuverlässigen Erzählers und auf Multatulis Verständnis von Wahr-heit. Auch im Beitrag von Hans Vandevoorde mit dem Titel: „Er ist verrückt!“ Multatuli als unzuverlässiger Erzähler und Autor. Über die Anmerkungen im Max Havelaar“ wird die Rolle des Erzählers problematisiert. Vandevoorde kon-zentriert sich auf die „Bemerkungen und Erläuterungen“ des Max Havelaar, versteht sie als Teil des Textes und untersucht ihr Funktion. Lut Missinne wid-met sich der Tatsache, dass der Max Havelaar von Anfang an auch als autobio-graphischer Roman gelesen wurde. Sie stellt in ihrem Beitrag „Max Havelaar, Autobiografie als Strategie und Effekt“ jene Signale dar, die im Roman auf einen autobiographischen Hintergrund verweisen, und arbeitet gleichzeitig die Fiktionalitätssignale heraus, die diese Lesererwartung dann wieder manipulie-ren. Piet Couttenier weist in „The Blind Wanderer. Multatuli’s Max Havelaar as a Case and Problem for Literary Historiography“ darauf hin, dass der sowohl realistische als auch romantische Elemente besitzende Roman für die Literatur-geschichte eine große Herausforderung darstellt.

Die drei folgenden Beiträge widmen sich dem Thema Wissen und Wissen-schaft in Max Havelaar. Jutta Müller-Tamms Vortrag „Wissen und Wissen-schaft im Max Havelaar“ fokussiert den Blick auf Schalmanns Paket, eine Aufzählung fiktiver Aufsätze und Beiträge des Haupthelden, die die Autorin als eine „Formation des Wissens und der Erkenntnis“ versteht. Daraufhin exempli-fiziert sie die Funktionsweise und Implikationen der Narration des Wissens an einer Passage des Roman. Anhand von Multatulis Über freie Forschung (1868) weist sie außerdem auf dessen Kritik an der Spezialisierung der Wissenschaft hin, die in ihren Augen auch als eine Kritik am Positivismus zu verstehen ist.

10 Mehr über Haafner u.a. bei Paul van der Velde: Wie onder palmen leeft. De sublieme

wereld van Jacob Haafner (1754-1809), Amsterdam, 2008. Seit 2003 ist eine Reihe von Haafners Werken im Verlag Gutenberg-Buchhandlung erschienen.

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Jaap Grave sieht in „Der Dilettantismus: Die Dämmerung der Enzyklopädie im Max Havelaar“ in der Vermittlung von Wahrheit das zentrale Ziel des Romans und beschreibt einige Strategien, wie Multatuli dieses Ziel umzusetzen versucht. Einige davon bestehen in der Wahl einer bestimmten Gattung, der Verwendung von Listen und einer spezifischen Art des Erzählens. Der Beitrag von Ira Wil-helm „,Lehrt die Menschen zu denken‘. Multatulis Idea-Realismus oder die Re-habilitation des Idealismus“ möchte aufzeigen, dass Multatuli sich sowohl in der Weltsicht als auch in der literarischen Methode weder nur der Ideologie des Idealismus noch der des Realismus zuwendet, sondern eine Vereinigung beider anstrebt. Literarisch bringt er dies durch den gleichzeitigen Einsatz gewisser li-terarischer Mittel zum Ausdruck, die einerseits aus realitätsgenerierenden For-men wie Aufzählungen oder realistischen Beschreibungen bestehen, andererseits aus Idealismen wie dem poetischen Einschiebsel von Saïdjah und Adinda.

Olf Praamstra thematisiert in „The Man from Natal. Multatuli as a Eurasian Writer“ den großen Einfluss, den die asiatische Kultur auf Multatuli ausübte. Er stellt die These auf, dass der Roman unter deren Einfluss zu einem hybriden Werk wurde, da Multatuli in seinen Schreiben Elemente des Indoeuropäismus aufweise, das heißt, Elemente der Kultur jener Bevölkerungsgruppe Niederlän-disch-Indiens, die gemischter Herkunft war und damit zwischen der Kolonial-macht und der einheimischen Bevölkerung stand. Judit Gera geht in „The Mea-ning of Silence in Max Havelaar“ einer bestimmten Form von Leerstelle nach: dem Schweigen, das entsteht, wenn eine Romanperson aufhört zu reden, nicht mehr antwortet oder zur nonverbalen Sprache greift. Durch den systematischen und strukturell wiederholten Einsatz dieser Negativität wird eine andere, weni-ger bekannte Geschichte erzählt. Auch Walter Delabar erzählt in „Kolonial-Mo-derne. Multatulis Kritik des niederländischen Kolonialregimes als Effizienz-kritik“ eine andere Geschichte als die bisherige, wonach die Intention des Max Havelaar darin bestanden habe, das Kolonialsystem anzuklagen und keinen Roman schreiben zu wollen, sondern eine Anklageschrift. Doch Multatuli setzt, so stellt Delabar fest, im Roman keine moralischen oder humanistischen Argu-mente gegen das Kolonialsystem ein, sondern kritisiert – und zwar mithilfe der Auffassungen Droogstoppels und Havelaars – nur dessen mangelnde Wirt-schaftlichkeit. Saskia Pieterse beobachtet in ihrem Beitrag „Dickens’ Gradgrind and Multatuli’s Droogstoppel: Utilitarianism and Domesticated Capitalism“, dass Multatuli die Debatte über den Kolonialismus im 19. Jahrhundert erweiterte, indem er die ökonomische Perspektive kritisierte. Das sei vor allem an der satirischen Charakteristik Droogstoppels zu erkennen. Sie vergleicht Multatulis Auffassungen mit der Art und Weise, wie Charles Dickens in Hard Times den Utilitarismus seiner Zeit anklagte. Walter Fähnders geht in „Der Multatuli-Übersetzer Wilhelm Spohr und Friedrichshagen“ näher auf die

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Rezeption von Multatulis Werk in Deutschland um 1900 ein, die vor allem von der linken Intelligenz in Berlin und Friedrichhagen ausging. Ausführlich stellt er die Konzeption der Multatuli-Ausgaben dar und schildert, wie Spohr die Auf-nahme seiner Übersetzungen durch die Leserschaft zu steuern versuchte.

Für den vorliegenden Band wurden Beiträge sowohl in deutscher, als auch in englischer Sprache aufgenommen. Dabei einigte man sich auf zwei Ausga-ben. Die Autoren der deutschen Beiträge verwenden Multatuli: Max Havelaar oder Die Kaffeeversteigerungen der Niederländischen Handelsgesellschaft. Aus dem Niederländischen von Martina den Hertog-Vogt, München, 1997 (= Ullstein Taschenbuch 24166).11 Die Autoren der englischen Beiträge beziehen sich auf Max Havelaar Or the Coffee Auctions of a Dutch Trading Company. Translated with Notes by Roy Edwards. Introduction by R.P. Meijer, London, 1987 (Penguin Books). Diese Übersetzung erschien erstmalig 1967. In keiner der beiden Sprachen war eine Übersetzung des Max Havelaar leicht zugänglich, die auch Multatuli’s „Bemerkungen und Erläuterungen“ („Aanteekeningen en ophelderingen by de uitgaaf van 1875; herzien, gewyzigd en aangevuld in 1881“) umfasst. Deshalb verweisen einige Autoren zusätzlich auf die von Annemarie Kets-Vree herausgegebene niederländische Edition des Romans.12

Dieser Band erscheint mit finanzieller Unterstützung der „Ambassade van het Koninkrijk der Nederlanden“ in Berlin. Die zugrunde liegende Tagung im Dezember 2010 an der Freien Universität Berlin wurde durch eine finanzielle Unterstützung des „Center for International Cooperation“ der Freien Universität Berlin ermöglicht. Wir danken unserem Berliner Kollegen Jan Konst vom In-stitut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin für seine Unterstützung. Außerdem sind die Herausgeber allen, die bei der Or-ganisation der Fachkonferenz und der Erstellung einer Druckvorlage der Texte geholfen haben, zu besonderem Dank verpflichtet, insbesondere Katharina Lenz, der Sekretärin am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin, den studentischen Hilfskräften Judith Pauly und Anna Kirstein, und schließlich Almut Hüfler, die den vorliegenden Band redaktionell betreute. Die Herausgeber 11 Die Grundlage für diese Übersetzung bildete ein Band aus der Reihe „Salamander Klas-

siek“ (Querido, Amsterdam, o.J.). 12 Multatuli: Max Havelaar of de koffiveilingen der Nederlandsche Handelmaatschappy.

Hrsg. von Annemarie Kets-Vree. Zwei Bände. Assen/Maastricht 1992. Eine günstigere Ausgabe dieser Edition erschien 1998: Multatuli: Max Havelaar of de koffiveilingen der Nederlandsche Handelmaatschappy. Hrsg. u. erläutert von Annemarie Kets-Vree, Am-sterdam, 1998 (= Nederlandse Klassieken, Bd. XV).