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5 2. Die Historische Entwicklung Bosnien-Herzegowinas und des Libanons Im Zentrum dieser Arbeit stehen zwei Länder, die nur auf eine kurze staatliche Tradition zurückgreifen können. Der Libanon entstand nach dem 2. Weltkrieg als unabhängiger Staat, während Bosnien-Herzegowina erst mit dem Kriegsausbruch im April 1992 international anerkannt wurden. Trotzdem basieren beide auf historischen Provinzen. Es handelt sich also nicht um künstliche Konstruktionen des 20. Jahrhunderts, sondern um gewachsene Einheiten. Da es jedoch den Umfang der Arbeit sprengen würde, die Geschichte des Libanon und Bosniens vor dem 19. Jahrhundert darzustellen und zu vergleichen, setzt dieses Kapitel in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Zu diesem Zeitpunkt bildeten sich die Besonderheiten des Libanons und Bosniens hervor, zudem leitete der Beginn der Nationalbewegungen im 19. Jahrhundert ein neues Kapitel in der Entwicklung des Osmanischen Reiches und der Habsburger Monarchie ein. Da die Geschichte Bosnien-Herzegowinas enger als der Libanon mit den Entwicklungen in der umliegenden Region (insbesondere Kroatien und Serbien, später Jugoslawien) verknüpft ist, fällt die Darstellung für Bosnien umfangreicher aus. 2.1. Die Gemeinsame Geschichte im Rahmen des Osmanischen Reiches 2.1.1. Das Osmanische Reich im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts Unter Sultan Mehmet II. kam Bosnien 1463 und die Herzegowina zwei Jahre später unter die Herrschaft des Osmanischen Reiches. Etwas mehr als fünfzig Jahre später, 1516, eroberte das Osmanische Reich den Libanon von den Mameluken. 1 In dieser Zeit der raschen Expansion des jungen Osmanischen Reiches beginnen 400 Jahre türkische Herrschaft über Bosnien und den Libanon. Diese lange Zeit hat beide Staaten stark geprägt, so daß sich Elemente der osmanischen Herrschaft in den verschiedensten Bereichen des Libanon und auch Bosniens wiederfinden. Die Struktur des Osmanischen Reiches Das Osmanischen Reich wurde durch drei Traditionen geprägt: - ein traditionelles muslimisches Staatswesen, - byzantinische Elemente und - die türkische Herkunft der Dynastie der Osmanen. Die islamische Ausrichtung des Reiches bedeutet eine strikte Trennung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen. Trotz gelegentlicher Gleichbehandlung besaßen die Angehörigen anderer Religionen nie die gleichen Rechte wie Muslime. Die osmanische Gesellschaft gliederte sich entlang vertikaler und horizontaler Achsen. Die vertikale Achse trennte die Muslime und die anderen Konfessionen von einander. Die horizontale Achse entspricht den sozialen Abstufungen. Diese Gesellschaftspyramide war streng hierarchisch in verschiedene Gruppen aufgeteilt. An der Spitze stand der Sultan mit unbeschränkten Machtbefügnissen. Erst ab 1909 wurden die Kompetenzen des Sultans im Rahmen einer konstitutionellen 1 Hierzu siehe Peter Sugar , Southeastern Europe under Ottoman Rule, 1354-1804 (=A History of East Central Europe V, Seattle/London 1977) 65 f.; Jean-Louis Bacqué-Grammont , L'apogée de l'Empire ottoman: les événements (1512-1606), in: Robert Mantran (Hg.) Histoire de l'Empire Ottoman (Paris 1989) 143-145.

2. Die Historische Entwicklung Bosnien-Herzegowinas und ... · 5 2. Die Historische Entwicklung Bosnien-Herzegowinas und des Libanons Im Zentrum dieser Arbeit stehen zwei Länder,

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2. Die Historische Entwicklung Bosnien-Herzegowinas und des Libanons Im Zentrum dieser Arbeit stehen zwei Länder, die nur auf eine kurze staatliche Tradition zurückgreifen können. Der Libanon entstand nach dem 2. Weltkrieg als unabhängiger Staat, während Bosnien-Herzegowina erst mit dem Kriegsausbruch im April 1992 international anerkannt wurden. Trotzdem basieren beide auf historischen Provinzen. Es handelt sich also nicht um künstliche Konstruktionen des 20. Jahrhunderts, sondern um gewachsene Einheiten. Da es jedoch den Umfang der Arbeit sprengen würde, die Geschichte des Libanon und Bosniens vor dem 19. Jahrhundert darzustellen und zu vergleichen, setzt dieses Kapitel in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Zu diesem Zeitpunkt bildeten sich die Besonderheiten des Libanons und Bosniens hervor, zudem leitete der Beginn der Nationalbewegungen im 19. Jahrhundert ein neues Kapitel in der Entwicklung des Osmanischen Reiches und der Habsburger Monarchie ein.

Da die Geschichte Bosnien-Herzegowinas enger als der Libanon mit den Entwicklungen in der umliegenden Region (insbesondere Kroatien und Serbien, später Jugoslawien) verknüpft ist, fällt die Darstellung für Bosnien umfangreicher aus.

2.1. Die Gemeinsame Geschichte im Rahmen des Osmanischen Reiches

2.1.1. Das Osmanische Reich im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts

Unter Sultan Mehmet II. kam Bosnien 1463 und die Herzegowina zwei Jahre später unter die Herrschaft des Osmanischen Reiches. Etwas mehr als fünfzig Jahre später, 1516, eroberte das Osmanische Reich den Libanon von den Mameluken.1 In dieser Zeit der raschen Expansion des jungen Osmanischen Reiches beginnen 400 Jahre türkische Herrschaft über Bosnien und den Libanon. Diese lange Zeit hat beide Staaten stark geprägt, so daß sich Elemente der osmanischen Herrschaft in den verschiedensten Bereichen des Libanon und auch Bosniens wiederfinden.

Die Struktur des Osmanischen Reiches

Das Osmanischen Reich wurde durch drei Traditionen geprägt:

- ein traditionelles muslimisches Staatswesen,

- byzantinische Elemente und

- die türkische Herkunft der Dynastie der Osmanen.

Die islamische Ausrichtung des Reiches bedeutet eine strikte Trennung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen. Trotz gelegentlicher Gleichbehandlung besaßen die Angehörigen anderer Religionen nie die gleichen Rechte wie Muslime. Die osmanische Gesellschaft gliederte sich entlang vertikaler und horizontaler Achsen. Die vertikale Achse trennte die Muslime und die anderen Konfessionen von einander. Die horizontale Achse entspricht den sozialen Abstufungen.

Diese Gesellschaftspyramide war streng hierarchisch in verschiedene Gruppen aufgeteilt. An der Spitze stand der Sultan mit unbeschränkten Machtbefügnissen. Erst ab 1909 wurden die Kompetenzen des Sultans im Rahmen einer konstitutionellen

1 Hierzu siehe Peter Sugar, Southeastern Europe under Ottoman Rule, 1354-1804 (=A History of East

Central Europe V, Seattle/London 1977) 65 f.; Jean-Louis Bacqué-Grammont, L'apogée de l'Empire ottoman: les événements (1512-1606), in: Robert Mantran (Hg.) Histoire de l'Empire Ottoman (Paris 1989) 143-145.

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Monarchie eingeschränkt. Zwei streng getrennte Gruppen gliedern die Hierarchie. Die erste Gruppe stand im Dienst des Staates, Peter Sugar bezeichnet sie als „professional Ottomans“. Sie waren entweder Beamte der Hohen Pforte (Mülkiye), Schriftgelehrte mit ähnlichen Aufgaben wie Beamte (Kalemiye), Angehörige des Militärs (Seyfiye) oder Geistliche (Ilimiye). Jede dieser Gruppen besaß ihre eigene Hierarchie. Sie besaßen jedoch keine Rechte gegenüber dem Sultan. Traditionell konnten sie jedoch die Herrschaft beeinflussen und zu manchen Zeiten sogar den Sultan absetzen. Ihre zentrale Aufgabe war die Verwaltung des Reiches. Angehören konnten diesen „professionellen Osmanen“alle anerkannte Konfessionen. Sie sprachen als einzige Gruppe auch die Verwaltungssprache Osmanlica.

Die zweite Gruppe war die restliche Bevölkerung (Raya), die sowohl Muslime, wie auch die Bevölkerung mit anderer Religionszugehörigkeit, umfaßte. Die Gläubigen monotheistischen Religionen (Judentum und Christentum) standen unter dem Schutz des Islam und wurden als Zimmi bezeichnet. Obwohl die Abstufungen in der gesellschaftlichen Hierarchie in erster Linie durch soziale und funktionale Unterschiede der jeweiligen Gruppen geprägt wurden, spielte die Konfession immer eine Rolle. So spezialisierten sich oftmals einzelne Konfessionen auf bestimmte Berufe. Insgesamt besaßen die Zimmi stets weniger Rechte als die muslimische Bevölkerung und unterstanden anderen Gesetzen. So mußten nur Muslime in der Armee dienen. Die Zimmi mußten hingegen einen Kopfsteuer bezahlen.2 Bis ins 16. Jahrhundert bestand der Knabenzins (Devşirme), der jedes 5. nicht-muslimische Kind zur Armee verpflichtete.3

Das Millet-System

Im Zentrum der gesellschaftlichen Gliederung der Zimmi standen religiöse Selbstverwaltungseinheiten, die Millets. Die Millets gliederten sich nach Konfessionen. Am Anfang des Osmanischen Reiches bestand auch ein muslimisches Millet, in der späteren Entwicklung bezog sich jedoch der Begriff Millet ausschließlich auf die Nicht-Muslime. Die drei ursprünglichen Millets waren das orthodoxe, das armenische (armenisch-orthodox) und das jüdische Millet, im Lauf der Zeit kamen weitere Millets

hinzu, die im Lauf des 19. Jahrhunderts zunehmend nach nationalen und weniger religiösen Kriterien eingerichtet wurden.4

Das Millet gliederte die osmanische Gesellschaftspyramide vertikal. Die jeweiligen Millets besaßen ihre eigene Hierarchie und Verwaltung. Mit Hilfe der Millets sicherte das Osmanische Reich die Kontrolle über die nicht-muslimische Bevölkerung. Zugleich stellten die Millets ein Rechtssystem dar, das das Leben der nicht-muslimischen Untertanen des Reiches regelt. Nicht-Muslime hatten, im Gegensatz zu Muslimen, auch die Möglichkeit, sich in der Gesellschaft „horizontal“ zu bewegen, da sie zum Islam übertreten können. In der Frühphase der Millets waren die religiösen Grenzen noch fließend, so konvertierten große Teile der christlichen Bevölkerung auf dem Balkan zum Islam. Jedoch im 18. und 19. Jahrhunderts erstarrten die Millets, unter anderem bestärkt durch ein Heiratsverbot zwischen Christen und Muslimen. Zwischen den Millets gab es auch kaum gemischte Ehen, da die Einheiten, trotz ihres Nebeneinanders oftmals parallel lebten und kaum persönliche Kontakte besaßen.

2 Sugar, Southeastern Europe under Ottoman Rule, 31-44, 271-273 3 Ebd., 55 f.. 4 Ebd., 44 f.

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Dem Osmanischen Reich war das Konzept der Nation fremd. Obwohl es Übertritte zum Islam gab, hat das Osmanische Reich nicht versucht, die Bevölkerung zu assimilieren oder eine „osmanische Identität“ zu propagieren. Das politische System des Reiches zog Nutzen aus dem Fortbestand anderer Religionen, da die Steuerzahlungen der Nicht-Muslime nicht unerheblich zur Finanzierung der Hohe Pforte beitrug. Da jedoch kein einheitliches osmanisches Staatsvolk entstand, wurde die osmanische Herrschaft zunehmend im frühen 19. Jahrhundert als Besatzung empfunden und die jeweiligen Millets bildeten geschlossene sub-Gesellschaften. Schließlich setzten sich die religiösen Führer zunehmend auch für die säkularen Belange ihrer Bevölkerungsgruppe ein. Die Millets sicherten den Fortbestand von verschiedenen christlichen Gruppen und Juden und erhielten somit den „Flickenteppich“ verschiedener, teils kleiner, Konfession im Osmanischen Reich.

Die Millets hatten als religiöse Strukturen keine territorialen Grenzen, sondern umfaßten eine Religion auf dem gesamten Gebiet des osmanischen Reiches. Nur selten, wie bei den Maroniten im Libanon, war die Religionsgemeinschaft auf einen kleinen Raum konzentriert. Die Zentren der Millets war meist in Istanbul.

Obwohl sich die Millets durch ihre Konfession definierten, besaßen sie umfangreiche säkulare Aufgaben. Sie besaßen ein eigenes Zivilrecht und durften eigene Schulsysteme aufbauen.5 In manchen Gebieten führte dies zu einem verhältnismäßig modernen Schulsystemen, während in anderen Teilen des Reiches, so in Bosnien, die Ausbildung rückständig blieb. Erst die österreichisch-ungarische Verwaltung führte in Bosnien zu dem Aufbau eines modernen Schulsystems (vgl. Kapitel 2.2.1.). Im Libanon hingegen ermöglichte diese Autonomie den Aufbau eines eigenständigen und verhältnismäßige modernen Schulsystems durch die europäischen Großmächte und die Vereinigten Staaten. Schon bald besaßen die christlichen Millets des Libanon ein besseres Ausbildungssystem als die muslimische Bevölkerung. Dieser Vorsprung blieb bis heute weitgehend erhalten. Das Millet-System hat bis heute beide Länder beeinflußt. So besteht im Libanon nach wie vor ein unterschiedliches Zivilrecht für alle Konfessionen. In Bosnien hat das Millet-System hingegen die Bildung von Nationalitäten nach religiösen Kriterien begünstigt.6

Die Tanzimat Reformen

Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Führung des Osmanischen Reiches klar, daß nur eine Reform den weiteren Abstieg des Reiches verhindern konnte. Insbesondere die beiden Sultane Selim III. (1789-1807) und Mahmud II. (1808-1839) reformierte das Militär, die Landwirtschaft und das Wirtschaftssystem. Durch die Reformen wurde die Verwaltung modernisiert und die Kompetenzen der islamischen Gerichtshöfe auf Ehe-, Erb- und Scheidungsrecht begrenzt. Im Rahmen der Reformen wurden erstmals Ministerien geschaffen. Insgesamt sollte die Verwaltung nach europäischem Vorbild umgestaltet werden. Die alte Elite wurde zunehmend durch besonders ausgebildete Bürokraten ersetzt. Die Tanzimat Reformen sollten die Zentralverwaltung der Hohen

5 Ebd., 273 f. 6 Zu den Auswirkung des Millet-Systems auf die Entwicklung von Nationalbewegungen im

osmanischen Teil Südosteuropas s. Hugh Seton-Watson, Nation and States. An Enquiry into the Origin of Nations and the Politics of Nationalism (London 1977) 143-146. Für das gesamte Osmanische Reich s. Georges Corm, L'europe et l'orient. De la balkanisation à la libanisation: Histoire d'une modernité inaccomplie (Paris 1991) 28-36, 44-59.

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Pforte stärken, ein einheitliches und modernes Steuersystem einzuführen und das islamische Recht durch europäische Gesetze zu ersetzen.7

In der 2. Hälfte des 19. Jahrhundert entstand unter der nicht-muslimischen Bevölkerung ein wirtschaftlich erfolgreicher Mittelstand. Dieser stellte das Millet-System in Frage, in dem Geistliche die politische und rechtliche Vorherrschaft genossen. Mit einem Reform-Dekret wurden die Millets 1856 weitgehend säkularisiert. Der Sultan ersuchte die Millets um eigene Reformvorschläge und regelte die Einkommen der Geistlichkeit. Die Millets erhielten eine neue Verfassung und den jeweiligen Führern wurde eine gewählte Ratsversammlung zur Seite gestellt. In diesen Versammlungen wurden erstmals der nicht-religiösen Elite des Millets eine Repräsentation zugesichert. Dies führte zu dem Widerstand der jeweiligen Patriarchen, Rabbiner und anderer religiöser Führer, die zu Recht einen Machtverlust befürchteten.8

Im Rahmen der Reformen wurde Versuche von der osmanischen Verwaltung unternommen, die Nicht-Muslime mit den Muslimen gleichzustellen. Dies hätte die Einführung der Wehrpflicht für Nicht-Muslime und die Abschaffung der Kopfsteuer bedeutet. Zudem hätten Nicht-Muslime ohne Einschränkungen in allen Bereichen der Verwaltung arbeiten dürfen. Diese Reformansätze stießen jedoch auf Widerstand von allen Seiten. Die religiösen Führer der Millets widersetzten sich der Säkularisierung und der Entmachtung ihrer Position. Auch die Mehrheit der nicht-muslimischen Bevölkerung zog die Zahlung der Kopfsteuer einer Wehrpflicht vor. Die Millets waren in dem Widerspruch gefangen, einerseits eine Sonderrolle zu beanspruchen und sie mit europäischer Hilfe durchzusetzen und andererseits eine Gleichberechtigung zu verlangen. Die Reformpläne wurden aufgegeben.9

Die Millets hatten zwei unterschiedliche Auswirkungen auf das Osmanische Reich: Einerseits wirkten zentrifugal und zugleich hielten sie das Reich zusammen. Die Nationalbewegungen, die aus und zugleich auch gegen die Millets auf dem Balkan, aber auch ansatzweise in der arabischen Welt, entstanden, trugen zum Zerfall des Reiches bei. Weiterhin bildeten Millets Allianzen mit europäischen Großmächten, die hierdurch die Macht der Hohen Pforte aushöhlten. So genossen viele Christen im osmanischen Reich Exterritorialität durch die von der Schutzmacht verliehene Staatsbürgerschaft. Allein in Istanbul lebten 1886 130.000 (15,3 %) Ausländer, von denen ein Großteil gebürtige Osmanen mit ausländischem Rechtsstatus waren. Neben Einfluß verlor das Osmanische Reich hierdurch auch Steuern.10

Zugleich hielten jedoch die Millets das Reich zusammen. Die Netzwerke weit verstreuter Millets, für die das Osmanische Reich einen gemeinsamen Rahmen schuf, waren oftmals an einem Fortbestehen des Landes interessiert. Insbesondere die in unter den religiösen Minderheiten stark vertretenen Händler und Geschäftsleute, trugen zur Einheit des osmanischen Reiches bei.

Die Reformen gingen mit einem zunehmenden europäischen Einfluß auf das Osmanische Reich einher, doch erst deren partielles Scheitern ermöglichte es den

7 Stanford J. Shaw, Ezel Kural Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II:

Reform, Revolution, and Republic: The Rise of Modern Turkey, 1808-1975 (Cambridge/London/New York/Melbourne 1977), 55, 71, 105.

8 Ebd., 123-125. 9 Ebd., 127 f. 10 François Georgeon, Le dernier sursaut (1878-1908) in: Robert Mantran (Hg.) Histoire de l'Empire

Ottoman (Paris 1989) 540 f., 554.

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europäischen Großmächten ihren Einflußbereicht auszudehnen: Ende 1875 kam es zum osmanischen Staatsbankrott. Im folgenden Jahr gelangte die Finanzverwaltung unter weitgehende europäische Kontrolle (Dette Publique Ottomane).11 In Folge dieser Krise, die durch Aufstände in der Herzegowina verstärkt wurde, mußte der Sultan Murad V. (1876) abtreten. Sein Nachfolger Abdulhamit II. (1876-1909) war nicht nur mit der Finanzkrise, sondern auch mit serbischen und montenegrinischen Gebietsansprüchen auf Bosnian und Mazedonien konfrontiert. Zudem droht ein Krieg mit Rußland um Bulgarien. Diese Krise der Hohen Pforte ebnete den Weg zum Verlust Bosnien-Herzegowinas 1878.

Unter dem neuen Sultan erreichten die Reformen des Osmanischen Reiches ihren Höhepunkt. Bereits im ersten Jahr seiner Herrschaft wurde eine Verfassung verabschiedete und die ersten Parlamentswahlen durchgeführt. Der Sultans verlor dadurch jedoch kaum an Macht. Er konnte die Verfassung in Krisensituationen aufheben und den Ausnahmezustand ausrufen. Der Sultan mußte sich nicht für sein Handeln rechtfertigen und konnte weiterhin Gesetze per Dekret verabschieden. Somit wurde das Osmanische Reich trotz Verfassung nicht in eine konstitutionelle Monarchie umgewandelt.

In der Verfassung wurden alle Bürger des Reiches unabhängig von ihrer Religion gleichgestellt. Somit beendete die Verfassung die formale Benachteiligung von Nicht-Muslimen. Der Islam blieb jedoch Staatsreligion und der Sultan war nach wie vor Kalif und somit das Oberhaupt des Islam. Die Millets blieben auch erhalten, ihnen wurde lediglich eine interne Säkularisierung vorgeschrieben.12

Der russisch-türkische Krieg 1877 zeigte die militärische Schwäche des Osmanischen Reiches. Die russische Armee konnte trotz schwerer Verlust bis in die unmittelbare Nähe von Istanbul ziehen. Erst dort kam es zu einem Waffenstillstand zwischen der Hohen Pforte und Rußland. Der russische Plan zur Errichtung eines großbulgarischen Staates schien sich im ersten Friedensvertrag von San Stefano 1878 zu erfüllen. Den anderen europäischen Großmächte gelang es jedoch diesen Plan im Rahmen eines eigens einberufenen Kongresses in Berlin zu vereiteln. Bulgarien erhielt ein deutlich kleineres Territorium und unterstand formal weiterhin dem Osmanischen Reich. Gleichzeitig verlor das Osmanische Reich den Einfluß über weite Teile Südosteuropas: Bosnien-Herzegowina und das Sandžak Novi Pazar (südlich von Bosnien, zwischen Montenegro und Serbien) kamen unter die Verwaltung Österreich-Ungarns (vgl. Kapitel 2.2.1.), Serbien, Montenegro und Rumänien erhielten ihre formale Unabhängigkeit. Ostrumelien erhielt innere Autonomie und schloß sich nur 7 Jahre später Bulgarien an. Die europäische Territorien unter osmanischer Herrschaft reduzierten sich dementsprechend auf Thrakien, Mazedonien und die albanischen Provinzen. Bald darauf verlor das Reich ein Teil Armeniens an Rußland, Tunesien an Frankreich, Ägypten und Zypern an Großbritannien. Die Niederlage im russisch-türkischen Krieg hatte auch Folgen für die Reformen. So löste der Sultan das Parlament auf, da es die Kriegsführung in Folge der Niederlage kritisiert hatte. Der Sultan führte die Reformen

11 Zum Staatsbankrott s. Josef Matuz, Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte

(Darmstadt 1985) 244-248. 12 Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 166-178; Matuz, Das

Osmanische Reich, 232-238.

10

jedoch fort und baute die Verwaltung nun vollständig nach europäischem Vorbild um und ersetzt die alten Institutionen durch Ministerien.13

Die Jungtürken

Die Tanzimat Reformen bildeten die Vorläufer für die Jungtürken-Bewegung, die mit Ende des 19. Jahrhunderts entstand. Die Jungtürken entstammten meist dem Militär. 1889 gründeten Studenten Militärakademie ein Geheimkomitee mit dem Namen „Einheit oder Fortschritt“, der offizielle Name der Jungtürken. Zentrum der Jungtürken war Saloniki und die osmanischen Gebiete auf dem Balkan. Sie setzten sich für eine türkische Identität ein und versucht das Osmanische Reich in einen zentralistischen Staat zu verwandeln. Ihnen gingen die Tanzimat-Reformen nicht weit genug. Deshalb standen sie in Opposition zum Sultan. Die Ziele der Jungtürken stießen bei den übrigen Religionsgruppen auf Widerstand.14 Die Bedeutung dieses Widerstandes wird deutlich, wenn man sich den Anteil der nicht-türkischen Bevölkerung vergegenwärtigt. 1884 lebten nur 9,8 Millionen Einwohner des Osmanischen Reiches in Anatolien. 4,8 Million waren auf dem Balkan Zuhause, in den arabischen Provinzen lebten weitere 4,4 Millionen Einwohner. Die Bevölkerung des Reiches bestand zwischen 1881 und 1893 aus ca. 73 % Muslimen und 23 % Christen.15 Zu Anfang arbeiteten sie mit den Christen gegen die absolutistische Herrschaft Abdulhamit II. zusammen, die Christen konnten jedoch der zentralistischen Linie der Jungtürken nicht folgen. Der Versuch eine einheitliche türkisch-osmanische Identität zu schaffen stieß nicht nur bei den Christen auf Widerstand. Viele Araber lehnten diesen Versuch der Assimilierung ab.16

1908 kam es zu der Revolution der Jungtürken, die Stanford Shaw als eines der merkwürdigsten Ereignisse der Geschichte bezeichnet. Die Jungtürken strebten zwar eine Machtübernahme durch eine Revolution an, die 1908 stattfindende Revolution war jedoch nicht geplant sondern eher ein spontaner Aufstand. Grund für die Revolution war die schlechte wirtschaftliche Lage, insbesondere im europäischen Teil des Osmanischen Reiches. Während die europäischen Großmächte eine Stärkung des Osmanischen Reiches durch die Machtübernahme der Jungtürken ab 1908 vermuteten, bewirkte die Revolution das Gegenteil. Diese Sorge der Großmächte führte unter anderem zur Annexion Bosniens 1908, da Österreich-Ungarn einen erneuten Anspruch des Osmanischen Reiches auf die Provinz befürchtete. Die türkische Orientierung der Jungtürken stärkte jedoch in der arabischen Welt die Abkehr vom Osmanischen Reich, hin zu panislamischen oder panarabischen Bewegungen. Den bosnischen Muslime wurde hingegen deutlich, daß eine Protektion durch die Hohe Pforte ausgeschlossen

13 Ebd., 182-195, 212 f.; Georges Castellan, Histoire des Balkans. XIVe-XXe siècle (Paris 1991) 315-

321. 14 Der Name stammt von einem Maroniten, Hali Ganim, der im französischen Exil ein Zeitung namens

„La Jeune Turquie“ publizierte. Matuz, Das Osmanische Reich, 249-251. 15 Da die Volkszählungen und anderen Erfassungen der Bevölkerung sehr ungenau waren und stets

nach Religionszugehörigkeit, nicht nach Nation, klassifiziert wurden, läßt sich nur schwer bestimmen, wieviele Einwohner des Osmanischen Reches keine Türken waren. s. Donald Quataert, The Age of Reforms, 1812-1914, in: Hadil Inalcik, Donald Quataert (Hg.) An Economic and Social History of the Ottomon Empire, 1300-1914 (Cambridge 1994) 779-782.

16 Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 255.

11

blieb.17 Die Entwicklung des Libanon, insbesondere während des 1. Weltkrieges, wurde direkt von den Jungtüren betroffen.

Die Jungtürken setzten mit ihrer Machtübernahme die Verfassung von 1876 wieder in Kraft. Sultan Abdulhamit nützte die Annexion Bosniens durch Österreich-Ungarn als Vorwand um einen Versuch zu unternehmen die Jungtürken zu entmachten. Die militärische Stärke der Jungtürken führte jedoch zur Absetzung des Sultan. Sein Bruder Mehmet V. (1909-1918) wurde sein Nachfolger. Obwohl „Einheit oder Fortschritt“ zwar die Machtbefugnisse des Sultans beschneiden konnte, gelang es nicht, den Staat grundlegend zu reformieren. Die Aufstände in Albanien 1910-1911 und der erste Balkankrieg 1912 schwächte die Macht der Jungtürken und des Osmanischen Reiches weiter.18

2.1.2 Die Geschichte Bosniens im Osmanischen Reich

In den ca. 400 Jahren osmanischer Herrschaft bildeten sich die bis in die Gegenwart sichtbaren Eigenarten Bosniens hervor. Bosnien war, wie auch der restliche Balkan, eine stark landwirtschaftlich geprägte Gegend, der durch die osmanische Herrschaft eine urbane Struktur aufgelegt wurde. Eine Neuerung bildet die klare Hierarchie, die allen ihren Platz zuweist und auch den untersten Schichten Schutz gewährt. Darin besteht ein Fortschritt zur teils willkürlichen Herrschaft der mittelalterlichen Reiche Südosteuropas. Allerdings stellt das Osmanische Reich auf dem Balkan nicht eine völlig neue Herrschaftsform dar, da es in vielen Bereichen auf byzantinistische Traditionen zurückgreift.19

Bei dem Niedergang der osmanischen Herrschaft in Bosnien seit dem 18. Jahrhundert spielten zwei Faktoren eine Rolle. Erstens identifizierte sich die christliche Bevölkerung identifizierte immer weniger mit dem Reich. In der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen die ersten Nationalbewegung in Südosteuropa, die sich gegen die Hohe Pforte richteten. Für Bosnien ist hierbei der serbische Nationalismus von Bedeutung. Die bosnische Bevölkerung wurde jedoch erst spät von der kroatischen und serbischen Nationalbewegung erfaßt. Weiterhin riefen die Reformversuchen im 19. Jahrhundert zunehmend den Widerstand muslimischer Großgrundbesitzern hervor. Schließlich beeinflußte das zunehmende Interesse der europäischen Großmächte an Gebieten der Hohen Pforte die Entwicklung des Staates nachteilig.20

Reformversuche

Die Tanzimat Reformen hatten in Bosnien besondere Auswirkungen. Im Zentrum der Reformen stand die Abschaffung der Janitscharen, des Elitekorps des Osmanischen Reiches. Dieses Heer entsprach nicht mehr der modernen Kriegsführung und hatte sich zu einem korrupten Apparat außerhalb der direkten Kontrolle der Hohen Pforte entwickelt. Viele Janitscharen gehörten den bosnischen Großgrundbesitzern (Begs) an. Die Abschaffung der Janitscharen 1826 führte zu einer Revolte der Janitscharen in Istanbul, die nur aufgrund der guten Vorbereitung des Sultans niedergeschlagen werden

17 Ebd., 266 f., 273-277; François Georgeon, Le dernier sursaut (1878-1908) in: Robert Mantran (Hg.)

Histoire de l'Empire Ottoman (Paris 1989) 569-576. 18 Matuz, Das Osmanische Reich, 251-256. 19 Hierzu s. Nicoară Beldiceanu, L'organisation de l'Empire ottoman (XIVe-XVe siècles) in: Robert

Mantran (Hg.) Histoire de l'Empire Ottoman (Paris 1989) 117-138. 20 Francine Friedman, The Bosnian Muslims. Denial of a Nation (Boulder, Col. 1996) 32 f.

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konnte.21 Der Widerstand der bosnischen Janitscharen konnte erst durch eine Strafexpedition 1827 gebrochen werden.22

In Bosnien standen die muslimischen Begs an der Spitze der lokalen Hierarchie. Sie besaßen die Ländereien (Chiftliks) auf denen christliche Leibeigene (Kmeten) arbeiteten (zur Struktur der Landwirtschaft vgl. Kapitel 2.2.1.). Als Reaktion auf die Entfremdung von der Zentralverwaltung stellten die Begs zunehmend Privatarmeen auf, die nicht nur gegen die Kmeten sondern auch gegen die Hohe Pforte eingesetzt wurden. So kam es zwischen 1820 und 1840 zu insgesamt vier Aufständen der bosnischen Begs. Auch viele christliche Geistliche lehnten die Reformen ab, da sie um ihre privilegierten Positionen innerhalb des orthodoxen Millets fürchteten.23

Die osmanischen Reformen konnten erst sehr spät in Bosnien umgesetzt werden. Erst dem Gouverneur Ömer Lüfti Paşa (1860-61, ein ehemaliger österreichischer Offizier aus Kroatien) gelang es, die feudalen Strukturen zu überwinden und die Reformen umzusetzen. Unter ihm wurde auch die Hauptstadt von Travnik nach Sarajevo verlegt. Sein Nachfolger Topal Osman Paşa (1861-1869) führte eine Verwaltungsreform durch und schuf einen Rat aus den Vertretern der größten Konfessionen Bosniens. Er richtete säkulare Schulen ein und verbesserte die Infrastruktur.24

Frühe *ationalbewegungen

Die kroatischen Franziskaner in Bosnien spielten eine große Rolle bei der Erziehung und wurden zu einem der frühen Träger der kroatischen Nationalbewegung in Bosnien. Unter der Serben Bosniens nahm die serbisch-orthodoxe Kirche eine ähnliche Rolle ein. So gab es um 1860 380 katholische und über 400 orthodoxe Priester in Bosnien. Das Schulwesen der Christen, ein Schlüssel zur nationalen Entwicklung, lag ebenfalls unter der Kontrolle der beiden Kirchen. So unterstanden der katholischen Kirche um 1860 27 Grundschulen und Gymnasien in den größeren Städten, während die orthodoxe Kirche zehn Jahre später zwischen 28 und 57 Grundschulen in Bosnien betrieb.25

Die Muslime Bosniens waren von zwei gegensätzlichen Identitäten geprägt: Einerseits teilten sie den Glauben mit der osmanischen Staatsreligion, andererseits vereinte sie die slawische Herkunft mit Kroaten und Serben. So wurden die Muslime selbst in Istanbul als Bošnjaci (Bosniaken) oder als Potur (islamisierte lokale Bevölkerung) bezeichnet. Lediglich die christliche Bevölkerung Bosniens und gelegentlich auch die Muslime selber bezeichneten sich als Turci, um von der christlichen Bevölkerung unterschieden zu werden. Während Serben und Kroaten im 19. Jahrhundert in Bosnien bereits eine rudimentäre nationale Identifikation entwickelten, gab es unter der muslimischen Bevölkerung noch kaum eine ethnischer oder nationale Identität.26

Das Ende osmanischer Herrschaft

21 Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 19-21. 22 Noel Malcolm, Bosnia: A Short History (London 1994) 120 f. 23 Friedman, The Bosnian Muslims, 34-37. 24 Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 149 f. Zur administrativen

Gliederung Bosniens im Osmanischen Reich s. Andereas Birke, Die Provinzen des Osmanischen Reiches (=Beihefte zum Tübinger Atlas des Vorderen Orients Reihe B 13, Wiesbaden 1976) 44-47.

25 Malcolm, Bosnia, 126. 26 Friedman, The Bosnian Muslims, 43, 46; Smail Balić, Das Unbekannte Bosnien. Europas Brücke

zur islamischen Welt (=Kölner Veröffentlichung zur Religionsgeschichte 23, Köln/Weimar/Wien 1992) 4, 36-38.

13

Das Ende osmanischer Herrschaft über Bosnien-Herzegowina läßt sich auf interne und externe Faktoren zurückführen. So entstand durch die zaghafte Ausbreitung der Marktwirtschaft im 18. Jahrhundert eine neue soziale Schicht unter der nicht-muslimischen Bevölkerung, die die Bauern zu Revolten gegen die Hohe Pforte anführte. Die Reformversuche des Osmanischen Reiches bestärkten lediglich diese rudimentären Nationalbewegungen. Der Bau einer orthodoxen Kirche in Sarajevo wurde ein Kristallisationspunkt des Konflikts zwischen Muslimen und Christen. So herrschte Streit darüber, ob der Kirchturm höher als die Minarette der Begova Moschee sein dürften und über die Glocken der Kirche, die in den meisten osmanischen Städten verboten waren. Der osmanische Gouverneur mußte oft in Auseinandersetzungen wie dieser schlichten.27 Nach einer schlechten Ernte 1874 kam es in der Herzegowina zu einem Aufstand der Bauern gegen die Steuereintreiber. Auch wenn die Mehrheit der rebellierenden Bauern Christen waren, stand die wirtschaftliche Not und nicht religiösen Forderungen im Zentrum des Aufstandes. Der Aufstand breitete sich schnell in andere Teile Bosniens aus.

Auf der anderen Seite spielten externe Faktoren eine nicht zu vernachlässigende Rolle. So gelangten Waffenlieferungen durch Montenegro, Serbian und Ungarn an die Aufständischen.28 Bosnien stellte wegen seiner militärischen Instabilität im Hinterland der dalmatinischen Küste für Österreich-Ungarn eine Gefahr dar. So weißt Donia darauf hin, daß es bereits seit 1856 österreichische Pläne gab, Bosnien zu annektieren. Die Vereinigung Deutschlands 1870 verschloß der k.u.k Monarchie eine weitere Expansion gen Westen, so daß der Balkan als einziges Gebiet zur weiteren Ausbreitung verblieb.29 Zugleich richtete der autonome serbische Staat sein Interesse auf Gebiete mit serbischer Bevölkerung. So formulierte der serbische Innenminister Ilija Grašanin 1844 das Expansionsprojekt „*ačertanije“ (Plan, Entwurf). In diesem beschrieb er unter anderem einen Plan zur Mobilisierung der serbischen Bevölkerung und zur Vereinnahmung Bosniens. Im Juli 1877 versuchten Serbien und Montenegro diesen Plan umzusetzen. Der Angriff schlug jedoch weitgehend fehl und Serbien konnte nur durch russische Intervention von einer osmanischen Besetzung bewahrt werden.30 Der direkte Auslöser für das Ende der osmanischen Herrschaft über Bosnien war der Krieg zwischen Rußland und der Türkei und der folgende Vertrag von San Stefano (vgl. Kapitel 2.2.1).

2.1.3. Die Geschichte des Libanon im Osmanischen Reich

Im Zentrum der historischen Entwicklung des Libanon steht der Mont Liban. Mont Liban oder der kleine Libanon entsprach einer Bergkette, die entlang des Mittelmeeres liegt. Dieses Kerngebiet des Libanon beginnt hinter Tripoli im Norden und zieht sich entlang der Küste bis Sidon. In diesem Gebiet dominierten zwei Konfessionen: Maroniten und Drusen (vgl. Tabelle 1). Beide Religion umfaßten nur wenige Mitglieder und siedelten sich in der Bergregion des Mont Liban an, um Verfolgungen zu entgehen.

Die maronitische Kirche geht auf den Mönch Maron zurück, der die Maroniten am Orontes gründete. Um der schnellen Ausbreitung des Islam zu entgehen, flohen die Maroniten im 7. Jahrhundert von Nordsyrien in das Libanongebirge. Durch die

27 Malcolm, Bosnia, 131. 28 Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 158 f. 29 Robert J. Donia, Islam under the Double Eagle: The Muslims of Bosnia and Hercegovina, 1878-

1914 (New York 1981) 8 f. 30 Malcolm, Bosnia, 127, 133.

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Kreuzzüge kamen sie in Kontakt mit Europa. Dies führte im 11. Jahrhundert zu einer Unierung mit der katholischen Kirche und zu engen Beziehungen mit Frankreich.31

Die Religion der Drusen entstand 1015 durch Muhammed ibn Ismail Daraze als Abspaltung der Ismailiten, ein Zweig des schiitischen Islam. Die Selbstbezeichnung ist Muwahhidun (Unitaristen). In einigen Glaubenselementen geht die Religion jedoch auf vorislamische Sekten im Mittelmeerraum zurück. Kurz nach der Gründung wurde ein weiterer Übertritt zur Religion untersagt. Seitdem kann niemand mehr der Religion beitreten. Die Drusen trennen sich auf religiöser Ebene in eine Gruppe der Elite ('uqqal), die als einzige in den Glauben völlig eingeweiht sind und jene Gläubigen (juhhal), die nur teilweise über das Drusentum unterrichtet sind. Von den anderen islamischen Glaubensrichtungen wurden die Drusen lange Zeit als Ketzer behandelt. Heute werden sie von diesen nicht als Muslime anerkannt. Grund dafür ist die Ablehnung der „fünf Säulen“ des Islam32 durch die Drusen. Im Drusentum finden auch christliche Propheten, sowie griechische Philosophen, wie Plato, Anerkennung.33 Die anderen Konfessionen, sowie Sunniten, Schiiten und christliche Gruppen, spielten erst in der späteren Entwicklung des Libanon eine größere Rolle.

Die osmanische Herrschaft beließ den Libanon weitgehende Autonomie. Der lokale Herrscher war ein Emir, dessen bekanntester, Fakhraddine II., am Anfang des 17. Jahrhundert über ein Gebiet in den Grenzen des heutigen Libanon regierte. Ab 1778 war der Emir stets ein Maronit. Die Autonomie führte zu einer religiösen Toleranz, die im Nahen Osten unbekannt war.34

Die osmanische Herrschaft über das Gebiet des heutigen Libanon war von Brüchen und Intermezzos durch andere Machthaber geprägt. Während eine kleine griechische Flotte 1826 erfolglos versuchte Beirut einzunehmen, gelang es dem Sohn des ägyptischen Herrschers Muhammad Ali zwischen 1831 und 1839 den Libanon zum dominieren. Die Kontrolle über Syrien, Libanon und Palästina wurde vom Sultan anerkannt. Aufstände und die Opposition der europäischen Großmächte, abgesehen von Frankreich bereiteten jedoch der ägyptischen Herrschaft über den Libanon ein Ende.35 Die kurze ägyptische Herrschaft brachte dem Libanon einen Modernisierungsschub: Kleidervorschriften für Christen und Juden wurden aufgehoben, konsultative Räte wurden eingerichtet und in Damaskus und Aleppo eröffnete Großbritannien ein Konsulat.36 Erstmals wurden die Christen Muslimen weitgehend gleichgestellt. So wurden die Steuern angeglichen und Christen in die Armee eingezogen. Diese soziale und politische Aufwertung brachte Konvertierungen zum maronitischen Christentum mit sich. Die Christen verbündeten sich trotzdem mit den Drusen gegen die ägyptische Fremdherrschaft. Nur dank

31 Helga Anschütz, Paul Harb, Christen im Vorderen Orient, Kirchen, Ursprünge, Verbreitung. Eine

Dokumentation (=Aktueller Informationsdienst Moderner Orient Sondernr. 10, Hamburg 1985) 61-65.

32 Fasten während Ramadan, Pilgerfahrt nach Mekka, fünf Gebete pro Tag, Almosen, Glaubensbekenntnis.

33 Zum Glauben der Drusen s. Cyril Glassé, The Concise Encyclopedia of Islam (San Francisco 1989) 103 f.; Najla M. Abu-Izzedine, The Druzes (Leiden 1984).

34 Charles Issawi, The Historical Background of Lebanese Emigration, 1800-1914, in: Albert Hourani, The Lebanese on the World: A Century of Emigration (London 1992) 15 f.

35 Robert Mantran, Les débuts de la Question d'Orient (1777-1839) in: Robert Mantran (Hg.) Histoire de l'Empire Ottoman (Paris 1989) 447 f.

36 Issawi, The Historical Background of Lebanese Emigration, 14, 18.

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europäischer Unterstützung konnten sich die Aufständischen durchsetzen und der Mont Liban wurde erneut zu einem autonomen Teil des osmanischen Reiches.37

Zwischen 1840 und 1867 war der Libanon zwischen drei osmanischen Vilayets (Provinzen) aufgeteilt. So gehörte der Norden zum Vilayet Tripoli, die Bekaa-Ebene stand unter der Administration von Damaskus und der Süden wurde von Sidon aus verwaltet. In der Realität entzog sich ein Großteil des heutigen Libanon den Vilayets und wurde lokal verwaltet.38

Unruhen im Mont Liban

Im Mont Liban kam es in dieser Zeit zu mehreren Kämpfen (1841, 1845, 1860) zwischen Drusen und Christen. Gründe für die Auseinandersetzungen war das Bevölkerungswachstum der Christen, verbunden mit einem Prestigezuwachs, einer zunehmenden Einmischung und Instrumentalisierung der Bevölkerungsgruppen durch Großbritannien und Frankreich und die direkte Verwaltung und Zentralisierung durch Sultan Mahmud II.. Malcolm Kerr weist darauf hin, daß bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts die Auseinandersetzungen im Libanon feudaler39 Natur waren und durch die Großfamilien geprägt wurden, während in den folgenden Jahren religiöse und konfessionelle Spannungen zunahmen. Diese Konflikten besaßen jedoch oftmals ökonomische Ursachen. So führten Spannungen zwischen den überwiegend christlichen Großgrundbesitzern und den meist drusischen Bauern zu etlichen Aufständen. 40

1833 1860

Mont Liban Mont Liban Grand Liban

Maroniten 130.000 60,5 % 172.500 63,9 % 208.108 42,7 %

Orthodoxe 10.000 4,7 % 27.100 10,0 % 33.475 6,9 %

Katholiken 3.000 1,4 % 20.400 7,6 % 68.040 13,4 %

Drusen 65.000 30,2 % 28.560 10,6 % 44.160 9,1 %

Sunniten 2.500 1,2 % 7.795 2,9 % 76.565 15,7 %

Schiiten 3.000 1,4 % 13.200 4,9 % 55.100 11,3 %

Gesamt 215.000 269.980 487.600

Tabelle 1: Bevölkerungschätzungen des Mont Liban und des Grand Liban41

Die Beziehungen zwischen Maroniten und Drusen galten bis etwa 1840 als friedlich. Beide Konfessionen besaßen eine gemeinsame Politik gegenüber der Hohen Pforte. Unter der Verwaltung vom letzten Shihabib (Verwalter des Mont Liban) Bashir III. kommt es zu ersten Kämpfen zwischen Christen und Drusen, infolgedessen fliehen etliche Maroniten nach Beirut, wo sie von den osmanischen Truppen, die die Ruhe wiederherstellen sollten, angegriffen und ausgeraubt wurden. Ein Protestnote 37 Malcolm Kerr, Lebanon in the last years of feudalism, 1840-1860 (Beirut 1959) 2. 38 Zur administrativen Gliederung des Libanon im Osmanischen Reich s. Birke, Die Provinzen des

Osmanischischen Reiches, 242-251. 39 Nur manche historische Kategorien europäischer Prägung lassen sich auch auf den Nahen Osten

übertragen, so gab es nur im Libanon eine soziale Stuktur im 19. Jahrhundert, die sich als feudal beschreiben ließe. hierzu siehe Kerr, Lebanon in the last years of feudalism.

40 Ebd., 3. 41 Die Schätzung 1860 stammt von der französischen Armee, Youssef Courbage, Philippe Fargues, La

Situation Démographique au Liban. Analyse des Données (Beirut 1974) 11.

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Frankreich, Großbritanniens und Rußlands an den Paşa beschuldigte die osmanische Verwaltung der Komplizenschaft mit den Drusen. Der Konflikt war jedoch sehr viel harmloser als spätere Auseinandersetzungen und forderte nur etwa 300 Opfer, meist Drusen. Als Folge der Auseinandersetzung wurde der Libanon direkter osmanischer Kontrolle unterstellt und erstmals wurde ein Nichtaraber42 Gouverneur des Gebiets. Der Libanon wurde daraufhin in zwei Gebiete aufgeteilt. Der Norden fiel der Verwaltung eines christlichen Untergouverneurs zu, während der Süden von einem Drusen verwaltet wurde, die Grenze bildete die Straße von Beirut nach Damaskus. Im Norden lebten etwa 74.000 Maroniten, 25.000 griechisch-katholische Einwohner, 23.000 Orthodoxe und 10.150 Drusen, während im Süden 25.450 Drusen, 17.350 Maroniten, 5.200 Orthodoxe und 15.590 unierte Christen lebten.

Somit war die Bevölkerung nach wie vor gemischt, wenn es auch zu einer gewissen Konzentration auf beiden Seiten gekommen war. Im Süden bildeten jedoch alle christlichen Gruppen zusammen eine Mehrheit gegenüber den Drusen. Die französische Regierung protestierte gegen die Aufteilung und forderte eine gemeinsame Verwaltung. Auch der osmanische Außenminister lehnte die Aufteilung ab. Er sah sie als Provokation für einen Bürgerkrieg.43 Tatsächlich kam es 1845 zu ersten Auseinandersetzungen, nachdem Christen 14 drusische Dörfer niedergebrannt hatten, stießen sie mit osmanischen Einheiten zusammen.

Während die Drusen als Bevölkerungsgruppe relativ geschlossen blieb, fand unter der maronitischen Bevölkerung aufgrund ihres wirtschaftlichen Aufschwungs eine soziale Differenzierung statt. In Folge kam es zu sozialen Konflikten. So kam es 1858 zu eine Bauernrevolte, in dessen Folge sich der Anführer Shahin zum Diktator über ein Bauernland erklärte. Der Aufstand wurde von der Kirche unterstützt, die durch die Großgrundbesitzer zuvor unterdrückt worden war.

Der Krieg 1860

Schließlich eskalierten die Spannungen zwischen Drusen und Christen zu den Massakern von 1860. Die größten Kämpfe fanden im Süden statt, wo Maroniten und Drusen am engsten nebeneinander wohnten, zuerst griff die osmanische Armee nicht ein. Später ermordeten Armee-Einheiten jedoch Christen, die sich unter deren Schutz gestellt hatten. Insgesamt starben etwa 12.000 Menschen, die Ausbreitung des Konflikts nach Damaskus forderte dort weitere 10.000 Opfer unter der christlichen Bevölkerung.44

Die Eskalation der Kämpfe führte zu einem Beschluß der europäischen Großmächte (Frankreich, Großbritannien, Preußen, Rußland und Österreich), mit Truppen zu intervenieren. Bevor Frankreich als einziges der fünf Länder 7.000 Soldaten nach Beirut schicken konnte, sorgte die osmanische Verwaltung unter Außenminister Fu‘ad für Ruhe und bestrafte die osmanischen Beamten und Einheiten, die mit den Drusen kollaboriert hatten oder inaktiv geblieben waren. Eine internationale Kommission sollte die Schuldigen finden und eine Lösung für das Gebiet erarbeiten. Während Österreich

42 Ein Ungar mit dem Namen ‘Umar Pasha al-*amsawi (Der Österreicher). 43 Issawi, The Historical Background of Lebanese Emigration, 20. 44 Bis heute ist Hauptschuld an dem Konflikt zwischen Maroniten und Drusen umstritten, vgl. die

Position der Drusen in Najib Alamuddin, Turmoil. The Druzes, Lebanon and the Arab-Israeli Conflict (London 1993) 128-134 und die Position der Maroniten in Jad Hatem, The critical role of the Maronites, International Maronite Congress (Los Angeles, Ca. 23-26.6.1994) http://www.primenet.com/ ~maronet/ga_papers/hatem.html.

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und Preußen die osmanische Verteidigung der Drusen unterstützten, trat neben Frankreich auch Rußland für die Christen ein.45

Die Autonomie des Libanon in Folge dieser Unruhen leitet eine neue Phase in der Entwicklung des Gebiets ein. Der Mont Liban unterstand weiterhin dem Osmanischen Reich, genoß jedoch eine Autonomie, die ihm eine unabhängige und relativ ruhige Entwicklung bis zum 1. Weltkrieg ermöglichte (vgl. Kapitel 2.2.2.).

2.1.3 Zusammenfassung

Das 19. Jahrhundert war von Krisen und Reformversuchen des Osmanischen Reiches geprägt. Bosnien und der Libanon bereiteten dem Reich größere Krisen. Sie führten dazu, daß Bosnien am Ende des Jahrhunderts zwar noch unter osmanischer Souveränität stand, jedoch de facto bereits Bestandteil Österreich-Ungarn war. Der Libanon blieb zwar stärker im Einflußbereich des Osmanischen Reiches, wurde jedoch zum Zentrum europäischen Einflusses im Nahen Osten.

Die erwähnten Krisen waren zum Teil interner Natur und wurden unter der Bevölkerung des Libanon und Bosniens ausgetragen. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts kam es zwischen den Drusen und Christen, insbesondere Maroniten, des Libanons zu kriegerischen Auseinandersetzungen. In Bosnien bestanden im 19. Jahrhundert zwar durchaus Spannungen zwischen den Religionsgemeinschaften, doch führten diese nicht zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die Ursachen für den Aufstand in der Herzegowina 1874 war stärker als im Libanon wirtschaftlicher Natur.

Der Libanon war stärker ausländischem Einfluß ausgesetzt. Auch wenn es ein Engagement für Bosnien auf serbischer und österreichischer Seite vor 1878 gab, war das Ausmaß sehr viel geringer als der vergleichbare französische Einfluß im Libanon. Im Libanon fand eine rege missionarische Aktivität statt (vgl. Kapitel 2.2.2.). Die Missionen kontrollierten das Schul- und Gesundheitswesen. Weiterhin erfuhren die Konfessionen des Libanon Unterstützung von den verschiedenen Großmächten. Frankreich hatte bereits seit der frühen Neuzeit enge Beziehungen zu den katholischen Christen in der Levante. 1648 gab Ludwig XIV. den Maroniten ein Schutzversprechen. Dieser Anspruch wurde in einer „Kapitulation“ (Vertrag) zwischen dem Osmanischen Reich und Frankreich von 1673 festgeschrieben. Dieser Schutz Frankreichs erstreckte sich auf alle Katholiken in der Levante.46 Frankreich nahm Das Recht jedoch erst seit dem 19. Jahrhundert, mit zunehmendem kolonialem Interesse, in vollem Umfang wahr. Großbritannien setzte sich hingegen für die Drusen ein. Durch die unterschiedlichen Engagements der europäischen Großmächte wurden die konfessionellen Differenzen weiter zugespitzt.

Rußland erhob den Anspruch alle orthodoxen Christen des osmanischen Reiches zu schützen. Nach einem verlorenen Krieg gegen Rußland stimmte das Osmanische Reich 1774 der Errichtung einer orthodoxen Kirche in Istanbul zu. Katharina II. interpretierte dieses Zugeständnis als Anerkennung der russischen Schutzmacht über alle orthodoxen Christen. Dieser Anspruch Rußland besaß jedoch kaum Einfluß auf die Orthodoxen im

45 Dies entsprach dem Schutzmachtsanspruch Rußlands über die orthodoxe Bevölkerung und

Frankreichs über die katholischen Christen des Osmanischen Reiches, vgl. Kapitel 2.1.3, Phillip K. Hitti, Lebanon in History (London 1962) 433-440.

46 Gilles Veinstein, Les provinces balkaniques (1606-1774) in: Robert Mantran (Hg.) Histoire de l'Empire Ottoman (Paris 1989) 319.

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Libanon. Rußland versuchte mit diesem Recht die Expansion auf dem Balkan zu legitimieren.47

Auf die Frage, weshalb sich außer Österreich-Ungarn keine andere europäische Großmacht in gleicher Weise in Bosnien engagiert hat, gibt es eine naheliegende Antwort: Im Gegensatz zum Libanon mit seiner Küste und dem Zugang zur restlichen arabischen Welt besaß Bosnien nie eine derart wichtige strategische Lage. Das Fehlen einer eigenen Küste (bis auf ca. 20 Kilometer bei Neum) und die geographische Umklammerung durch Kroatien beziehungsweise Österreich-Ungarn, gab und gibt Bosnien keine unter strategischen Gesichtspunkten wichtige Lage. Die gebirgige Topographie des Landes erschwerte zudem den Transport auf dem Landweg. So führen auch die wichtigsten Verkehrswege des Balkans an Bosnien vorbei.48

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß das Ende osmanischer Herrschaft in Bosnien und die Autonomie für den Libanon durch das Zusammenwirken der erwähnten internen und externen Faktoren bedingt wurde. Der Aufstand in der Herzegowina 1875 und die Kämpfe zwischen Drusen und Maroniten erleichterten bzw. begründeten eine Einmischung der europäischen Großmächte. In der Folgezeit kam es in beiden Gebieten erstmals zu einer größeren Modernisierung auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene. Weiterhin entstanden zwischen der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem Ende des 1. Weltkrieges erste politische Bewegungen und Parteien im Libanon und in Bosnien.

2.2. Bosnien unter der Verwaltung Österreich-Ungarn, der autonome Libanon

2.2.1. Bosnien-Herzegowina als Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie

Die Angliederung Bosniens an die österreichisch-ungarische Monarchie bildet eine Zäsur in der Geschichte der Provinz. Einerseits vollzog sich hierdurch ein Wechsel von der Herrschaft eines mittelalterlich geprägten Großreiches zu einem Vielvölkerstaat. Während erstmals alle Kroaten in einem Staat lebten, wenn auch durch Verwaltungsgrenzen getrennt, fand sich die muslimische Bevölkerung Bosniens erstmals in einem nicht-muslimischen Staat wieder. Die serbischen Einwohner Bosniens gelangten nicht, wie erhofft, zu Serbien, sondern zur Donaumonarchie. Damit entstand ein Auslöser für die zunehmenden Spannungen zwischen Serbien und Österreich-Ungarn.

Die Besetzung und Verwaltung Bosniens

Die Verwaltung Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn war ein Ergebnis des Berliner Kongresses von 1878 (vgl. Kapitel 2.1.1.). Ziel Österreich-Ungarns war es, den russischen Einfluß auf dem Balkan zurückzudrängen und den Status-Quo mit dem Osmanischen Reich zu erhalten. Somit dürfte die Verwaltung Bosniens in erster Linie eine Versuch gewesen sein, zu verhindern, daß Serbien und dadurch Rußland die Einflußsphäre nach Bosnien ausdehnt.49

Noch vor Abschluß des Berliner Kongresses wurde die bevorstehende Okkupation Bosniens durch Österreich-Ungarn bekanntgegeben. Diese Ankündigung führte zur Bewaffnung der muslimischen Bevölkerung und der Vorbereitung des Widerstandes. 47 Castellan, Histoire des Balkans, 201-203. 48 Karl Kaser, Südosteuropäische Geschichte und Geschichtswissenschaft (Wien/Köln 1990) 28-31. 49 Castellan, Histoire des Balkans, 347-350 und Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and

Modern Turkey, Bd. II, 187-191.

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Ende Juli 1878 proklamierte der Kaiser den österreichisch-ungarischen Einmarsch und unterstrich die Einwilligung des Sultan.50 Auch wenn die Zustimmung der Hohen Pforte widerwillig erfolgte, ging der größte Widerstand von der lokalen Bevölkerung und nicht vom Osmanischen Reich aus. Dementsprechend verlief die Besetzung, entgegen den Erwartungen der neuen Herrscher Bosniens, nicht konfliktfrei. So mußte die Monarchie ein Drittel ihrer mobilisierten Truppen in Bosnien einsetzen. Insgesamt standen 200.000 Soldaten Österreich-Ungarns 79.200 Aufständischen und 13.800 osmanischen Truppen gegenüber. Erst nach drei monatigen Kämpfen konnte Österreich-Ungarn die vollständige Kontrolle über Bosnien herstellen.51

In der Monarchie wurde der Anschluß Bosniens nicht nur begrüßt; so befürchteten insbesondere Ungarn und die Deutsch-Österreicher der Monarchie einen Machtverlust zugunsten der slawischen Bevölkerung. Weiterhin herrschte keine Einigkeit darüber, zu welcher Reichshälfte Bosnien gehören solle. Für Bosnien wurde schließlich eine Sonderregelung beschlossen, die eine Entscheidung zugunsten einer Reichshälfte vermied. Bosnien wurde somit vom Gemeinsamen Finanzministerium verwaltet. Da der Reichsrat eine finanzielle Unterstützung für den Aufbau Bosniens ablehnte, fehlten Geldmittel für die Verwaltung und zugleich entzog sich die Verwaltung der Provinz parlamentarischer Kontrolle. Donia zieht den Schluß, daß die Architekten der österreichisch-ungarischen Bosnienpolitik Beamte und nicht Politiker waren. Da das Budget, über das das k.u.k. Finanzministerium zu verwalten hatte, war verhältnismäßig gering, so daß sich schon balb das Ministerium vorrangig mit der Verwaltung Bosniens beschäftigte.52

Nach der Verwaltungsübernahme erkannte Österreich-Ungarn die religiöse Oberherrschaft des Sultans über die Muslime an, gestattete weiterhin die Benützung der osmanischen Währung und übernahm die wenigen osmanischen Verwaltungsbeamten.53 Der Einfluß des Osmanischen Reiches reduzierte sich jedoch drastisch in den Jahren der österreichisch-ungarischen Verwaltung.

Auch die Verwaltungseinteilung blieb gleich, nur die Namen änderten sich. So wurden aus den Sandžaks Kreise und Kazas, aus Kadiluks wurden Bezirke. Die Zahl der Beamten und Soldaten erhöhte sich jedoch dramatisch mit der österreichisch-ungarischen Machtübernahme. Während nur 120 osmanische Beamte Bosnien verwalteten, erhöhte sich die Zahl auf 9.533 im Jahr 1908. Im November 1881, zur Zeit von größeren Aufständen in der Herzegowina, standen zusätzlich 12.840 Soldaten in Bosnien und 4000 in der Herzegowina.

Offiziell galt in Bosnien Militärrecht, die osmanischen Gesetze galten jedoch fort, bis sie mit der Zeit durch neue österreichische Gesetze ersetzt wurden. Insbesondere die Sharia wurde weiter angewandt, in der religiöse Belange der Muslime geregelt

50 Austrian Proclamation on the Entrance of Austro-Hungarian Troops into Bosnia and the

Herzegovina, 28.7.1878, in: Snežana Trifunovska (Hg.) Yugoslavia through Documents. From its creation to its dissolution (Dordrecht/Boston/London 1994) 96-98

51 Martha M. Čupić-Amrein, Die Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in Bosnien-Herzegowina (1878-1914) (Bern/Frankfurt/New York/Paris 1987) 25-28.

52 Da die Finanzminister, die Bosnien verwalteten, Politiker waren und auch ihre Handeln veranworten mußten, ist die These Donia's zur fehlenden Demokratie nur teils glaubhaft, insbesondere nach 1908. Donia, Islam under the Double Eagle, 11.

53 Siehe Convention between Austria-Hungary and Turkey Respecting the Occupation and Administration by Austira-Hungary of the Provinces of Bosnia and Herzegowina, with Annex, Constantinople, 21.4.1879, in: Trifunovska (Hg.) Yugoslavia through Documents, 101-103.

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wurden.54 Ziel der österreichischen Politik war jedoch die Einführung des Rechtsstaats und einer geordneten Verwaltung.

Die zentrale Persönlichkeit der österreichisch-ungarischen Verwaltung war Kállay, der k.u.k. Finanzminister von 1882 bis 1903. Als Autor einer Geschichte Serbiens übernahm ein Experte Bosniens und der Region die Aufgabe der Verwaltung der Provinz. Kállay hoffte, mit einer effizienten Administration wirtschaftlichen Aufschwung und infolgedessen auch größere Unterstützung durch die lokale Bevölkerung zu sichern. Zugleich förderte Kállay das Bosniakentum (Bošnjaštvo) unter allen Einwohnern Bosniens, um irridentistischen Bestrebungen der Serben, aber auch der kroatischen Bevölkerung entgegenzuwirken. Ziel der Politik war es, ein Loyalität aller Nationen zu Bosnien zu schaffen und hierdurch Bosnien aus dem von Nationalbewegungen geprägten Umfeld herauszuhalten. Kállay führte auch die Bezeichnung Bosnaklar ein, um von dem bisherigen Begriff für die Muslime Bošnjaci zu unterscheiden. Unter der kroatischen und serbischen Bevölkerung jedoch stießen diese Maßnahmen auf wenig Erfolg. Teile der muslimischen Bevölkerung akzeptierten das Konzept. Die Bemühungen waren möglicherweise kontraproduktiv, da sich Moslems dem konservativen Islam zuwandten und sich durch diese Identitätsfindung stärker von den anderen beiden Nationen abgrenzen konnten. Mit dem Konzept des Bosniakentum war die Hoffnung verbunden, daß die Muslime zum Christentum konvertieren. Dieser Glaube basierte auf der Annahme, daß die Muslime nur aus Gründen materiellen Vorteils im 15. und 16. Jahrhundert zum Islam übergetreten seien. Dementsprechend müßte eine Umkehrung der Vorzeichen eine Rückkonvertierung bewirken. Diese Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht, unter österreichisch-ungarischer Herrschaft kam es kaum zu Konvertierungen. Man kann davon ausgehen, daß die Identität der drei Religionsgemeinschaften zu diesem Zeitpunkt bereits gefestigt war.

Auf Kállay‘s Tod 1903 folgte István Freiherr Burián von Rajecz, der zwischen 1903 und 1912 und gegen Ende des 1. Weltkrieges amtierte. Anders als Kállay bemühte er sich nicht um die Etablierung des Bošnjaštvo, sondern gestattete Kroaten und Serben ein stärkeres Besinnen auf die eigenen Nationszugehörigkeit. Als Ergebnis entstanden Nationalparteien.55

Die Agrarfrage und die wirtschaftliche und soziale Modernisierung

Die Landwirtschaft bestimmte die wirtschaftliche Struktur Bosniens. Bosnien war 1878 ein bäuerliches Gebiet, 87 % der Bevölkerung lebten von der Landwirtschaft. Die Besitzverhältnisse führten zur sogenannten „Agrarfrage“, die das politische Geschehen der österreichisch-ungarischen Verwaltung prägte. In der Blütezeit des Osmanischen Reiches bekamen die Soldaten und Beamten des Sultans Militärlehen zugewiesen. Die auf diesem Land ansässigen, in der Regel christlichen Bauern (Kmeten), hatten den Lehensinhaber durch Abgaben zu unterhalten. Im 16. und 17 Jahrhundert wurde diese 54 Die Sharia ist die Gesetzesammlung nach dem Koran und der Überlieferung (Sunna) und lokalen

Tradition. Die Sharia Bosniens folgte der Rechtsschule Hanafi, die im Osmanischen Reich angewandt wurde. hierzu s. John Alden William, Der Islam (Genf 1973) 115-119, 231-238. Aufgrund der verschiedenen in Kraft befindlichen Gesetze kam es öfters zu größerer Rechtsverwirrung, Malcolm, Bosnia, 138 f.

55 Zur Bošnjaštvo-Politik Kállays s. Smail Balić, Das Bosniakentum als nationales Bekenntnis, in: Österreichische Osthefte, Nr. 2/91, Jhrg. 33, 157; Aydin Babuna, Die Elite und die nationale Entwicklung der bosnischen Muslime. Mit besonderer Berücksichtigung der österreichisch-ungarischen Periode (Dissertation Wien 1994) 181-202.

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Lehen erblich. Die Güter (Ciftluk oder Agaluk) gehörten meist muslimischen Großgrundbesitzern (Begs oder Agas). Die Mehrheit der Kmeten waren orthodox, es gab jedoch auch katholische und muslimische Kmeten. Die Kmeten erhofften von der neuen Verwaltung die Abschaffung des Kmetentums und die Verteilung des Landes. Erst nach der Annexion widmet sich Österreich-Ungarn einer Reform der Landwirtschaft. Das lange Zögern läßt sich durch fehlendes Geld für Entschädigungen der Begs und Agas zurückführen. Weiterhin wollte die Monarchie nicht die muslimische Elite gegen sich aufbringen.56 Die Agrarfrage nahm zunehmend einen nationalen Charakter an. Da die Mehrheit der Begs Muslime und die Kmeten Großteils Serben waren, kam es zu Spannungen zwischen beiden Nationen. Die Mehrheit der Muslime waren jedoch Kleinbauern mit weniger als 50 Hektar Boden. (s. unten).

Während die Agrarfrage lange Zeit ungelöst blieb, kam es zu einer wirtschaftlichen und sozialen Modernisierung des Landes in anderen Bereichen. In der osmanischen Zeit war ein öffentliches Schulwesen fast inexistent. Die Unterrichtssprache war türkisch und richtete sich fast ausschließlich an die muslimische Bevölkerung. Die Fortschritte unter österreichisch-ungarischer Herrschaft waren groß. Im Vergleich zur restlichen Monarchie und anderen Balkanstaaten blieb das Schulwesen jedoch sehr rückständig. In Bosnien besuchten 1908 nur 15 Prozent der Kinder Alter eine Grundschule. Weiterhin gab es nur 12 höhere Schulen und keine Universität. Aus politischen Gründen war es Schülern verboten, eine Universität in slawischer Sprache zu besuchen. Die Zahl der Studenten aus Bosnien blieb somit klein. Erst nach der Annexion erhöhte sich die Zahl der Schulen, blieb jedoch weit hinter dem Durchschnitt der Monarchie und sogar Serbiens zurück. Am höchsten war die Zahl der katholischen Kinder in den Primärschulen. Doch auch unter den Katholiken stieg der Prozentsatz an Schulgängern in der entsprechenden Altersgruppe in der gesamten Zeit der Herrschaft Österreich-Ungarn nicht über 50 Prozent.

Das schlechte Ausbildungssystem hatte eine konstant hohe Analphabetenrate zur Folge. So konnten 1910 87,8 Prozent der bosnischen Bevölkerung weder lesen noch schreiben (Dalmatien: 62,7 %, Istrien 40,2 %). Der höchste Anteil lag bei den Muslimen mit über 90 Prozent.57

Der wirtschaftliche Aufbau des Landes, ein vorrangiges Ziel der Verwaltung Österreich-Ungarns, wurde nur teilweise erreicht. Die dafür notwendige Verbesserung der Infrastruktur scheiterte Großteils an dem Widerstand Ungarns. Weiterhin fehlte es an Kapitel zum Aufbau von Industrien und Infrastruktur. Lediglich der Abbau von Rohstoffen wurde in Bosnien recht erfolgreich betrieben. Am bedeutendsten war die Holzindustrie. Da es in der Provinz große Holzvorräte und billige Arbeitskräfte gab, konnte dieser Wirtschaftszweig eine zentrale Rolle in der bosnischen Wirtschaft einnehmen. Die inneren Unruhen trugen nicht zu einem günstigen wirtschaftlichen

56 Kurt Wessely, Die Wirtschaftliche Entwicklung von Bosnien-Herzegowina, in: Adam Wandruszka,

Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. I: Alois Brusatti (Hg.) Die wirtschaftliche Entwicklung (Wien 1973) 562-565 und Ferdinand Hauptmann, Die Mohammedaner in Bosnien-Herzegovina, in: Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch, Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. IV: Die Konfessionen (Wien 1985) 677 f.

57 Hierbei ist nicht zu vergessen, daß in religiösen Schulen meist Arabisch Unterrichtssprache war, so daß viele Kinder im Serbokroatischen Analphabeten waren, aber zumindest Arabisch lesen und schreiben konnten. Hauptmann, Die Mohammedaner in Bosnien-Herzegovina, 699 und Čupić-Amrein, Die Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in Bosnien-Herzegowina, 314-319.

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Klima bei und schreckten potentielle Investoren ab. Peter Sugar betont, daß der späte Zeitpunkt der politischen und sozialen Reformen, erst nach der Annexion, einen wirtschaftlichen Aufschwung verzögert hat. Peter Sugar kommt zum Schluß, daß Bosnien zu größeren sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen in der Lage gewesen wäre, als dies in dieser Zeit der Fall war. Er führt dies auf mangelndes Engagement und Fehler Österreich-Ungarns zurück. Zugleich gesteht er der österreichisch-ungarischen Zeit Fortschritte zu.58

Die *ationen Bosniens und die österreichisch-ungarische Verwaltung

In Bosnien entwickelten sich die Voraussetzungen für die Ausbreitung von Nationalbewegungen erst spät. So weist Mark Pinson darauf hin, daß 1866 die erste Druckerei öffnete und es um 1875 noch keinen Buchladen in Sarajevo gab.59 Auch waren die meisten Zeitungen aus den Nachbarländern, also nicht nur aus Serbien, sondern auch aus Kroatien, Slawonien und Dalmatien verboten. Selbst das von Kállay verfaßte Buch zur serbischen Geschichte war in Bosnien nicht zu erhalten. Diese Verbote sind als Versuch zu werten, die Nationalbewegungen der Umländer von Bosnien fernzuhalten.60

Lediglich die kroatische Bevölkerung hieß die österreichische Verwaltung willkommen, auch wenn sich ihre Hoffnung, mit Kroatien vereint zu werden, nicht erfüllte. Die politischen Aktivitäten der Kroaten in Bosnien wurden zu Anfang von Franziskanermönchen dominiert. Zunächst deckt sich ihre Position mit der liberalen Politik Strossmayers. Der Bischof von Djakovo, zu dessen Bistum bis 1878 auch Bosnien gehörte, strebte einen Ausgleich mit der Orthodoxie und der serbischen Bevölkerung innerhalb Österreich-Ungarns an. Er war ein Verfechter des Jugoslawismus und gründete die Jugoslawische Akademie. Bereits kurze Zeit nach dem Beginn österreichisch-ungarischer Verwaltung wandten sich die Franziskaner der Politik der Partei des Rechts zu. Diese war weniger an einem Ausgleich mit der serbischen Bevölkerung interessiert, als an einer Autonomie Kroatiens innerhalb Österreich-Ungarns. Die Loyalität zu Österreich-Ungarn und der Versuch der Partei des Rechts Bosnien an Kroatien anzunähern schreckte die anderen ethnischen Gruppen Bosniens ab. Dies führte zu einem politischen Bündnis zwischen Serben und Muslimen in Bosnien.1

Die Forderung kroatischer Politiker, Bosnien mit Kroatien zu vereinen, dominiert die gesamte Zeit österreischisch-ungarischer Herrschaft. So baten kroatischer Politiker 1906 bei Travnik in einer Petition an Kaiser Franz Joseph Bosnien an Kroatien anzuschließen. Nikola Mandić bildete 1907 die Hrvatska *arodna Zajednica (National-Kroatischer Verein, CNU), die sich bald zu einer Partei entwickelt. Neben ihr entstand die Hrvatska katolička udruga (Kroatisch-Katholische Gesellschaft, CCA). Beide strebten eine Union mit Kroatien an und erklärten die Muslime zu Kroaten islamischen Glaubens.61

58 Peter Sugar, Industrialization of Bosnia-Hercegovina, 1878-1918 (Seattle 1963) 193-220. 59 Marc Pinson, The Muslims of Bosnia-Herzegovina Under Austro-Hungarian Rule 1878-1918, in:

Mark Pinson (Hg.) The Muslims of Bosnia-Herzegovina. Their Development from the Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia (Cambridge, Ma 1993) 90.

60 Dušan T. Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina. History & Politics (Paris 1996) 66. 61 Friedman, The Bosnian Muslims, 61, 70-72.

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Die Serben in Bosnien forderten in erster Linie das Recht, die Führung der serbisch-orthodoxen Kirche unabhängig vom Kaiser zu bestimmen, die Eröffnung von serbischen Schulen und die Zulassung des kyrillischen Schrift. Der Versuch der Monarchie, die serbisch-orthodoxen Kirchen Bosniens dem Patriachat von Karlowitz zuzuordnen, stieß auf serbischen Widerstand. Somit blieb die serbisch-orthodoxe Kirche dem Patriachat in Istanbul unterstellt.62 Gerade die katholische Ausrichtung der Habsburgermonarchie wurde von der serbischen Bevölkerung mit Argwohn betrachtet. So fürchtete die serbische Nationalbewegung zunehmende Missionstätigkeit der katholischen Kirche zu Lasten der serbisch-orthodoxen Kirche. Der politischen Führung der bosnischen Serben gelang es jedoch nicht, von den Moslems in diesen Forderung unterstützt zu werden. Der Aufstand 1881-82 gegen die Einführung der Wehrpflicht in der Herzegowina wurde zu einem Großteil von Serben angeführt. Die folgende Repression der Kirche und Schulen konnte den serbischen Widerstand nur zeitweise brechen.63 1896 reiste eine serbische Delegation nach Wien und beklagte sich in einer Petition an den Kaiser über die Einschränkung der inneren Autonomie. Sowohl der k.u.k. Finanzminister Benjamin Kállay, als auch der Patriarch in Konstantinopel lehnten eine Änderung der orthodoxen Kirchenorganisation ab, weil sie darin eine Serbisierung befürchteten. In den folgenden Jahren herrschte Konfrontation zwischen den Behörden und den Metropoliten auf der einen sowie den gewählten Gemeindevorstehern auf der anderen Seite. 1901 legte die serbische Opposition dem Kaiser ein Memorandum vor, in dem sie die Landesregierung für die Zwietracht in der bosnischen Orthodoxie verantwortlich machte. Die Landesregierung wies das zurück und alles blieb beim Alten. Erst unter dem Finanzminister Stefan Burian von Rajecz kam es 1903 zu einer Einigung, und 1905 konnte ein neues Statut für die orthodoxen Gemeinden verkündet werden, dasden Gemeinden aber nur wenig mehr Mitspracherecht einräumte. Die Autonomiebewegung hat das nationale Bewußtsein unter den bosnischen Serben stark gefördert. Eine ähnlich Bewegung gab es 1899-1907 auch bei den Muslimen.64

In der Zeit österreich-ungarischer Verwaltung konnten sich serbische Zeitungen und Vereine gut entwickeln. So bestanden 1906 acht Zeitungen und Zeitschriften in kyrillischer Schrift. Die größte Zeitung war Srpska Rječ mit einer Auflage von 3.000 Exemplaren.

Vor der Annexion 1908 entwickelten sich Vereine aller Nationen, aus denen nationale Organisationen hervorgingen. So stieg die Zahl der serbischen Vereine von 43 1904 bis 1912 auf 337. Neben den nationalistischen Turnvereinen (u.a. Sokol), nahm Prosveta eine zentrale Rolle unter diesen Vereinen ein. Sie verteilte Stipendien an serbische Studenten und Schüler, veröffentlichte eine Zeitung und erhielt den Kontakt zu Serben außerhalb Bosniens. Aus dieser regen Vereinsbildung heraus entstand im Jahr 1907 die Serbisch-Nationale Organisation (Srpska narodna organizacija, SNO). Sie forderte Autonomie für Bosnien, strebte jedoch langfristig einen Anschluß an Serbien an. Wie die meisten kroatischen Parteien bezeichnete die SNO die Muslime als „konvertierte

62 Čupić-Amrein, Die Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in Bosnien-

Herzegowina, 60. 63 Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 68, 70 f.; Čupić-Amrein, Die Opposition gegen die

österreichisch-ungarische Herrschaft in Bosnien-Herzegowina, 65. 64 Čupić-Amrein, Die Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in Bosnien-

Herzegowina, 66-82; Dimitrije Djordjević, Die Serben, in: Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch, Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. III, Teilbd. 1: Die Völker des Reiches (Wien 1980) 768-771.

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Serben“. Um nicht die Unterstützung der muslimischen Bevölkerung zu verlieren, vermieden die serbischen Parteien und Vereine, eine Landwirtschaftsreform zu fordern. Trotzdem mußten auch sie eine Verbesserung der Stellung der Bauern verlangen. Dies stellte eine schwierige Gradwanderung für die Partei dar. Die politischen Strömungen in der Herzegowina waren damals nationaler, als im restlichen Bosnien, so daß dort die nationale Komponente im Forderungskatalog der serbischen Parteien einen dominanteren Platz einnahm.

Anders als bei Kroaten und Serben in Bosnien fehlte den Muslimen eine regionale religiös-kulturelle Autorität. Die Orientierung nach und Protektion von Istanbul ließ eine derartige Struktur während der osmanischen Herrschaft nicht entstehen. Somit ergab sich die Schwierigkeit für die Muslime, sich selber zu definieren. Die Muslime in Bosnien, anders als im arabischen Teil des Osmanischen Reiches, waren mit der Millet-Struktur zufrieden waren.

Auf Betreiben der muslimischen Bevölkerung trennte der Kaiser 1882 die islamische Hierarchie von der osmanischen und führte den Reis-ul-Ulema als geistliches Oberhaupt der bosnischen Muslime ein. Ihm stand ein vierköpfiges Gremium, die Medžlissi-

Ulemas zur Seite, die den Religionsunterricht überwachten. Im folgenden Jahr wurde die Landes-Vakuf-Kommission geschaffen, die die Vakufs verwaltete. Da die Mitglieder der Kommission von der Regierung ernannt wurden, genossen sie nicht die Akzeptanz der muslimischen Bevölkerung. Die Vakufs, islamisch-kulturelle Stiftungen zum Erhalt von Moscheen, Brücken, Herbergen, Schulen und religiösen Einrichtungen, blieben trotzdem von der österreichisch-ungarischen Verwaltung weitgehend unberührt. Diese Stiftungen stellten jedoch einen bedeutsamen wirtschaftlichen Faktor dar. So konnte ein Spender seine Erben zu den Verwaltern des Vakufs ernennen, die dann eine fast steuerfreie Stiftung leiten konnten. 1878 befand sich ein Drittel des Landes in Bosnien in dem Besitz von Vakufs, nach islamischen Recht konnten sie auch nicht in Privatgrund zurück verwandelt werden.65

1870 1879 1910

Orthodoxe 534.000 37,2 % 496.485 43,0 % 825.418 43,5 %

Muslime 694.000 48,3 % 449.000 38,9 % 612.137 32,2 %

Katholiken 208.000 14,5 % 209.000 18,1 % 434.061 22,9 %

Andere unbekannt - unbekannt - 26.428 1,4 %

Gesamt 1.436.000 100 % 1.154.485 100 % 1.898.044 100 %

Tabelle 2: Ergebnis der Volkszählungen von 1870, 1879 und 1910 66

Die großen Unterschiede in den Forderungen und Zielen der muslimischen Großgrundbesitzer und der Bauern machte eine einheitliche Politik noch lange Zeit unmöglich. So forderte die muslimische Bewegung eine Reform des Landbesitzes. Die muslimischen Großgrundbesitzer dämpften allerdings diese Bemühungen. Auch formierte sich erst am Ende des 19. Jahrhunderts eine Schicht muslimischer Intellektueller, die sich zu einer Trägerschicht der muslimischen Nation hätten entwickeln können. Die Probleme der Identitätsfindung der Muslime zeigt sich auch an

65 Hauptmann, Die Mohammedaner in Bosnien-Herzegovina, 686-689. 66 Justin McCarthy, Ottoman Bosnia, 1800 to 1878, in: Mark Pinson (Hg.) The Muslims of Bosnia-

Herzegovina. Their Development from the Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia (Cambridge, Ma 1993) 81; Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 97.

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den großen Emigrationsströmen in das Osmanische Reich. Es gibt verschiedene Angaben über die Zahl der Auswanderer. Nach den offiziellen Zahlen Österreich-Ungarns verließen zwischen 1883 und 1905 32.625 Muslime das Land, nur 4.042 kehrten zurück. Die Zahl schließt jedoch nicht jene ein, die zwischen 1878 und 1883 Bosnien verließen, sowie die illegalen Emigranten. Nach einigen Schätzungen waren es ungefähr 100.000. (zur Zahl der Muslime in Bosnien s. Tabelle 2) Zur gleichen Zeit gab es auch eine wirtschaftlich motivierte Emigration aller Nationen Bosniens und aus den Nachbarregionen nach Übersee, insbesondere in die Vereinigten Staaten.67

In Mostar bildete sich in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts eine muslimische Bewegung für kulturelle und religiöse Autonomie. Im August 1900 traf ein Komitee von Muslimen aus ganz Bosnien zusammen, um einen Forderungskatalog an den Kaiser zu richten. In erster Linie wurde der fehlende Schutz des islamischen Glaubens und unzureichende religiöse und kulturelle Autonomie kritisiert. Insbesondere der Übertritt von Muslimen zum Christentum führte immer wieder zu heftiger Kritik an der Verwaltung Österreich-Ungarns. Dem islamischen Glauben zufolge ist eine Konvertierung zu einer anderen Religion nicht zulässig. Ein Konvertierungsstatut von 1891 sollte diese Übertritte regeln, indem es Hürden für den Übertritt zum Christentum errichtete. In der Praxis unterlief die katholische Kirche diese Regelung mit Billigung der Monarchie. So führte die Kirche geheime Übertritte durch und versteckte übergetreten Muslime.68

Die ersten Schritte einer muslimischen Bewegung fielen mit dem Erstarken der kroatischen und serbischen Nationalbewegung in Bosnien zusammen. Der Großteil der Moslems sah den anti-osmanischen und anti-muslimischen Kurs der serbischen Nationalbewegung als Bedrohung und orientierte sich an dem kroatischen Gegenstück. Einzelne Muslime identifizierten sich jedoch stärker mit der serbischen Nation. So unterstützte der bedeutende muslimische Großgrundbesitzer Šerif Arnautović die serbische Forderung nach einem Anschluß Bosniens an Serbien.69

Ähnlich wie bei Kroaten und Serben bildeten auch die Muslime in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts ihre ersten nationalen Vereine. Der bedeutendste war die Nationale Muslimische Organisation (Muslimanska narodna organizacija, MNO). Die Forderungen dieser Organisation blieben jedoch weniger klar formuliert, als jene der serbischen oder kroatischen Nationalbewegungen. Die muslimische Identität war geringer ausgeprägt und kein Nachbarstaat oder Gebiet stand als Vorbild und Unterstützung bereit. Auch war die nationale muslimische Bevölkerung in Bosnien stärker sozial gespalten als die anderen beiden Nationen.70

Die Annexion

Am 5. Oktober 1908 annektierte Österreich-Ungarn Bosnien-Herzegowina. Die internationale Reaktion auf diesen Schritt fiel weitaus heftiger aus, als die tatsächlichen Folgen für Bosnien. Durch die Annexion wurde lediglich der Status-Quo formalisiert, 67 Malcolm, Bosnia, 139 f.; Babuna, Die Elite und die nationale Entwicklung der bosnischen Muslime,

36-40. 68 Tatsächlich traten zwischen 1879 und 1899 nur 32 Muslime zu einem anderen Glauben über, 29

traten von anderen Religionen zum Islam über. Die katholische Kirche hingegen verlor mehr als doppelt so viele Gläubige (79) und konnte nur 36 Beitritte melden. s. Hauptmann, Die Mohammedaner in Bosnien-Herzegovina, 693 f.; Malcolm, Bosnia, 145 f.

69 Babuna, Die Elite und die nationale Entwicklung der bosnischen Muslime, 126-137 70 Zur Entstehungsgeschichte der Partei s. ebd. 238-250.

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doch sowohl auf serbischer Seite, als auch von den Großmächten kam Kritik an dem Schritt Österreich-Ungarns.71 Das Osmanische Reich beschloß ein Warenboykott österreichisch-ungarischer Produkte. Die zwang Österreich-Ungarn zu einem Entgegenkommen gegenüber der Hohen Pforte. Das Sandžak Novi Pazar, das 1878 zusammen mit Bosnien-Herzegowina unter österreichisch-ungarische Verwaltung gefallen war, wurde dem Osmanischen Reich zurückgegeben. Weiterhin zahlte die k.u.k. Monarchie der Hohen Pforte 50 Millionen Kronen als Entschädigung für Bosnien-Herzegowina.72

In Folge der Annexion entstanden die serbischen Gruppen, die später am Attentat auf Kronprinz Franz Ferdinand beteiligt waren. Anstoß zu der Annexion gab die Besorgnis über serbische Bemühungen, alle Serben in einem Reich zu vereinen. Insbesondere seit dem Sturz der österreichfreundlichen Herrschaftsdynastie der Obrenović 1903 und der Machtübernahme der Familie Karadjordjević verschlechterten sich die Beziehungen zwischen beiden Staaten. Der erste Höhepunkt war der sogenannte Schweinekrieg 1906, bei dem Österreich-Ungarn Strafzölle auf serbische Schweine, eines der wichtigsten Exportprodukte des Landes, erhob. Daraus entwickelte sich eine wirtschaftliche Auseinandersetzung, die schon bald nationalistische Züge trug.73

Der direkte Auslöser für die Annexion war die Machtübernahme der Jungtürken in Istanbul, die eine selbstbewußtere und modernere Politik im Osmanischen Reich verfolgten (vgl. Kapitel 2.1.1.). Die Regierung Österreich-Ungarns befürchtete erneute Ansprüche auf Bosnien und stellte durch die Annexion die Jungtürken vor vollendete Tatsachen. Tatsächlich konzentrierten sich die Jungtürken stärker als die Sultane zuvor auf das Kerngebiet des Osmanischen Reiches. Ein Jahr später kam es zu einem Abkommen zwischen beiden Reichen, in dem das Osmanische Reich die neuen Realitäten anerkannte und Ausgleichszahlungen Österreich-Ungarns für die Annexion vereinbarte.

Zugleich kam es innerhalb Bosniens zu einer Liberalisierung. 1910 wurde erstmals ein Landtag (Sabor) für Bosnien gewählt. Seine Kompetenzen waren größer als diejenigen der Landtage der österreichischen Kronländer. Die anderen Gebiete der Monarchie konnten jedoch auch den Reichsrat bzw. den Reichstag wählen, während die Einwohner Bosniens nur den Landtag wählten. Weiterhin konnten die beiden Reichsregierungen und die gemeinsamen Ministerien ein Veto gegen Entscheidungen des bosnischen Landtages einlegen. Die wichtigste Auflage des Landtages war die Verabschiedung des Budgets und die Kontrolle der Ausgaben. Das allgemeine Wahlrecht galt noch nicht, gewählt wurde nach dem Kurienwahlrecht, daß Großgrundbesitzer und die Höchstbesteuerten überrepräsentierte.74

Im Sabor erhielten die Orthodoxen 37, die Moslems 29, die Katholiken 23 und die Juden einen Sitz.75 Da die Sitze nach Konfession aufgegliedert waren, fand der 71 Für den Text der Annexionserklärung, sowie den Reaktionen Serbiens und des Osmanischen

Reiches s. Trifunovska (Hg.) Yugoslavia through Documents, 106-113. 72 Matuz, Das Osmanische Reich, 252. 73 Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 75. 74 Dies stärkte die Repräsentation der Muslime und trug zur muslimischen Akzeptanz der Annexion

bei. s. Čupić-Amrein, Die Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in Bosnien-Herzegowina, 49-59.

75 Da hiervon 20 Abgeordneten ernannt werden, kommt es in der Literatur oft zu widersprüchlichen Angaben. Ohne die ernannten Abgeordneten ist Zusammensetzung wie folgt: Orthodoxe 31, Muslime 24, Katholiken 16 und Juden 1 Sitz, s. Malcolm, Bosnia, 150 f.; Friedman, The Bosnian

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Wahlkampf zwischen den Parteien der gleichen Religionszugehörigkeit statt. Alle Sitze der Orthodoxen und der Moslems gingen jeweils an deren wichtigsten Parteien, die SNO und die MNO. Die kroatischen Sitze teilten sich auf die CCA und die CNU.

Ein Jahr später entstand eine Koalition aus muslimischen und den kroatischen Abgeordneten. Vor den Annexion war die Zusammenarbeit zwischen Serben und Muslimen noch stärker gewesen. Die Agrarfrage, die im Landtag behandelt wurde, führte jedoch zu einer Annäherung zwischen Kroaten und Muslimen.76

Die unter Kállay bereits begonnene Trennung der Muslime von dem Islam außerhalb Bosniens und der Umma (der gesamten muslimischen Gemeinschaft) setzte sich nach der Annexion fort. So erhielten die Muslime 1909 ein Autonomiestatut, was muslimische Politiker seit Jahren gefordert hatten. Sie erhielten nun größere Rechte bei der Wahl des Reis-ul-Ulema. Dieser wurde von dem Kaiser auf Empfehlung durch die muslimische Gemeinde ernannt und vom Sultan in Istanbul bestätigt. Muslimische Kinder wurden in den Statuten dazu verpflichtet vor der allgemeinen Schule den Makteb

(eine religiöse Schule) zu besuchen.77

Zugleich wandten sich die Muslime zunehmend von dem Osmanischen Reich ab. Nach der Ansicht vieler Muslime hatte das Reich sie durch die Hinnahme der Annexion verraten. Die Muslime bezeichneten sich nun seltener als Turčin (Türke) und mehr als Muslimani (Muslime). Das Vakufsystem wurde in Folge der Annexion wieder stärker muslimischen Forderungen angepaßt, was zu einer weiteren Annäherung zwischen Muslimen und Österreich-Ungarn führte.78

Insbesondere unter der serbischen Bevölkerung verhärtete sich der Widerstand gegen die Herrschaft der Habsburger. Unter anderen entstand die Mlada Bosna (Junges Bosnien), eine anti-klerikale, nationalistische Organisation, die sich gegen die Donaumonarchie wandte. Der Sieg Serbiens und Montenegros im ersten und zweiten Balkankrieg (1912 und 1913) stärkte deren Position. Durch den Versuch der SNO und anderer moderater serbischer Parteien, die muslimischen Großgrundbesitzer in ihre Parteien einzuschließen, wurden die gemäßigten Kräfte diskreditiert. Dies führte zu einer Radikalisierung des Parteienspektrums der bosnischen Serben. Obwohl bei diesen neuen Gruppen, wie Mlada Bosna, nationale Ziele im Vordergrund standen, lag die Ursache dieser Entwicklung Großteils in der Agrarfrage.79 Der Landtag hatte zwar 1911 die Kmetenablöse beschlossen, die Lösung wurde jedoch von serbischen Nationalisten abgelehnt. Die Ablöse bedeutete keine Abschaffung der Kmetenverhältnisse und führte zu einer finanziellen Belastung für die Kmeten. Somit wurde diese Lösung von serbischen Nationalisten abgelehnt. Kriegsbedingt wurde 1915 die Kmetenablöse unterbrochen.80

Der zunehmende Widerstand der serbischen Bevölkerung gegen die Herrschaft der k.u.k. Monarchie über Bosnien und die Balkankriege führten zu Repressalien und zur partiellen Rücknahme der bosnischen Autonomie. So wurde 1913 die zivile

Muslims, 75 f.; Pinson, The Muslims of Bosnia-Herzegovina Under Austro-Hungarian Rule 1878-1918, 111.

76 Čupić-Amrein, Die Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in Bosnien-Herzegowina, 253-255, 281.

77 Hauptmann, Die Mohammedaner in Bosnien-Herzegovina, 698 f. 78 Friedman, The Bosnian Muslims, 72, 74 f. 79 Djordjević, Die Serben, 771 f. 80 Wessely, Die Wirtschaftliche Entwicklung von Bosnien-Herzegowina, 565 f.

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Administration mit der Militärverwaltung vereint und dem Kriegsministerium unterstellt. Der Ausnahmezustand betraf zwar die gesamte Bevölkerung, richtete sich jedoch in erster Linie gegen die bosnischen Serben. Der neue Gouverneur, General Ottokar von Potiorek, war damit nicht mehr dem k.u.k. Finanzministerium verantwortlich. Im selben Jahr wurde die Zivilverwaltung beseitigt, die meisten Kulturvereine verboten und Prozesse gegen Serben und andere Gegner der Herrschaft durchgeführt. Der Landtag konnte dennoch Ende 1913 erneut tagen81

In diesem angespannten Klima zwischen Serben und der Monarchie kam es zum Besuch des Kronzprinzen Franz Ferdinand in Sarajevo. Der Tag des Besuches fiel mit dem St. Veithstag zusammen, der aufgrund der legendären Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo Polje) 1389 den Beginn der osmanischen Herrschaft über Serbien symbolisiert, der bedeutendste Gedenktag Serbiens war. Somit war der Zeitpunkt des Besuchs denkbar schlecht gelegt, bzw. eine bewußte Provokation der Serben. Nur durch eine Reihe von Fehlern und Zufällen gelang es den schlecht vorbereiteten Attentätern den Kronprinz an diesem Tag zu ermorden. In allgemein bekannter Weise führten die folgenden Ereignisse binnen einen Monats zum 1. Weltkrieg.82

Nach wie vor ist der genaue Einfluß der serbischen Regierung auf die Attentäter unklar. Fest steht jedoch, daß sie vom Chef des militärischen Geheimdienstes, Dragutin Dimitrijević Apis Unterstützung erhielten. Apis war zugleich auch Anführer der großserbischen Geheimorganisation „Schwarze Hand“ und größter Widersacher des serbischen Ministerpresidenten Pašić.83

Der 1. Weltkrieg

Zwar begann der 1. Weltkrieg auf dem Balkan, doch die Region blieb nur ein Nebenschauplatz. Die Kriegsereignisse bilden jedoch die Grundlage für das Entstehen Jugoslawiens. Auf dem Gebiet Bosniens kam es kaum zu Kampfhandlungen, abgesehen von einigen kleineren Auseinandersetzungen in Ostbosnien. Trotzdem war der Krieg auch im restlichen Bosnien spürbar. Manche Kriegsfolgen betrafen die gesamte Bevölkerung, andere Maßnahmen richteten sich nur gegen eine Volksgruppe.

Wie andere Einwohner der Monarchie wurden Bosnier als Soldaten Österreichs rekrutiert. Weiterhin wurde Getreide für den Krieg konfisziert. Die gesamte Herrschaft der Monarchie verschärfte sich mit Kriegsausbruch. In erster Linie litten jedoch die bosnischen Serben unter dem Krieg, da sie als Bedrohung der Integrität der Monarchie galten. Erstmals unterdrückte Österreich-Ungarn gezielt eine Nation Bosniens. So wurde 1915 die Benützung des kyrillischen Alphabets verboten und die meisten serbischen Vereine aufgelöst. Während des Krieges wurden etwa 5.000 serbische Familien aus Bosnien nach Serbien vertrieben. Zwischen 3.300 und 5.500 bosnische Serben wurden in Lagern, zumeist in Arad, interniert, 700 bis 2.200 von ihnen starben dort.84 Insgesamt 250 Serben wurden wegen Spionage und ähnlichen Vergehen durch Militärgerichte zum Tode verurteilt und hingerichtet.85

81 Čupić-Amrein, Die Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in Bosnien-

Herzegowina, 333-335, 343; Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 83 f. 82 Malcolm, Bosnia, 154 f. 83 Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 84. 84 Malcolm, Bosnia, 158. 85 Die meisten wurden jedoch später durch Kaiser Karl I. begnadigt.

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Die Reaktion der Serben war sehr unterschiedlich. Manche meldeten sich freiwillig, um im Krieg gegen Serbien ihre Loyalität zu beweisen, während andere nach Serbien flohen, um dort gegen die k.u.k. Monarchie zu kämpfen. Sie stellten auch den größten Anteil an russischen Freiwilligeneinheiten an der Ostfront. So umfaßt die 1. serbische Division 1916 15.000 Deserteure und ehemalige Kriegsgefangene.86

Zu Beginn des Krieges wandten sich zwar manche Muslime Serbien zu, doch die Mehrheit kämpfte für Österreich-Ungarn. Sie lehnten mehrheitlich die Annexion 1908 nicht mehr ab und begrüßten die Liberalisierungen, die auf die Annexion folgten (u.a. Wahl zum Sabor). Weiterhin kämpfte man durch das Bündnis der Donaumonarchie mit dem Osmanischen Reich indirekt auch für die Hohe Pforte. Die anti-muslimische Haltung in Serbien tat ein Übriges.87

Noch 1918 unterstützten die bosnischen Kroaten eine neue staatliche Lösung innerhalb der Monarchie mit den Südslawen als dritter Säule des Staates. Auch Teile der bosnischen Serben unterstützten diese Lösung, da sie gegen Kriegsende explizit in diese Pläne einbegriffen wurden. Die Bosnischen Muslime waren gespalten, einige unterstützten sowohl eine derartige Lösung, als auch eine bosnische Autonomie innerhalb der ungarischen Reichshälfte. So trafen die muslimischen Politiker Šerif Arnautović und Safvetbeg Bašagić 1917 den Kaiser, um die letztere Lösung zu erreichen. Der Grund für eine von Kroatien getrennte Lösung lag wohl in der Befürchtung der muslimischen Politiker, in einem mit Kroatien vereinigten Bosnien die Interessen ihrer Bevölkerung nicht durchsetzen zu können. Zugleich bemühte sich auch der Landeschef Bosniens Baron Sarkotić um eine Lösung innerhalb der Monarchie. Mit dem langsamen Zerfall der Monarchie verloren diese Konzepte zunehmend an Unterstützung. Im August 1918 versammelte der Slowene Korošec südslawische Politiker aus der Donaumonarchie. Sie gründeten einen Nationalrat, um die Bildung Jugoslawiens voranzutreiben.

Während einige Muslime noch an einer Anbindung an Ungarn festhielten, trat Mehmed Spaho hervor, der später als Führer der Jugoslawischen Muslimischen Organisation (JMO) eine bedeutende Rolle in Jugoslawien spielen sollte. Er kritisierte die repressive Politik der Monarchie im Krieg und strebte einen jugoslawischen Staat an. Spaho meinte, daß der Krieg die ethnischen Gruppen Bosniens einander näher gebracht habe.

Am 29. Oktober 1918 stimmte das kroatische Parlament gegen die Herrschaft der Habsburger. Am 1. November trat der Landeschef Sarkotić zurück, nur zwei Tage später entstand die erste nationale Regierung Bosniens. Dieser rasche Niedergang der Monarchie in Bosnien sorgte insbesondere unter den Serben für Jubel, was sowohl auf Kroaten wie auch Muslime ernüchternd wirkte.88 Mit dem Zerfall der staatlichen Autoritäten erklärten etliche serbische Bürgermeister einseitig den Anschluß an Serbien.

Noch vor der offiziellen Staatsgründung, am 3. November 1918, kam es in Bosnien zu Bauernaufständen, die insbesondere gegen die muslimischen Großgrundbesitzer gerichtet waren, woraufhin die serbischen Truppen zur Beruhigung der Lage ins Land gerufen wurden. Nur drei Tage später zogen sie unter Jubel der Bevölkerung in Sarajevo ein. Die Aufstände verdeutlichten die nationalistische Interpretation wirtschaftlicher Bruchlinien. Neben diesen wirtschaftlichen Ursachen wurden die Muslime auch eng mit 86 Djordjević, Die Serben, 772 f.; Robert J. Donia, John V.A. Fine, jr., Bosnia and Hercegovina: A

Tradition betrayed (London 1994) 118 f. 87 Friedman, The Bosnian Muslims, 78. 88 Malcolm, Bosnia, 160-162.

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vormaligen osmanischen Besatzern identifiziert. Viele Serben erinnerten sich auch an die Förderung der Muslime in der Donaumonarchie durch den k.u.k Finanzminister Kállay. Obwohl die serbischen Truppen die gewalttätigen Übergriffe auf die muslimische Bevölkerung beendeten, blieb das Klima gespannt und schon bald ersetzten Serben Muslime in führenden Positionen das Landes. In Folge kam es 1918 zu einer größeren Emigrationswelle von Muslimen in die Türkei. 89

Das Entstehen von *ationalbewegungen in Bosnien

Im Laufe der 50 Jahre österreichische Herrschaft in Bosnien bildete sich erstmals eine muslimische Identität heraus. Robert Donia nennt vier Argumente, mit denen diese Identitätsfindung begründet wird und untersucht sie auf ihre Glaubwürdigkeit:

1. Psychologische Entfremdung vom Osmanischen Reich. Die Entfremdung vom Osmanischen Reich sieht er als zutreffende Begründung. So wird in keiner Petition von Muslimen eine Wiederherstellung des Zustandes von vor der Besetzung durch Österreich-Ungarn gefordert.

2. Opportunismus. Dieses Motiv hält Donia für wenig überzeugend. Die muslimische Bevölkerung war zwar sehr fragmentiert und die Interessen der Eliten deckten sich kaum mit jenen der Bauern. Dies ermöglichte eine Instrumentalisierung der muslimischen Bevölkerung durch die Eliten, stellte jedoch keinen Unterschied zur kroatischen und serbischen Nationalbewegung jener Jahre dar.

3. Religiöser Fanatismus. Für Donia scheidet Fundamentalismus als Faktor der Identitätsfindung aus. Die individuellen Interessen der Eliten sind nachzuvollziehen und stehen nur selten im Zusammenhang mit der Religion. Der Islam diente bereits damals nicht nur als Religion, sondern als kulturelle Identifikation, die über Glauben hinausging.

4. Sozio-ökonomische Interessen der Eliten. Innerhalb der muslimischen Bevölkerung haben in erster Linie die Eliten von der Identitätsfindung profitiert. Dementsprechend unterstützt das Parteiprogramm der MNO die Monarchie und stellte sich gegen eine Bodenreform. Die Eliten außerhalb von Sarajevo hatten jedoch weniger Einfluß und man kann die Eliten nicht als einheitliche Gruppe sehen.

Die muslimische Identität entstand also in der Habsburger Zeit durch eine Entfremdung vom Osmanischen Reich. Die muslimische Elite versuchte durch diese Identitätsfindung ihre privilegiere Stellung zu sichern.90 Zwei Argumente ließen sich hinzufügen. Erstens fand die muslimische Identitätsfindung als einzige die aktive Unterstützung der Verwaltung. Zweitens zwang die nicht-muslimische Herrschaft die Muslime Bosniens zu einer Auseinandersetzung mit der Rolle der Religion für die eigenen Identität.

Die Herausbildung muslimischer Identität unter der Herrschaft der Habsburger teilt Mark Pinson in drei Stufen. Zuerst artikulierten sich die Muslime durch traditionelle Formen, wie Teilnahme an religiösen und kulturellen Veranstaltungen. In der zweiten Phase kam es zu Aufständen gegen und Petitionen an die christlichen Machthaber. Zuletzt artikulierte sich die muslimische Bevölkerung durch bereits eindeutig westeuropäische Institutionen, so wie die Gründung einer Partei und der Teilnahme an Wahlen.91 Diese Entwicklung der Artikulation muslimischer Interessen geht einher mit 89 Ivo Banac, The National Question in Yugoslavia. Origins, History, Politics (Ithaca, N.Y. 1992)

360, 367 f. 90 Donia, Islam under the Double Eagle, 182-194. 91 Pinson, The Muslims of Bosnia-Herzegovina Under Austro-Hungarian Rule 1878-1918, 97.

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einer von Robert Donia beobachteten größeren Interkommunikation der Bevölkerung. Zu Beginn österreichischer Herrschaft war die Mobilisierung der muslimischen Eliten lokal begrenzt und betraf meist nur bestimmte Maßnahmen. Erst seit dem Aufbau einer Partei gelang es ihnen das gesamte Gebiet Bosniens zu erreichen und langfristige Ziele anzustreben.92

Die Entwicklung der Nationalbewegung verlief auf der serbischen und kroatischen Seite zwar ähnlich, vollzog sich jedoch bereits früher und in erster Linie außerhalb Bosniens in ihren jeweiligen Kernländern. Die Serben und Kroaten Bosniens folgten meist mit Verzögerung der Entwicklung in Kroatien bzw. Serbien. Die serbische Forderung nach der Autonomie von Schulen und der Kirche kann jedoch als erste moderne politische Bewegung in Bosnien gewertet werden. Da es innerhalb der kroatischen Bevölkerung kaum einen Mittelstand gab, blieb die kroatische Nationalbewegung in Bosniens lange Zeit sehr schwach. Ihr fehlte die soziale Infrastruktur, wie sie der serbischen Bevölkerung zu Verfügung stand. Als sich die Nationalbewegung zu formieren begann, bildeten sich zwei, oft konkurrierende Träger. Auf der einen Seite standen die klerikale und nationalistisch-konservative Bewegung, die von kirchlichen Würdenträgern, so zum Beispiel Erzbischof Josip Stadler, getragen wurden. Vom Mittelstand hingegen ging ein liberaleres und säkulares Programm aus.93

Die Bilanz der österreichisch-ungarischen Verwaltung Bosniens ist gespalten. Einerseits waren die Fortschritte im Vergleich zum Osmanischen Reich enorm. Andererseits wurden Reformen nur zögerlich angegangen. Auch der Versuch die Entwicklung des Nationalismus in Bosnien aufzuhalten ist gescheitert. Für die nationale Entwicklung stellt die Herrschaft Österreich-Ungarns eine bedeutsame Phase dar. Während vor 1878 das zentrale Identifikationsmerkmal die Religion war, ersetzte die Nation das Millet. Zugleich hat das Millet-System das Entstehen von Nationalbewegungen parallel zu religiösem Bekenntnis begünstigt.

2.2.2. Die Autonomie des Libanon

Ähnlich wie in Bosnien begann mit der Autonomie des Libanon in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Phase der Modernisierung des Landes. Der neue Status des Libanon war jedoch zwischen den Großmächten umstritten. Während Frankreich eine Rückkehr zu dem Zustand vor der ägyptischen Herrschaft forderte, wandten sich die Hohe Pforte und Großbritannien gegen eine Autonomie unter einem maronitischem Gouverneur (bzw. Emir). Als Kompromiß wurde im Juni 1861 schließlich ein règlement organique verabschiedet, das bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges in Kraft blieb.

Das Autonomiestatut

Der Gouverneur war der Hohen Pforte gegenüber verantwortlich und mußte die Steuern einziehen, für die innere Sicherheit sorgen und durfte Richter ernennen. Ein Rat aus zwölf gewählten Religionsvertretern sollte ihm dabei zur Seite stehen. Dieser Rat bestand ab 1864 aus jeweils drei Maroniten und Drusen, zwei Orthodoxen und einem griechisch-katholischen Mitglied, sowie einem „Muslimen“ (Sunniten) und einem anderen Christen (Art. 2). Der Mont Liban erhielt danach als Mutasarrifiyah die Autonomie zurück. Das Mutasarrifiyah wurde verkleinert. Die Autonomie erstreckte sich jedoch nur auf Kleinlibanon im Gebirge und die Küste zwischen Sidon und Tripoli,

92 Donia, Islam under the Double Eagle, 181. 93 Donia, Fine, Bosnia and Hercegovina, 101, 103 f.

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ohne Beirut und die beiden erstgenannten Städte (Art.3). Der Gouverneur mußte ein nicht-libanesischer Christ sein und durfte nicht aus dem Kernbereich des Osmanischen Reichs stammen. Er wurde vom Osmanischen Reich ausgewählt, mußte jedoch von den fünf europäischen Vertragsstaaten akzeptiert werden. Die sieben Distrikte des Mutasarrifiyah wurden von einem Subgouverneur der stärksten Religion geleitet. So gab es drei maronitische und jeweils einen sunnitischen, drusischen, griechisch-orthodoxen und griechisch-katholischen Subgouverneur. Im Mont Liban wurden keine osmanischen Truppen stationiert, es gab auch keinen Militärdienst.94 Ab 1867 kam Italien als sechste Garantiemacht hinzu. Kurz vor Verabschiedung des réglement zogen die französischen Truppen ab.

In der Nationalität der Gouverneur des Libanons seit 1860 kommt der multinationale Charakter des osmanischen Reiches zum Ausdruck. Der erste Gouverneur war ein Armenier. Ihm folgten ein Araber aus Aleppo, ein italienischer Adeliger, ein Pole und schließlich wieder ein Armenier.

Die Zivilgesetzgebung blieb, wie im gesamten Osmanischen Reich zwischen den Konfessionen getrennt (Art. 8), alle Konfessionen wurden jedoch gleichgestellt (Art.5), ein Vorteil im Vergleich zur Regelung im restlichen osmanischen Reich.

Die Steuern wurden zur lokalen Verwaltung verwandt, nur ein Überschuß mußte an Istanbul abgeliefert werden (Art. 15). Die zentrale Reform der Autonomie war die Abschaffung des Feudalismus (Art. 5)95 im Libanon. Da dieser den Anlaß für die Auseinandersetzungen zwischen Maroniten und Drusen 1840 und 1886 darstellte, nahmen die Spannungen im Mont Liban ab. Die nächsten Konflikte fanden erst wieder nach 1914 statt. Die Auseinandersetzungen im autonomen Libanon beschränkten sich auf kleinere Proteste mancher Maroniten, die sich über die fremde Herkunft der Gouverneure beschwerten und dessen Vollmachten kritisieren. Bei Protesten der Drusen standen die hohen Steuern im Mittelpunkt.96 Der erste Gouverneur hat mit folgender Illustration die Bemühungen um ein Ende der konfessionellen Auseinandersetzungen zum Ausdruck gebracht:

„A doctor fell sick, and called in a fellow physician and said to him, “We are three, you, I, and the disease. If you will help me, we will conquer the disease. If you help the disease you will conquer me“. So we in Lebanon are three; you, the people, I, the ruler, and the traditional animosity of races in Lebanon. Help me and we shall conquer it. Help it, and you will ruin me and yourselves together.“97

In Mont Liban waren Christen in deutlicher Mehrheit. In den Gebieten, mit

Ausnahme von Beirut, die später Teil des libanesischen Staaten wurden, stellte die

muslimische Bevölkerung hingegen die Mehrheit und blieb somit von der Autonomie

ausgenommen (s. Tabelle 3). Dies bedeutete, daß die Autonomie de facto eine

Privilegierung der Christen in der Region bedeutete.

94 Zur rechtlichen Lage des autonomen Libanon s. Edmond Rabbath, La Formation du Liban Politique

et Constitutionnel. Essai de synthèse (Beirut 1986) 226-239. 95 Der Text der Autonomieregelung des Libanon (Réglement et Protocole relatifs à la réorganisation

du Mont-Liban vom 9.6.1861 und Protocole et Règlement modifié relatifs au Liban vom 6.9.1864) ist abgedruckt bei Bruno Bilek, Der Libanon. Die historische Entwicklung zur Staatlichkeit (Diplomarbeit Wien 1987) 221-224.

96 Kerr, Lebanon in the last years of feudalism, 26. 97 Hitti, Lebanon in History, 445.

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Institutionelle und wirtschaftliche Modernisierung

In dieser Zeit kam es auch zu den erwähnten gesamtosmanischen Reformen, die sich im Libanon auswirkten. So wurden die Gerichte weitgehend säkularisiert. 1863 stellte eine französische Firma die Straße zwischen Beirut und Damaskus fertig. Sie bildete das Rückgrat der libanesischen Infrastruktur. Trotz des beschränkten Zugangs zum Meer prosperierte der Libanon in den Jahren der Autonomie. 1863 wurde in Beirut der modernste Hafen zwischen Port Said und Izmir eröffnet. Zwei Jahre später wurde 1895 neben der Straße auch eine Eisenbahn zwischen Damaskus und Beirut fertiggestellt. Durch Handel entwickelte sich Beirut von einem Küstendorf zu einer bedeutenden Hafenstadt, zwischen 1860 und 1914 wuchs Beirut von 60.000 auf 150.000 Einwohner an.98 Die Entwicklung der Städte und des Landes insgesamt dürfte durch das Fehlen jeglicher Nomaden, im Gegensatz zur restlichen arabischen Welt, erleichtert worden sein. Von der Modernisierung profitierten fast ausschließlich Christen. Der neuen Oberschicht (Bankiers, Händler, Seidenproduzenten und Schiffsmakler) gehörten nur wenige Muslime an.99

Trotz der Urbanisierung blieben die traditionellen Gesellschaftsstrukturen bestehen. Hitti nennt drei Merkmale der sozialen Struktur des Libanons:

- die Loyalität zur Großfamilie,

- die Treue zur Religion der Eltern und

- die enge Verwurzelung mit dem Boden.

Durch den wachsenden ausländischen Einfluß geriet diese traditionelle Gesellschaftsstruktur zunehmend in Konflikt mit der Modernisierung. In Verbindung mit einer hohen Geburtenrate löste dies Ende des 19. Jahrhunderts die erste große Emigrationswelle aus. Die erste Emigrationswelle führte nach Ägypten, wo die englische Kolonialherrschaft und den Bau des Suez-Kanals zu einem wirtschafltichen Aufschwung führte. Später wanderten die Libanesen zunehmend nach Übersee aus. Allein zwischen 1900 und 1914 verließen schätzungsweise 100.000 Libanesen, ein Viertel der Gesamtbevölkerung, das Land. Während die Emigranten in erster Linie Christen waren, kam es bei den Drusen zu Bevölkerungsverschiebungen innerhalb des Landes. Die muslimischen Bevölkerung blieb hingegen am stärksten an ihren Wohnorten verwurzelt.

Die Emigration führte einerseits zu einem „brain-drain“, andererseits trugen die Rücküberweisungen der Emmigranten erheblich zum Wohlstand des Libanon bei. In den Jahren 1951 und 1952 gelangten so 18 bzw. 22 Millionen Dollar ins Land. Hinzu kommen Investitionen in die Wirtschaft durch Auslandslibanesen. Rückkehrer brachten auch westliche Konzepte wie Nationalismus und Demokratie zurück in den Libanon.100

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand ein Schulwesen, das in erster Linie von europäischen und amerikanischen Missionaren aufgebaut wurde. So eröffnete 1846 ein jesuitisches Seminar in Ghazir, 1875 zog es nach Beirut um und entwickelte sich zur französischsprachigen Universität des Libanons Saint-Joseph.101

Die amerikanische Regierung intervenierte im 19. Jahrhundert nicht in die Politik des Osmanischen Reichs. Zugleich gab es schon früh eine amerikanische Mission, die 1866 98 Issawi, The Historical Background of Lebanese Emigration, 24, 28. 99 Hierzu s. die Vergleiche der konfessionellen Eliten in Labaki, Confessional Communities, 544 f. 100 Hitti, Lebanon in History, 471-476. 101 Es steht heute noch im christlichen Ost-Beirut nahe der ehemals "grünen Linie".

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das Syrian Protestant College gründete. Diese entwickelte sich zur American University

in Beyrouth (AUB), die nach wie vor besteht. Die Universität wurde bald zur wichtigsten amerikanischen Bildungsstätte außerhalb der Vereinigten Staaten. Von dieser Universität profitierten in erster Linie Christen. So waren zwischen 1871 und 1882 nur 7,6 % der Absolventen des Syrian Protestant College Muslime, meist Drusen. Unter ihnen befand sich kein einziger Schiite und nur ein Sunnit. Am größten war der Anteil der Maroniten (29,4 %) unter den Absolventen.102

Insbesondere die Ausbildung von Mädchen wurde in den religiösen Schulen gefördert, da sie von der traditionellen osmanischen Ausblidung meist ausgeschlossen blieben. Ein Bericht des amerikanischen Konsulats 1869 stellt fest, daß vor 1860 nur 4 Mädchen- und 15 Jungenschulen in Beirut bestanden. Neun Jahre später gab der bereits 23 Schulen für Mädchen und 29 für Jungen, somit gingen 6 % der beiruter Bevölkerung in der Schule.103 Im Jahr 1914 gab es bereits 6.000 Mädchen in 30 Schulen im Mont Liban. Nach der Schätzung von Philip Hitti sollen zu dieser Zeit in Syrien, Libanon und Palästina 500 französische Schulen für 50.000 Jungen und Mädchen bestanden haben. Gleichzeitig wurden Großbritannien und Preußen bzw. das Deutsche Reich im Libanon aktiv. Die Missionstätigkeit preußischer Orden förderte den Aufbau des Gesundheitssystems (z.B. das Johanniter Krankenhaus). Da die meisten Einrichtungen von Missionaren gegründet wurden, profitierten in erster Linie libanesische Christen von diesen Schulen und Krankenhäusern. Später erlangten zunehmend Drusen und andere Muslime Zugang.104

Konfession Mont Liban (1906) Beirut (1889) libanesische Gebiete (ohne Mont Liban)

Maroniten 117.148 61,2 %

Orthodoxe 25.579 13,3 %

Katholiken (griechisch-katholisch)

18.689 9,7 %

Christen 162.478 84,2 % 70.300 65, 4 % 117.332 34,88 %

Sunniten 3.788 1,9 %

Schiiten 5.524 2,8 %

Drusen 19.293 10,0 %

Muslime 28.605 14,7 % 33.600 31,2 % 200.814 63,12 %

Insgesamt 191.122 100 % 107.400 100 % 318.146 100 %

Tabelle 3: Bevölkerungsverteilung nach Konfessionen für den Mont Liban, Beirut und die Gebiete

außerhalb des Mont Liban, die später Teil des Libanon werden.105

In der Autonomiephase des Mont Liban kam es auch außerhalb des Bildungssystem zu einem Modernisierungsschub. Ähnlich wie in Bosnien entstanden nationale Vereine. 102 Obwohl weniger als tausend Protestanten in der gesamten Region lebten, stellten sie immerhin 5,9%

der Absolventen an der Syrian Protestant College, Labaki, Confessional Communities, 543. 103 Issawi, The Historical Background of Lebanese Emigration, 29. 104 Hitti, Lebanon in History, 445-451. 105 Da andere Christen, Muslime, Juden und Ausländer hier nicht berücksichtigt werden, ergibt die

Summe der genannten Konfessionen nicht immer 100 %. Boutros Labaki, Confessional Communities, Social Stratification and Wars in Lebanon, in: Social Compass, Nr. 4/1988, Jhrg. XXXV, 542.

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Am bedeutendsten war der Syrische Bildungsverein, der ab 1868 sowohl Drusen, als auch Christen und andere Muslime als Mitglieder hatte. Das arabische Zeitungswesen nahm seinen Ausgang im Libanon. So entstand 1858 Hadiqat al-Akhbar (Der Garten der Nachrichten) in Beirut. Zeitungen entwickelten sich aufgrund des relativ liberalen Klimas im Libanon sehr gut, sogab es 1892 bereits 14 Zeitungen und Zeitschriften. Lediglich Kairo konnte sich neben Beirut als bedeutender Verlagsort etablieren. Da sich die britische Verwaltung gegenüber der Presse liberaler verhielt als das Osmanische Reich, übertraf Kairo am Ende des 19. Jahrhunderts bereits Beirut als Verlagsort. Beirut blieb jedoch im arabischen Raum einflußreich.106

Neben Freistellung vom Militärdienst im Osmanischen Reich genoß die Bevölkerung des Autonomiegebietes weitere Vorteile. Im Mont Liban mußten die Einwohner keinen Zehnten auf landwirtschaftliche Erzeugnisse bezahlen. Somit lag die durchschnittliche Einkommensbesteuerung mit 7,4 % um ein Viertel unterhalb der Steuerlast in den angrenzenden Regionen des Osmanischen Reiches. Die Autonomie des Mont Liban vergrößerte somit den sozialen und wirtschaftlichen Abstand zum Umland. Da im Mont Liban überwiegend Christen lebten, während die angrenzenden Regionen mehrheitlich von Muslimen bevölkert waren, bevorteilte diese unterschiedliche Entwicklung die christliche Bevölkerung, mit Auswirkungen bis in die Gegenwart.107

Konkurrierende *ationalbewegungen

Alle diese Elemente einer Modernisierung ließen sowohl im Autonomiegebiet, wie auch in Beirut, einen Mittelstand entstehen. Dieser bestand aus wohlhabenden Bauern, Händlern, Vertretern ausländischer Handelsgesellschaften, Angestellten der öffentlichen Einrichtungen (Häfen, Straßen und Banken), Kleinindustriellen, Lehrern und Redakteuren.108 In diesem modernen Mittelstand entwickelten sich drei politische Konzepte als Alternativen zum Osmanischen Reich.

Die erste war der Pan-Arabismus bzw. der arabische Nationalismus. Diese Nationalbewegung strebte den Zusammenschluß aller Araber in einem Staat an. Araber definierten sich hierbei sowohl ethnisch, wie auch durch die Sprache. Diese Bewegung lehnte eine Eigenständigkeit des Libanon ab. Da die Mehrheit der Araber dem islamischen Glauben anhingen, während Muslime im Libanon damals noch eine Minderheit waren, wurde der arabische Nationalismus überwiegend von Muslimen propagiert und stieß in dieser Phase nur auf begrenzte christliche Unterstützung, im Gegensatz zur 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als wichtige Auslöser des Pan-Arabismus können sowohl der „Turkismus“ bzw. „Osmanismus“ der Jungtürken als auch der aufkeimende Zionismus gesehen werden.109

Ähnlich Ziele verfolgt der „Pan-Islamismus“, der im ausgehenden 19. Jahrhundert seinen Anfang nimmt. Grund hierfür ist der langsame Abstieg des Osmanischen Reiches und die Tanzimat-Reformen, die Christen, Juden und Muslim gleichstellten. Die Reformen widersprachen dem Anspruch des Osmanischen Reiches, ein islamischer Staat zu sein. Der Sultan war zugleich Kalif und somit Oberhaupt der sunnitischen

106 Ebd., 461, 464 f. 107 Labaki, Confessional Communities, 540 f. 108 Issawi, The Historical Background of Lebanese Emigration, 29. 109 Albert Hourani, Arabic Thought in the Liberal Age, 1798-1939 (London-Oxford-New York, 1970),

260-323.

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Muslime. Der Pan-Islamismus lehnt die Nation grundsätzlich ab, da sie die islamische Einheit spaltet. So war die Kernaussage von Jamal-al-Din al-Afghani, dem Wegbereiter des Pan-Islamismus, „Keine Nationalität (Wataniyah) im Islam.“

Als dritte politische Richtung entwickelte sich der libanesische Nationalismus. Er wurde in erster Linie von den Christen, aber auch von den Drusen vertreten. Er hatte im Mutasarrifiyah viele Anhänger. In den anderen Gebieten, die keine so starke historische Bindung an den autonomen Libanon hatten, blieb der libanesische Nationalismus ohne Rückhalt.110

Der 1. Weltkrieg

Obwohl der Libanon kein Kriegsschauplatz war, litt die Region stark unter den Kriegsfolgen. Mit dem Beginn des 1. Weltkrieges endete die Autonomie des Libanon. Aus Angst vor pro-französischer Agitation marschierten osmanische Truppen ein. Ein Jahr später wurde der Rat aufgelöst und 'Ali Munif, erst der zweite Türke in der Geschichte des Libanon, übernahm die Verwaltung des Gebietes. Der repressiven Herrschaft fielen nicht nur Christen, sondern auch Muslime zum Opfer. Zugleich führte der Krieg zu Hungersnöten im Libanon. Der Mittelstand verarmte, während viele Bauern und städtische Unterschichten verhungerten. Es kam zu Epidemien und in der zweiten Kriegshälfte strömten armenische und assyrische Flüchtlinge aus Anatolien nach Beirut und in das Umland. Insgesamt starben nach Schätzungen 100.000 Menschen, ein Viertel der Bevölkerung. In Folge verfielen viele Gebäude und Dörfer.111 Trotz dieser katastrophalen Zustände kam es nicht zu nennenswerten Aufständen während des Krieges. Erst im Oktober 1918 mit einer französischen Invasion des Libanon und dem Einzug arabischer und britischer Truppen in Syrien kam das letzte Kapitel osmanischer Herrschaft über den Libanon zu seinem Ende.

Anders als in Bosnien litten alle Einwohner gleichermaßen unter den Kriegsfolgen, da Drusen (mit Großbritannien) und Christen (mit Frankreich) gleichermaßen der Kollaboration mit dem Gegner verdächtigt wurden. Nach Ende des Krieges bestand keine Nostalgie, auch nicht unter den Muslimen, für das Osmanischen Reich. Die neuen Optionen entsprachen vielmehr den drei führenden nationalen bzw. konfessionellen Konzepten:

1. Ein großarabisches Reich,

2. ein unabhängiger Libanon oder

3. ein islamisches Reich.

Die folgende französische Mandatsherrschaft entsprach am ehesten den Forderungen der meisten Maroniten nach einem selbständigen Land Libanon.

110 Hitti, Lebanon in History, 477-480. 111 Ebd., 483-486.

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2.2.3. Der Zusammenbruch Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches

Mit dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reichs bei Kriegsende änderte sich das Umfeld Bosniens und des Libanon. Bosnien hatte 400 Jahre zum Osmanischen Reich und 40 Jahre zu Österreich-Ungarn gehört, auch der Libanon stand 400 Jahre, mit kurzen Unterbrechungen, unter osmanischer Herrschaft. Das Osmanische Reich zerfiel etwas früher als Österreich-Ungarn bereits im Sommer 1918. Zwischen Juni und Oktober 1918 konnten die Alliierten große militärische Erfolge verzeichnen und reduzierten das Gebiet unter Kontrolle der Hohen Pforte dramatisch. Dies führte zu einem Rückzug der verbleibenden osmanischen Armeen auf das Gebiet Anatoliens um zumindest den Kern des Reiches zu halten. Der Zusammenbruch war jedoch so vollständig, daß das Reich am 31. Oktober 1918 eine bedingungslose Kapitulation eingestehen mußte. Die Folge war die Besetzung Istanbuls und des Bosporus. Istanbul wurde gemeinsam von Frankreich, Großbritannien und Italien verwaltet, während Griechenland große Teil der anatolischen Küste besetzte.112

Bereits während des Krieges hatten Großbritannien und Frankreich in der arabischen Welt eine doppelte Strategie verfolgt. Auf der einen Seite versuchten sie die arabische Bevölkerung mit dem Versprechen (insbesondere durch die Korrespondenz des britischen Hochkommissars in Ägypten McMahon mit dem Sharif von Mekka Husayn) eines unabhängigen arabischen Reiches gegen das Osmanische Reich zur Rebellion zu bringen. Andererseits vereinbarten sie untereinander im Sykes-Picot Pakt vom Mai 1916 eine Aufteilung der arabischen Gebiete in koloniale Einflußsphären. Schließlich versprach Großbritannien in der Balfour Deklaration 1917 die Errichtung eine nationalen „Heimstätte“ (homeland) für Juden in Palästina. Der Sharif von Mekka leitete als Hüter der heiligen Stätten des Islam (Mekka und Medina) eine Legitimation als gesamtarabischer Herrscher ab. Auf dieser Basis entstanden bereits bald nach Kriegsende Konflikte zwischen der arabischen Bevölkerung und den Mandatsmächten Frankreich und Großbritannien.113

Bei der im Januar 1919 beginnenden Friedenskonferenz in Paris sollte die zukünftige Gestalt der ehemaligen Gebiete des Osmanischen Reiches beschlossen werden. Der Vertrag von San Remo teilte die arabischen Teile des Reiches zwischen Frankreich und Großbritannien auf. Der Friedensvertrag zu Anatolien wurde erst im August 1920 in Sèvres abgeschlossen, besaß jedoch keinen praktischen Wert mehr. Türkische Politiker und Soldaten unter Führung von Mustafa Kemal (später Atatürk) lehnten den Vertrag ab und begannen eine Krieg zur Rückeroberung ganz Anatoliens. Von Bedeutung für die Muslime außerhalb Anatolien war das Schicksal des Kalifats. Der letzte osmanische Herrscher, Abdülmecid II. (1922-1924) war nicht mehr Sultan, hielt jedoch den Titel des Kalif inne und war somit formal Oberhaupt aller Muslime. Erst am 3.3.1924 schaffte die Türkei das Kalifat ab und beendete somit eine Einrichtung, die seit dem Tod Mohammed bestand.114

Der Zusammenbruch Österreich-Ungarns schien lange Zeit nicht so wahrscheinlich wie das Ende des Osmanischen Reiches. Während das Osmanische Reich bereits in den Jahrhunderten vor dem 1. Weltkrieg zahlreiche Gebiete verloren hatte, dehnte sich der

112 Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 327-330. 113 Albert Hourani, A History of the Arab Peoples (New York 1991) 318 f. 114 Hierzu s. Paul Dumont, François Georgeon, La mort d'un empire (1908-1923), in: Robert Mantran

(Hg.) Histoire de l'Empire Ottoman (Paris 1989) 633-647; Josef Matuz, Das Osmanische Reich, 271-278.

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Einfluß Österreich-Ungarns in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts auf dem Balkan aus. Noch 1917 unterstützten die meisten politischen Führer der Nationen in Österreich-Ungarn ein Fortbestand einer, wenn auch reformierten, Monarchie. Gleichzeitig gelang es einigen nationalen Politikern (z.B. Beneš, Trumbić), für ihre Pläne zur Loslösung ihrer Nationen von Österreich-Ungarn die Unterstützung der Entente zu sichern. Militärische Niederlagen, so an der Front in Italien, beschleunigten den Zerfall des Staates. Ende Oktober 1918 war die Monarchie bereits de facto in viele kleinere Staaten zerfallen. Mit dem Waffenstillstand am 3. November 1918 und der Friedenskonferenz 1919/20 in St. Germain (für Österreich) und Trianon (für Ungarn) wurde dieser Zerfall bestätigt. Neben den Neugründungen Jugoslawien und Tschechoslowakei erhielt Rumänien Siebenbürgen. Südtirol fiel an Italien und Galizien wurde Teil des wiederentstandenen Polen.

Im Fall des Osmanischen Reiches herrscht weitgehende Einigkeit über die Gründe des Zerfalls. Die völlige militärische Niederlage, verbunden mit dem langfristigen Staatszerfall machten einen Fortbestand des Reiches unmöglich. Die Gründe für das Ende Österreich-Ungarns sind nach wie vor umstritten. Einige Historiker führen den Zerfall auf den Einfluß nationaler Organisationen im Exil auf den amerikanischen Präsidenten Wilson und dessen Verbündete zurück.115 Andere Autoren sehen in der Struktur Österreich-Ungarns die Ursachen: Ähnlich wie das Osmanische Reich sei die Donaumonarchie unfähig gewesen sich zu reformieren und den Vorstellungen der Bevölkerung anzupassen. Der zweite Ansatz vernachlässigt jedoch die Reformvorschläge von Karl Renner und anderer gemäßigter Politiker. Nachdem Österreich-Ungarn jedoch den 1. Weltkrieg mit der Kriegserklärung an Serbien begann, beschleunigte sie den Zerfall, anstatt die nationale Irredenta durch Serbien zu beenden.116

2.2.4 Zusammenfassung

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts sahen sich Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich zunehmend durch das Entstehen von Nationalbewegungen bedroht. Diese Konzepte entwickelten sich vorrangig im europäischen Herrschaftsbereich beider Staaten, während Nationalismus in der arabischen Welt nur marginale Bedeutung besaß. Da die Nationalbewegungen die Errichtung von Staaten anstrebten, die eine Nation zusammenfassen, waren sie langfristig nicht mit dem Fortbestand multinationaler Reiche vereinbar. Nationalstaaten im französischen Sinne, die eine Nation auf einem bestehenden Territorium aufbauen, waren jedoch in Südosteuropa kaum mit der Bevölkerungsverteilung vereinbar. Das Ergebnis waren Nationalbewegungen, die um ein Territorium konkurrierten. Im Fall von Bosnien war dies der serbische und der kroatische Nationalismus, später auch der muslimische bzw. bosniakische Nationalismus.117 In den arabischen Regionen des osmanischen Reiches konnte sich nur

115 So argumentiert Fejtö, daß die Monarchie von der Entente erhalten werden sollte und nur der

Einfluß von Beneš und Masaryk das Ende der Monarchie herbeigeführt hat, s. François Fejtö, Requiem für die Monarchie. Die Zerschlagung Österreich-Ungarns (Wien 1991).

116 Zum Ende Österreich-Ungarns und einer sehr ausgewogenen Argumentation über die Ursachen s. Robert A. Kann, Geschichte des Habsburgerreiches, 1526 bis 1918 (=Forschungen zur Geschichte des Donauraums 4, Wien/Köln/Weimar 1993) 445-465; A.J.P. Taylor, The Habsburg Monarchy, 1809-1918 (London 1990) 250-282.

117 Hierzu s. Harald Heppner, Modernisierung der Politik als Strukturproblem in Südosteuropa, in: Österreichische Ostheft, Nr. 3/95, Jhrg. 37, 717-735.

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im Libanon eine, wenn auch weniger ausgeprägte, konfessionelle Identität entwickeln. Diese Identitätsfindung beschränkte sich jedoch auf die Maroniten des Autonomiegebietes.

Die Autonomie des Libanon und die österreichisch-ungarische Herrschaft über Bosnien brachten den ersten Modernisierungsschub in beiden Ländern. Zuvor dominierte in beiden die Landwirtschaft und die soziale Struktur war weitgehend feudal geprägt. Ein Schulsystem und größere Städte bestanden kaum. Die Loslösung vom Osmanischen Reich bedeutete eine moderne Infrastruktur und das Entstehen von Zeitungen und ersten politischen Parteien.

Mit der Besetzung Bosnien-Herzegowina stand erstmals eine größere kompakte muslimische Bevölkerung unter der Herrschaft Österreich-Ungarns. Im Osmanischen Reich waren große christliche Bevölkerungsgruppen zwar keine Seltenheit, mit der formalen Autonomie des Mont Liban verband sich jedoch erstmals eine territoriale Selbstverwaltung mit einer dominanten nicht-muslimische Bevölkerungsgruppe, den Maroniten. Zuvor bestand die Autonomie nicht-muslimischer Religionen nur im Rahmen der Millets, die mit dem modernen Konzept der Personalautonomie vergleichbar sind und nicht territorial begrenzt waren.

Bosnien und der Libanon stellten somit für Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich gleichermaßen eine Neuheit dar. Beide Länder erhielten territoriale Autonomie. Im Fall von Bosnien begründete sich diese Eigenständigkeit aus der Uneinigkeit beider Reichshälften über die Herrschaft, sowie aus den Bemühungen Bosnien von den benachbarten Nationalbewegungen abzugrenzen. Der serbische Nationalismus stellte die größte Bedrohung für den Status-Quo dar, während der kroatische Nationalismus lange Zeit lediglich eine engere Anbindung Bosniens an Kroatien innerhalb der Monarchie forderte. Im Libanon wurde die Autonomie dem Osmanischen Reich weitgehend von den europäischen Großmächten verordnet. Für die christliche Bevölkerung Libanon ermöglichte diese Selbstverwaltung eine Annäherung an Frankreich und Europa und entzog das Gebiet de facto jeglicher Kontrolle des Osmanischen Reiches. Erst der Weltkrieg führte zu einer - katastrophalen - Wiedereingliederung in das Reich. In Bosnien bedeutete die Eigenständigkeit des Landes keineswegs einen geringen Einfluß der Monarchie. Im Gegenteil, die direkte Verwaltung stärkte die Herrschaft und ermöglichte eine stärkere Einbindung der muslimische Bevölkerung an Österreich-Ungarn.

Während das Millet-System im Osmanischen Reich nur auf die nicht-muslimischen Konfessionen bezogen war, weitete sich dieses de facto unter der österreichisch-ungarischen Verwaltung und der libanesischen Autonomie auch auf die Muslime aus. Insbesondere die Autonomiestatute des Mont Liban und die erfolgreichen serbische und muslimische Autonomiebewegungen bewirkten eine große Eigenständigkeit aller Religionsgruppen in beiden Ländern. Diese religionsbezogene Selbstständigkeit beschränkte sich jedoch nicht nur auf religiöse Belange, sondern erstreckte sich auf die Ausbildung, sowie andere soziale und wirtschaftliche Bereiche. Diese Trennung der Religionen bzw. Nationen in eigenständige und oftmals weitgehend von einander unabhängige Gruppen festigte die jeweilige Identität und verhinderte auch das Entstehen einer bosnischen bzw. libanesischen Identität.

Obwohl Österreich-Ungarn versuchte, Bosnien von serbischen und kroatischen Nationalismus abzuschirmen, drangen diese neuen nationalen Ideen auch nach Bosnien ein. In Bosnien entstanden klare Trennungslinien zwischen den Nationen. Die

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Parteienlandschaft und die Aufgliederung der Landtagssitze nach Religionszugehörigkeit sind ein Ausdruck dieser Entwicklung.

Im Libanon setzte sich der osmanische Konfessionalismus auch ohne Wahlen in der Verwaltung und insbesondere im Rat fort. Die bereits zuvor bestehende Eigenständigkeit des Libanon wurde durch die Autonomie rechtlich abgesichert. In dieser Phase festigte sich zudem die maronitische Vorherrschaft im Land. Neben dieser Konfession waren nur Drusen in größerer Zahl und ausreichender Konzentration im autonomen Libanon vertreten, um sich mit dem entstehenden Land zu identifizieren. Sunniten und Orthodoxe fühlten sich noch mehr mit ihren Glaubensbrüdern im restlichen Osmanischen Reich verbunden, während die Schiiten, kaum im autonomen Libanon vertreten, erst nach dem 2. Weltkrieg ihre eigene Identität stärker bewußt wurden.

Die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts hat im Libanon nationale und konfessionelle Identitäten entstehen lassen, die sich in der gespalteten politischen Landschaft beider Länder niederschlägt.

In Bosnien und im Libanon herrschte unter den Bevölkerungsgruppen keineswegs Einigkeit über den Zerfall des Reiches oder über die zukünftige Staatsform. Theoretisch standen in Bosnien und dem Libanon drei Positionen einander gegenüber:

1. Die Bildung eines eigenen Staates

Während im Libanon die Christen und insbesondere die Maroniten einen eigenen Staat anstrebten, gab es in Bosnien keine nennenswerten Bestrebungen für einen unabhängigen Staat, wie etwa in Kroatien.

2. Verbleib bei der bestehenden Staatsform

Die Kroaten unterstützten am stärksten von allen Nationen Bosniens den Fortbestand der Monarchie. Weiterhin wurde die Herrschaft Österreich-Ungarns auch von der muslimischen Bevölkerung unterstützt. Weder im Mont Liban, noch in den anderen Gebieten der Region, die Teil des Mandatsgebietes „Grand Liban“ werden, gab es großen Rückhalt für das Osmanische Reich. Am stärksten dürfte die Unterstützung durch die Sunniten gewesen sein, die ihre Interessen am besten im Reich gesichert sahen.

3. den Anschluß an einen neuen Staat.

Die Bevölkerung der Mont Liban und Beiruts strebte jedoch neben der Schaffung eines libanesischen Staates entweder Großsyrien oder ein panarabisches Reich an. Als Alternative Staatsformen boten sich für Bosnien im wesentlichen Großserbien oder Jugoslawien an. Während Großserbien naturgemäß nur für die serbische Bevölkerung attraktiv war, erhielt die jugoslawische Bewegung im Krieg insbesondere von Kroaten regen Zulauf.

Nach dem 1. Weltkrieg konnten die Einwohner Bosniens und des Libanon jedoch nicht die neue Staatsform selbst bestimmen. Im Libanon begann die französische Mandatsherrschaft, die einen vergrößerten Libanon schuf. Der neue Staat wurde zwar von den meisten Maroniten begrüßt, die Mehrheit der anderen Konfessionen lehnten hingegen den Libanon unter französischer Verwaltung ab. In Bosnien wurde das Entstehen Jugoslawiens am stärksten von der serbischen Bevölkerung willkommen geheißen. Sowohl Kroaten, wie auch Muslime standen dem neuen Staat jedoch skeptisch gegenüber oder lehnten ihn später sogar offen ab.

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2.3. Die Geschichte Bosniens und des Libanon in der Zwischenkriegszeit und im 2. Weltkrieg

2.3.1. Bosnien-Herzegowina als Teil des 1. Jugoslawien und des „Unabhängigen Staates Kroatien“

Zwischen Auflösung der Monarchie und Konsolidierung Jugoslawiens

Am 1. Dezember 1918 rief Prinzregent Alexander in Belgrad das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS) aus.118 Ein wesentlicher Beitrag zur Entstehung des Staates leisteten pro-jugoslawische Politiker im Exil, die bei der Entente auf dieses Ziel hingearbeitet hatten. Die Rolle des serbischen Ministerpräsidenten Pašić und seiner Exil-Regierung ist hierbei nicht eindeutig. In erster Linie wollte Serbien einen großserbischen Staat mit allen Gebieten, in denen Serben lebten.

In Serbien fühlte man sich aufgrund der Erfahrung als unabhängiger Staat und der Kriegsopfer Serbiens den anderen Nationen überlegen. Serbien wollte im neuen Staat dominieren. Weiterhin strebten die serbischen Politiker einen zentralistischen Staat an, während Slowenen, Bosnier und Kroaten im allgemeinen eine Föderation bevorzugten. Erst die schweren Niederlagen zwischen 1915-17 zwangen Pašić und seine Regierung zur Akzeptanz der jugoslawischen Staatsauffassung. Die unterschiedlichen Staatsauffassungen lassen sich bereits vor dem Weltkrieg in Schulbüchern nachweisen. In Bosnien und Kroatien stellten die Schulbücher die anderen südslawischen Völker dar und propagierten zumindest teilweise Jugoslawismus, während die serbischen Schulbücher nicht auf die kroatische Nation eingingen und sämtliche kroatischen Länder und Bosnien als Teile eines zu errichtenden Großserbiens darstellten.119

In den ersten Monaten nach der Schaffung des Staates gelang es beiden Seiten (wobei die Slowenen eine ähnliche Position wie die Kroaten hatten) nicht, eine Lösung für die zukünftige Gestalt des Staates zu finden. Ohne die Vorarbeit des kroatisch-dominierten Jugoslawischen Komitees wären andere staatliche Lösungen wahrscheinlicher gewesen. Man kann also Jugoslawien nicht als einen von außen aufgezwungenen Staat bezeichnen, doch genauso wenig bestand ein breiter Konsens für eine jugoslawische Ideologie. Obwohl der neue jugoslawische Staat ohne Zweifel in erster Linie aus sich selbst heraus entstand, wäre er ohne den Sieg der Entente und der fehlenden Bereitschaft Österreich-Ungarns zu einem getrennten Friedensvertrag mit der Entente Anfang 1918 kaum denkbar gewesen.120

Die Gründung Jugoslawiens wurde in der kroatischen Bevölkerung mit Skepsis aufgenommen, von der serbischen und auch die muslimischen Bevölkerung dagegen weitgehend begrüßt. Während die serbische Bevölkerung auf eine mit dem neuen Staat verbundene Landreform hoffte, versuchte die politische Führung der Muslime eine derartige Neuregelung zu verhindern, da sie, wie erwähnt, die bei weitem größten Landbesitzer in Bosnien stellten.121

118 Im folgenden Text wird das Königreich der Serben, Kroatien und Slowenen zur Vereinfachung als

Jugoslawien bezeichnet, auch wenn der Staat erst nach 1929 offiziell diesen Namen trägt. 119 Hierfür s. Charles Jelavich, South Slav nationalisms - textbooks and Yugoslav Union before 1914

(Columbus, Oh. 1990) 138-243. 120 Ivo J. Lederer, Nationalism and the Yugoslavs, in: Peter F. Sugar, Ivo J. Lederer (Hg.) Nationalism

in Eastern Europe (Seattle/London 1969), 428-430; Mirjana Gross, Wie denkt man kroatische Geschichte? in: Österreichische Osthefte, Nr. 1/93, Jhrg. 35, 89.

121 Zur Bodenreform vgl. Arnold Suppan, Jugoslawien und Österreich (Wien-München, 1996).

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Die Serben stellten den höchsten Anteil an der bosnischen Bevölkerung in der Zwischenkriegszeit. Die Bevölkerungsverteilung blieb im 1. Jugoslawien weitgehend stabil, da es keine größeren Emigrationsströme gab (s. Tabelle 4).

1921 1931

Orthodoxe 829.920 43,9 % 1.028.139 44,2 %

Muslime 588.204 31,1 % 718.079 30,9 %

Katholiken 444.308 23,5 % 547.949 23,6 %

Andere 28.638 1,5 % 29.388 1,3 %

Gesamt 1.890.440 100 % 2.323.555 100 %

Tabelle 4: Ergebnisse der Volkszählungen 1921 und 1931122

Die Parteien Bosniens

Bereits in dieser Anfangsphase Jugoslawiens entstand die JMO, die Jugoslawische Muslimische Organisation, die sich schon bald zur einzigen nennenswerten Partei der Muslime in Bosnien entwickelte. Sie wurde Anfang 1919 in Banja Luka gegründet. Der erste Präsident Ibrahim Maglajlić verschrieb sich noch ganz einem zentralistischen Jugoslawien. Schon bald übernahm der bereits erwähnte Mehmed Spaho die Führung. Im Gegensatz zu Maglajlić verlangte er eine Autonomielösung für Bosnien. Anderes als die kroatischen Bauernpartei wollte die JMO jedoch Jugoslawien als einheitlichen Staat erhalten. Dementsprechend befand sie sich meist in einer Koalition mit den serbischen Parteien. Zugleich bemühte sich die Partei um eine Vermittlung zwischen Kroaten und Serben.

Die führenden Politiker der JMO stammten aus der urbanen Mittelschicht, sie mußten jedoch eine äußerst heterogene Gruppe vertreten, wie auch die anderen neuen Parteien Jugoslawiens, die meist nach ethnischen Kriterien entstanden. Die JMO sah sich nicht als nationale Partei, obwohl sie nur Muslime vertrat. Grund hierfür war, daß sich die muslimische Bevölkerung vor dem zweite Weltkrieg entweder als Serben, Kroaten oder Jugoslawen identifizierten. Eine muslimische Nation, wie sie in Bosnien unter Tito entstand, gab es damals noch nicht. Ivo Banac gibt hierfür sehr klare Beispiele: Von den 24 Abgeordneten der JMO 1920 bezeichneten sich 15 als Kroaten, 2 als Serben, 5 gaben keine Nation an und nur einer sah sich als Bosnier. Auch Mehmed Spaho erklärte sich in seiner Jugend als Serbe, später verweigerte er eine Festlegung und bezeichnete sich Jugoslawe. Sein Bruder, der zwischen 1938 und 1942 auch Reis ul-ulema war, sah sich selber als Kroate, während sich der dritte Bruder als Serbe registrieren ließ.123

Der wichtigste kroatische Politiker Bosniens, Josip Sunarić, folgte der Linie der kroatischen Bauernpartei von Stjepan Radić. Im Kern der Partei und der politischen Arbeit von Radić stand die Durchsetzung von größerer Autonomie für Kroatien. Irvine Gill teilt die Entwicklung der Bauernpartei bis zur Ausrufung der Königsdiktatur in drei Phasen. In der ersten Phase bis 1925 wies sie die neue politische Ordnung zurück, in der zweiten Phase 1925-26 bildete sie den Koalitionspartner der Radikalen Partei, während

122 Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 97. 123 Banac, The National Question in Yugoslavia, 371, 375; Donia, Fine, Bosnia and Hercegovina,

122-125; Malcolm, Bosnia, 163.

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sie in der 3. Phase erneut eine Oppositionspartei wurde, die jedoch den Staat grundsätzlich akzeptierte.124

Die Bauernpartei des kroatischen Volkes, die von Anton und Stjepan Radić 1903 gegründet worden war, strebte ursprünglich eine Donauföderation an. Vor und während des Krieges trat die Bauernpartei für einen kroatischen Staat innerhalb Österreich-Ungarns ein (möglichst als dritter Teil des Staates). Dieses Ziel wurden durch das Ende der Monarchie 1918 unmöglich. Radić stand einer Union mit Serbien und Montenegro skeptisch gegenüber und erkannte die Monarchie nicht für Kroatien an. Vor der ersten Wahl 1920 spielte die Partei von Radić noch keine große Rolle. Erst nach den ersten Wahlen unter allgemeinem Wahlrecht in Kroatien und Bosnien wurde die Gefolgschaft der Partei unter den Bauern deutlich.125

Die kroatische Parteien versuchten die muslimische Bevölkerung anzusprechen und strebten eine Einbeziehung Bosniens in ein autonomes Kroatien an. Bis zum Ende des 1. Jugoslawiens gelang es den kroatischen Parteien nicht, Muslime in größerem Umfang zu integrieren.

Die serbische Parteien bemühten sich kaum um die Muslime, die aufgrund der Kriege mit dem Osmanischen Reich und der Mythologisierung der Schlacht auf dem Kosovo Polje 1389 als potentielle Feinde gesehen wurden. Da die Serben in Jugoslawien die größte einzelne Nation bildeten, waren sie weniger als die Kroaten gezwungen andere Nationen einzubinden. Die serbischen Einwohner Bosniens unterstützten neben der Radikalen Partei und der Demokratischen Partei die Serbische Bauernpartei, die sich für eine Landreform und die Belange der Bauern einsetzte.126

Von den ersten Wahlen bis zur Krise der Demokratie

Am 20. November 1920 fanden die ersten relativ freien Wahlen zur Verfassungsversammlung statt. Neben der JMO traten noch andere muslimische Parteien zur Wahl in Bosnien an, diese erhielten jedoch weniger als 2 Prozent aller Stimmen und gingen bald in der JMO auf oder versanken in der politischen Bedeutungslosigkeit. Die JMO erhielt 6,9 Prozent in Gesamtjugoslawien, was 33,5 Prozent der Stimmen in Bosnien entspricht. Somit wählte fast die gesamte muslimische Bevölkerung die Jugoslawische Muslimische Organisation. In etlichen Gemeinden erhielt die JMO mehr Stimmen, als sich Einwohner als Muslime deklariert hatten.127

Bei der serbischen Bevölkerung waren mehrere Parteien erfolgreich: So erhielten die Demokratische Partei (DS), die Radikale Partei (NRS) und die Bauernpartei die meisten Stimmen der serbischen Bevölkerung. Die in Kroatien starke „Kroatische Bauernpartei“ trat bei den ersten Wahlen noch nicht in Bosnien an. Die eher lockere Gruppierung des Nationalen Klubs und die „Kroatische Volkspartei“ (HPS) lagen 1920 in der Gunst der kroatischen Bosnier vorn. Lediglich die Kommunistische Partei (KPJ), die nur wenige Jahre später verboten wurde, konnte als multinationale Partei einen nennenswerten Stimmenanteil in Bosnien erzielen. Wobei die KP genauso wie anderen zumindest

124 Jill A. Irvine, The Croat Question (Boulder, Col. 1993) 40. 125 Banac, The National Question in Yugoslavia, 226-229. 126 Ebd., 189-192, 372 f. 127 Muslime als religiöses und nicht nationales Bekenntnis, Ebd., 389, 370.

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teilweise multinationale Parteien (Sozialdemokraten und Bauernpartei) kaum muslimische Kandidaten für Bosnien aufstellten.128

DS NRS Nationalklub KPJ SLS/HSP129

JMO Bauernpartei

Serbisch Serbisch Kroatisch Jugoslawisch Kroatisch Muslimisch Serbisch

5,59 % 17,96 % 11,6 % 5,46 % 6,28 % 33,5 % 16,65 %

Tabelle 5: Ergebnis der Wahlen am 28.11.1920 in Bosnien in Prozent130

Wie deutlich die Parteienwahl und die nationale Zugehörigkeit zusammenhängen, läßt sich in Tabelle 6 erkennen. Hier werden die jeweiligen Parteien nach ihrer nationalen Orientierung zusammengefaßt und mit der Volkszählung von 1921 verglichen. Dabei fällt die große Übereinstimmung zwischen Wahlverhalten und nationaler Identität auf.

Bevölkerungszählung 1921 Wahlergebnis 1920

Muslimisch 31.1 % 33.5 %

Serbisch (bzw. orthodox) 43.7 % 40.2 %

Kroatisch (bzw. katholisch) 21.3 % 17. 88 %

Jugoslawisch - 5.46 %

Tabelle 6: Vergleich der Wahlergebnisse 1920 mit der Volkszählung (nach Religionszugehörigkeit)

1921131

Im folgenden Jahr wurde die zentralistische Vidovdan Verfassung in Belgrad auf Vorschlag von Premierminister Pašić verabschiedet. Alle Abgeordnete der JMO stimmten für diese neue Verfassung und gewannen als Gegenleistung die territoriale Integrität Bosniens. Das Land blieb nicht als einheitliche Provinz erhalten, da Jugoslawien in kleinere Bezirke (Oblast) aufgeteilt wurde. Die 6 Bezirke Bosniens stimmten jedoch mit den Grenzen des Landes unter österreichisch-ungarischer Verwaltung überein. Die Verabschiedung der neuen Verfassung wurde durch die Mehrheit der kroatischen Abgeordneten unter der Führung der kroatischen Bauernpartei boykottiert, so daß der Verfassung von Anfang an die nötige Legitimität fehlte. Nur die Stimmen der JMO ermöglichten die Verabscheidung der Vidovan Verfassung. Auch später tat sich die JMO als wichtiger Partner in serbisch-zentralistischen Regierungen hervor.

Der muslimischen Partei gelang es auch eine Abschwächung der Landreform zu erwirken. Das Dekret des Königs Alexander vom 25. Februar 1919 bedurfte 12 Jahre, bis es umgesetzt wurde. Es sah die Abschaffung der Kmetentums, die Aufteilung von Großgrundbesitz und die Entschädigung der vormaligen Eigentümer vor. Insgesamt erhielten 150.000 Bauern Land, während die alten Eigentümer mit Geld und Staatsanleihen entschädigt wurden. Die durchschnittliche Größe der neuen Felder war

128 Ebd., 370-371, 389. Bei den Sozialdemokraten und der Bauernpartei waren weniger als 2 %

Muslime, bei der KPJ immerhin fast 12 %. 129 SLS steht für die Slowenische Volkspartei, die in Jugoslawien mit der HSP zusammen kandidierte.

In Bosnien kann man das Ergebnis jedoch als Stimmen für die kroatische HSP werten, zur HSP, s. Ebd., 349-351.

130 Ebd., 389. 131 Ebd., 389; Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 97.

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jedoch so klein, daß es zu keiner grundlegenden Verbesserung der Lage für Kleinbauern kam und auch die Produktivität nicht wesentlich erhöht werden konnte.

Die fehlende Bereitschaft der regierenden serbischen Parteien und der Verwaltung, der kroatischen Bevölkerung durch Kompromisse entgegenzukommen, leitete den Beginn der großen Differenzen zwischen Kroaten und Serben ein. Dieser Konflikt verhinderte eine demokratische Entwicklung und führte 1929 zur Königsdiktatur. Im Juni 1928 kam es zu einer besonders hitzigen Sitzung im Parlament, bei der ein Abgeordneter der Radikalen Partei Stejpan Radić erschoß, woraufhin die Regierung aufgelöst wurde. Ein neues national „neutrales“ Kabinett unter dem Slowenen Korošec sollte die Unterstützung der Bauernpartei sicherstellen. Dieser politische Lösungsversuch schlug jedoch fehl. Sie boykottierte nach dem Zwischenfall das Parlament. Da somit das Parlament beschlußunfähig wurde, nützte König Alexander die Gelegenheit, um im Januar 1929 die Königsdiktatur auszurufen. Das Parlament wurde aufgelöst und politischen Parteien wurden verboten. Mit dem Tod Radić's endete die erste demokratische Phase Jugoslawiens.132

Die Zeit nach dem 1. Weltkrieg hat neben einer neuen politischen Landschaft in Bosnien auch eine soziale Liberalisierung mit sich gebracht. Insbesondere unter den Muslimen kam es zu einer Modernisierung. So führte der religiöse Führer der Muslime, Reis ul-ulema Caušević, nachdem er bei einem Besuch der Türkei durch die Reformen Atatürks inspiriert wurde, eine Öffnung der muslimischen Gesellschaft ein. Frauen durften arbeiten und ihre Verschleierung wurde abgeschafft. Männer sollten nach türkischem Vorbild den Fez durch einen Hut ersetzen.133

Die Königsdiktatur

Der Versuch König Alexanders, Jugoslawien, nunmehr der offizielle Name des Landes, durch die Diktatur größere Stabilität zu verleihen, gelang nur in begrenzt. Die allgemeinen politischen Aktivitäten wurden zwar vorerst eingedämmt, doch die Spannungen zwischen Kroaten und Serben innerhalb von Jugoslawien konnte er nicht lösen. Er teilte das Land in 9 Banschaften (Banovine) ein. Vier dieser Banovine verliefen durch Bosnien: Drina, Zeta, Primorska und Vrbas. Drina umfaßte Nordostbosnien mit dem Verwaltungszentrum Sarajevo, Zeta die Herzegowina und Südostbosnien mit Cetinje (Montenegro) als Zentrum. In der Banovina Primorska lag das bosnische Hinterland der kroatische Küste mit Split als Sitz der Administration. Zu Vrbas gehörte Nordwestbosnien, mit Banja Luka als Verwaltungszentrum. Diese Maßnahmen bewirkten, daß die Muslime in keinem Verwaltungsbezirk die Mehrheit besaßen. Diese Gebiete wurden von einem Ban verwaltet, der vom König eingesetzt wurde.134 Doch nicht nur auf der Ebene der Banovine hatte die Königsdiktatur Auswirkungen. Viele muslimische Bürgermeister wurden durch Serben ersetzt, die direkt vom König ernannt wurden. Trotz dieser Verwaltungsreform, stand die JMO der Königsdiktatur nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber. Sie stellte sich allerdings gegen die Aufteilung des Landes in Banovine. Nur ein Jahr später ordnete König Alexander per Dekret an, daß alle Muslime Jugoslawiens einen gemeinsamen Reis ul-ulema erhalten sollen. Sein Sitz war Belgrad, was den zentralistischen Anspruch 132 Holm Sundhaussen, Geschichte Jugoslawiens, 1918-1980 (Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1982) 50-

72. 133 Malcolm, Bosnia, 167. 134 Law altering the appellation and administrative divisions of the Kingdom of the Serbs, Croats and

Slovenes, Belgrade 2.10.1929, in: Trifunovska (Hg.) Yugoslavia through Documents, 195 f.

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untermauerte. Daraufhin trat der bosnische Ulema Caušević zurück. Er wurde durch den proserbischen ersten Präsidenten der JMO Malajlić ersetzt.135

In der zweiten Hälfte der Dreißiger Jahre kam es zu einer vorsichtigen Redemokratisierung. Nach einer neuen Verfassung von 1931 entstand 1932 eine „neutrale“ Regierungspartei, die weitgehend der vormaligen Radikalen Partei entsprach und weiterhin die bosnische und kroatischen Kräfte ausschloß. Nach der Ermordung von König Alexander im Jahre 1934 durch einen mazedonischen Attentäter, der im Auftrag der kroatischen Ustaša-Bewegung agierte, kam es zu einer Entspannung der politischen Lage in Jugoslawien unter der Regentschaft von Prinz Paul. Ein Jahr später fanden Wahlen statt, die zwar manipuliert wurden, jedoch gewisse Freiheiten zuließen. In Folge wurde die JMO erneut an der Regierung beteiligt.136

Der Kroatisch-Serbische Ausgleich

Ende der Dreißiger Jahre kam es zu einer Annäherung von Kroaten und Serben. Daraus ging die Regierung Cvetković-Maček hervor. Maček vertrat als Nachfolger Radić's in der Bauernpartei die kroatischen Interessen. Im Rahmen dieser Annäherung entstand 1939 der Ausgleich (Sporazum), der Kroatien als einheitliches Banovina herstellte. Dieses Banovina umfaßte nicht nur die Sava-Banovina (Kroatien und Slawonien), sondern auch Primorska. Damit fielen große Teile des historischen Bosniens an das kroatische Banovina. So kam Nordbosnien um Brčko und die Herzegowina, sowie Südbosnien an Kroatien.137 Die beiden verbleibenden Banovine mit bosnischen Gebieten gelangten infolge des Sporazums verstärkt unter serbische Kontrolle.

Mit dem Sporazum muß die Bauernpartei aber auch erstmals Regierungsverantwortung in umfangreichem Ausmaß übernehmen. Ab August 1939, weniger als eine Woche vor Beginn des 2. Weltkrieges, erhielt Kroatien die Oberhoheit über Handel, Landwirtschaft, Industrie, Forstwirtschaft, Bauwesen, Bergbau, Soziale Fragen, Gesundheit, Justiz, Sporterziehung und innere Verwaltung. Zwei Jahre später, kurz vor Kriegsausbruch in Jugoslawien, erhält es auch die Kontrolle über die Gendarmerie. Im Lauf der Jahre hatte die Bauernpartei viele Oppositionsinstitutionen aufgebaut, die nun legalisiert und der Banovina angegliedert wurden. Am wichtigsten war hierbei der paramilitärische Verband der Partei. Dieser Erfolg der Bauernpartei führte zu Problemen, da sie ihre wichtigstes Programmziel erreicht hatte und nun innerparteiliche Differenzen über das weitere Vorgehen sichtbar wurden.138

Im Juni des selben Jahres starb Mehmed Spaho, der trotz seiner mehrmaligen Regierungsbeteiligung eine Aufteilung Bosniens auf Kosten der Muslime nicht verhindern konnte. Sein Nachfolger Džafer Kulenović forderte, der Linie von Spaho folgend, eine eigene bosnische Banovina.139

In dieser Zeit wurde die Kommunistische Partei und die Ustaše aktiv. Die Ustaše nahmen bis kurz vor dem zweiten Weltkrieg eine marginale Rolle in der politischen

135 Malcolm, Bosnia, 170 f. 136 Sundhaussen, Geschichte Jugoslawiens, 77-83. 137 Interessant ist hierbei, daß sich ein Großteil der bosnischen Gebiete des Banovina

Primorska/Kroatien mit den Anprüchen der kroatischen Bosnier und ihrer Republik Herceg-Bosna 1993-94 deckt.

138 Rudolf Kiszling, Die Kroaten. Der Schicksalsweg eines Südslawenvolkes (Graz/Köln 1956) 160-162.

139 Malcolm, Bosnia, 172 f.

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Landschaft Kroatiens ein. Der Anführer Ante Pavelić war vorher Führer der Partei des kroatischen Rechts und lehnte Jugoslawien vollkommen ab. Er ging 1929 ins italienische Exil und organisierte von dort aus Militärlager. 1932 gründete er offiziell die Ustaše - Kroatische Revolutionäre Organisation. Nach seiner Vorstellung sollte Kroatien neben den Gebieten der Banovina auch ganz Bosnien-Herzegowina umfassen und politische Rechte nur Kroaten gewähren. Gleichzeitig mit der Ermordung von König Alexander organisierte er 1934 einen erfolglosen Aufstand in seiner Heimatregion Lika. Die Kampfverbände der Bauernpartei wurden von den Ustaše infiltriert und konnte deshalb nicht gegen sie eingesetzt werden. Obwohl 1940 etliche Ustaše-Führer verhaftet wurden, konnte die Organisation weiter in Kroatien agieren. Auch die serbischen Oppositionsparteien versuchten nun, das Sporazum zu zerstören und forderten eine Neuverhandlung. Sie beanspruchten ganz Bosnien-Herzegowina für Serbien.140

Am 25. März 1941 schloß die jugoslawische Regierung einen Bündnisvertrag mit Deutschland, der auf deutschen Druck hin zustande kam. Nur zwei Tage später kam es zu einem Putsch durch General Dušan Simović. Dieser Machtwechsel wurde von den meisten politischen Kräften begrüßt und die meisten Minister blieben im Amt.141 So trat die kroatische Bauernpartei der neuen Regierung bei und auch die Muslime Bosniens unterstützen einen Kurswechsel gegenüber Deutschland. Doch mit der Bombardierung Belgrads durch die deutsche Luftwaffe am 6. April 1941 und der folgenden Invasion endete diese Regierung und das erste Jugoslawien. Der königliche Generalstab floh zuerst nach Pale und Sarajevo und dann über Montenegro nach London.142

Trotz des Bestehens Jugoslawien unternahm niemand in der Zwischenkriegszeit den ernsthaften Versuch ein jugoslawisches Nationalgefühl aufzubauen. Obwohl dies den Erfolg des Staates stark behinderte, gab es vor dem zweiten Weltkrieg zumindest nie eine wirkliche Gefahr, daß Jugoslawien zerbricht. Ivo Lederer führt dies darauf zurück, daß Jugoslawien von revanchistischen Staaten umgeben war,143 die teilweise aggressiv territoriale Ansprüche stellten. Dieses Umfeld brachte sogar die Bauernpartei dazu, trotz ihrer ursprünglichen Ablehnung des Staates, diesen nicht mit allen Mitteln (oder mit Hilfe äußerer Unterstützung, z.B. des faschistischen Italiens) zu bekämpfen.144

Es ist jedenfalls den politischen Eliten in der Zwischenkriegszeit nicht gelungen, einen Staat aufzubauen, der von einem allgemeinen Konsens getragen wurde. Die fehlende Kompromißbereitschaft hatte schon während des Bestehens von Jugoslawien die Extreme gestärkt und die interne Stabilität zerstört. Hierin liegt auch die Erklärung für die schwache Verteidigung der jugoslawischen Armee 1941 und den nachfolgenden blutigen Bürgerkrieg.145

Bosnien-Herzegowina im 2. Weltkrieg

Ähnlich wie auch andere Kriege und Bürgerkriege in multinationalen Staaten finden sich im Rahmen der Einbeziehung Jugoslawiens in den 2. Weltkrieg mehrere parallele

140 Irvine, The Croat Question, 47-53. 141 Babara Jelavich, History of the Balkan, Bd. 2: Twentieth Century (Cambridge 1983) 236. 142 Donia, Fine, Bosnia and Hercegovina, 133-135. 143 Er nennt Italien, Ungarn, Bulgarien und das italienisch dominierte Albanien. Man könnte in

mancherlei Hinsicht auch Österreich hinzufügen. 144 Lederer, Nationalism and the Yugoslavs, 432 f. 145 Irvine, The Croat Question, 54-56.

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Konflikte. So unterscheidet Noel Malcolm fünf sich überlagerende Kriege in der Zeit zwischen 1941 und 1945. Der erste Krieg wurde von Deutschland und Italien gegen Jugoslawien geführt. Auf einer zweiten Ebene kämpften die Achsenmächte gegen die Alliierten. Im dritten Krieg standen Italien und Deutschland den Widerstandsgruppen in Jugoslawien gegenüber. Malcolm unterscheidet zwei weitere Bürgerkriege: Der Kampf der Ustaše gegen die serbische Bevölkerung und schließlich die Auseinandersetzungen zwischen den Partisanen und den Četnici.146 Dieser Liste ließ sich noch der Krieg zwischen den Partisanen und den Ustaše hinzufügen.

Noch vor Ende des Angriffskrieges Deutschlands gegen Jugoslawien wurde am 10. April der „Unabhängige Staat Kroatien“ (NDH) ausgerufen. Zu ihm gehörte ganz Bosnien-Herzegowina und Srem bis an den Zusammenfluß von Sava und Donau bei Belgrad. Einige dalmatinische Küstenstreifen fielen nicht an Kroatien, sondern an Italien. Dieser Staat war jedoch nicht unabhängig, wie es der Name versucht zu suggerieren, sondern stand unter deutschem und italienischem Einfluß. Er war in zwei Okkupationszonen geteilt. Die Gebiete entlang des Mittelmeers und das Hinterland kamen unter italienische Militärverwaltung, während der Rest von der deutschen Armee besetzt wurde. In zwölf Provinzen finden sich Teile Bosniens, wobei in sieben das Zentrum dieser Provinzen in Bosnien selber liegt, während sich in den anderen fünf das Zentrum außerhalb Bosniens befand.147

Die Ustaša Regierung, die eingesetzt wurde, besaß kaum eine breite Unterstützung in Kroatien oder Bosnien. Sie agierte zuvor in erster Linie aus dem Ausland. Nach Angaben von Noel Malcolm hatte sie nur 12.000 Mitglieder in Kroatien. Die scheinbare Verwirklichung der weitverbreiteten Forderung nach einem unabhängigen kroatischen Staat, das in der Zwischenkriegszeit unter anderem von der kroatischen Bauernpartei gefordert wurde, brachte der Ustaša-Partei eine gewisse Unterstützung zu Beginn des NDH. Die kroatische Bauernpartei lehnte jedoch eine Zusammenarbeit mit den Achsenmächten ab, so daß Maček auch das Angebot den NDH zu führen abschlug.148

Das Regime ging außerordentlich gewalttätig gegen die Zivilbevölkerung vor. Neben der Judenverfolgung, konzentrierten sich die Progrome auf die 1,9 Millionen Serben, fast ein Drittel der insgesamt 6,3 Millionen Einwohner. Hierbei kam es neben Vertreibungen und erzwungenen Konvertierungen auch zum Massenmord. So war es das Ziel von Ante Pavelić, dem Poglavnik (Führer) des NDH, ein Drittel aller Serben zu vertrieben, ein Drittel zu ermordet und ein Drittel zum Katholizismus zu konvertieren.149 Während der Erzbischof von Zagreb Stepinac die erzwungenen Übertritte ablehnte, stieß die Vorgehensweise des Regimes auf die Unterstützung vom Erzbischof Šarić von Sarajevo. Insbesondere die Franziskaner beteiligten sich aktiv an der Politik der Ustaše. Viele von ihnen wurden in Italien in der Nähe des Hauptquartiers der Ustaše ausgebildet und noch vor dem Krieg rekrutiert. Kritische Geistliche und Intellektuelle lehnten die Zusammenarbeit ab und gerieten nach dem Krieg oft in

146 Malcolm, Bosnia, 174. 147 Ivo Banac, Bosnian Muslims: From Religious Community to Socialist Nationhood and

Postcommunist Statehood, 1918-1992, in: Mark Pinson (Hg.) The Muslims of Bosnia-Herzegovina, Their Development from the Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia (Cambridge, Ma 1993) 141.

148 Zur Struktur des „Unabhängigen Kroatien“ s. Holm Sundhaussen, Der Ustascha-Staat: Anatomie eines Herrschaftssystems, in: Österreichische Osthefte, Nr. 2/95, Jhrg. 37, 497-533.

149 Malcolm, Bosnia, 174 f.

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Konflikt mit der kommunistischen Partei (vgl. Kapitel 3.4.1).150 Insgesamt wurden über 200.000 Serben konvertiert und 100.000 Serben ermordet. Symbol dieser Verfolgungen wurde das Lager Jasenovac in Westslawonien, in dem die meisten Serben im Krieg ermordet wurden.151

Der Terror ging so weit, daß sich bereits im Juli 1941 deutsche Armeeangehörige über die Brutalität beschwerten. Die Ustaše bemühten sich um die Unterstützung der Muslime. Der JMO-Vorsitzende Džafer Kulenović wurde im November 1941 zum kroatischen Vizepräsident. Auch zeigte sich Pavelić bei dem 1. Jahrestag der Ausrufung des „unabhängigen Kroatiens“ mit einem Fez und bezeichnete die Muslime als die „Reinsten aller Kroaten“.152 Die Ustaše räumten jedoch den Muslimen trotz derartiger Deklarationen keine wirklichen Rechte ein. Die Rechte der Muslime verbesserten sich im Vergleich zum Vorkriegsjugoslawien kaum. Dagegen wurde der Druck auf die muslimische Bevölkerung durch die Četnici153 größer. Da das kroatische Regime keine Sicherheit herstellen konnte, unterstützten die Muslime zunehmend die Partisanen. Die Übergriffe der Četnici und die fehlende Repräsentation von Muslime in der jugoslawischen Exilregierung verhinderten eine Kooperation zwischen muslimischen Politikern und der serbischen Exilregierung. Es gab dementsprechend kaum Muslime, die sich serbischen Freischärlern anschlossen. Unter der muslimischen Bevölkerung bestanden Bemühungen, über den NDH-Staat hinweg mit den deutschen Besatzungstruppen ein Bündnis zu schließen. Dies mißlang und führte lediglich 1943 zu einer SS-Einheit (Handžar) aus bosnischen Muslimen. Der deutsch-freundliche Großmufti von Jerusalem ermutigte die bosnischen Muslime, sich im Kampf gegen die Kolonialmächte den Deutschen anzuschließen.154

Neben kleineren, lokal begrenzten Aufständen gegen das Regime bauten zwei Gruppen ein weites Widerstandsnetz gegen das Ustaša-Regime auf: Die Četnici und die Partisanen der kommunistischen Partei. Zu Beginn des Krieges war der Erfolg der großserbisch-orientierten Četnici noch größer, unter anderem auch aufgrund ihrer internationalen Anerkennung. Sie wurden von einem serbischen Offizier der jugoslawischen Armee angeführt. Draža Mihailović erhielt die Rückendeckung der königlichen Regierung im Exil, die ihn zum General und 1942 schließlich zum Kriegsminister ernannte. Die Exilregierung sicherte den Četnici die Unterstützung durch die Alliierten. Diese relativ dezentrale Widerstandsgruppe setzte sich ursprünglich für eine Wiederherstellung des Vorkriegsjugoslawiens zum Ziel. Auch wenn dies offiziell angestrebt wurde, stand die Schaffung Großserbiens im Zentrum der Bemühungen der Četnici. Es sollte neben Serbien auch Montenegro, Bosnien, Slawonien, Dalmatien, und

150 Fred Singleton, A Short History of the Yugoslav Peoples (Cambridge 1985) 179-181. 151 Donia, Fine, Bosnia and Hercegovina, 141 f. Bis heute bestehen keine gesicherten Zahlen über die

serbischen Kriegsopfer. Serbische Historiker setzen die Zahl oftmals zu hoch bei über einer Million an (z.B. Vladimir Dedijer, Jasenovac - das jugoslawische Auschwitz und der Vatikan (Freiburg 1988)). Kroatische Historiker (z.B. Franjo Tudjman, Nationalism in Contemporary Europe (New York 1981) 162-164) versuchen die Zahl nach unten zu korrigieren und schätzen weniger als 100.000 serbische Opfer des NDH.

152 Malcolm, Bosnia, 175 f.; Friedman, The Bosnian Muslims, 122. 153 Die Četnici beziehen ihren Namen von anti-osmanischen Einheiten in Serbien zur Zeit der

Herrschaft der Hohen Pforte. s. Castellan, Histoire des Balkans, 306 f. 154 Malcolm, Bosnia, 189.

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sogar Teile Nordalbaniens umfassen, dessen nicht-serbische Bevölkerung, vergleichbar mit der Politik der Ustaše, entweder ermordet oder vertrieben werden sollte.155

Die Četnici folgten einer anderen Taktik als die siegreichen Partisanen. Sie bekämpften lediglich zu Anfang des Krieges, bis Ende 1941, offen die deutsche Besatzung. Im weiteren Kriegsverlauf folgten sie der Linie der Exilregierung, die einen Beginn des Widerstandes gleichzeitig mit der alliierten Invasion anstrebte. Zugleich versuchten sie möglichst wenig in Konflikt mit den Besatzungsmächten zu kommen, um schwere Repressalien der deutschen Besatzer gegen die serbische Zivilbevölkerung zu verhindern und bereiteten stattdessen die erwartete Fronteröffnung durch die westlichen Alliierten auf dem Balkan vor. Dies war eine Reaktion auf die deutsche Anweisung für jeden durch den Widerstand getöteten Soldaten 100 Serben zu ermorden.

Insbesondere kroatische und muslimische Zivilisten wurden zu Opfern der Četnici. Die Muslime wurden von den Četnici eng mit dem alten Feindbild der Türken identifiziert. Diese Zurückhaltung gegenüber den Besatzern bewirkte jedoch, daß die Hauptaktivitäten sich auf die Partisanen oder auf die Zivilbevölkerung konzentrierte. Diese Linie brachte den Četnici die Kritik ein, durch ihre Politik den Besatzern sowohl indirekt, wie auch direkt geholfen zu haben. Tatsächlich griffen die Četnici später die Partisanen verstärkt an und machten die Zivilbevölkerung anderer Nationen zu den Hauptopfern ihrer Übergriffe.156

Im Zentrum der zweiten Widerstandsgruppe stand die kommunistische Partei. Sie war in der Zwischenkriegszeit sehr klein und wurde schon bald nach den ersten Wahlen 1920 verboten. 1940 hatte sie lediglich 6.000 Mitglieder in ganz Jugoslawien. In Bosnien besaß die KP ein Jahr zuvor nur 170 Mitglieder. Zeitweilige Allianzen mit den Četnici blieben von kurzer Dauer, da sich eine der beiden Gruppen besser mit dem gemeinsamen Feind arrangieren konnte, als mit der anderen Widerstandsgruppe. Während die Četnici in erster Linie in Serbien, Montenegro und in der Herzegowina ihre Basis hatten, etablierten sich die kommunistischen Partisanen in Bosnien.

Der Parteivorsitzende (seit 1937) Josip Broz Tito wollte, im Gegensatz zu den Četnici, nicht den Vorkriegszustand wiederherstellen oder eine Nation bevorteilen, sondern ein sozialistisches Jugoslawien erschaffen.157 Bereits 1935 schlug die KP eine Föderalisierung Jugoslawiens vor, während sie zuvor eine Zerschlagung des „imperialistischen Gebilde“ Jugoslawien propagierte. Die Föderalisierung sollte mit einer Zentralisierung auf der politischen Ebene einhergehen und konnte somit kaum einen wirklich föderalen Staat hervorbringen, nach sowjetischem Vorbild. Die Föderalisierung spiegelt sich auch im Motto der Partisanen wieder: Bratstvo i jedinstvo (Brüderlichkeit und Einigkeit). Gerade dieses Konzept zog viele Nichtkommunisten an. So gab es Religionsvertreter in den Einheiten der Partisanen, Nichtkommunisten hielten Posten bei den Partisanen und innerhalb der provisorischen Regierung inne. Allerdings sorgte die KP dafür, daß sie keine wirkliche Macht abzugeben hatte. So wurde im Herbst 1942 in Bihać der antifaschistische Rat zur Volksbefreiung Jugoslawiens (AVNOJ) gegründet, dem neben Kommunisten auch prominente Vertreter der Vorkriegsparteien angehörten. In Jajce wurde ein Jahr später Tito zum Präsidenten des

155 Josef Manoschek, „Serbien ist judenfrei“ Militärische Besatzungspolitik und Judenvernichtung in

Serbien 1941/1942 (=Beiträge zur Militärgeschichte 38, München 1993) 114-121. 156 Donia, Fine, Bosnia and Hercegovina, 143 f. 157 In der Zwischenkriegszeit lehnte die KP auf Weisung Moskaus sogar zeitweise Jugoslawien

grundsätzlich ab und forderte eine staatliche Neuordnung des Balkans.

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nationalen Befreiungskomitees (die Exekutive des AVNOJ) gewählt. Die Partisanen machten somit der Exilregierung in London die Vertretung Jugoslawiens streitig.158

Am Beginn der Partisanenkämpfe im Juli 1941 bestand die Gruppe in erster Linie aus Serben aus der Šumadija, doch schon bald wuchs die Zahl der Partisanen aus anderen Nationen stark an. Im Mai 1942 wurde die erste eigene Einheit für die Muslime geschaffen.159 Im selben Jahr kontrollierten die Partisanen bereits ein größeres Gebiet in Nordwestbosnien. Während die italienischen Besatzung mit den Četnici teilweise zusammenarbeitete, bekämpfte die deutsche Armee sowohl die Partisanen, als auch die Četnici.160 Der Erfolg der Partisanen und der Druck der Alliierten führte im September 1944 zu einem Aufruf von König Peter, die Partisanen zu unterstützen. Bereits bei der Konferenz 1943 in Teheran beschlossen die Alliierten nur noch mit den Partisanen zu zusammenzuarbeiten, als deutlich wurde, daß die Četnici mit den Besatzern kollaborierten.161 Zugleich brach die Herrschaft der Ustaše zusammen. Viele Angehörige desertierten zu den Partisanen, auch der Waffenstillstand Italiens 1943 begünstigte die Partisanen.

Die Sympathien der bosnischen Kroaten, wie auch der Kroaten in Kroatien, waren gespalten. Viele schlossen sich entweder den Ustaše oder den Partisanen an. Zu Beginn des Krieges erfuhren die Ustaše noch Unterstützung, doch die Kombination der Terrorherrschaft und des Erfolges der Partisanen führte zu einer stärkeren Gefolgschaft der multinationalen Armee. Die Sympathien der serbischen Bevölkerung waren ähnlich zwischen den Partisanen und den Četnici gespalten. Auch hier gewann die erste Gruppe allmählich die Oberhand. Während jene Serben, die in Serbien selber oder im Grenzgebiet wohnten, eher die Četnici unterstützten, waren die Partisanen in der serbischen Bevölkerung in Zentral- und Westbosnien stärker verankert. Die Lage für die bosnischen Muslime stellte sich weitaus schwieriger dar. Wie im vorhergehenden Kapitel erwähnt, war in der Zwischenkriegszeit die Selbstidentifikation der Muslime noch nicht gefestigt. Dies wirkte sich auch auf die jeweiligen Sympathien während des Krieges aus. So vertrat der Bruder von Mehmet Spaho, dem Parteivorsitzenden der JMO, eine prokroatischen Linie. Er war zugleich auch der Reis-ul-Ulema zwischen 1938 und 1942. Während des Krieges kämpften Muslime auf fast allen Seiten mit; am wenigsten bei den Četnici, jedoch bei den Partisanen und in der Armee der Ustaše. Die bosnischen Muslime erhalten in den Plänen der KP nicht den Status einer eigenen Nation, Kardelj beschreibt die Muslime Bosniens 1936 als „besondere ethnische Gruppe“. Das Versprechen der Partisanen Bosnien als Republik wiederherzustellen hat zur muslimischen Unterstützung für ein sozialistisches Jugoslawien beigetragen. Insgesamt litt die muslimische Bevölkerung proportional gesehen am meisten. So starben während des 2. Weltkrieges 75.000 Muslime, beziehungsweise 8,1 Prozent dieser Bevölkerungsgruppe.162

158 Sundhaussen, Geschichte Jugoslawiens, 130-136. 159 Friedman, The Bosnian Muslims, 128 f. 160 Einige Četnici-Einheiten wurden von den deutschen Besatzern legalisiert, indem sie sie formal dem

serbischen Marionettenregieme von General Nedić unterstellt, s. Manoschek, „Serbien ist judenfrei“, 116.

161 „The Yugoslav partisans, under the leadership of Marshall Tito, would be supported by the three powers 'to the greatest possible extent.'“ The Tehran Conference, in: Frederick H. Hartmann (Hg.) Basic Documents of International Relations (New York/Toronto/London 1951) 164.

162 Malcolm, Bosnia, 180 f.

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Insgesamt setzten sich die Partisanen durch, da es ihnen gelang, gerade in Bosnien für alle drei Nationen attraktiv zu sein und nicht, wie die anderen beiden Gruppen, die in Bosnien aktiv wurden, einer repressiven nationalistischen Linie zu folgen.

Es war nicht überraschend, daß Bosnien im Zentrum des Widerstandes stand. Mit Hilfe von Guerilla Taktik gelang es den Partisanen sieben deutsche Offensiven abzuwehren. Während die Partisanen Ende 1944 bereits die größten Teile Bosnien-Herzegowinas kontrollierten, gelang es ihnen erst am 6. April 1945 in Sarajevo einzuziehen, womit ihre Herrschaft über Bosnien gesichert wurde. Obwohl der größte Teil Jugoslawien durch die Partisanen befreit wurde, beteiligte sich die Rote Armee bei der Eroberung Serbiens Ende 1944. Die letzten Einheiten Deutschlands und des Ustaše-Regimes ergaben sich im Mai 1945, während einige kleine Četnici-Einheiten noch Jahre in abgelegenen Gegenden Jugoslawien aushielten. Draža Mihailović wurde erst 1946 gefangengenommen und hingerichtet. Mit dem Sieg der Partisanen und der kommunistischen Vorherrschaft über Jugoslawien begann Bosniens Geschichte als Republik des 2. Jugoslawien, die mehr als doppelt so lange, 46 Jahre, andauern sollte.163

2.3.2. Libanon als französisches Mandatsgebiet

Bereits unter der osmanischen Herrschaft des Libanon war die französische Vormacht im Land größer, als der Einfluß einer einzelnen Großmacht in Bosnien vor 1878. Die Übernahme des Mandats für den Libanon und Syrien nach Ende des 1. Weltkrieges instituionalisierte die französische Vorherrschaft über den Libanon. Zuvor waren die Beziehungen Frankreichs zum Libanon in erster Linie mit den Maroniten verbunden. Nun mußte Frankreich gegenüber den anderen Konfessionen eine politische Linie definieren.

Die Konsolidierung der französischen Herrschaft

Anfang Oktober 1918 landeten französische Einheiten in Beirut. Im selben Monat zogen die Einheiten von Faysal mit britischen Truppen in Damaskus ein. Damit endete die osmanische Herrschaft Bereich der Levante. Zwei Jahre später, im April 1920, teilen sich Frankreich und Großbritannien den Mashrik164 gemäß des Sykes-Picot Abkommens auf. Irak und Palästina (mit Transjordanien) fielen unter britische Herrschaft, während Libanon und Syrien von Frankreich verwaltet werden sollten. Lediglich die arabische Halbinsel blieb nominell unabhängig. Im Vertrag von Sèvres, einem der „Pariser Vorortverträge“, mußte die Türkei dieser Aufteilung zustimmen. Die französisch und englisch besetzten Gebiete wurden zwei Jahre später offiziell in Mandate des neugegründeten Völkerbundes umgewandelt. Gegen die französische Besatzung formierte sich jedoch schon bald Widerstand von der Bevölkerung. Die syrisch-libanesischen Aufständischen wurde bei einer Schlacht in Maysaloun, in der Nähe von Damaskus, 1920 besiegt.165

Die Begründung für die Kolonialisierung des Libanons und der anderen ehemaligen Gebiete des Osmanischen Reiches war der fehlendes Entwicklungsstand der Länder. Sie sollten fremder Verwaltung unterstellt werden, bis sie sich selbst regieren können. Diese Rechtfertigung findet sich in Artikel 22 der Satzung des Völkerbundes:

163 Siehe Jelavich, History of the Balkans, Bd. 2, 270-273 164 Die arabischen Gebiete in Asien ohne die arabische Halbinsel. 165 Hitti, Lebanon in History, 486 f.

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„Certain communities formerly belonging to the Turkish Empire have reached a stage of development where their existance as independent nation can be provisionally recognized subject to the rendering of administrative advice and assistance by a Mandatory until such time as they are able to stand alone.“166

Die Formulierung bringt den Anspruch zum Ausdruck, nur im besten Interesse des Landes die Verwaltung zu übernehmen. Zusätzlich wird von unabhängigen Nationen gesprochen, die im Nahen Osten kaum zu diesem Zeitpunkt bestanden. So erhielt der heutige Libanon seine jetzigen Grenzen erst 1920.

Die französische Kolonialpolitik war auf die Assimilation der lokalen Bevölkerung bedacht und versuchte französische Kultur so zu verbreiten, daß zumindest Teile der Kolonialvölker zu französischen Bürgern wurden. In der Kolonialpolitik Frankreichs kommt somit weniger die französische Demokratie, als deren Zentralismus zum Ausdruck. David Thomson beschreibt diese Politik folgendermaßen: „This policy had the more limited aim of transforming a native élite into full French citizens, and at taking this élite into partnership in administration.“167 Diese zentralistischen und étatistischen Tendenzen wurden im Mandatsgebiet Libanon zwar nicht mehr so stark wie in früheren Kolonien praktiziert, doch insbesondere auf die maronitische Bevölkerung hatte diese Linie Einfluß. Diese Politik hatte den Nachteil für den Libanon die maronitische Elite zu diskreditierten und der Bevölkerung eine einheitliche politische Klasse vorzuenthalten. Zugleich führte dies dazu, daß ein großer Bevölkerungsteil, die Maroniten, die französische Herrschaft nicht als Fremdherrschaft empfand.

Der Status von Syrien und dem Libanon wurde am 24. Juli 1922 geregelt. Dieses Dokument ist sehr knapp gefaßt und unausgewogen. So setzt sich ein unproportional großer Teil des Textes mit archäologischen Bestimmungen (Art. 14) auseinander. Im Statut verpflichtet sich Frankreich binnen drei Jahren eine Verfassung für die beiden Mandatsgebiete zu verabschieden (Art.1). Nach dessen Inkrafttreten konzentrierten sich die Kompetenzen der Mandatsmacht auf die außenpolitische Vertretung des Landes (Art. 3) und die Anwesenheit von französischen Truppen zur Verteidigung des Landes (Art.2). Weiterhin wurden die Menschenrechte und Grundfreiheiten (Art. 6 & 8), sowie die Autonomie der Konfessionen (Art. 9 &10) mit dem Vertrag zugesichert. Neben dem Arabischen wird Französisch als Amtssprache eingeführt (Art. 16).168 Die Mandatsregelung erweckt den Eindruck, als sollte der Einfluß Frankreichs in die internen Angelegenheit des Libanon (und Syrien) nach der Verabschiedung der Verfassung minimal sein. Frankreich kontrollierte die Politik des Libanon jedoch bis zu dessen Unabhängigkeit nach dem 2. Weltkrieg.

In den ersten Jahren der französischen Mandatszeit wurden neue Gesetze eingeführt, die Währung an den französischen Franken gebunden und eine neue Verwaltung aufgebaut. Auch wurde eine provisorische Verfassung verabschiedet, die die neuen Grenzen des

166 Convenant of the League of Nations, Article 22.3, in: Hartmann (Hg.) Basic Documents of

International Relations, 59. 167 David Thomson, Democracy in France since 1870 (New York/London 1964) 167. 168 Der Text der Mandatsregelung findet sich in Stephen Hemesley Longrigg, Syria and Lebanon under

French Mandate (London/New York/Toronto 1958) 376-380.

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„Etat du Grand Liban“169 festlegte. In seiner Fläche ist dieser libanesische Staat doppelt so groß wie das autonome Gebiet „Mont Liban“ der osmanischen Zeit. Bevölkerungszahl vergrößerte sich um 50 Prozent. Die Küstenstädte kamen hinzu (Beirut, Tripoli, Sidon und Tyrus), sowie einige Gebiete im Hinterland (Baalbek, Bekaa, Hasbaïya, Rachaïya und Marj'uyun). Im Jahr 1913 lebten im Mont Liban 414.800 Einwohner, von ihnen waren 329.482 Christen (242.308 Maroniten). Zehn Jahre später hatte das neue Libanon 628.863 Einwohner (150.000 in Beirut, 30.000 in Tripoli und 13.000 in Sidon) (vgl. Tabelle 7).170 Obwohl die Maroniten in diesem neuen Staat dominierten, hießen nicht alle Maroniten diese Vergrößerung des Libanons willkommen, da sie um ihre Vormachtstellung im neuen Staat fürchteten. Der Status der Mandatsherrschaft berücksichtigte nicht den Widerstand von breiten Teilen der Bevölkerung gegen die französische Herrschaft und gegen den neuen Staat an sich.

Im Rahmen des 14 Punkte Programmes (u.a. Selbstbestimmungsrecht der Völker) des amerikanischen Präsidenten beauftrage Woodrow Wilson die King-Crane Kommission die Unterstützung der Bevölkerung an den verschiedenen möglichen staatlichen Lösungen zu bestimmen. Frankreich und Großbritannien versuchten vergeblich die Arbeit der Kommission zu behindern. Der Bericht über Palästina, Syrien, Libanon, sowie Mesopotamien (bzw. Irak) analysierte die Probleme der neuen Lage aus der Sicht der lokalen Eliten (ca. 2.000 Personen wurden befragt). Im Zentrum dieses Berichts stand Syrien.171 Die elfköpfige Kommission, bestehend aus amerikanischen Politikern, Delegierten der Friedenskonferenzen und Historikern kam zum Schluß, daß Großsyrien am meisten Unterstützung findet. Die historische Autonomie des Libanon könnte, so der King-Crane Bericht, auch in einem gemeinsamen Staat mit Syriens gewahrt bleiben.

Die Kommission befragte die Eliten auch nach ihrer bevorzugten Mandatsmacht. Über 60 % von ihnen sprachen sich, kaum überraschend im Hinblick auf die Autoren, für eine amerikanische Mandatsherrschaft aus. Gleichviele lehnten eine französische Herrschaft strikt ab. Englische und französische Politiker protestierten naturgemäß gegen diese Schlußfolgerungen. Das zentrale Gegenargument war die potentielle Bedrohung des Islam für die Christen des Libanon und die Juden Palästinas. Somit erhoben die beiden Mandatsmächte den Anspruch Palästina und den Libanon getrennt von Syrien zu verwalten.

Die Positionen der Bevölkerung unterschieden sich jedoch nach Konfessionen. Drusen und Muslime forderten meist ein gesamtarabisches Reich, wie es von Großbritannien versprochen worden war. Neben vielen Muslimen wünschten sich viele Orthodoxe und die winzige protestantische Religionsgemeinschaft einen Zusammenschluß mit Syrien. Zu diesem Zeitpunkt hat sich die schiitische Gemeinschaft noch kaum artikuliert und folgte meist den politischen Führer der sunnitischen Muslime.172

169 Der Name steht in keinem Verhältnis zur geringen Größe des Landes mit etwas mehr als 600.000

Einwohnern und ca. 10.000 km2 Gesamtfläche (vergleichbar mit Oberösterreich). 170 Hitti, Lebanon in History, 488-490. 171 Syrien hier nicht im Sinne des Staates Syrien, sondern der geographischen Region, die auch den

Libanon und Palästina umfaßt. 172 Da die Schiiten sowohl in Großsyrien, wie auch in einem arabischen Reich, eine kleinere Minderheit

als im Libanon darstellen würden, kann man davon ausgehen, daß ihre Unterstützung für den Libanon größer als unter den Sunniten war. Michael Kuderna, Libanon, in: Udo Steinbach, Robert Rüdiger (Hg.) Der Nahe und Mittlere Osten: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Geschichte und Kultur, Bd. 2: Länderanalysen (Opladen 1988) 239; Michael Kuderna, Christliche Gruppen im Libanon: Kampf um Ideologie und Herrschaft in einer unfertigen Nation (Wiesbaden 1983) 24.

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Die Präferenzen wurden jedoch nicht nur durch die Konfessionszugehörigkeit, sondern durch die Region geprägt. So fanden sich die meisten Befürworter eines unabhängigen Libanon im Mont Liban, welches traditionell große Autonomie besaß. Im Bekaa und im Südlibanon war die Identifikation mit dem Libanon jedoch historisch kaum verankert.173

Der Bericht sah bereits viele zukünftige Probleme voraus. So urteilte die Kommission, daß sich Syrien ohne den Libanon in einer geographisch schwierigen Lage befindet, die beide Ländern für einen französischen Einfluß anfällig machen. Zudem befürchtete sie Schwierigkeiten für das Gleichgewicht zwischen Christen und Muslimen in einem selbständigen Libanon.174

Selbst ein hoher französischer Kolonialbeamter, Robert de Caix, warnte vor einem Großlibanon. Nach seiner Meinung würde Beirut das Gleichgewicht zwischen Stadt und Land stören und sich zu einer überproportional großen Hauptstadt entwickeln. Tripoli sah er wiederum als Zentrum der Gegner des Libanons, so daß der Anschluß der Stadt einen zukünftigen Unruheherd darstellte. Er sollte mit beiden Vermutungen recht haben, wenn auch erst 40 Jahre später.175

Die Republik Libanon

Am 23. Mai 1926 wurde der Libanon zu einer Republik erklärt. Zugleich wurde die neue Verfassung verabschiedet. Sie führte die parlamentarische Demokratie als Regierungssystem ein. Die Verfassung wurde von einem repräsentativen Rat auf Anweisung des ersten zivilen Hochkommissars für den Libanon, Henri de Jouvenel, ausgearbeitet. Sie sah einen vom Parlament gewählten Präsidenten, ein Kabinett mit Ministerpräsident und ein Parlament mit zwei Kammern (Abgeordnetenkammer und Senat) vor. Der Senat, dessen Mitglieder vom französischen Hochkommissar ernannt wurden, bestand nur 17 Monate.176

Der wichtigste Autor der Verfassung, Michel Chiha, ein maronitischer Geschäftsmann, war darum bemüht, den politischen Wettbewerb von der interkonfessionellen auf die intrakonfessionelle Ebene zu verlegen. Trotzdem lebten in einem Wahlkreis stets mehrere Konfessionen, so daß der jeweilige Wahlgewinner auch auf die Interessen der anderen Konfessionen eingehen mußte. Durch dieses Gleichgewicht hoffte man die Spannungen zwischen den Konfessionen zu mindern. Das Verhältnis der Ämterverteilung zwischen Christen und Muslimen lag bis zu den Reformen 1989 bei 6:5, sowohl im Parlament, wie auch in der Verwaltung (zur Funktionsweise der Institutionen s. Kapitel 3.1.2.).177

Trotz mehrfacher Änderungen und zeitweiliger Suspendierung ist die Verfassung nach wie vor in Kraft. Die umfassenden Verfassungsänderungen nach Ende des Bürgerkrieges können jedoch als Totalrevision gelten, so daß seit 1989/90 im Libanon die „2. Republik“ besteht.

Der spätere Präsident Emile Eddé reformierte als Premierminister 1929/1930 den Staat. Durch diese Reform erhielt der Libanon fünf Provinzen (muhafadha): Nordlibanon, Mont Liban, Südlibanon, Bekaa und Beirut. Diese Provinzen besaßen keine Autonomie

173 Theodor Hanf, Die drei Gesichter des Libanonkrieges, in: Friedensanalysen 8 (Frankfurt 1978) 67. 174 Corm, L'europe et l'orient, 131-138, 146-149. 175 Itamar Rabinovich, The War for Lebanon, 1970-1983 (Ithaca, N.Y./London 1984) 21. 176 Adnan Ansawi, Libanon, Vereinigte Arabische Republik, Irak (=Die Staatsverfassungen der Welt 2,

Frankfurt/Berlin 1960) 21. 177 David C. Gordon, The Republic of Lebanon, Nation in Jeopardy (Boulder, Col 1983) 20.

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und unterstanden der Zentralregierung. Diese Gliederung besteht bis heute. Eddé schloß weiterhin 100 öffentliche Schulen. In einem Land mit einem schwachen öffentlichen Schulwesen und großen Bildungsdifferenzen zwischen Konfessionen war die Schließung ein schwerer Rückschlag. In erster Linie wurde die muslimische Bevölkerung hierdurch benachteiligt, da die christlichen Kinder meist Missionsschulen besuchten. Diese und weitere Reformen in der französischen Mandatszeit begründeten die Tradition geringer staatlicher Intervention in das in das Sozialsystem, sowie das Bildungs und das Gesundheitswesen.

Im Mai 1932 wurde erstmals die Verfassung durch den französischen Hochkommissar außer Kraft gesetzt und das Parlament aufgelöst. Die konfessionell dominierte Politik lähmte das System, das durch die Weltwirtschaftskrise bereits in eine Krise geraten war. Der ernannte Präsident Charles Debbas (1926-1933) blieb im Amt und verabschiedete Gesetze per Dekret mit der Zustimmung des Kommissars. In der zweijährigen Periode ohne Verfassung entwickelten sich zwei politische Strömungen im Libanon. Die eine forderte eine Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Herrschaft. Diese Gruppe stand in Opposition zu Präsident Debbas ab, da er die Suspendierung der Verfassung akzeptiert hatte. Zugleich strebte die Gruppe ein Ende der Mandatsherrschaft an. Hingegen befürwortete ein Großteil der maronitischen Bevölkerung die direkte französische Herrschaft. Während das Parlament aufgelöst war, wurden wirtschaftliche Reformen verabschiedet, die die Befürworter der Herrschaft durch Präsident und Hochkommissar bestätigte. Zugleich stärkte die Ausschaltung des Parlament die Maroniten, die ihre Interessen besser durch Frankreich und den Präsidenten vertreten sahen, als in einem Parlament, wo ein Kompromiß mit den anderen Konfession nötig war.178 Diese Reaktion zeigte, daß die französische Herrschaft von vielen Maroniten weniger als „fremd“ gesehen wurde, als die Teilung der Macht mit den anderen Konfessionen im eigenen Land. Hierin liegt eine der grundlegenden Probleme für einen unabhängigen Libanon.

In den frühen Jahren der Republik etablierte sich, noch unter französischer Oberherrschaft, ein Aufteilungsschlüssel zwischen den Religionsgruppen, der später im Pact national Bekräftigung erfuhr. Demzufolge ist der Präsident stets ein maronitischer Christ, der Ministerpräsident ein Sunnit, der Parlamentspräsident ein Schiite und der Verteidigungsminister ein Druse.179 Im Vergleich zu den Bevölkerungszahlen (Tabelle 7) wurden somit nur etwas drei Viertel der Bevölkerung berücksichtigt. Doch selbst dieser Repräsentationsgrad innerhalb der Elite dürfte zu hoch gegriffen sein: Zum einen überschätzt die Volkszählung die Zahl der Maroniten, zum anderen verfügte der Parlamentspräsident nur geringen politischen Einfluß. Praktisch wurden die wichtigsten Machtpositionen (Präsident und Ministerpräsident) zwischen zwei Konfessionen, die nur die Hälfte der Bevölkerung stellen, aufgeteilt.

Der Nachfolger von Debbas, Habib al-Sa'd (1934-1936), wurde noch vom französischen Hochkommissar ernannt und gehörte der griechisch-orthodoxen Religionsgemeinschaft an. Der nächste Präsident wurde bereits vom Parlament gewählt. In der Amtszeit des ersten gewählten Präsidenten, Emile Eddé (1936-1941) zog sich die französische Mandatsmacht auf „Beraterposten“ zurück. Allerdings reichte der faktische Einfluß weit

178 Longrigg, Syria and Lebanon under French Mandate, 202-205. 179 Nur in der Mandatszeit bekamen die Drusen den Posten des Verteidigungsministers zugesichert. Im

unabhängigen Libanon erhielten die Drusen in den meisten Kabinetten einen bedeutenden Ministerposten.

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über eine „Beratung“ hinaus. Das erklärt sich unter anderem daraus, daß die französische Armee die einzige Militärmacht auf libanesischem Boden darstellte.180

Im November 1936 unterzeichneten Präsident Eddé und der Hochkommissar Damien de Martel einen auf 25 Jahre begrenzten Freundschaftsvertrag zwischen dem Libanon und Frankreich, der dem Mandatsgebiet Unabhängigkeit in allen Bereichen, mit der Ausnahme der Außen- und Verteidigungspolitik, einräumt. Auch sollte der Libanon dem Völkerbund beitreten können. Die französische Armee blieb im Libanon. Dieser Vertrag wurde jedoch aufgrund des Widerstandes der französischen Nationalversammlung nicht ratifiziert. Der Beginn des Weltkrieges schob eine Einigung vorerst weiter auf.

Am 24. Januar 1937 wurde schließlich die Verfassung wieder in Kraft gesetzt. Trotzdem kann von einer vollständigen Demokratisierung keine Rede sein. Nur zwei Drittel der Abgeordneten wurden gewählt, das restliche Drittel wurde vom Präsidenten ernannt. Die Wahlen im gleichen Jahr brachten größere Unruhen und eine Zersplitterung der politischen Landschaft mit sich. Für die vierzig Sitze (von sechzig) bewarben sich fast 600 Kandidaten. Die Opposition kam zu einer ungewöhnlichen Einigung mit Präsident Eddé. Ihr wurden 25 Sitze im Parlament „gestattet“. Die Möglichkeit, Wahlen durch ein Abkommen zwischen Präsident und Opposition derart zu manipulieren bringt die Mängel des Wahlrechts und des politischen Systems insgesamt zum Ausdruck.181

1922 1932 1943

Maroniten 199.182 32,7 % 226.378 28,8 % 318.201 30,4 %

griechisch-

orthodox

81.409 13,4 % 76.522 9,8 % 106.658 10,2 %

griechisch-

katholisch

42.426 7,0 % 46.000 5,9 % 61.956 5,9 %

andere Christen 12.651 2,1 % 53.463 6,8% 64.603 6,2 %

Christen 335.668 55,1 % 402.363 51,2 % 551.418 52,7 %

Sunniten 124.786 20,5 % 175.925 22,4 % 222.594 21,3 %

Schiiten 104.947 17,2 % 154.208 19,6 % 200.698 19,2 %

Drusen 43.633 7,2 % 53.047 6,8 % 71.711 6,9 %

Muslime 273.366 44,9 % 383.180 48,8 % 495.003 47,3 %

Insgesamt 609.070 785.543 1.046.428

Tabelle 7: Die Bevölkerungszahlen in der französischen Mandatszeit182

Eddé bemühte sich darum, den Libanon wieder zu verkleinern. Nach seinen Vorstellungen sollte der Staat die Grenzen des alten Autonomiegebiets mit Beirut umfassen. Er trat sogar mit dem Vertreter der jüdischen Verwaltung Palästinas, Chaim Weizman, in Kontakt, um diesem den Südlibanon anzubieten. Nachdem diese Pläne am

180 Hitti, Lebanon in History, 490-492. 181 Longrigg, Syria and Lebanon under French Mandate, 252 f. 182 1943 fand lediglich eine Schätzung der Bevölkerung statt. Courbage, Fargues, La Situation

Démographique au Liban, 21.

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französischen Widerstand scheiterten, bemühte sich die christliche Elite um eine Vorherrschaft innerhalb der bestehenden Grenzen.183

Zur gleichen Zeit gab es in der politischen Elite Syriens Bemühungen, den Libanon an Syrien anzuschließen. Insbesondere in Tripoli, wo es in der Zwischenkriegszeit öfter zu Aufständen gegen die Zugehörigkeit zum Libanon gekommen war, stieß dies auf fruchtbaren Boden. Der libanesische Präsident wurde dort 1937 mit Steinen empfangen. Die Stadt erhielt daraufhin eine, wenn auch begrenzte, Autonomie.

Die Unabhängigkeit des Libanon erschien aus syrischer Sicht weniger selbstverständlich als aus der Perspektive der politischen Elite des Libanon. Syrien wurde unter der französischen Verwaltung in verschiedene Gebiete zerteilt. An der Küste Nordsyriens entstand ein alawitischer Staat, im Süden schuf Frankreich den Jabal al-Duruz, ein selbständiges Drusengebiet, im Nordosten bestand kurzzeitig die kurdisch-christlich-arabische Provinz Jazira. Auch das Sandjak Alexandretta-Antiochia an der westlichen Grenze zwischen der Türkei und Syrien entzog sich der Kontrolle Syriens. Syrien war bemüht, alle diese Gebiete - einschließlich des Libanon - wieder in den Staat zu integrieren.184

Der 2. Weltkrieg

Als Reaktion auf den Kriegsbeginn verhängte der französische Hochkommissar am 9. September 1939 den Ausnahmezustand über den Libanon. Wiederum wurde die Verfassung außer Kraft gesetzt, das Parlament aufgelöst und die Macht des Präsidenten begrenzt. Kurzzeitig stand der Libanon unter Kontrolle von Vichy-Frankreich (1940-1941). Wie auch in anderen Kolonien stellte sich die Verwaltung zu Anfang des Krieges auf die Seite der Vichy-Regierung, nicht zuletzt auch wegen einer latenten traditionellen Antipathie gegenüber Großbritannien. Im Juni 1941 wurde der Libanon von englischen Truppen mit freien französischen Verbänden erobert. In Folge dessen kam der Libanon, ebenso wie Syrien, vorläufig unter britische Verwaltung.

Die freien französischen Verbände entsandten einen Generalvertreter in den Libanon, der am 26. November 1941 mit britischem Einverständnis die Mandatsherrschaft beendete. Großbritannien und die Vereinigten Staaten erkannten die Unabhängigkeit sogleich an. Jedoch erst im September 1943 kehrte das Land mit einem neuen Parlament zu seiner verfassungsmäßigen Ordnung zurück. Die Mehrheit der Abgeordneten waren pro-arabisch oder nationalistisch ausgerichtet. Bishara al-Khuri, ein in Frankreich ausgebildeter Anwalt, wurde Präsident und Riyad al-Sulh wurde Ministerpräsident.185 Beide vereinbarten in dieser Zeit den Nationalpakt, der den bereits erwähnten Verteilungsschlüssel für die höchsten Staatsämter zwischen den Konfessionen festlegte. Dieser erkannte zwar den arabischen Charakter des Libanon an, sprach dem Land aber auch eine speziellen Status zu. Der Ministerpräsident beschrieb den Charakter folgendermaßen: „Le Liban est une patrie au visage arabe, qui puise dans la culture occidentale ce qui lui est bon et utile.“186

183 Rabinovich, The War for Lebanon, 22. 184 Longrigg, Syria and Lebanon under French Mandate, 207 f., 252. 185 Hitti, Lebanon in History, 492-495. 186 Zitiert nach: Programme de l'Independence (Déclaration ministeriélle de Riad Solh du 7-10-1943),

in: Harald Vocke, Der umstrittene Krieg im Libanon. Samisdats, Zeitungsberichte, Dokumente (=Aktueller Informationsdienst Moderner Orient Sondernr. 6, Hamburg 1980) 246.

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An sich stand der Nationalpakt im Widerspruch zur Verfassung, die in Artikel 7 und 12 einen gleichberechtigten Zugang zu allen Ämtern vorsah. Dieser Konflikt wurde jedoch hingenommen, da der Nationalpakt nur als Provisorium galt. Er sollte später durch freien Zugang für alle ersetzt werden. Dieser Kompromiß zwischen muslimischen und christlichen Spitzenpolitikern wurde mündlich vereinbart, er findet lediglich in der Rede des Ministerpräsidenten vom 7. Oktober 1943 seinen Ausdruck.187 Die Rede kann eher als Absichtserklärung gesehen werden und weniger als konkrete Beschreibung des Nationalpakts. Aufgrund der fehlenden schriftlichen Festlegung zeigten sih in Krisenzeiten verschiedene Interpretationen des Nationalpaktes.188

Trotz der formalen Unabhängigkeit des Libanon kam es erneut zum Konflikt mit Frankreich. Der Generalvertreter kontrollierte nach wie vor eine französische Verwaltung, spezielle Truppen und die Administration in Bereichen „gemeinsamen Interesses“ des Libanons und Syriens (Grenzkontrollen, Zölle, Tabakmonopol und Firmenkonzession). Auch versuchte das Parlament alle Artikel, die sich auf den Mandatsstatus bezogen, abzuschaffen. Dieser Konflikte führte schließlich Ende 1943 dazu, daß der französische Generalvertreter, Jean Helleu, die Verfassung außer Kraft setzte, den Präsidenten und das Kabinett verhaftete und sie ins „Exil“ nach Rachaïya schickte. Der Ausnahmezustand wurde wiederhergestellt und eine strenge Zensur eingeführt. Internationaler Druck auf das freie Frankreich und Unruhen im Libanon zwangen Frankreich zu einer Rücknahme des Eingriffs, so daß die Regierung nach nur 21 Tagen zurückkehren konnte. Ende 1944 endete die französische Verwaltung und die Sonderrechte gingen an den Libanon über, die Truppen verließen erst am 31. Dezember 1946 das Land. Libanon war jedoch Gründungsmitglied der Vereinten Nationen, so daß man von einer schrittweisen Unabhängigkeit ausgehen kann, die mit dem Abzug fremder Truppen auf libanesischem Boden vollständig wurde.189

Durch die französische Mandatszeit vergrößerte sich die Vormacht der Christen und insbesondere der Maroniten gegenüber den Muslimen im politischen System, in Bildung und Wirtschaft. Die Bevorzugung der Maroniten wirkte jedoch nachteilig auf das Zusammenleben der verschiedenen Religionsgruppen aus. Im gleichen Sinne wirkte die Dominanz der französischen Sprache in Schulen und Verwaltung vom Staat.190

Die französische Mandatszeit besaß jedoch nicht nur schlechte Seiten. An positiven Entwicklungen sind der Aufbau der Infrastruktur, die Rationalisierung der Besitzregistrierung und die Einführung einer modernen Verwaltung und Armee hervorzuheben. Es gab auch mittelbare Vorteile für das Land. So vereinte der Widerstand gegen die französische Besatzung gegen Ende der Mandatszeit die Bevölkerung des Libanon über konfessionelle Grenzen hinweg. Zur Ablehnung der Mandatsherrschaft trugen der Niedergang der Seidenindustrie, die militärischen Maßnahmen gegen Aufstände in Damaskus 1925 und 1945 und der widerwillige Abzug Frankreichs gegen Ende des 2. Weltkrieges bei, den David Gordon als „graceless and even humiliating“ beschreibt.191 Gleichwohl beurteilten die meisten Maroniten die französische Herrschaft insgesamt positiv, doch sie isolierten sich dadurch von den anderen Konfessionen.

187 Für den gesamten Text s. Ebd. 188 Kuderna, Libanon, 239; Gordon, The Republic of Lebanon, 20 f. 189 Hitti, Lebanon in History, 495 f. 190 Hanf, Die drei Gesichter des Libanonkrieges, 68. 191 Gordon, The Republic of Lebanon, 21 f.

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Bereits 1957, noch vor dem 1. Bürgerkrieg, wurden die Bemühungen Frankreichs im Libanon als Fehlschlag gesehen:„..the French effort, so eagerly undertaken, so tenacioulsy pursued, was destined to an outcome which has been assessed by the world as one of unhappy failure in the most conspicous sphere, that of state-building and politics.“192 Die Konsequenz aus diesem Urteil ist nicht minder radikal: „The adoption in 1920 of a unitary Syria (containing, no doubt, a mildly priviledged Mont Lebanon) would have saved a whole multitude of later troubles, and if, at the time of writing (1957), it may be felt that Lebanon was lucky in its freedom from Syrian foreign policies of the mid-1950's, with their leaning to Russia, it may equally be believed that a Syria strengthend by a more westward-looking Lebanon, with a stronger sense of political (and commercial) realities, might well have been saved from courses thought by many of her friends to be gravely dangerous to her.“193

2.3.3. Zusammenfassung

Während Bosnien nach Ende Österreich-Ungarns in Jugoslawien aufging und als Verwaltungseinheit erst nach dem 2. Weltkrieg wiederentstand, erhielt der Libanon seine Grenzen in der Zwischenkriegszeit. Die Entwicklung im Libanon blieb, abgesehen von den ersten Jahren französischer Herrschaft weitgehend autonom von seinem Umfeld. Bosnien hingegen wurde von Belgrad und mit dem Sporazum 1939 teilweise auch von Zagreb aus regiert. Diese Machtzentren waren eng mit der Vorherrschaft der jeweiligen Nation verknüpft. Die serbische Dominanz bis 1939/41 und die kroatische Herrschaft ab 1941 verschärften die Beziehungen zwischen allen drei Nationen Bosniens. Die muslimische Identität, die sich in diesen Jahren formierte, wurde von der größeren serbisch-kroatischen Auseinandersetzung geprägt und kann als Abwehrreaktion gegen den serbischen und kroatischen Nationalismus gesehen werden. Der 2. Weltkrieg führte schließlich zum ersten bewaffneten Konflikt zwischen Serben und Kroaten. Trotz nationaler Spannungen, die ins 19. Jahrhundert zurückreichen gab es zuvor keine Kämpfe zwischen beiden Nationen.

Im Libanon dominierten die Maroniten mit französischer Unterstützung. Die Drusen, die zuvor im autonomen Libanon großen Einfluß genossen hatten, wurden durch die Gebietsvergrößerungen in eine Nebenrolle verdrängt. Die wichtigsten Partner im neuen vergrößerten Libanon wurden die Sunniten, deren Unterstützung erst durch den Nationalpakt gesichert werden konnte. Die französische Regierung war sich aufgrund der Mandatsregelung des Völkerbundes bewußt, daß die Herrschaft über den Libanon zeitlich begrenzt sein würde. Frankreich bemühte sich daher um die Etablierung eines Staates, dessen enge Beziehungen zur ehemaligen Kolonialmacht über das Ende des Mandats hinaus dauern sollten. Die enge, historisch fundierte, Bindung der Maroniten sollte Frankreich helfen, die Kontrolle über den Staat aufrecht zu erhalten. Der Nationalpakt erschwerte jedoch eine ausschließliche Anlehnung des Libanon an die ehemalige Besatzungsmacht. Am Ende der französischen Herrschaft war im Libanon ein konfessioneller Proporzstaat entstanden, dessen Wurzeln auf den autonomen Mont Liban zurückgehen.

Der Libanon wurde von den Kämpfen des 2. Weltkriegs kaum betroffen, so daß die Zwischenkriegszeit fast nahtlos in die Nachkriegsära überging. In Bosnien und Jugoslawien hingegen ist das katastrophale Ergebnis der Zeit zwischen 1918 und 1945

192 Longrigg, Syria and Lebanon under French Mandate, 368. 193 Ebd., 367.

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zu einer vermeintlichen Lehre geworden. Die kommunistische Vorherrschaft beruhte nach dem Krieg Großteils auf dem unausgesprochenen Konsens, eine einseitige nationale Dominanz zu verhindern.

Mit diesen sehr unterschiedlichen Erfahrungen begann somit die Nachkriegszeit des wiederhergestellten Bosniens als Republik des 2. Jugoslawien und des unabhängigen Libanon.

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2.4. Bosnien-Herzegowina und Libanon nach dem 2. Weltkrieg

2.4.1. Bosnien im 2. Jugoslawien

Der Krieg in Jugoslawien endete mit der absoluten Herrschaft der kommunistischen Partei, die ihre Macht teilweise mit Gewalt konsolidierte. Gegner des neuen Regimes flohen nach Österreich, wo sie von der britischen Armee auf Druck Tito zurückgeschickt wurden. Von den 18.000 Flüchtlingen wurden die meisten bei ihrer Rückkehr ermordet. Insgesamt fielen bis zu 250.000 Jugoslawen der Gewalt in den ersten Nachkriegsjahren zum Opfer. Der politischen und militärischen Macht der KP konnte keine der Vorkriegsparteien ein gesamtjugoslawisches Konzept entgegensetzen, das für alle Nationen Jugoslawiens attraktiv gewesen wäre. Die Partikularinteressen der jeweiligen Nationalparteien machten es ihnen unmöglich, nach dem Krieg eine Alternative zu den Partisanen zu formulieren. Die Exzesse der Ustaše und Četnici trugen weiterhin dazu bei, extremen Nationalismus zumindest vorläufig zu diskreditieren.

In den ersten Jahren der kommunistischen Herrschaft verfolgte die KP eine Linie in der Nationalitätenpolitik, die jener der Sowjetunion entsprach. Die drei Grundprinzipien sind Selbstbestimmung, territoriale Autonomie und Gleichberechtigung der Nationen. Bei all diesen Rechten muß jedoch auch die kommunistische Ideologie berücksichtigt werden. So würde die Selbstbestimmung des Proletariats einer Nation nie zu einer Loslösung von einem sozialistischen Staat führen. Entsprechend ist die Wirkung des Selbstbestimmungsrecht im Kontext kommunistischer Ideologie zu relativieren. In einem System, das dem einzelnen Individuum das Selbstbestimmungsrecht verweigert, ist es im übrigen kaum möglich eine wirkliche Selbstbestimmung einer Nation einzuräumen.194

Nicht nur in Nationalitätenfragen folgte die Politik Titos bis zum Bruch mit der UdSSR 1948 Stalins Vorbild. So war die erste Verfassung von 1946 eine Kopie der Sowjetverfassung von 1936. Im Rahmen dieser rigiden kommunistischen Politik wurden insbesondere die Religionen unterdrückt. Die katholische Kirche war das Hauptopfer, da sie mit der Ustaše-Herrschaft in Verbindung gebracht wurde. Auch der Islam kam wegen der Struktur der Religion unter starken Druck, denn viel stärker als die anderen Religionen stellte der Islam in Bosnien auch eine soziale und kulturelle Einrichtung dar. Die serbisch-orthodoxe Kirche erlitt insgesamt weniger Nachteile als die anderen beiden Religionen, wurde aber in den ersten Nachkriegsjahren auch zum Objekt von Verfolgungen. (vgl. Kapitel 3.4.1.)195

Während dieser Zeit dominierte die serbische Bevölkerung in Bosnien. Infolgedessen wurde auch die Frage nach einer eigenen muslimischen Nation in den Hintergrund gedrängt und erst in den sechziger Jahren wieder aktuell. Ausdruck der Unterdrückung des Islam waren die Prozesse gegen die „Jungen Muslime“ (Mladi Muslimani) zwischen 1946 und 1949.196 Die Gruppe entstanden 1939 mit dem Ziel den Islam in Bosnien zu fördern. Ähnlich wie die gesamte muslimische Bevölkerung folgten sie während des Krieges verschiedenen Konfliktparteien. Nach dem Krieg bekämpften sie den säkularen 194 Friedman, The Bosnian Muslims, 146-148. 195 Malcolm, Bosnia, 194 f. 196 Ivo Banac, Bosnian Muslims: From Religious Community to Socialist Nationhood and

Postcommunist Statehood, 1918-1992, in: Mark Pinson (Hg.) The Muslims of Bosnia-Herzegovina, Their Development from the Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia (Cambridge, Ma 1993) 144 f.

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Kurs der Partisanen. Einer der Führer der Mladi Muslimani wurde war der spätere Präsident Bosnien-Herzegowinas, Alija Izetbegović. Er wurde bei den Prozessen zu sechs Jahren Haft verurteilt.197

1946 wurde das islamische Sakralrecht verboten, vier Jahre später auch das Tragen vom Schleier und der Besuch von Koranschulen untersagt. Das Verbot erstreckte sich auch auf islamische Kulturorganisationen. Die Vakufs wurden entweder verstaatlicht oder zumindest der Kontrolle der Religionsgemeinschaft entzogen. Im gleichen Jahr blieben 199 Moscheen in Bosnien unbenutzt.

Bei der Volkszählung 1948, der ersten nach dem Krieg, hatten die Muslime drei Möglichkeiten sich zu deklarieren: Entweder als muslimische Serben, muslimische Kroaten oder als Muslime mit „unbestimmter“ oder „nicht deklarierter“ Nationszugehörigkeit. Die Gelegenheit sich nicht Serben oder Kroaten zuordnen zu müssen, wurde von vielen Muslimen genützt. So standen 778.000 „unbestimmte“ Muslime nur 72.000 serbischen und 25.000 kroatischen Muslimen gegenüber. Bei der nächsten Zählung 1953 konnte sich die Bevölkerung Bosniens nicht mehr als Muslime deklarieren. Stattdessen fand die Identifizierung als „Jugoslawe“ in die Volkszählung Eingang. 891.800 Bosnier wählten diese Bezeichnung, wovon die überwiegende Mehrheit dem islamischen Glauben anhing.

Mitte der fünfziger Jahre verbesserte sich die Stellung der Religionen in Jugoslawien. So garantierte ein Gesetz von 1954 die Religionsfreiheit und unterstellte die Kirchen und Moscheen staatlicher Kontrolle. Der Islam erfüllte eine politische Funktion bei der jugoslawischen Außenpolitik im Rahmen der Blockfreienbewegung. So waren einige Muslime führende Diplomaten in arabischen Staaten und Indonesien.198

Die Stärkung der Muslime

Am Anfang der sechziger Jahre bahnte sich ein Konflikt zwischen zwei Konzepten der jugoslawischen Staatsführung an. Auf der einen Seite stand der Serbe Aleksander Ranković, der sich für einen zentralistischen Staat und einen „integralen Jugoslawismus“ stark machte. Dem stand Edvard Kardelj gegenüber, der die Wirtschaft modernisieren und den Staat dezentralisieren wollte. Der Slowene Kardelj strebte eine Politik an, die allen Nationen gleiche Rechte zuspricht. Weiterhin war er Architekt der sozialistischen Selbstverwaltung (vgl. Kapitel 3.3.1.) und hoffte durch wirtschaftlichen Fortschritt Nationalitätenkonflikte zu lösen.199 Beide Politiker gehörten seit dem 2. Weltkrieg zum engen Kreis um Tito. Erst mit dem Ausschluß Aleksander Ranković's aus dem Zentralkomitee der Partei 1966 konnte sich die liberale Linie durchsetzten. Zugleich änderte sich die Lage für die einzelnen Nationen in Bosnien. Aleksander Ranković hatte eine repressive Politik im Kosovo, aber auch in Bosnien verfolgt. Sie richtete sich in erster Linie gegen die nicht-serbische Bevölkerung. Zugleich hoffte er auf die Schaffung einer jugoslawischen Nation und glaubte in den Bosnischen Muslimen einen Kern dieser zukünftigen Nation zu finden.200 Er vertrat zwar eine pro-serbischen Linie, lehnte jedoch großserbische Strömungen ab. Die Geheimpolizei, die

197 Friedman, The Bosnian Muslims, 150 f. 198 Malcolm, Bosnia, 195-198. 199 Siehe Carole Rogel, Edvard Kardelj's Nationality Theory and Yugoslav Socialism, in: Canadian

Review of Studies in Nationalism, Fall 1985, Nr. 2, Jhrg. XII, 343-357. 200 Sabrina P. Ramet, Nationalism and federalism in Yugoslavia, 1962-1991 (Bloomington, Ind. 1992)

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unter seiner Kotrolle stand, ging radikal gegen Anhänger der Četnici und Draža Mihailović's vor. Ranković verkörpert die zentralistische Linie des serbischen Nationalismus, die sich in kommunistischen Zeiten gut ins System integrieren konnten. Die großserbische Linie hingegen wurde selbst von Zentralisten nicht geduldet. Erst mit der Herrschaft Milošević verbanden sich beide Linie des serbischen Nationalismus wieder.201

Ab 1965/1966 setzte sich in Jugoslawien auf Betreiben Titos eine Föderalisierung durch.202 Die Entwicklung ging einher mit einer Aufwertung der Muslime zur Nation. Schon vier Jahre vorher konnten sich die Muslime bei der Volkszählung als „Muslime im ethnischen Sinne“ deklarieren. Dies führte dazu, daß die zuvor hohe Zahl an „Jugoslawen“ stark absank. Trotzdem kamen 87 Prozent jener 275.883 „Jugoslawen“ aus Bosnien-Herzegowina. Von diesen waren wiederum 84 Prozent Muslime. Somit stellte gemäß der Volkszählung 1961 die muslimische Bevölkerung nach wie vor den bei weitem größten Anteil der „Jugoslawen“.203

Auch führt die bosnische Verfassung von 1963 die Muslime neben Serben und Kroaten auf. Dies impliziert eine Gleichstellung mit den anderen beiden Nationen.204 Während zuvor die serbische Bevölkerung Bosniens in der Republik die KP und die staatlichen Organe dominierte, wurden nach dieser Kursänderung Muslime in der Führung der Republik gefördert. Auch stiegen Muslime vermehrt in der Politik Gesamtjugoslawiens auf. So amtierte von 1971 bis zu seinem Tod 1977 der bosnische Muslim Džemal Bijedić als Premierminister.205

Im bosnischen Zentralkomitees der KP setzte sich 1968 die Aufwertung der muslimischen Bevölkerung zur Nation fort. Bereits 1965 war der Vorsitzende der kommunistischen Partei Bosniens, der Serbe Djuro Pucar, zurückgetreten. In der Sitzung wurde festgestellt, daß die Muslime sich als eigene Nation erwiesen haben. Diese Feststellung wirkte sich auf die Volkszählung 1971 aus, in der sich die Muslime erstmals als „Muslime im nationalen Sinn“ erklären konnten.206 Bei dieser Volkszählung wählten 1,7 Millionen Einwohner in ganz Jugoslawien diese Kategorie, womit die Muslime nach Serben und Kroaten die größte Nation in Jugoslawien waren. Weiterhin dürften sich viele Muslime nach wie vor als Jugoslawen deklariert haben, so daß die Gruppe der Muslime in Jugoslawien bzw. in Bosnien noch größer sein dürfte (für die Bevölkerungszahlen Bosniens s. Tabelle 8).207

Die Aufwertung der muslimischen Bevölkerung ging jedoch nicht mit einer Aufwertung des Islam als Religion einher. Die „Nationalisierung“ kann als eine der Religion

201 Für eine detaillierte Beschreibung des Sturz von Ranković's und dessen Politk s. Slobodan

Stankovic, Titos Erbe. Die Hypothek der alten Richtungskämpfe ideologischer und nationaler Fraktionen (=Untersuchungen zur Gegenwartskunde Südosteuropa 18, München 1981) 111-130.

202 Ivo Banac setzt den Wandel von Titos Politik zum Föderalismus auf 1962 an. s. Separating History from Myth, Interview with Ivo Banac, in: Rabia Ali, Lawrence Lifschultz (Hg.) Why Bosnia? (Stony Creek, Conn. 1993) 141.

203 Friedman, The Bosnian Muslims, 155. 204 Viktor Meier, Bosnien und seine Muslime als Sonderproblem des Vielvölkerstaates, in: Roland

Schönfeld (Hg.) Nationalitätenprobleme in Südosteuropa (=Untersuchungen zur Gegenwartskunde Südosteuropas 25, München 1987) 130.

205 Banac, Bosnian Muslims, 144 f. 206 Malcolm, Bosnia, 199. 207 Friedman, The Bosnian Muslims, 160.

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entgegengesetzte Bewegung gesehen werden. Dies erklärt sich durch die Träger der muslimischen Nationalbewegung in den Nachkriegsjahren. Sie waren Mitglieder und Funktionäre der kommunistischen Partei und deshalb meist nicht religiös, bis hin zur Religionsfeindlichkeit.208 Auch die geringe Religiosität der bosnischen Muslime während der Zwischenkriegszeit und davor gab den Funktionären der KP das Gefühl, eine Nationswerdung der Muslime von einer Stärkung der Rolle des Islams trennen zu können. Die bosnische Republikführung war dennoch Hauptgeldgeberin der islamischen Gemeinde (IVZ), die sie so unter ihrer Kontrolle behalten wollte.209

Das Ergebnis ist ein Paradox, da man durch die Aufwertung eine Nation geschaffen hat, die sich in erster Linie durch die Religion von den anderen Bevölkerungsgruppen in Bosnien unterscheidet. Zugleich war man bemüht der Religion selbst keine größere Rolle einzuräumen. Das Entstehen der muslimischen Nation in dieser Zeit erklärt sich in erster Linie aus dem Unwillen der Muslime sich als Serben oder Kroaten zu definieren. Die Alternative, sich als Jugoslawe zu erklären war nicht attraktiv, da diese Gruppe sowohl Kroaten wie auch Serben umfaßt und somit den Unterschied zu den beiden anderen Nationen nicht zum Ausdruck bringt. Zudem läßt sich kaum eine klare „jugoslawische“ Identität feststellen, mit der sich die Muslime hätten identifizieren können. Weiterhin stand der Islam, dessen Basis die Umma, die Gemeinschaft aller Muslime ist, dem Nationalismus feindlich gegenüber, da er als Spalter der muslimischen Einheit gesehen wird. Dieser Widerspruch zeigt sich später noch deutlicher mit dem Aufkommen der nationalen Parteien Ende der achtziger Jahre. Die Religion und die damit verbundene Kultur war bei den bosnischen Muslimen ein derart integraler Teil der Identität, daß eine säkulare Definition der Muslime durch den Bund der Kommunisten nicht möglich war. Wolfgang Höpken weist jedoch darauf hin, daß die Anerkennung eine Lernfähigkeit der KP im Vergleich zum 1. Jugoslawien belegt.210

Muslime Serben Kroaten Jugoslawen Gesamt

1948 788.403 1.136.116 614.142 - 2.563.764

1953 - 1.264.372 654.229 891.800 2.847.459

1961 842.248 1.406.057 711.665 275.883 3.277.948

1971 1.482.430 1.393.148 772.491 43.796 3.746.111

1981 1.629.924 1.320.644 758.136 326.280 4.102.783

1991 1.905.829 1.369.258 755.892 239.845 4.364.574

Tabelle 8: Die Volkszählungen in Bosnien zwischen 1948 und 1991211

Francine Friedman sieht vier Gründen aus denen der Bund der Kommunisten die Muslime förderte:

Erstens sollte hierdurch die nationale Argumentation (von Kroaten und Serben) von regional- und wirtschaftspolitischen Themen getrennt werden, da die Partei in Bosnien

208 Malcolm, Bosnia, 200 f. 209 Friedman, The Bosnian Muslims, 162 f. 210 Wolfgang Höpken, Die jugoslawischen Kommunisten und die bosnischen Muslime, in: Andreas

Kappeler, Gerhard Simon, Georg Brunner (Hg.) Die Muslime in der Sowjetunion und in Jugoslawien (=Nationalitäten- und Regionalprobleme in Osteuropa 3, Köln 1989) 195.

211 Die Kategorie "Muslime" war 1948 als Muslime mit unbestimmter Nationszugehörigkeit definiert. Auch die Kategorie der "Jugoslawen" 1953 definierte sich als Jugoslawen unbestimmter Nationszugehörigkeit. aus: Friedman, The Bosnian Muslims, 155.

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eine Balance zwischen den verschiedenen Nationen finden mußte. Entsprechend stand der BdK Bosniens nationalistischen Strömungen am ablehnendsten gegenüber.

Zweitens war die Förderung der muslimischen Nation eine Reaktion auf die zunehmende Religiosität der Muslime sein. Der muslimische Nationalismus in Bosnien sollte das Erstarken des Islam abwehren.

Drittens brachte die Förderung der Muslime in Bosnien Jugoslawien außenpolitisches Kapital, insbesondere in der Bewegung der Blockfreien. Muslime dienten, wie erwähnt, in Botschaften in der arabischen Welt. Besucher aus muslimischen Ländern wurden nach Bosnien gebracht und trafen mit bosnischen Muslimen zusammen.

Viertens sollte die Anerkennung der Muslime die jeweiligen Ansprüche von Serben und Kroaten auf Bosnien entkräften. Die Ansprüche beider Nationalbewegungen auf Bosnien verstärkten die Spannungen. Eine Stärkung der Eigenständigkeit Bosniens sollte eine Vereinnahmung durch Kroatien und Serbien entgegenwirken.212 Im Vordergrund stand die Abwehr der serbischen und kroatischen Nationalismen und nicht die Förderung der Muslime an sich. Dieses Motiv deckt sich mit der Förderung der bosnischen Identität, des Bošnjaštvo, durch Kállay in der österreichisch-ungarischen Zeit. (s. Kapitel 2.2.1.)

Der letzte Grund erscheint am glaubhaftesten. Das zweite Argument der zunehmenden Religiösität der Muslime ist jedoch fragwürdig. Eine Stärkung des Glaubens in den sechziger Jahren unter den Muslimen nicht nachweisbar. Nach der Aufwertung der Muslime in Bosnien kam es zu einer weltweiten Renaissance des Islam. Durch die verstärkte Rolle der bosnischen Muslime konnte dieser Aufschwung der Religion leichter von den bosnischen Muslimen übernommen werden. Somit läßt sich ein umgekehrter kausaler Zusammenhang zwischen Religiosität und Stärkung der Muslime herstellen, als in Friedman beschreibt.213

Der „Kroatische Frühling“

Das Ende der politischen Karriere von Aleksander Ranković bedeutete einen Auftakt zur Liberalisierung in ganz Jugoslawien. Diese ermöglichte ein verstärktes Auftreten von Nationalismen, insbesondere in Kroatien. Der kroatische Nationalismus findet seinen Ursprung bei Intellektuellen. Eine „Deklaration über die Benennung und Stellung der kroatischen Sprache“ wurde im März 1967 von 19 Kulturorganisationen und auch von dem bekannten kroatischen Schriftsteller Miroslav Krleža unterzeichnet. Sie provozierte eine Debatte über die angebliche Unterdrückung der kroatischen Sprache durch das Serbische. Eine Reaktion serbischer Intellektueller ließ nicht lange auf sich warten. 45 serbische Schriftsteller gestanden der kroatischen Sprache die Eigenständigkeit zu, forderten aber zugleich die Schaffung von serbischen Schulen in Kroatien für die dortigen Serben. Sie sollten dementsprechend nur in kyrillisch unterrichtet werden.

Zunächst folgte der Bund der Kommunisten und die Republiksführung Kroatiens unter der Führung von Mika Tripalo und Savka Dabčević-Kučar einer liberale Position, ohne den nationalen Forderungen der Intellektuellen nachzugeben. Die Deklaration wurde als „übereilt“ bezeichnet, nicht jedoch abgelehnt.214 Erst später formierte sich eine Verbindung zwischen dem BdK Kroatien und der kroatischen Kulturorganisation 212 Friedman, The Bosnian Muslims, 164-168. 213 Hierzu s. Meier, Bosnien und seine Muslime als Sonderproblem des Vielvölkerstaates, 131. 214 Stankovic, Titos Erbe, 154-159.

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Matica Hrvatska. Zuerst forderte die kroatische Partei lediglich, Jugoslawien in eine Konföderation zu verwandeln und die Partei zu föderalisieren. Diese Politik erfuhr noch die Unterstützung Sloweniens und Mazedoniens. Die liberale Linie schwenkte bereits 1969 zu einer nationalistischen Politik über. Diese Zeit wird als der „Kroatische Frühling“, in Anlehnung an den „Prager Frühling“ 1968, bezeichnet. Bei dieser Bezeichnung werden die liberalen Motive der Bewegung überbewertet und die nationale Komponente vernachlässigt. Die Kritik Kroatiens konzentrierte sich auf vier zentrale Punkte: Erstens wurde die Dominanz serbischer Banken und Import-Export Firmen (insbesondere Genex) in der kroatischen Tourismusindustrie und der daraus folgende Profitabfluß nach Serbien kritisiert. Zweitens mißfiel der kroatischen Führung die Immigration von Serben nach Kroatien. Drittens beschuldigten Kroatien Serbien, eine Loslösung Dalmatiens von Kroatien zu betreiben. Schließlich sprach Kroatien den Vorwurf aus, daß die kroatische Sprache „serbisiert“ würde.215

Die politische Führung folgte dem Druck der Bevölkerung und der Matica Hrvatska. Letztere ist die bedeutendste kroatische Kulturorganisation. Die anderen Nationen Jugoslawiens, außer den Muslimen, besaßen auch vergleichbare Einrichtungen.216 Zu Beginn der siebziger Jahre revitalisierte die Matica Hrvatska nationale Symbole und arbeitete eine eigene kroatische Grammatik aus. Weiterhin reduzierte das kroatische Fernsehen die Ausstrahlung anderer jugoslawischer Sendungen.217

Muslime Kroaten Serben

Anteil in % Bevölkerung BdK Bevölkerung BdK Bevölkerung BdK

1971 39,6 28,3 20,6 11,1 37,2 55,2

1981 39,7 35,5 18,5 12,3 32,2 44

Tabelle 9: Vergleich zwischen dem Anteil der *ationen im Bund der Kommunisten und dem Anteil an der

Gesamtbevölkerung Bosniens218

Der „Kroatische Frühling“ sprang mit Beginn der siebziger Jahre nach Bosnien über. Zuerst expandierte die Matica Hrvatska nach Bosnien. Eine kroatische Zeitung analysierte 1971 die nationale Zusammensetzung der bosnischen Verwaltung (Banken, Medien, Verwaltung und BdK) und kam zu dem Ergebnis, daß die Kroaten unterrepräsentiert sind. Diese Behauptung ist, wie aus Tabelle 9 ersichtlich, wahr, doch auch die Muslime waren unterrepräsentiert. Diese Kritik sollte Forderungen nach einem Anschluß an Kroatien unterstreichen. Nur so könnten die Rechte der kroatischen Bevölkerung ausreichend gesichert werden. Durch diese expansionistische Rhetorik weckte Kroatien Ängste in den anderen Republiken und ermöglichte eine geschlossene Front gegen die kroatische Politik. Statt Bosniens Integrität zu verteidigen, erhoben serbische Politiker daraufhin Gebietsforderungen an Ostbosnien.219 Anfang 1971 beschloß Tito schließlich, die Liberalisierung und Nationalisierung der Politik in

215 Ramet, Nationalism and federalism in Yugoslavia, 92-101. 216 Die serbische Kulturorganisation hieß Prosveta. 217 Ebd., 108-121. 218 Vor der Volkszählung 1971 läßt sich die genaue Anzahl der Muslime nicht bestimmen, da sie sich

zwischen der Kategorie "Muslime und "Jugoslawen" aufteilte. Die prozentuelle Abnahme der kroatischen und serbischen Bevölkerung zwischen 1971 und 1981 läßt sich durch das starke Anwachsen der "Jugslawischen" Bevölkerung im gleichen Zeitraum erklären, Ebd., 125.

219 Ebd. 108-128.

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Jugoslawien insgesamt und insbesondere in Kroatien, zu beenden. Im April 1971 verurteilten die Vertreter des BdK Bosnien-Herzegowinas die „zunehmend nationalistisch-hegemonistischen Forderungen, daß Bosnien-Herzegowina Serbien bzw. Kroatien angehören sollte, weil die Muslime Kroaten bzw. Serben sind.“220 Ende 1971 mußte die kroatische Führung schließlich zurücktreten und es folgte eine Säuberungswelle, der nicht nur in Kroatien führende Liberale zum Opfer fielen. Die Matica Hrvatska wurde vorübergehend geschlossen und etwa 10.000 Mitglieder des Bundes der Kommunisten wurden ausgeschlossen.221 Das Ende des „Kroatischen Frühling“ verlief relativ friedlich. Trotzdem bestand die Gefahr einer gewaltsamen Konfrontation. Im Dezember 1971 kam es in Kroatien zu Studentenprotesten und Streiks gegen die Säuberungswelle. Diese Proteste hätten möglicherweise größer und erfolgreicher gewesen sein können, hätten sie einige Wochen später, in den Weihnachtsferien stattgefunden. Dann wären viele Gastarbeiter für die Ferien in Kroatien gewesen. Viele von ihnen unterstützten die Forderungen des „Kroatischen Frühlings“ und hätten sich wahrscheinlich an den beteiligt. Matica Hrvatska hatte in den vorangehenden Jahren über 30 Zweigstellen im Ausland, überwiegend in Deutschland, eröffnet. Hierdurch wurden Emigrantenorganisationen und Gastarbeiter in den neuen kroatischen Nationalismus eingebunden.222

Nicht nur in Kroatien war das Ende des „Kroatischen Frühlings“ von Parteiausschlüssen begleitet, auch in Bosnien kam es zu Säuberungen. Sie richteten sich gegen „Unitaristen“ und Anhänger einer Teilung Bosniens zwischen Kroatien und Serbien. 1974 rechtfertigte der BdK die Parteiausschlüsse mit einer Bedrohung für die Muslime und die Integrität der Republik. Muslime blieben dementsprechend von den Säuberungen weitgehend verschont.223

Der „Kroatische Frühling“ beschleunigte die Identitätsbildung der bosnischen Muslime. Die Gebietsansprüche gegenüber Bosnien verdeutlichten den Muslimen den kroatischen (und auch serbischen) Druck auf die Republik. In Folge bauten die Muslime verstärkt eigene nationale Einrichtungen auf. Zuvor konzentrierten sie ihre Aufmerksamkeit auf die Stärkung der gesamten Republik Bosnien-Herzegowina.224

Die Föderalisierung Jugoslawiens

Trotz der Unterdrückung des „Kroatischen Frühlings“ wurden viele Forderungen später durch Tito erfüllt. Mitte der siebziger Jahre wird die kommunistische Partei föderalisiert; 1974 erhält Jugoslawien weiterhin eine neue Verfassung. Obwohl die föderale Verfassung und einige zentrale Forderungen des „Kroatischen Frühling“ erfüllte, blieb diese Zeit durch eine große Illiberalität auf der personellen Ebene geprägt. Viele Intellektuelle wurden aus der Partei ausgeschlossen oder ins innere Exil gedrängt. Statt ihnen gelangten politische Opportunisten in hohe Ämter: „...Tito's cultural revolution purged the League of Communists of all liberal and pragmatic reformers and gave precedence in all professions to opportunists and poorly educated followers of the

220 Stankovic, Titos Erbe, 178. 221 Ramet, Nationalism and federalism in Yugoslavia, 129 f. 222 Singleton, A Short History of the Yugoslav Peoples, 258. 223 Stankovic, Titos Erbe, 197 f. 224 Ramet, Nationalism and federalism in Yugoslavia, 186.

69

official line.“225 Tito konnte bis zu seinem Tod im Mai 1980 als Schiedsrichter zwischen den Republiken und Nationen wirken. Durch das Fehlen einer zentralen Persönlichkeit nach ihm herrscht schon bald nach Tito's Tod Unklarheit über die Ziele der Politik. Die Phase leitete des Ende Jugoslawiens ein.

2.4.2. Der unabhängige Libanon

Die Entwicklung des unabhängigen Libanon wurde von zwei Gegensätzen bestimmt. Auf der einen Seite stand die arabische Identität des Landes und dessen muslimische Bevölkerung und auf der anderen Seite lag die christliche Bevölkerung mit ihrer Orientierung nach Westen, insbesondere hin zu Frankreich. Die Grundlinien der Politik des Libanons beruhten dementsprechend auf drei Säulen: Der Erhaltung der Souveränität,226 den guten Beziehungen mit anderen arabischen Ländern und enge freundschaftliche und kulturelle Verbindungen mit dem Westen.227 Da sich in der französischen Mandatszeit lokale Eliten etabliert hatten, deren Erfolg von dem Fortbestand des Staates abhing, nahm die anti-libanesische Strömung in den ersten Nachkriegsjahren ab. Erst mit der Machtübernahme Nassers in Ägypten bildete sich eine neue panarabische Politikergeneration, die das Aufgehen des Libanons in einem größeren, meist sozialistisch geprägtem, arabischen Staat propagierten.228

Das außenpolitische Umfeld

Die innere Entwicklung des Libanon ist stark von den Entwicklungen in Israel geprägt. Seit der Unabhängigkeit des Libanon bestimmt der Israelkonflikt das Umfeld des Staates. So stimmte der Libanon, wie die anderen arabischen Länder auch, 1948 gegen den Teilungsplan für Palästina und schickte 5.000 Soldaten in den folgenden 1. Arabisch-Israelischen Krieg. Das Engagement im Krieg war jedoch sehr viel geringer als das der anderen arabischen Nachbarländer Israels. Die Waffenstillstandslinie von 1949 legt die Grenze zwischen dem Libanon und Israel fest. Der Konflikt mit Israel bestimmte auch die Beziehungen zu den Großmächten. So verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Libanon. Philip Hitti beschreibt sehr prägnant die Bestürzung der arabischen Welt über die zunehmende amerkianische Unterstützung Israels: „In all these lands [arabische Länder], where the mental picture of an American had been that of an idealistic, altruistic Christian gentleman in his best Sunday clothes and manners, the feeling of disappointment took the form of a shock from which the people have not yet [1962] recovered.“229

Libanon trat 1949 einem kollektiven Sicherheitsbündnis bei, das aus Ägypten, Syrien, Saudi-Arabien und Jemen bestand. Die Niederlage im Krieg gegen Israel und die Staatsstreiche gegen die Monarchen in Ägypten und Syrien nur wenige Jahre später machten dieses Bündnis obsolet.

225 Vojin Dimitrijević, The 1974 Constitution as a Factor in the Collapse of Yugoslavia or as a Sign of

Decaying Totalitarianism (= EUI Working Papers RSC 94/9, Florenz 1994) 10 f.,33. 226 Während die Soveränität im westlichen Staatsbegriff fast automatisch Teil einer jeden Politk ist,

bestehen aufgrund des Islam und der arabischen Bevölkerung in vielen Ländern stets Bestrebungen gegen den Staat und für eine größere Einheit (Panarabismus und Panislamismus).

227 Hitti, Lebanon in History, 497 f. 228 Rabinovich, The War for Lebanon, 25. 229 Hitti, Lebanon in History, 499.

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Die Beziehungen zu Syrien blieben lange Zeit gespannt. Während des französischen Mandats wurden einige Bereiche der Wirtschaftspolitik gemeinsam verwaltet.230 In dieser Zeit wollte Syrien hohe Zölle einführen, der Libanon hingegen vertrat eine freie Handelspolitik. Dadurch gerieten beide Staaten in Konflikt. Infolgedessen lehnte Syrien nach Ende der französischen Mandatsherrschaft die Fortsetzung der gemeinsame Verwaltung ab und schloß in den fünfziger und sechziger Jahren oftmals die Grenze oder verhängte ein Wirtschaftsembargo.231 Lange Zeit wurde von Syrien die Unabhängigkeit des Libanons zwar offiziell, jedoch nicht de facto anerkannt, wie es sich im Verlauf des libanesischen Bürgerkrieges öfters zeigte. Bis in die Gegenwart unterhalten der Libanon und Syrien keine diplomatischen Beziehungen, somit gibt keine Botschaften in dem jeweils anderen Land.232

Die Konsolidierung des Staates

Bishara al-Khuri, der noch unter französischer Herrschaft sein Amt als Präsident antrat, wurde 1948 für weitere 6 Jahre gewählt. Doch schon bald stieß sein von Korruption, Willkür und Privilegienwirtschaft geprägter Regierungsstil auf Kritik. Nachdem die Parti Populaire Syrien (PPS) seinen Hauptverbündeten, Ministerpräsident Riad as-Solh, im Sommer 1951 ermordet hatte, kam es zu einer politischen Krise, von der sich al-Khuri nicht mehr erholte. Zwei Jahre vor dem Auslaufen der Amtszeit, am 18. September 1952 mußte er schließlich zurücktreten.233 Obwohl diese Machtübergabe nicht spannungsfrei ablief, kam es zu keinen Auseinandersetzungen. Auf Al-Khuri folgte der pro-westliche Camille Chamoun als Präsident. Dieser friedliche Regierungswechsel stellte damals in der arabischen Welt eine Neuheit dar, die auch heute noch Seltenheitswert hat.

Der neue Präsident erwies sich jedoch nicht als viel erfolgreicher als sein Vorgänger. Reformen der Verwaltung und des Wahlrechts wurden aufgeschoben. Auch kam er mit dem zunehmenden arabischen Nationalismus in Konflikt, der insbesondere seit der Machtübernahme Gamal Abdel Nasser 1953 in Ägypten stärker wurde.234

Das Parlament führte 1952 das passive und aktive Frauenwahlrecht ein235 und versuchte erfolglos, den konfessionellen Schlüssel des Wahlrechts abzuschaffen. Genaue Zahlen über die konfessionelle Verteilung lagen bereits zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vor. Die letzte Volkszählung fand 1932 statt. Aus politischen Gründen wurde bis heute keine weitere durchgeführt. Insbesondere die Maroniten befürchteten einen Machtverlust, wenn neue Zahlen bekannt würden, so daß nur noch unzuverlässige „Schätzungen“ stattfanden. Entsprechend ist auch die Gesamtzahl der Bevölkerung seit 1932 stets nur eine Schätzung. Bereits die Zählung 1932 war von Frankreich manipuliert wurden, so daß sie als Basis für spätere Schätzungen kaum zuverlässig ist (s. Tabelle 10).236 Die konfessionelle Gliederung des Parlamentes wurde 1959 formal auf die Verwaltung

230 Zölle, Grenzkontrollen, Tabakmonopol und Firmenkonzession für Unternehmen, die in beiden

Ländern aktiv sind. 231 Hitti, Lebanon in History, 500. 232 Kuderna, Libanon, 235. 233 Helena Cobban, The making of modern Lebanon (London 1985) 83. 234 Hitti, Lebanon in History, 506-508 235 Zugleich mußten Frauen, im Unterschied zu Männern, die Elementarbildung abgeschlossen haben,

um wählen zu dürfen, s. Ansawi, Libanon, 21 f. 236 Kuderna, Libanon, 236.

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übertragen. Bereits zuvor wurden Posten informell nach dem gleichen Prinzip verteilt, wobei Maroniten und Sunniten bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges bevorzugt blieben. So waren 1955 40 Prozent der Beamten Maroniten, 27 Prozent Sunniten und nur 3,6 Prozent Schiiten.237

237 Gordon, The Republic of Lebanon, 83.

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Christen Muslime

Maroniten 423.000 30,0 % Sunniten 286.000 20,3 %

griechisch-orthodox

149.000 10,6 % Schiiten 250.000 17,7 %

griechisch-katholisch

91.000 6,5 % Drusen 88.000 6,2 %

Andere238

122.000 8,7 % Insgesamt 1.409.000 100 %

Tabelle 10: Die letzte offizielle Schätzung der Bevölkerung 1956239

Das Wahlrecht (vgl. Kapitel 3.1.2.) verhinderte den Aufstieg von neuen Politikern. Somit blieb das Parlament hinter der gesellschaftlichen Entwicklung zurück und schloß neue politische Strömungen aus dem System aus. Diese entwickelten sich in Folge außerhalb des politischen Establishment. Zu ihnen zählte die muslimische Bevölkerung, die sich durch das System nur unzureichend repräsentiert sah, linke Gruppen, die sich gegen das konfessionelle System wandten und ausländische Mächte, insbesondere die Sowjetunion, Syrien und Ägypten, die sich aus verschiedenen Gründen am Libanon interessierten.

Gegen Ende der fünfziger Jahre gewann diese außerparlamentarische Opposition an Bedeutung. Die Bedrohung des Systems wurde erstmals beim Bürgerkrieg 1958 deutlich.240

Der 1. Bürgerkrieg 1958

Der größte Gegner Chamouns war Kamal Jumblat, der die Wahl Chamouns (gegen Bishara al-Khuri) zwar zunächst unterstützte, sich dann jedoch gegen ihn wandte. Chamoun versuchte Jumblat zu entmachten, da beide aus der gleichen Region (Chouf) stammten und deshalb regionale Konkurrenten waren. So förderte er Drusen, der anderen “Fraktion“ innerhalb der Konfession (vgl. Kapitel 3.4.2.) und regierte mit Sunniten, die nicht der politischen Elite entstammten. Chamoun versucht seine innenpolitischen Gegner durch Manipulationen der Wahl 1957 auszuschalten. So verlor Jumblat und andere wichtige muslimische Politiker ihren Sitz im Parlament.241 Rabinovich bezeichnet den Erfolg dieser Manipulation als einen „Pyrrhussieg“, da die Opposition nun außerparlamentarisch gegen Chamoun agierte. Die Spannungen spitzten sich zu, als Chamoun trotz Kritik den prowestlichen Ministerpräsidenten al-Sulh im Amt behielt und eine zweite Amtszeit anstrebte und somit die Grundsätze des staatlichen Konsens in Frage stellte.242

Die Bedrohung verstärkte sich, als Syrien und Ägypten sich 1958 zur Vereinten Arabischen Republik zusammenschlossen. Präsident Chamoun, nahm wohl auch als Reaktion darauf, die von den USA im Rahmen der „Eisenhower-Doktrin“ angebotene Unterstützung in der Höhe von 20 Millionen Dollar als einziges arabisches Land an. Die

238 Andere sind neben Juden auch kleinere christliche und muslimische Gruppen. 239 Marcel Pott, Renate Schimkoreit-Pott, Beirut. Zwischen Kreuz und Koran (Braunschweig 1985)

342. 240 Rabinovich, The War for Lebanon, 26 f. 241 Cobban, The making of modern Lebanon , 84 f. 242 Rabinovich, The War for Lebanon, 27 f.

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„Eisenhower-Doktrin“ bot jedem Staat im Nahen Osten Hilfe an, der durch Aggression des „internationalen Kommunismus“ bedroht wurde.243

Nach dem Mord an einem maronitischen Journalisten, der dem Präsidenten kritisch gegenüberstand, brachen in Tripoli, Sidon und im Chouf-Gebirge Unruhen aus. Dieser Aufstand ging von der nun außerparlamentarischen Opposition und auch von ehemaligen Ministern und Abgeordneten aus, die sich durch den Klientelismus des Präsidenten benachteiligt fühlten. Diese Allianz von traditioneller muslimischer Elite mit neuen panarabischen Kräften stellte eine besonders große Bedrohung für den Präsidenten dar. Durch den kurzen Bürgerkrieg starben 2.000 bis 4.000 Menschen. Das öffentliche Leben im Libanon war gelähmt. Im Juli 1958 betrieb die Vereinte Arabische Republik (Syrien und Ägypten) einen Putsch im Irak. Dieser führte zu einem Hilfsgesuch von Chamoun an den amerikanischen Präsidenten Eisenhower, da er eine gewaltsame Machtübernahme nun auch im Libanon befürchtete. Die Vereinigten Staaten schickten daraufhin 10.000 Marines in den Libanon. Sie griffen jedoch nicht in den Konflikt ein, als sie erkannten, wie wenig Rückhalt Chamoun besaß. So sah Präsident Eisenhower die Sinnlosigkeit eines Eingriffs ein: „I felt we were backing up a government with so little popular support that we probably should not be there.“244 Auch die libanesische Armee erklärte sich für neutral. Da der Präsident von keiner Seite Unterstützung erhielt und zugleich seine reguläre Amtszeit auslief, blieb ihm nur der Rücktritt. Dies entschärfte die Lage.

Der kurze Bürgerkrieg zeigte Muslimen und Christen das fragile Gleichgewicht des libanesischen Systems. Politik, die sich von dem Konsens zu weit entfernt, führte unweigerlich zum Krieg. Diese Krise zeigte jedoch nicht nur die Zerbrechlichkeit sondern auch die Fähigkeit zum Ausgleich. Die Jahre nach 1958 brachten ein Mäßigung beider Seiten mit sich.245 Der Bürgerkrieg verdeutlichte drei Bruchlinien in der Politik. Der vorrangige Konflikt bestand zwischen „Nasseristen“ und Vertretern eine pro-westlichen Politik. Auf der zweiten Ebene fand eine Auseinandersetzung zwischen Christen und Muslimen statt. Der dritte Gegensatz war zwischen einer alten Elite und einer neuen, radikaleren Gruppe von Politikern. Alle drei Ebenen spielen beim Ausbruch des Bürgerkrieges 1976 erneut die wichtigste Rolle.

Der Shihabismus

Der Armeechef Fu'uad Shihab (1958-1964) wurde der Nachfolger von Chamoun. Er bemühte sich darum, die gut organisierte maronitische Kata'ib Partei einzubinden. Auch mit der muslimischen Opposition pflegte er Kontakte, um die Gefahr eines neuen Bürgerkrieges abzuwenden.246 Die Stärke der Präsidentschaft von Shihab lag, neben seinem guten Ruf wegen seiner Unparteilichkeit im Bürgerkrieg 1958, in der einflußreichen Stellung seiner Familie und dem Rückhalt in der Armee. Shihab konnte sich somit als Retter des Landes präsentieren.

Shihab setzte den wirtschaftsliberalen Kurs fort, versuchte jedoch zugleich benachteiligte Regionen fördern und die Sozialpolitik zu stärken. Doch auch Shihab gelang es nicht, eine umfassende Reform durchzusetzen. Er konnte jedoch den

243 Stephen E. Ambrose, Rise to Globalism. American Foreign Policy since 1938 (New York 1988)

164. 244 Ebd., 165. 245 Rabinovich, The War for Lebanon, 29. 246 Gordon, The Republic of Lebanon, 26-28.

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Staatsapparat stärken und manche großen Ungerechtigkeiten ausgleichen. Zugleich baute er das Deuxième Bureau, die militärische Geheimpolizei, auf. Nach dem Ende seiner Amtszeit wurde deutlich, daß die Stärkung des Staates nur vorübergehend war.

Der schwache Präsident Charles Hélou (1964-1970) stand unter dem Einfluß Shihab's, der versuchte durch seinen Nachfolger weiter die Politik zu bestimmen. Da Hélou jedoch eine klare Mehrheit im Parlament fehlte, wurden Reformen des politischen Systems weiter aufgehalten. Seine Amtszeit wurde zudem von innen- und außenpolitischen Krisen geprägt. So brach 1966 die Intra-Bank zusammen (vgl. Kapitel 3.3.2.) und im folgende Jahr folgte die katastrophale Niederlage der arabischen Länder im Krieg gegen Israel. Obwohl der Libanon am Krieg nicht beteiligt war schwächte der Sieg Israels die panarabischen Bewegungen und das Selbstvertrauen der arabischen Welt. Für den Libanon bedeutete der Sechs-Tage-Krieg in erster Linie eine weitere palästinensische Flüchtlingswelle.247

Die Palästinenser im Libanon

Seit dem 1. Arabisch-Israelischen Krieg 1948 lebten zwischen 75.000 und 200.000 Palästinenser im Libanon. Etwa 20 Prozent von ihnen (meist Christen) wurden in die Gesellschaft integriert und erhielten teils auch die libanesische Staatsbürgerschaft. Viele von ihnen waren Maroniten und andere Christen, die erst nach Ende des 1. Weltkrieges vom Libanon nach Palästinas ausgewandert sind. Die Mehrheit der Palästinenser mußte jedoch in Flüchtlingslagern bleiben. Die Lager sollten sicher stellen, daß die Flüchtlinge möglichst bald nach Palästina zurückkehren. Die Palästinenser aus den Lagern wurden nicht in die Gesellschaft integriert, um Druck auf Israel aufrecht erhalten. Weiterhin befürchtete die christliche politische Elite bei der Integration der mehrheitlich muslimischen Palästinenser die Vorherrschaft zu verlieren.248 Bis zum Ende der sechziger Jahre wurden die Palästinenser im Libanon in erster Linie als Flüchtlingsproblem betrachtet. Sie dominierte bereits zuvor die außerparlamentarische Opposition. Da ihnen libanesische Verbündete fehlten wurde die palästinensische Ablehnung des politischen Systems des Libanon kaum wahrgenommen.249

Ab 1965 verstärkten sich die Konflikte zwischen libanesischen Christen und Palästinensern. Neben den neuen Flüchtlingen nach dem Sechs-Tage-Krieges 1967 gab es zwei weitere Gründe: Die linken und überwiegend muslimischen Parteien unter Führung des Drusen Jumblat bildeten mit der PLO eine oppositionelle Allianz. Die politische Führung der Palästinenser, die PLO mußten schließlich 1970 ihre Basis Jordanien verlassen.

Die meisten palästinensischen Flüchtlinge kamen entweder von der Westbank oder aus Gaza, die in Folge des Krieges von 1967 Israel besetzt wurden. Je nach Schätzung wuchs die Zahl der Palästinenser im Libanon auf 200.000 bis 300.000 an. 65 % von ihnen lebten in Lagern. Somit blieben im Libanon fast 10 % der Bevölkerung ausgegrenzt und verarmten.250

Die palästinesischen Flüchtlinge und Widerstandsgruppen führten dazu, daß der Libanon in den Konflikt mit Israel hineingezogen wurde. Als Vergeltungsmaßnahme

247 Rabbath, La Formation du Liban Politique et Constitutionnel, 573-575. 248 Gordon, The Republic of Lebanon, 91; D. Th. Schiller, Der Bürgerkrieg im Libanon. Entstehung,

Verlauf, Hintergründe (München 1979) 94-96. 249 Rabinovich, The War for Lebanon, 40. 250 Schiller, Der Bürgerkrieg im Libanon, 96 f.

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gegen eine palästinensische Aktion gegen Israel zerstörten israelische Einheiten im Dezember 1968 alle Flugzeuge am Beiruter Flughafen. Israel brachte somit deutlich zum Ausdruck, daß es den Libanon für die Aktivitäten von Palästinensern verantwortlich hielt. Dieser Angriff führte zu einer ungewohnten einhelligen Verurteilung aller Konfessionen Israels. Studenten protestierten gegen die Angriffe und forderten die Einführung der Wehrpflicht im Land. Diese allgemeine Sympathie für die Palästinenser hielt jedoch nicht lange an. Proteste und Ausschreitungen in Sidon von Palästinensern und sunnitischen Libanesen gegen die Passivität der Regierung im Angesicht der israelischen Bedrohung verdeutlichte der maronitischen Elite, daß ihre Vormacht durch die Palästinenser bedroht werden könnte. Die Reaktion der meisten maronitischen Parteien war jedoch nicht eine Stärkung des Staates, sondern die Aufrüstung der Parteimilizen.251

Eine Konferenz in Kairo 1969 unter Vermittlung des ägyptischen Präsidenten Nasser sollte die Beziehungen zwischen dem Libanon und der PLO regeln. Der Vertrag untersagte Palästinensern Waffen außerhalb der Lager zu tragen und von libanesischen Boden aus Israel zu bombardieren. Der Zugang nach Israel wurde auf bestimmte Grenzgebiete beschränkt. Zugleich mußte der Libanon die militärische Präsenz der PLO im Land anerkennen. Das Abkommen besiegelte einen Souveränitätsverlust der libanesischen Regierung. Ein bedenkliches Licht warf der Ratifizierungsprozeß des Abkommens auf die libanesische Demokratie: Dem Parlament lag der Vertrag nicht vor, so daß es über einen unbekannten Text abstimmte. Trotz der Ablehnung der meisten maronitischen Politikern, verabschiedete das libanesische Parlament das Abkommen. Dies führte zu einer Verschärfung der konfessionellen Spannungen und trug reduzierte die Legitimität des Abkommens. Trotzdem wurden die palästinensischen Gruppen erstmals libanesischen Gesetzen unterworfen.252 Dieses Abkommen kann als Versuch gewertet werden, Unvereinbares zu verbinden. Der Schutz der Autonomie der PLO und die Sicherung libanesischer Souveränität schließen einander aus. Der Vertrag stellte somit nur ein Provisorium dar, daß die grundlegenden Konflikte zwischen dem Staat und der PLO nicht lösen konnte.

Während der Amtszeit von Shihab und Hélou erfolgte eine enge Anlehnung an Ägypten (bzw. die Vereinigte Arabische Republik, VAR). So wurde der Botschafter der VAR im Libanon oft als der neue “Hochkommissar“ des Landes bezeichnet. Trotzdem war die Zeit von einer Stärkung staatlicher Strukturen geprägt.253 Die ägyptenfreundliche Politik und Spannungen den Palästinensern führten zu einer oppositionellen Allianz der maronitischen Parteien. Bei den Parlamentswahlen 1968 schlossen sich die Kata'ib, die National-Liberale Partei und der Nationale Block gegen Shihab zusammen und bestimmten die politische Richtung des Landes. Diese Koalition förderten die Wahl Sulaiman Franjiyya (1970-1976) zum Präsidenten zwei Jahre später.254

2.4.3. Zusammenfassung

Die Entwicklung des Libanon und Bosniens nach dem 2. Weltkrieg ist von einer relativ langen friedlichen Phase gekennzeichnet. In Bosnien war die Stabilität nach 1945 das 251 Rabbath, La Formation du Liban Politique et Constitutionnel, 576-579. 252 Gordon, The Republic of Lebanon, 93. Für den Text des Abkommen von Kairo und den 2. Vertrag

mit der PLO vom Mai 1973 (Melkart Abkommen) s. Votzke, Der umstrittene Krieg im Libanon, 229-238.

253 Cobban, The making of modern Lebanon, 93 f. 254 Rabinovich, The War for Lebanon, 31.

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Ergebnis der kommunistischen Diktatur und der großen Leiden aller Nationen Bosniens und Jugoslawiens. Der Libanon erlebte keine Katastrophe wie Bosnien. In der Zwischenkriegszeit und im 2. Weltkrieg kam es im Libanon zwar zu Aufständen und Unruhen, die jedoch in keinem Verhältnis zum Bürgerkrieg in Jugoslawien standen. Die Stabilität des Libanon beruhte vor allem auf den im Nationalpakt gefunden Konsens und der allgemein akzeptierten staatlichen Eigenständigkeit des Landes. Zugleich wurde das Land seit der Unabhängigkeit Kriegen und internen Krisen der Nachbarstaaten ausgeliefert, was die friedliche Entwicklung im Libanon noch erstaunlicher scheinen läßt.

Die Stabilität nach dem 2. Weltkrieg beruhte im Libanon und in Jugoslawien allgemein, insbesondere in Bosnien, auf einem fragilen Gleichgewicht. Der Nationalpakt im Libanon sicherte einen Ausgleich zwischen Sunniten und Maroniten, die jeweils den Anspruch erhoben alle Muslime bzw. Christen zu repräsentieren. Dieser Pakt bevorzugte die Maroniten, die aufgrund französischer Unterstützung ihre Vorherrschaft absichern konnten. Trotzdem stellte die garantierte Machtbeteiligung von Sunniten und Schiiten ein Gleichgewicht her, das trotz fehlender Ausgewogenheit dreißig Jahre lang funktionierte. Im 2. Jugoslawien schuf die kommunistische Partei ein ähnliches Gleichgewicht zwischen den Serben und den anderen Nationen. Während die Zwischenkriegszeit von einer serbischen Dominanz geprägt war, bemühte sich Tito und die neue kommunistische Elite um einen Ausgleich zwischen den Nationen. Dies hatte Einfluß auf die Strukturierung der Republiken und trug zur Schaffung Bosniens als eigenständige Republik bei. Nachdem Bosnien weder in der Zwischenkriegszeit, noch im faschistischen Kroatien bestand, war es nicht selbstverständlich, Bosnien-Herzegowina wiederherzustellen. Da der Krieg die größten Bruchlinien zwischen Kroaten und Serben aufzeigte, bemühte sich die KP darum, durch Bosnien einen „Puffer“ zwischen beiden Republiken zu schaffen. Zudem sollte die Eigenständigkeit Bosniens Neid und territoriale Ansprüche von Serben und Kroaten gegeneinander aufheben. Innerhalb Bosniens selber herrscht ein ähnliches Gleichgewicht vor. Trotz der formalen Ausgewogenheit der drei Nationen ist jedoch in Erinnerung zu rufen, daß in Bosnien und anderen Republiken die serbische Bevölkerung, insbesondere in den ersten 20 Jahren Jugoslawiens, überrepräsentiert waren.

Weder im Libanon, noch in Bosnien, besaß die Balance ein stabiles Fundament. In Bosnien wurde dies durch das Verdrängen der Kriegsgeschichte und eine kommunistische Diktatur erreicht, die die nationale Frage für lange Zeit für „gelöst“ hielt.255 Im Libanon war zwar eine freie Diskussion über den Nationalpakt möglich, eine Neuverhandlung der Bedingungen dieses Gleichgewichts bedrohte jedoch, wie in Jugoslawien auch, den Bestand des Staates.

Aus dem Versuch der Benachteiligten, das Gleichgewicht der Nationen bzw. Konfessionen neu zu bestimmen, entstanden im Rahmen des „kroatischen Frühling“ 1969-1971 und des 1. libanesischen Bürgerkrieges 1958 Staatskrisen, die nicht nur eine Bedrohung für die Kooperation der einzelnen Gruppen darstellten, sondern den Staat insgesamt gefährdeten.

Bei beiden Krisen verbanden sich integrierte Vertreter des jeweiligen Systems (die kroatische KP in Jugoslawien und traditionelle muslimische Politiker im Libanon) mit

255 Der Partisanen-Mythos und die Darstellung des 2. Weltkrieges nahm zwar einen breiten Raum in

Jugoslawien seit 1945 ein, zu einer wirklich freien Diskussion über die Kriegsereignisse kam es jedoch erst seit Mitte der achtziger Jahre - unter nationalistischem Vorzeichen.

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radikaleren Politikern und Intellektuellen, die sich gegen das System richteten (Matica Hrvatska und kroatische Nationalisten in Jugoslawien und Nasseristen im Libanon). Diese Verbindung stellte eine besondere Bedrohung für die beiden Länder, dar, da die Neuordnung des Landes auf zwei Ebenen vorangetrieben wurde: Innerhalb der Institutionen des politischen Systems und durch Druck von nicht-staatlicher Seite (Demonstrationen, Kulturinstitute und Medien).

Diese Krise zeigen in beiden Staaten die Bruchlinien auf, die sich später im blutigen Krieg ausdrückten. Interessant ist eine Betrachtung der Akteure die zur Beendigung der Krise in Libanon 1958 und in Jugoslawien/Bosnien 1971 beigetragen haben. In Jugoslawien endete der „Kroatische Frühling“ mit einer Säuberungswelle in Partei und Staat. Alle Akteure außerhalb des politischen Systems, wie Matica Hrvatska, wurden unterdrückt. Die Änderungsvorschläge und Kritik des neuen kroatischen Nationalismus wurden jedoch nicht leichtfertig ignoriert. Die Reformen von Staat und Partei Mitte der siebziger Jahre berücksichtigen die moderaten Positionen des „Kroatischen Frühlings“. Nicht berücksichtigt wurden jedoch die Rufe nach Demokratisierung und Öffnung des politischen Systems. Im Libanon war die Oppositionsbewegung von 1958 personell erfolgreicher. Der Präsident trat zurück und die folgende politische Entwicklung integrierte einige Politiker der Opposition in das politische System. Im Gegensatz zu Jugoslawien wurde der Staat weder reformiert, noch wurden die wesentlichen Forderungen der Oppositionellen erfüllt.

Sowohl im Libanon, wie auch in Jugoslawien konnte die Konfrontation nur durch eine Person oder Institution beigelegt werden, die nicht für eine der beiden Konfliktparteien durch die Auseinandersetzung diskreditiert war. In Jugoslawien stand Tito über der kroatischen Kritik, so daß seine Unterdrückung des „Kroatischen Frühlings“ nicht als großserbische oder eine ähnliche Reaktion interpretiert wurde. Eine weitere Zuspitzung konnte so vermieden werden. Im Libanon blieb nur die schwache Armee und ihr Oberbefehlshaber an 1. Bürgerkrieg unbeteiligt. Sie waren somit die einzige für beide Konfliktparteien akzeptable Institutionen.

Die im Libanon geprägte Formel von dem Bürgerkrieg ohne Sieger und Besiegte ließe sich auch für den „Kroatischen Frühling“ anwenden. Dies gilt zwar nicht auf personeller, wohl aber auf inhaltlicher Ebene. In beiden Ländern führte die Konfrontation nicht zu der nötigen Grundsatzdiskussion über die erwünschte Staatsform, so daß die Elite beider Länder eine weitere Auseinandersetzung um das politisches System nur aufschoben. Als dieses Thema erneut in Jugoslawien/Bosnien und im Libanon auf der Tagesordnung stand, fehlten in beiden Ländern die ausgleichenden Elemente, die eine Konfrontation entschärfen konnten.

2.5. Die Zeit vor dem Bürgerkrieg

Die Zeit vor dem Bürgerkrieg läßt sich im Fall von Bosnien-Herzegowina und den Libanon nicht klar von der Entwicklung beider Länder nach dem 2. Weltkrieg trennen. Mit dem Tod Titos 1980 und der Kairoer Konferenz zwischen Libanon und der PLO 1969 beginnt in beiden Staaten jedoch eine Periode, in der die innerstaatlichen Spannungen zunahmen und ein Bürgerkrieg immer wahrscheinlicher wurde. Diese Periode steht in Kapitel 3 im Vorgrund, deshalb entfällt hier die Zusammenfassung.

2.5.1. Bosnien-Herzegowina

Mit dem Tod von Tito im Mai 1980 ging Jugoslawien der einzige „Schiedsrichter“ zwischen den Republiken und Nationen verloren. Im Lauf der achtziger Jahre kommt der Gesamtstaat auf verschiedenen Ebenen zunehmend in eine Krise, die von den

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Politikern nicht mehr bewältigt werden konnten. Das oberste Organ des Staats ist seit 1980 das Staatspräsidium mit einem jährlich wechselnden Präsidenten. Immer weniger Autorität geht jedoch von den Organen des Bundes aus und die Republiken führen am Ende des Jahrzehnts eine weitgehend eigenständige Politik (vgl. Kapitel 3.1.1.)

Die Politik der Republiken Anfang der achtziger Jahre gliedert sich an zwei Achsen. Die erste Achse bestimmt, ob die Republiken eine Konföderation bzw. eine Beibehaltung der föderalen Verfassung von 1974 anstreben oder eine Rezentralisierung verlangen. An der zweiten Achse gliedern sich die Republiken nach ihrer politischen und wirtschaftlichen Zielen. Die eine Gruppe strebte eine Liberalisierung des Systems an, während eine zweite eine konservative Linie vertritt. Liberal Republiksparteien forderten eine Reform des Wirtschaftssystems und politische Diskussionen. Diese Art des Liberalismus ist jedoch nicht unbedingt mit Pluralismus und Demokratie gleichzusetzen.

Liberal

Zentralistisch

Serbien Vojvodina

Slowenien

Föderal Bosnien-Herzegowina

Montenegro

Kroatien

Mazedonien

Kosovo

Konservativ

Graphik 1: Die Grundpositionen der Republiken und Provinzen Anfang der achtziger Jahre256

Bosnien strebte eine zentralistisches System an, da die Führung erneute Ansprüche auf bosnisches Gebiet von kroatischer oder serbischer Seite im Rahmen einer weiteren Föderalisierung befürchtete.

Die Konföderalisierung in den siebziger Jahren hat zu einer neuen Politikergeneration in Jugoslawien geführt. Nach dem Tod der ersten Generation (meist ehemalige Partisanen, u.a. Kardelj 1979, Tito 1980, Ranković 1983) übernahmen Politiker die Macht in Jugoslawien, die ihre Machtbasis in erster Linie in einer jeweiligen Republik besaßen. Ohne Rückhalt in einer Republik ließ sich nach Titos Tod kaum noch Politik machen. Nicht zuletzt das Scheitern von Ante Marković als letzter jugoslawischer Premierminister ist hierfür ein Indiz. Während in den anderen Republiken somit eine zunehmend national orientierte Politik ermöglicht wurde, mußten in Bosnien multinationale Koalitionen gebildet werden.257

Die Rolle der Muslime in den achtziger Jahren

Der in sechziger und siebziger Jahren begonnene Prozeß der muslimischen Identitätsbildung setzte sich im Jahrzehnt nach Titos Tod fort. In Bosnien etablierte sich ein informelles Rekrutierungssystem der Elite nach einem nationalen Schlüssel. Hierdurch verringerte sich das serbische Übergewicht in der Verwaltung und Partei; 1985 waren die Muslime in der Partei proportional zur Bevölkerung vertreten. Lediglich

256 Ramet, Nationalism and federalism in Yugoslavia, 217. 257 Friedman, The Bosnian Muslims, 188.

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in der Spitzenpositionen der Republik und des Bundes blieben Muslime unterrepräsentiert. Weiterhin blieben Kroaten und Muslime in der Polizei und Armee zugunsten der Serben unterrepräsentiert (vgl. Kapitel 3.1.1.).

Neben dem muslimischen Nationalismus kommt verstärkt ein politisierter Islam zu Vorschein. Die politische Elite wehrte sich gegen die religiöse Wiedergeburt des Islam als politisches Konzept. Im Zentrum der staatlichen Bekämpfung eines politischen Islam sind die Prozesse 1983 zu sehen.258 Zur gleichen Zeit fanden Gerichtsverfahren gegen serbische und kroatische Nationalisten in und außerhalb Bosniens statt. Franjo Tudjman wurde wegen seiner nationalistischen Äußerungen zwei Jahre zuvor verurteilt.

Diese Welle der Verurteilungen spiegelt den Versuch der politischen Elite wieder, die Liberalisierung nach dem Tod Titos unter Kontrolle zu bringen. Weiterhin zeigte sich das nationale Gleichgewicht auch in den Prozessen. Wenn ein muslimischer „Nationalist“ verurteilt wurde, muß auch ein serbischer Nationalist bestraft werden.

Der serbische *ationalismus

Im Sinne des „Gleichgewichts“ zwischen den Nationen kam es 1984 zu einem Prozeß gegen einen serbischen Nationalisten. Der bosnische Serbe, Vojislav Šešelj, der damals an der Universität Sarajevo als Lektor tätig war, wurde beschuldigt gegen „die verfassungsmäßige Ordnung verstoßen und feindliche Propaganda“ verbreitet zu haben. Šešelj lehnte in einem Artikel, den er für die Parteizeitung Kommunist geschrieben hatte, die bisherige Nationalitätenpolitik ab und schlug eine Aufteilung Bosniens zwischen Serbien und Kroatien vor. Er wurde zu acht Jahren Haft verurteilt. Das harte Urteil wurde durch Druck von Amnesty International und die internationale Aufmerksamkeit in Folge der Olympischen Spiele in Sarajevo reduziert, so daß er im März 1986 freigelassen wurde. Später stieg Šešelj zum Vorsitz der Radikalen Partei Serbiens auf und gründete die Četnici neu, die während des Krieges in Bosnien und Kroatien im Krieg einen Teil der grausamsten Kriegsverbrechen begingen. Zudem wurde seine Partei Koalitionspartner der Sozialistischen Partei Serbiens, so daß Šešelj 1997 zum Vize-Premierminister Serbiens aufstieg.259

Ende der achtziger Jahre lockerte sich die strenge anti-nationale Politik in Bosnien. Nachdem der serbische Nationalismus de facto zur offiziellen Politik der Nachbarrepublik Serbien wurde (vgl. Kapitel 3.6.1), gestaltete es sich für Bosnien schwierig, den serbischen Nationalismus in Bosnien aufzuhalten. In Bosnien diente die relativ hohe Geburtenrate der Muslime als Motiv, um Angst vor einer islamischen Repbulik zu schüren. So ging die Geburtenrate bei allen drei Nationen zwischen 1981 und 1990 stark zurück, die Rate der Muslime blieb jedoch die Höchste. Die serbische Rate fiel von 7,7 auf 3,8 pro Tausend und die kroatische von 8,9 auf 7. Die muslimische Geburtenrate lag 1981 bei 14,8, während sie 1990 immer noch bei 11,3 lag. Neben der niedrigeren Geburtenrate wanderten auch mehr Kroaten und Serben in die jeweilige Republik ab.260 Aus diesen Zahlen leiteten serbische Nationalisten eine islamische

258 Die Islamisten sind keine Nationalisten. Da sich ihre Vorstellung in Bosnien jedoch nur auf eine

Nation in Bosnien beruft, sind sie mit Nationalisten zu vergleichen. s. Kapitel 6.4.1. Islam. 259 Slobodan Inić, Vojislav Šešelj: A Demon Comes of Age, in Sonja Biserko, Seška Stanojlović

(Hrsg.), Radicalisation of the Serbian Society. Collection of Documents (Belgrad 1997) 170-179. 260 Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 124. Diese Tendenz läßt sich auch in den anderen

Republiken Jugoslawiens feststellen. Die Migration in die jeweilige national Republik stand im Zusammenhang mit der zunehmenden Wahrnehmung nationaler Interessen der Republiken und Provinzen.

80

Bedrohung durch eine absolute Mehrheit Muslime in Bosnien ab. Die Nutzung der Geburtenrate bei den Muslimen als Mobilisierungsinstrument der Serben kommt bei einem Interview mit dem Vorstizenden der SDS, Radovan Karadžić, zum Ausdruck: „If they [die Muslime] did not want to live in Yugoslavia in which the Serbs totaled 40 percent, why should we live in a Bosnia where [the Muslims] total 44 percent? In a while, they will be 50 percent and a Muslim state will emerge.“261 Diese Ängste wurden zunehmend von dem BdKS, später Sozialistischen Partei Serbiens, unter Sloban Milošević mobilisiert. Verbunden hiermit war die Angst der serbischen Bevölkerung vor einer kroatisch-muslimschen Koalition. Dieses Mißtrauen führte zu Aktivitäten der serbischen Geheimpolizei in Bosnien - ohne Wissen der Republiksführung - die 1989 bekannt wurden.262 In diesem Klima entstand die Serbische Demokratische Partei (SDS), die gezielt diese Ängste ansprach und einen Großteil der serbischen Stimmen bei der ersten Wahl 1990 auf sich vereinen konnte (vgl. Kapitel 3.2.1.).

Muslime Serben Kroaten Jugoslawen andere

1981 39,5 32,0 18,4 5,3 3,0

1991 43,7 31,4 17,3 4,0 3,7

Tabelle 11: Ergebnisse der Volkszählung für Bosnien 1981 und 1991263

Krise und Ende des Bundes der Kommunisten

Ein großer Skandal schwächte in den späten achtziger Jahren die Kommunistische Partei Bosniens. Führende Politiker Bosniens ließen sich Anfang der achtziger Jahre ihre Sommerhäuser in Neum, dem einzigen bosnisch-herzegowinischen Dorf an der Adria, bauen. Die Preise für die Grundstücke lagen weit unter dem Marktwert und das Baumaterial für die Luxusvillen stammte oftmals von einem Hotelbau. Neum war noch in den siebziger Jahren ein kleines Dorf, dem mit dem Hotel- und Villenbau eine Infrastruktur errichtet wurde, die sogar an der touristischen Adriaküste eine Seltenheit darstellte. Die Modernisierung wurde aus Bundesmitteln zur Förderung unterentwickelter Gebiete finanziert. Zum Bau der Villen erteilten Banken an die Funktionäre günstige Kredite, so daß die aufgrund der hohen Inflationsrate bald hinfällig waren.

Im Februar 1988 versuchte die serbische Illustrierte Svet darüber zu berichten. Die bereits ausgelieferte Nummer wurde jedoch wieder eingezogen. Bereits wenige Tage später wurde der Skandal in der kroatischen Zeitschrift Danas veröffentlicht. Die Folge war eine Säuberungswelle in der bosnischen Partei und Verwaltung. Neben anderen Politikern mußte auch Mato Andrić, der Präsident der Republik, sein Amt niederlegen. Der Rücktritt des jugoslawischen Premierministers Branko Mikulić war neben wirtschaftlichen Problemen auch das Ergebnis des Bauskandals von Neum. Insgesamt hatten 76 von 130 Mitgliedern des bosnischen ZK Villen in Neum.264 Die Folgen dieses Skandals waren zweierlei: Erstens wurde die Partei und die Verwaltung geschwächt. Zweitens führte er zu einer Diskreditierung des Bundes der Kommunisten in Bosnien. In

261 Zitiert nach: Radovan Karadžić, Karadzic: 'I am a nationalist', in: Transition, 30.6.1995, Nr.11, Jhrg.

1, 54. 262 Friedman, The Bosnian Muslims, 192. 263 Herbert Büschenfeld, Ergebnisse der Volkszählung 1991 in Jugoslawien, in: Osteuropa, Dezember

1992, Jhrg. 42, 1100. 264 Thomas Brey, Die Logik des Wahnsinns. Jugoslawien - von Tätern und Opfern

(Freiburg/Basel/Wien 1993) S. 55 f.

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einer armen Republik, in der große Wohnungsnot bestand, stieß ein derartiger Mißbrauch auf wenig Verständnis. Der Vorwurf der reicheren Republiken, daß die von ihnen aufgebrachten Förderungen für unterentwickelte Gebiete verschwendet werden, erhielt durch den Bauskandal auftrieb. Im Skandal um Neum ist nicht zuletzt ein Grund zu sehen, warum die kommunistische Partei bei den Wahlen 1990, nur zwei Jahre später, das schlechteste Ergebnis in allen Republiken erlangte.

Noch im März 1989 erklärte das Staatspräsidium, daß die Gründung von Parteien verfassungswidrig sei. Mit dem Verfall der Kommunistischen Partei nach dem abgebrochenen Parteikongreß im Januar 1990 war die Pluralisierung der politischen Landschaft nicht mehr aufzuhalten (vgl. Kapitel 3.2.1). Das Parlament Jugoslawien beschloß deshalb Anfang 1990 die Einführung eines Mehrparteiensystems. Statt der geplanten Bundeswahlen im April 1990 kam es lediglich zu Wahlen in allen Republiken. Die Absage der Bundeswahl ist Ausdruck der unterschiedlichen Interessen über die Zukunft des Staates und des dominanten Eiflusses der Republiken.265

Zuerst versuchte der Bund der Kommunisten in Bosnien eine Parteienlandschaft nach nationalen Kriterien zu verhindern und untersagte die Bildung von nationale Parteien. Der Verfassungsgerichtshof hob jedoch vor den Wahlen das Verbot auf und ermöglichte somit das Entstehen der drei nationalen Parteien (SDA, SDA, HDZ).266

Am 18. November und 2. Dezember 1990 fanden die ersten freien Wahlen in Bosnien-Herzegowina seit Ende der zwanziger Jahre statt. Sowohl die Wahl für die beiden Parlamentskammern, wie auch für das Präsidium (vgl. Kapitel 3.1.1.) konnten die drei nationalen Parteien überlegen gewinnen (vgl. Kapitel 3.2.1.). So stimmten 86,5 % aller Muslime für die SDA, 84,6 % aller Serben für die SDS und 84 % der Kroaten für die HDZ.267

Bürgerkammer Gemeindekammer

Partei in % Sitze Sitze

SDA 31,5 41 45

SDS 26,1 34 38

HDZ 16,0 20 24

SKBiH-SDP 12,3 18 1

SRSJ-BiH 8,9 12 1

MBO 1,1 2 -

andere Parteien 3,9 3 1

insgesamt 100 130 110

Tabelle 12: Ergebnis der Wahlen in Bosnien-Herzegowina268

265 Jens Reuter, Jugoslawien: Zerfall des Bundesstaates. Systemwechsel und nationale

Homogeniesierung in den Teilrepuliken, in: Magareta Mommsen (Hg.) Nationalismus in Osteuropa. Gefahrvolle Wege in die Demokratie (München 1992) 131.

266 Lenard J. Cohen, Broken Bonds: The Disintegration of Yugoslavia (Boulder, Col. 1993) 143. 267 Robert M. Hayden, Constitutional Nationalism and the Logic of the Wars in Yugoslavia, in:

Problems of Post-Communism, September/October 1996, Nr. 5, Jhrg. 43, 31 f. 268 John B. Allcock, Yugoslavia, in: Bogdan Szajkowski (Hg.) New Political Parties of Eastern Europe

and the Soviet Union (Harlow 1991) 312.

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Bei einem Vergleich des Wahlergebnisses mit der Volkszählung fällt der enge Zusammenhang zwischen den Ergebnissen auf, so daß etliche Kommentatoren die Wahlen als aufwendige Volkszählung bezeichneten (vgl. 1. Wahlen im Jugoslawien der Zwischenkriegszeit, Kapitel 2.3.1.). Der größte Unterschied findet sich zwischen „Jugoslawen“ in der Volkszählung und pro-jugoslawischen Parteien. Bei dem besseren Abschneiden der pro-jugoslawischen Parteien muß bedacht werden, daß die beiden Parteien der Kategorie, der Bund der Kommunisten und der Bund der Reformkräfte, neben der pro-jugoslawischen Orientierung ein wirtschaftliches und ideologisches Programm angeboten haben. Zugleich waren sie auch die einzigen größeren gesamt-bosnischen Parteien. Diese Punkte erklären die sehr viel höheren Wahlergebnisse der beiden Parteien als die Zahl der „Jugoslawen“ in Bosnien. Die stärkste Korrelation bei den nationalen Parteien findet sich bei der HDZ. Unter den Muslimen gab es wiederum die verhältnismäßig niedrigste Unterstützung für die beiden nationalen Parteien (SDA, MBO).

Unter den Abgeordneten (vgl. Tabelle 13) fällt auf, daß die Zahl der „Jugoslawen“ genauso niedrig wie bei der Volkszählung lag. Ansonsten waren Serben und Kroaten im Parlament leicht überrepräsentiert.

Das überragende Wahlergebnis für die nationalen Parteien war nicht das Ergebnis der nationalistischen Politik der Nachbarrepubliken Kroatien und Serbien, sondern auch ein sogenanntes „prisonners dilemma“. Aus Angst das die Angehörigen der anderen Nationen ihre nationale Parteien wählen, die deren Interessen stärker wahrnehmen, haben viele Bosnier für die jeweils eigene nationale Partei gestimmt.

Muslime Serben Kroaten Jugoslawen bzw. andere

Wahlen 32,6 26,1 16,0 21,2

Abgeordnete 41,25 35,41 20,41 2,93

Volkszählung 43,7 31,4 17,3 4,0

Tabelle 13: Das Wahlergebnis 1990, die *ationszugehörigkeit der Abgeordneten und die Volkszählung

1991 im Vergleich269

Die drei Parteien hatten bereits vor den Wahlen beschlossen, im Falle eines Wahlsieges eine Koalition einzugehen. Die Zusammenarbeit beruhte auf einem Proporzsystem zwischen den Parteien und demzufolge auch zwischen den drei Nationen Bosniens. Der Vorsitzende der SDA, Alija Izetbegović, wurde Vorsitzender des Staatspräsidiums. Ein Kroate, Jure Pelivan, wurde Premierminister und ein Serbe, Momčilo Krajišnik, übernahm das Amt des Parlamentspräsidenten. Diese Regelung ähnelt dem Nationalpakt im Libanon, wobei auffällt, daß die zweitgrößte Nation, die Serben, nur ein unbedeutendes Amt zugeteilt bekamen. Dies könnte auf zwei Ursachen zurückgehen. Erstens war die Zusammenarbeit zwischen der HDZ und der SDA enger als mit der SDS. So könnten sich beide Parteien gegenüber der serbischen Partei durchgesetzt haben. Zweitens läßt sich vermuten, daß die SDS bereits zu diesem Zeitpunkt kein einheitliches Bosnien mehr anstrebte und sich deshalb nicht für ein hohes Amt in der Republik einsetzte. Insgesamt wurden die wichtigsten Posten von Muslimen kontrolliert. So gehörten der Innen- und Außenminister der SDA an. Weiterhin erhielt der Krisenstab (Krisni stab), der dem muslimischen270 Präsidiumsmitglied Ejup Ganić unterstand, weitgehende Vollmachten. Aufgrund seiner Rückendeckung unter

269 Für die Nationszugehörigkeit der Abgeordneten: Allcock, Yugoslavia, 313. 270 Der Muslime und Mitglied der SDA Ganić wurde als "Jugoslawe" ins Präsidium gewählt.

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muslimischen Bevölkerung konnte der auf ein Jahr (seine Amtszeit wurde 1991 um ein Jahr verlängert) gewählte Vorsitzende des Staatspräsidiums, Alija Izetbegović, seine Machtposition bedeutend stärken.271

*ation Präsidiumsmitglied Partei %

Muslime Fikret Abdić SDA 44

Alija Izetbegović SDA 37

Serben Nikola Koljević SDS 25

Bilijana Plavšić SDS 24

Kroaten Stjepan Kljuić HDZ 21

Franjo Boras HDZ 19

Yugoslawen Ejup Ganić SDA

Tabelle 14: Wahlergebnis des Präsidiums der 2. Runde, 2.12.1990272

Bemühungen um ein neues Jugoslawien

Kroatien und Slowenien betrieben nach den Wahlen 1990 immer offener eine Loslösung von Jugoslawien, während Serbien und Montenegro eine Rezentralisierung anstrebten. Bosnien-Herzegowina und Mazedonien bemühten sich hingegen um eine ausgleichende Position. Sie schlugen die Umwandlung Jugoslawiens in eine „Gemeinschaft der jugoslawischen Republiken“ vor. Diese Konföderation sollte nur noch die Wirtschaftspolitik, die Außenpolitik und die Verteidigung bestimmen. In dem Entwurf wird explizit auf die EG als Vorbild hingewiesen. Zugleich sollte sich dieses neue Jugoslawien auch der EG annähern (z.B. Anbindung an den ECU). Die Entscheidungsstrukturen folgen den Verfahren der EG. So sollen die meisten Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden. Nur Kernfragen (Verteidigung, völkerrechtliche Verträge) hätten Einstimmigkeit benötigt.273 Dieser Plan scheiterte jedoch am Widerstand Serbien und seiner Verbündeten. Durch die zunehmend eigenständige Politik der drei nationalen Parteien in Bosnien konnte bereits Anfang 1991 von einer einheitlichen bosnischen Position keine Rede mehr sein.274 Mit Kriegsbeginn in Slowenien und Kroatien Ende Juni 1991 wurde deutlich, daß Jugoslawien, auch in geänderter Form nicht fortbestehen konnte.

271 Hier ist zu bedenken, daß der Einfluß auf die Zentralregierung zwar größer wurde, die Kontrolle auf

große Teile der Republik jedoch schwanden. Paul Shoup, The Bosnian Crisis in 1992, in: Sabrian Petra Ramet, Ljubiša S. Adamovich (Hg.) Beyond Yugoslavia. Politics, Economic and Culture in a Shattered Community (Boulder, Col/San Francisco/Oxford 1995) 158 f. und Sahil Zvizdić, Na poznatom kolosijeku [Auf bekanntem Gleis], in: Vjesnik, panorama subotam, 5.1.1991, 4 f. zitiert nach: Osteuropa, Mai 1991, Jhrg. 41, A272-A276.

272 Allcock, Yugoslavia, 312. 273 Alija Izetbegović, Kompromis kao uspjeh [Kompromiß als Erfolg], in: Borba, 18.1.1991, zitiert

nach: Osteuropa, Mai 1991, Jhrg. 41, A276 f.; Die Plattform des Präsidiumsvorsitzenden der SR Bosnien Hercegovina und des Präsidium der Republik Mazedonien über die zukünftige jugoslawische Gemeinschaft, in: Internationale Politik, 20. Juni 1991, Nr. 989, Jhrg. 42, 22-24. In der gleichen Ausgabe finden sich die entsprechenden Stellungnahmen der jugoslawischen Regierung, Sloweniens, Serbiens und Kroatiens.

274 Tri stava iz Bosne o novoj Jugoslaviji [Drei Standpunkte aus Bosnien über ein neues Jugoslawien] in: Politika, 10.1.1991, zitiert nach: Osteuropa, Mai 1991, Jhrg. 41, A280.

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Der Krieg in Kroatien und der drohende Krieg in Bosnien

Die Krise in Bosnien wurde mit dem Beginn der kroatisch-serbischen Auseinandersetzungen in Kroatien deutlich. Dort begann die SDS nach den Wahlen mit einer Loslösung der Gebiete unter ihrer Kontrolle. Polizei und Armeewaffenlager wurde geplündert und erste Milizen entstanden. Sie befanden sie teils unter der Kontrolle der serbischen Bürgermeister, teils agieren sie autonom. Bereits Ende 1990 entstanden „Autonome Gebiete“, die sich der kroatischen Verwaltung entzogen. Durch fragwürdige Referenden wurde diese abgesichert. Das genaue Territorium dieser Gebiete wurde noch nicht festgelegt, sondern lediglich durch die „ethnisch und historischen vom serbischen Volk bewohnten Gebiete Kroatiens“ definiert.

Im September 1991 folgt die SDS in Bosnien dem Vorbild ihrer Schwesterpartei in Kroatien und ruft „Serbische Autonome Gebiete“ aus. Neben Bosanska Krajina entzogen sich Romanija (östlich von Sarajevo) und Ostdalmatien bosnischer Verwaltung und riefen die jugoslawische Volksarmee um „Unterstützung“ an. Damit beginnt der Zerfall Bosniens bereits vor dessen Unabhängigkeit. Während des Krieges in Kroatien kam es öfters zu Grenzübertretungen durch kroatische Einheiten. Zugleich war Bosnien durch den Rückzug Jugoslawischen Volksarmee (JNA) aus Slowenien und großen Teilen Kroatien bereits hoch militarisiert. Die JNA setzte ihre Truppen in den neu ausgerufenen serbisch autonomen Gemeinden ein. Mitte 1991 wurden bereits offen Übungen serbischer Milizen in Bosnien durchgeführt. Die JNA zog sich zugleich weitgehend aus den Städten zurück und zerstörte zahlreiche Stützpunkte, um eine Übernahme durch die kroatische Armee oder bosnische Polizei zu verhindern.275

Während die SDS auf lokaler Ebene bereits die Integrität Bosniens zerstörte, bestand die Koalitionsregierung in Sarajevo fort. Nun zeigte sich jedoch eine deutlichere Allianz von HDZ und SDA gegen die SDS. Letztere Partei lehnte eine Abstimmung über die Souveränität der Republik ab. Der letzte Versuch im Juni 1991 einen Ausgleich im Staatspräsidium zu finden wurde durch den Kriegsausbruch in Kroatien verhindert. Im Oktober 1991 bemühten sich muslimische und kroatische Abgeordnete nicht mehr die SDS umzustimmen und stimmten für die Souveränität der Republik. In diesem Memorandum wird weiterhin festgelegt, daß Bosnien-Herzegowina nur in Jugoslawien bleiben würde, wenn sowohl Kroatien, also auch Serbien diesem Staat weiterhin angehören. Da dies zu diesem Zeitpunkt bereits unvorstellbar geworden war, bekundeten die Abgeordneten somit de facto die Absicht, sich von Jugoslawien loszulösen. Bei der gleichen Sitzung erklärte sich Bosnien für neutral im Krieg zwischen Kroatien und der Jugoslawischen Bundesarmee. Diese Entscheidungen des bosnischen Parlaments repräsentierten nur noch Kroaten und Muslime, da die Sitzung bereits zuvor vom serbischen Parlamentspräsidenten abgebrochen wurde und alle Abgeordneten der SDS die Abstimmung boykottierten. Die bosnischen Institutionen sind somit bereits Ende 1991 zerfallen.276

Am 21. Dezember 1991 rief die SDS die „Republika Srpska i Bosna-Hercegovina“ (später nur noch Republika Srpska/Serbische Republik) aus. Anfang 1992 begannen die ersten Verhandlungen um die zukünftige Gestaltung der Republik unter der

275 Laura Silver, Allan Little, The Death of Yugoslavia (London 1995) 98-112. 276 Jens Reuter, Die politische Entwicklung in Bosnien-Herzegowina, in: Südosteuropa, Nr. 11-

12/1992, Jhrg. 41, 672.

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Schirmherrschaft der EG.277 Am 29. Februar und 1. März fand schließlich die Volksabstimmung über die Unabhängigkeitserklärung Bosniens statt. Die SDS und die Armee riefen zum Boykott des Referendums auf. Somit nahmen nur 64,31 % der Wahlberechtigten an der Abstimmung teil. Von ihnen stimmten 99,4 % für die Unabhängigkeit. Während der Abstimmung kam es bereits zu gelgentlichen Schießereien und zwei Tage später wurde Bosanski Brod von serbischen Milizen bombardiert - der ersten größere Waffeneinsatz in Bosnien. Am 27. März verabschiedete die „Republika Srpska“ ihre eigene Verfassung, während die jugoslawische Armee gegen die restlichen Gebiete vorging. Noch vor der Anerkennung der Unabhängigkeit am 6. April 1991 durch die EG hatte der Krieg in Bosnien begonnen.278

2.5.2. Libanon

Anfang der siebziger Jahre hatte sich im Libanon die soziale und wirtschaftliche Lage seit der Unabhängigkeit grundlegend geändert. Die alte Elite und das politische System kontrollierten jedoch unverändert den Staat und stand somit zunehmend in Konflikt mit neuen politischen Strömungen. Die Wahl des Präsidenten Sulaiman Franjiyya 1970 beendete den Shihabismus. Stattdessen besaß er seine Machtbasis bei den maronitischen Parteien (insbesondere bei der Kata'ib), die ihn 1970 wählten.279

Um die eigenen Position zu stärken entließ der neue Franjiyya Anhänger vom ehemaligen Präsidenten Shihab. Diese Säuberungswelle betraf vorrangig die Armee, wo Shihab die größte Unterstützung genoß. Die Entlassung Oberkommandierenden der Armee führte zur Ablehnung des Präsidenten durch die Armee und schwächte den Präsidenten Franjiyya. Zugleich erhöhte es dessen Abhängigkeit von maronitischen Politikern und Milizen.280

Konflikte mit Palästinensern

In Jordanien kam es im September 1970 zu einem kurzen Krieg (bekannt als „schwarzer September“) zwischen palästinensischen Milizen und der jordanischen Regierung. Nach der Niederlage der PLO und anderer palästinensischer Gruppen mußten sie das Land verlassen und eine neue Basis finden. Nur im Libanon konnte die PLO frei gegen Israel agieren, da die Flüchtlinge in Ägypten und Syrien unter strenger staatlicher Kontrolle standen. Ein Kleinkrieg gegen Israel scheiterte an den Grenzen dieser Staaten. Die Liberalität und Offenheit des Libanon ermöglichte es den Palästinensern und anderen Gruppen hingegen diesen Staat als Aktionsgebiet zu nützen. Damit wurde der Libanon in die Auseinandersetzungen mit Israel hineingezogen. Die libanesische Regierung bemühte sich die palästinensischen Angriffe auf Israel vom Libanon aus zu verhindern. So wurden Kommandos der PLO oft verhaftet. Auch Jassir Arafat wurde kurzzeitig

277 Zwischen Anfang 1991 und Ende 1995 wurden eine Vielzahl von territorialen und institutionellen

Kompromissen bei derartigen Konferenzen diskutiert. Meist können sie als Ausdruck der tatsächlichen Machtkonstellation in Bosnien gesehen werden. Im Rahmen dieser Arbeit können diese Konferenzen nicht behandelt werden. Hierfür s. Marie-Janine Calic, Krieg und Frieden in Bosnien-Herzegowina (Frankfurt 1996) 186-216.

278 Die beste Analyse der Entwicklung Bosniens zwischen den Wahlen und Kriegsausbruch findet sich bei Shoup, The Bosnian Crisis in 1992, 155-187.

279 Rabinovich, The War for Lebanon, 40. 280 Nadine Picaudou, La déchirure libanaise (Brüssel 1992) 117 f.

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festgehalten. Die Schwäche des Staates und der Armee (vgl. Kapitel 3.1.2.) verhinderte jedoch eine offensive Politik des Libanon gegenüber der PLO.

Die PLO stellte seit 1969 nicht die einzige bewaffnete Einheit im Libanon dar. Fast alle Parteien besaßen ihre eigenen Milizen, die unter Waffen standen. Diese Milizen waren jedoch durch die zugehörigen Parteien in das politische System des Libanon integriert, während die PLO außerhalb des Systems stand und aufgrund ihrer nicht-libanesischen Ziele nicht konfliktfrei integriert werden konnte. Die ideologische Nähe zur Linken führte dazu, daß die PLO die progressiven Parteien im Libanon stärkte. Diese überschätzten in Folge oftmals ihre libanesische Gefolgschaft. Die allgemeine Krisenstimmung und die Allianz zwischen linken Parteien und der PLO führte zu einem Anwachsen der christlichen Milizen, die verstärkt mit dem Anspruch auftraten, die christliche Bevölkerung zu schützen.281 Der große Spielraum für alle politischen Strömungen im Libanon kann auf die Zersplitterung des Staates in große Zahl der Konfessionen zurückgeführt werden. Diese Freiheit führte jedoch dazu, daß Parteien und andere Gruppierungen staatliche Aufgaben übernahmen (Milizen, soziale Dienste etc.). Hierdurch wurde der Staat „porös“ und die Liberalität des Landes drohte in Anarchie überzugehen.282

Das außenpolitische Umfeld

Die arabischen Ölförderländer, allen voran Saudi-Arabien, konnten in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg ihren Einfluß steigern. Während sie zu Anfang Beirut als Wirtschafts- und Handelszentrum nützen, bauten sie mit der Zeit eine eigene Infrastruktur auf. Beirut blieb jedoch das wichtigste Handelszentrum der arabischen Welt. Spätestens mit dem Ölembargo im Oktober 1973 wurde die Macht der Ölförderländer deutlich. In der arabischen Welt nahm die neue Rolle Saudi-Arabien einen islamischen Unterton an. Muslimsche Gegner des politischen Systems des Libanon erhielten hierdurch Unterstützung.

Zugleich zeigte die USA nur geringes Interesse am Libanon. Die schmerzhafte Erfahrung in Vietnam ließ in diesen Jahren wenig Appetit an einem Engagement in anderen Ländern aufkommen. Spätestens nach der Invasion 1958 sah die USA das politische System des Libanon als veraltet an und zeigt somit wenig Interesse am Land.283

Die erwähnte Offenheit des Libanon brachte eine starke Aktivität anderer arabischer Staaten im Land mit sich. Diese Aktivitäten trugen zum Ausbruch des Krieges 1975 bei (vgl. Kapitel 3.6.2.). Da sich der Libanon durch den Nationalpakt bei innerarabischen Spannungen neutral verhielt, diente das Land oftmals als Austragungsort dieser Konflikte. Fast alle arabischen Staaten besaßen eine Zeitung im Libanon und einige unterstützen eine Partei. Sowohl Parteien, wie auch Zeitungen dienten zu dieser Konfliktaustragung. So wurde die PLO Großteils vom Irak und Libyen finanziert, während Ägypten und Saudi-Arabien (später Israel) die Status-Quo orientierten Kräfte unterstützten (vgl. Kapitel 3.2.2.; 3.5.2.).

Die Bedeutung der amerikanische Universität in Beirut steigerte den Einfluß anderer arabischer Länder weiterhin So kam in Beirut zahlreiche Intellektuelle aus dem arabischen Raum zusammen. Somit spielten Nichtlibanesen in der Universität und in

281 Rabinovich, The War for Lebanon, 36 f., 41 f. 282 Gordon, The Republic of Lebanon, 29 f. 283 Rabinovich, The War for Lebanon, 35.

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der Presse eine wichtige Rolle. Die Parteien und später die Milizen erhielt die finanzielle und ideologische Hilfe anderer Länder. All diese Element trugen dazu bei, daß im Libanon interne Bruchlinien oft externe Gründe hatten oder zumindest durch äußere Faktoren verstärkt wurden.284

Zuspitzung der Krise

Die alte muslimische (meist sunnitische) Elite wurde Anfang der siebziger Jahre zunehmend verdrängt. Die neue Generation war radikaler und lehnte die alten Loyalitätsverhältnisse ab. Dies zeigte sich bei den Parlamentswahlen 1972. Dort gewann unter anderem ein 26-jähriger Nasserist, Najjah Wakim, einen Parlamentssitz in Beirut der zuvor von einem traditionellen Notablen gehalten wurde.

Syrien beeinflußte die Wahlen 1972 und macht somit seinen Anspruch deutlich. Durch den Tod von Nasser 1970 spielte Ägypten nicht mehr eine führende Rolle in der arabischen Welt. In Folge suchten libanesische Politiker zunehmend Rat und Unterstützung in Damaskus. Keine Partei konnte mehr auf die Vermittlerrolle Syriens verzichten. Das Regime von Assad war jedoch keineswegs neutral. Es übte vielmehr über loyale libanesische Politiker Druck auf das System aus. Die wichtigsten Verbündeten zu diesem Zeitpunkt waren der pro-syrische Flügel der Baath-Partei, ein Großteil der schiitische Bevölkerung und einige Palästinensergruppen (vgl. Kapitel 3.6.2.).285

Die nächste große Krise nach 1958 entstand im April 1973. Ein israelisches Kommando ermordete im Zentrum von Beirut einen palästinensischen Politiker. Da sich die Armee weigerte einzugreifen, forderte der Ministerpräsident den Rücktritt des Stabschefs der Armee. Nachdem der Präsident dem nicht entsprach, trat die Regierung von Ministerpräsident Salam zurück. Der Rücktritt brachte den Bruch zwischen der maronitischen und sunnitischen Elite zum Ausdruck. Während die Maroniten sich gegen ein stärkeres Vorgehen gegen die israelischen Angriff wehrten, näherten sich Palästinenser und sunnitische Politiker einander an.286

Als der Präsident Franjiyya einen Sunniten, Amin al-Hafiz, ohne Rückdeckung seiner Konfessiongemeinschaft zum Nachfolger ernannte, protestierte der schiitische Iman und der sunnitische Großmufti. Kurze Zeit später, im Mai 1973, versuchte Franjiyya die Macht der PLO zu brechen, indem er palästinensische Flüchtlingslager bombardieren ließ. Syrien schloß daraufhin die Grenze und eine syrisch-kontrollierte palästinensische Miliz marschierte an der Grenze auf. Der Angriff schwächte die PLO jedoch keineswegs und trug nur zu einer weiteren Anspannung der innenpolitischen Lage bei. Die Lage konnte nur durch ein neues Abkommen mit der PLO und einen neunen Ministerpräsidenten entschärft werden. Das Melkart Abkommen, das die Regierung mit der PLO in Folge schloß, bestätigte den Vertrag von Kairo 1969. Der Konflikt um dem Ministerpräsidenten konnte beigelegt werden, indem Hafiz, der noch nicht von Parlament bestätigt worden war, seine Kandidatur zurückzog und Takieddin Sulh, ein prominenter sunnitischer Politiker zum neuen Ministerpräsident ernannt wurde.287 Erstmals spielten die Palästinenser eine Rolle in der libanesischen Innenpolitik.

284 Hanf, Die drei Gesichter des Libanonkrieges, 89 f. 285 Rabinovich, The War for Lebanon, 36 f. 286 Picaudou, La déchirure libanaise, 119 f. 287 Ebd. 120 f.; Gordon, The Republic of Lebanon, 79.

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Zugleich zeigte sich, daß die Macht des Präsidenten auf muslimischen Widerstand stieß, die sich zunehmend auf die Seite der PLO stellten.

Der Kleinkrieg der PLO mit Israel an der Südgrenze brachte größere Bevölkerungsbewegungen mit sich. Überwiegend Schiiten aus dem Süden, deren Leben durch diese Auseinandersetzung mit Israel bedroht wurde, zogen nach Beirut. In Folge entstand ein riesige Slums im Süden Beiruts. Diese Armenviertel befanden sich oft in direkter Nachbarschaft mit den Flüchtlingslagern der Palästinenser. Die Lager und Armenviertel standen in krassem Kontrast zum Reichtum Beiruts durch das Ölgeschäft (vgl. Kapitel 3.3.2.). Das Aufeinandertreffen dieser großen Unterschiede zwischen armen und reichen Libanesen erhöhte das Konfliktpotential. Diese sozialen Spannungen kam im Programm des schiitischen Politikers und Geistlichen Sadr zum Ausdruck (vgl. Kapitel 3.2.2.). Bei einer Versammlung 1974 in Baalbek vor 100.000 Schiiten ruft er zu einen Aufstand der Armen auf.288

Diesen neuen Problemen war das politische System und viele Politiker nicht gewachsen. Neue Politiker waren oftmals radikal und konnten keine überkonfessionelle Basis für ihre politischen Ziele finden. Die alte Elite besaß noch genug Macht, um neue Politiker von staatlichen Funktionen fernzuhalten. Junge Politiker wichen in Folge zunehmend auf politische Aktivitäten außerhalb des Systems aus.289 Ähnlich wie in Bosnien verlagerten sich die politischen Aktivitäten von den bestehenden Strukturen auf den Aufbau von Parallelstrukturen, die den Staat gefährdeten. Dies bedeutete, daß die Macht nicht mehr durch Wahlen, sondern durch Stärke der Bewaffnung und den Mobilisierungsgrad bestimmt wurde.

1975 1984

Christen insgesamt 1.199.000 37,4 % 1.525.000 42,7 %

Maroniten 496.000 15,5 % 900.000 25,2 %

griechisch-orthodox 230.000 7,2 % 250.000 7 %

griechisch-katholisch 213.000 6,6 % 150.000 4,2 %

Muslime insgesamt 2.008.000 62,6 % 2.050.000 57,3 %

Sunniten 690.000 21,5 % 750.000 21 %

Schiiten 970.000 30,2 % 1.100.000 30,8 %

Drusen 348.000 10,9 % 200.000 5,6 %

Insgesamt 3.207.000 3.575.000

Tabelle 15: Bevölkerungsschätzungen 1975 und 1984290

288 Picaudou, La déchirure libanaise, 130 f. 289 Rabinovich, The War for Lebanon, 35, 40. 290 Picaudou, La déchirure libanaise, 267. Die Schätzung von 1975 beruht auf der französischen

Enzyklopädie "Universalis", jene für 1984 auf den Financial Times.

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2.6 Der Krieg

Der Krieg in Bosnien-Herzegowina und im Libanon kann in dieser Arbeit nur kurz erwähnt werden. Da sich die Arbeit auf die Entwicklung vor Kriegsausbruch konzentriert, soll nur auf die Grundstruktur der Kriege hingewiesen werden. Auf weitere Literatur zum Krieg wird verwiesen.291

2.6.1. Bosnien-Herzegowina

Der Krieg in Bosnien stellt keinen monolithischen Block dar. Vielmehr sind durch den Ausbruch der Kämpfe Anfang 1992 verschiedene Konflikte entstanden, die teils parallel und teils hintereinander ausgefochten wurden. Die unterschiedlichen Kriege werden sehr verschieden kategorisiert.292 Wenn man bei der Einteilung von den Konfliktparteien ausgeht, lassen sich vier Kriege definieren:

Der serbisch-kroatische Krieg, Anfang 1992- Anfang 1993, Mitte-Ende 1995,

Der serbisch-muslimische Krieg, Anfang 1992- Ende 1995,

Der muslimisch-kroatische Krieg, Anfang 1993- Anfang 1994,

Der innermuslimische Krieg, Die autonome Provinz Westbosnien, Ende 1993- Ende 1994.

291 Im Internet finden sich etliche Quellen zum Krieg in beiden Ländern. Von Interesse sind

insbesondere die Positionen der jeweiligen Konfliktparteien:

Für Bosnien-Herzegowina: Die Sicht der SDA und Zentralregierung (Aufsätze von Wissenschaftlern, Zeitungsartikel, Dokumente): „Bosnia Homepage“ http://www.cco.caltech.edu/~bosnia, zur serbischen Sichtweise (inkl. SRNA, Tanjug und pro-serbische Aufsätze): „Serbian Unity Congress“ http://www.suc.org und für die Position von Herceg-Bosna (Artikel, Literaturlisten): „Na Predak-Croatian Homepage“ http://www.hrnet.org/~napredak. Die beste Archivsammlung findet sich bei: „Open Media Research Institute“ http://www.omri.cz/. Ein sehr detaillierte Studie der Kriegsführung der bosnisch-serbischen Armee und der Vertreibungen findet sich in: Final report of the Commission of Experts (S/1994/674) United Nations Security Council, 27.5.1994, http://www.emse.fr/~maillot/html/perso/e/yugo/onu/experts/, zu den Menschenrechtsverletzungen s. Tadeusz Mazowiecki, Report on the situation of human rights in the terriory of former Yugoslavia (E/CN.4/1992/S-1/9) United Nations Economic and Social Council, 28.8.1992., http://www.emse.fr/~maillot/html/perso/e/yugo/mazowiecki/e.cn.4-1992-s-1-9.html#tire.

Für den Libanon: Die Sicht der Maroniten (Zeitungsartikel, Kongressberichte): „Maronet“ http://www.primenet.com/~maronet, die Forces Libanaises (Programm, Geschichte des Krieges): „Lebanese Forces Homepage“ http://www.lebanesef.com/, General Aoun (Reden, Programm): „General Aoun Hompage“ http://hudson.idt.net/aoun/aoun.html und für die Sicht der Hizbollah (Kontaktadressen, Programm): „Association for supporting the Islamic Resistance“ http://www.moqwama.org/home2.html. Die beste allgemeine Übersicht über Quellen vom Libanon findet sich bei: „Almashriq“ http://www.hiof.no/almashriq/lebanon.

292 So gliedert Susan Woodward den Krieg in fünf Sub-Konflikte: 1. Der Krieg der bosnischen Serben gegen die Loslösung Bosniens von Serbien/Montenegro, 2. Der Krieg der bosnischen Kroaten um Westherzegowina, 3. Der Selbbehauptungskrieg der jugoslawischen Volksarmee, 4. Der Krieg der bosnischen Regierung zur Eroberung serbisch und kroatisch besetzter Gebiete und 5. Krieg zwischen der Land- und Stadtbevölkerung (starke gegen schwache nationale Identität), s. Susan L. Woodward, Bosnia and Herzegowina, in: Leokadia Drobizheva, Rose Gottemoeller, Catherine McAdrle Kelleher, Lee Walker (Hg.) Ethnic Conflict in the Post-Soviet World. Case Studies and Analysis (Armonk, N.Y./London 1996) 25-28.

90

Der serbisch-kroatische Krieg, Anfang 1992- Anfang 1993

Bereits vor dem offenen Krieg in Bosnien begann ein Kleinkrieg zwischen bewaffneten Einheiten der serbischen SDS und der kroatischen Armee zusammen mit bosnischen Kroaten. Diese Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf die Herzegowina und Posavina (an der Grenze zu Slawonien). Sie begannen bereits als Schießereien mit dem serbischen Krieg in Kroatien im Juli 1991. Obwohl in Mostar, der Hauptstadt der Herzegowina, die Muslime den größten Bevölkerungsanteil stellten, wurde die Stadt und die Region am Anfang des Krieges in erster Linie serbisch-kroatischen Kämpfen ausgesetzt. Der Neretva Fluß teilt die Region. In der Westherzegowina dominierte die kroatische Bevölkerung. In dieser Region waren auch die meisten kroatischen Truppen konzentriert. In der Ostherzegowina hingegen war die SDS sehr stark und besaß durch die jugoslawische Volksarmee, die sich Anfang 1992 in eine bosnisch-serbische Armee verwandelte (vgl. Kapitel 3.1.1.) ausreichende militärische Unterstützung. Bereits im März 1992 kam es zu Kämpfen zwischen Kroaten und Serben in Neretva Tal und in Bosanski Brod in der Posavina. Im folgenden Monat begann die Belagerung von Mostar durch JNA. Beide Gebiete besaßen eine große strategische Bedeutung. Die schmale Posavina verbindet Serbien mit dem größten serbischen Siedlungsgebiet in Bosnien um Banja Luka. Auch im weiteren Kriegsverlauf blieben diese beiden Gebiete im Zentrum serbisch-kroatischer Kämpfe. Die Herzegowina war für die serbische Seite von Bedeutung, weil es das Hinterland der kroatischen Küste bildete. Für die bosnischen Kroaten war dies Region wiederum das wichtigste Siedlungsgebiet.

Zwischen 1993 und 1994 flauten die Kämpfe ab, da beide Seiten in erster Linie gegen die muslimischen Einheiten kämpften. Erst im August 1995, als die kroatische Armee in einem Angriff die serbische Krajina eroberte, kam es erneut zu größeren Gefechten zwischen bosnisch-kroatischen und bosnisch-serbischen Einheiten. Diese Kämpfe konzertierten sich jedoch auf das bosnische Grenzgebiet zur Krajina und führten zu einem großen Erfolg der kroatischen Truppen.293

Der serbisch-muslimische Krieg, Anfang 1992- Ende 1995

Der zentrale Konflikt, der während des gesamten Krieges andauerte war der serbisch-muslimische Krieg. Am 4. April 1992 beginnt der Krieg in vollen Umfang. Serbische Milizen und die Armee legten ihre Angriff auf die größeren bosnischen Städte mit der Zusage auf internationalen Anerkennung Bosnien-Herzegowinas am 7. April zusammen, um somit ein Rechtfertigung für die Attacken zu besitzen. Noch am 4. April ordnete Alija Izetbegović die Generalmobilmachung der Territorialverteidigung an. Vier Tage später verhängte Izetbegović den Ausnahmezustand: Das Parlament wurde aufgelöst und eine bosnischen Armee wurde geschaffen. In Folge erobern serbischer Einheiten von der serbischen Grenze aus weite Gebiete Bosniens. Zugleich beginnt die Belagerung Sarajevos, die bis zum Ende des Krieges im Dezember 1995 die Stadt weitgehend von der Außenwelt abschneidet. Den Eroberungen bosnischer Städte (u.a. Bijeljina, Zvornik) folgt die sogenannte „ethnische Säuberung“, die Vertreibung und Ermordung der muslimischen und kroatischen Bevölkerung. Im Lauf des Krieges gelang es der serbischen Armee so etwa 70 % des bosnischen Territoriums zu erobern. Die

293 Zarko Puhovski, Der Krieg in Bosnien-Herzegowina und der serbisch-kroatische Konflikt, in:

Dialog. Beiträge zur Friedensforschung, Nr. 1-2/94, Jhrg. 26, 301-311; Misha Glenny, The Fall of Yugoslavia (London 1993) 156-161, 167 f. Zur Annäherung zwischen Kroaten und Serben s. Branislav Radivojša, Da li je na pomolu prekretnics [Ob ein Wendepunkt bevorsteht], in: Politika, 22.6.1993, zitiert nach: Osteuropa , November 1993, Jhrg. 43, A 644 f.

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Aufrüstung der kroatischen und der muslimischen Armee führte erst 1994 und 1995 zu erfolgreichen Gegenoffensiven. Unter dem Eindruck dieser Niederlagen und den stärkeren Engagement der NATO und der Vereinigten Staaten kam es Ende 1995 zu Verhandlungen in Dayton, die schließlich zu einem Friedensvertrag und der Stationierung von NATO-Truppen in Bosnien führte.294

Der muslimisch-kroatische Krieg, Anfang 1993-Anfang 1994

Die Allianz zwischen Muslimen und Kroaten wurde mit dem Kriegsausbruch brüchig. In der politischen Führung der bosnischen Kroaten setzten sich der radikalere Flügel um Mate Boban aus der Herzegowina durch, der offen einen Anschluß an Kroatien forderte (vgl. 3.1.1.,3.2.1.,3.6.1.). Ähnlich wie die serbische Armee versuchte die kroatische Armee Bosniens (HVO) große Gebiete zu erobern. Es folgten Vertreibungen. Zugleich nahmen innerhalb der SDA religiöser Politiker eine größere Rolle ein. Dies führte in der ersten Jahreshälfte 1993 zu intensiven Kämpfen in Zentralbosnien und in Mostar.

Die USA übte Druck auf Kroatien aus, um die Allianz von Kroaten und Muslimen wiederherzustellen. Anfang 1994 wurde Boban abgesetzt und im April 1994 eine muslimisch-kroatische Föderation abgeschlossen. Die Auseinandersetzungen hörten zwar nicht gänzlich auf, sie beschränkten sich jedoch auf lokale Gefechte.295

1991 1995 (geschätzt) Tote und Vermisste Im Exil außerhalb

Bosnien

Muslime 1.903.000 43 % 1.275.000 44 % 218.000 66 % 460.000 37 %

Serben 1.366.000 31 % 987.000 34 % 83.000 25 % 330.000 26 %

Kroaten 761.000 17 % 468.000 16 % 21.000 6 % 290.000 23 %

Jugoslawen 243.000 6 % 116.000 4 % 5.000 2 % 129.000 10 %

andere 104.000 2% 52.000 2% 2.000 1% 50.000 4 %

Insgesamt 4.377.000 2.898.000 329.000 1.259.000

Tabelle 16: Geschätzte Zahl der Bevölkerungsveränderungen durch den Krieg296

Der innermuslimische Krieg, Ende 1993- Ende 1994

In Westbosnien um die Stadt Bihać und Velika Kladuša befindet sich ein relativ kompaktes Siedlungsgebiet bosnischer Muslime. Da sie von der kroatischen und bosnischen Kraijna mit einer mehrheitlich serbischen Bevölkerung umgeben ist, entwickelte sich der Krieg anders als im restlichen Land. Der Spitzenpolitiker der SDA, Fikret Abdić, kontrollierte dieses Gebiet (zu Abdić s. Kapitel 3.2.1.,3.3.1.) unabhängig von der Regierung in Sarajevo. Im September 1993 ruft er in dieser Region die „Autonome Provinz Westbosnien“ aus und schließt einen Monat später einen Separatfrieden mit den bosnischen Serben und Kroatien. Zwischen der bosnischen

294 Hierzu s. Richard Holbrooke, To End a War (New York 1998), Silver, Little, The Death of

Yugoslavia, 245-322; Malcolm, Bosnia, 234-251. Zu militärischen Aspekten des Bosnienkrieges s. Anton Zabkar, The Drama in former Yugoslavia - The beginning of the end or the end of the beginning? (=National Defence Academy Series Studies and Reports 3/95, Wien 1995) 1-10, 99-119.

295 Hierzu s. Silver, Little, The Death of Yugoslavia, 323-335, 354-359; Cohen, Broken Bonds, 275-282, 302-305.

296 Murat Praso, Demographic Consequences of the 1992-95 War, in: Bosnia Report, July-October 1996, Nr. 16, 5.

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Armee in Bihać und den Einheit Abdić's kommt es daraufhin zu heftigen Kämpfen, die Ende 1994 mit einer Niederlage von Fikret Abdić enden. Die „Autonome Provinz Westbosnien“ hatte nur etwas mehr als ein Jahr bestanden.297

2.6.2. Libanon

Der Krieg im Libanon zwischen 1975 und 1990 wird von verschiedenen Autoren in eine Vielzahl von Phasen und Stufen der Intensität eingestuft. Einige Autoren (z.B. Rabinovich) beschreiben die Konflikte zwischen 1977 und 1982 nur als Krisen und nicht als Bürgerkrieg.298

Um den Krieg im Libanon kategorisieren, ohne zu vereinfachen, lohnt es sich zwei Ebenen zu unterschieden. Auf der ersten Ebene lassen sich die Stufen des Krieges einordnen, gemessen an ihrer Intensität und der geographischen Ausdehnung. Während dieser einzelnen Phasen änderten sich die Konfliktparteien und ihre Gegner.

1. Bürgerkrieg, Anfang 1975-Ende 1976,

2. Kämpfe im Süden , Ende 1976- Anfang 1982

3. Die Israelische Invasion, Anfang 1982-Anfang 1984,

4. Aufstieg der Schiiten, Anfang 1984-Ende 1988,

5. Das Auseinanderbrechen des Landes, Ende 1988 bis Ende 1990.

Der Bürgerkrieg, Anfang 1975-Ende 1976

Der Krieg begann am 14. April 1975 als zwei Leibwächter von Pierre Gemayel, dem Vorsitzenden der Kata'ib, erschossen werden. Als Vergeltung wurden Stunden später Palästinenser in einem Bus erschossen. Der Krieg beginnt somit mit einem Kampf zwischen maronitischen Milizen und Palästinensern, denen sich die linken Parteien anschließen. Beirut steht im Zentrum der Kämpfe, bei denen die Stadt in einen Westteil unter Kontrolle der PLO und den Ostteil unter maronitischer Vorherrschaft zerfällt. Die Bevölkerung der anderen Konfliktparteien werden aus dem jeweiligen Einflußbereich vertrieben. Während die Armee am Anfang passiv blieb, kam es im März zu einer Spaltung der Armee. Muslimische Teile des Militärs gemeinsam mit linken Parteien und palästinensischen Truppen griffen christliche Gebiete im Libanon Gebirge an und hatten großen Erfolg gegen die maronitischen Milizen.

Dies führte zu einer syrischen Invasion des Landes zugunsten der Christen (vgl. Kapitel 3.6.2.). Nachdem die palästinensischen Truppen schwere Verluste erlitten hatten, trennt die syrische Armee das Land in eine palästinensiche Enklave im Süden und eine maronitische Zone im Gebiet des alten Mont Liban. Dazwischen und in den Städten übernahm Syrien die Herrschaft. Arabische Friedenskonferenzen in Riad und Kairo wandelten die syrischen Truppen in einer arabische „Friedensstreitmacht“ um, der sich

297 Hierzu s. Glenny, The Fall of Yugoslavia, 152-154; Silver, Little, The Death of Yugoslavia, 339,

387 298 Theodor Hanf gliedert den Krieg bis 1987 in 14 Konflikte. Theodor Hanf, Libanon-Konflikt, in: in:

Udo Steinbach, Robert Rüdiger (Hg.) Der Nahe und Mittlere Osten: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Geschichte und Kultur, Bd. 1: Grundlagen, Strukturen und Problemfelder (Opladen 1988) 668-677.

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kleine Kontingente anderer arabischer Länder anschlossen. Der prosyrische Präsident Sarkis wurde im Oktober 1976 gewählt.299

Kämpfe im Süden , Ende 1976- Anfang 1982

Südlich des Litani Flusses übernahmen die PLO und verbündete linke Parteien die Kontrolle. Bei einer relativen ruhigen Entwicklung im Rest des Landes setzt sich hier der Kleinkrieg zwischen Israel und der PLO fort. Im März 1978 marschieerte Israel erstmals bis zum Litani Fluß im Libanon ein. Die Palästinenser konnten jedoch rechtzeitig nach Norden fliehen, so daß diese Invasion erfolglos blieb. Nach dem Rückzug wurde von der UNO die Friedenstruppe UNIFIL stationiert (vgl. Kapitel 3.6.2.).

Gleichzeitig verschärften sich die Spannungen zwischen der syrischen Besatzung und den maronitischen Milizen. Die Maroniten erhofften eine Entwaffnung der PLO. Syrien folgte dieser Forderung nicht. Schließlich versuchten im Winter 1980 maronitische Einheiten die Stadt Zahlé am Rande des Bekaa-Tals zu besetzten. In Folge kam es zu Kämpfen zwischen Syrern und maronitischen Milizen. Dieser Konflikt brachte einen Annäherung zwischen Maroniten und Israel, was wiederum die syrisch-israelischen Spannungen verstärkte.300

Die Israelische Invasion, Anfang 1982-Anfang 1984

Die israelische Invasion im Juni 1982 war offiziell die Reaktion auf ein Attentat auf den israelischen Botschafter in London. Die Invasion bis nach Beirut und die anschließende Belagerung der PLO in Westbeirut dauerte ein halbes Jahr und brachte fast alle Bevölkerungsgruppen des Südlibanons gegen Israel auf. Jedoch lediglich die Palästinenser und die verbündete Amal leisteten der Invasion offenen Widerstand. Nach der Niederlage der PLO mußte sie den Libanon verlassen, während amerikanische, französische und italienische Truppen in Beirut eintrafen, um den Rückzug der PLO und anderer palästinensische Milizen zu organisieren.

Während der vorgehende Präsident Sarkis unter syrischer Vorherrschaft gewählt wurde, wurde Bashir Gemayels, der Führer der Kata'ib (vgl. Kapitel 3.2.2.), unter israelischer Präsenz zum Präsidenten gewählt. Nach seiner Ermordung durch ein Bombenattentat kam es zu den Massakern maronitischer Milizen an palästinensischen Zivilisten in den Lagern Shatila und Sabra. Diese Massaker verschärften die Spannungen und trugen zur Unbeliebtheit Israels bei, da israelische Truppen die Lager für die Massaker abriegelten. Präsident des Libanons wurde schließlich der Bruder von Bashir, Amin Gemayel (vgl. Kapitel 3.6.2.). Der Widerstand gegen die israelische Okkupation führte zu einem schrittweisen Rückzug Israels, der neue Kämpfe zwischen Drusen und Maroniten herbeiführte. Die Anschläge der Hizbollah auf die amerikanischen und französischen Truppen führten zu einem Rückzug der internationalen Truppen. Zugleich konnte Syrien seinen Einfluß auf das Land erneuern, so daß Amin Gemayel den Vertrag mit Israel aufkündigen mußte. Der Einmarsch der Amal-Miliz und der verbündeten Drusen unter Waldi Jumblat in Beirut führten zu einem Ende des israelischen Einflusses auf den

299 Hierzu s. Hanf, Libanon-Konflikt, 668-670; Rabinovich, The War for Lebanon, 43-56; Picaudou, La

déchirure libanaise, 133-152; Pott, Schimkoreit-Pott, Beirut, 149-164; René Chamussy, Chronique d'un guerre. Liban 1975-1977 (Paris 1978).

300 Hierzu s. Hanf, Libanon-Konflikt, 670-671; Rabinovich, The War for Lebanon, 108-120; Picaudou, La déchirure libanaise, 153-175; Pott, Schimkoreit-Pott, Beirut, 8-138..

94

Libanon nördlich des Litani-Flusses. Die Zentralregierung, die einen Wiederaufbau begonnen hatte, wurde geschwächt und die durch Israel gestärkte libanesische Armee zerfiel erneut.301

Konfliktparteien Stärke der

Miliz

Konfliktparteien Stärke der

Miliz

Front Libanaises/

Forces Libanaises

*ationalbewegung

Kata'ib 10.000-15.000 Progressive Sozialistische Partei

National-Liberale Partei Sozial-Nationalistische Syrische Partei

Die Wächter der Zedern Libanesische KP

Zgharta Befreiungsarmee irakische Baath Partei

Maronitische Mönchsorden Al-Murabitun

Al-Tabzim Kommunistische Aktion

„Befreiter Libanon“ 2.000-2.500

Insgesamt 12.000-20.000 Insgesamt 5.000-7.000

andere libanesische Einheiten externe Einheiten

syrische Baath Partei Syrische Armee 22.000-30.000

Amal UNIFIL 4.000-6.000

Reguläre libanesische Armee 5.000-20.000 Palästinensische Einheiten

Fath, PFLP, PDFLP, Saiq etc.

12.000

Israel 20.000-25.000

Tabelle 17: Die größten Milizen und Truppen im Libanon zwischen 1975 und 1980302

Aufstieg der Schiiten, Anfang 1984-Ende 1988

Nachdem Syrien und die verbündeten Milizen wieder die Oberhand gewonnen hatten, kam eine neue Regierung zustande. Ein Gleichgewicht zwischen den größten Konfessionen schien wieder hergestellt zu sein. In Sidon kam es jedoch erneut zu Kämpfen zwischen Palästinensern, gemeinsam mit islamistischen Sunniten, und maronitischen Milizen. Die Amal versuchte einige christliche Dörfer vor dem Vormarsch der sunnitischen Milizen zu schützen. Dies führte erstmals zu einen Krieg zwischen Schiiten und Sunniten, die Drusen verhielten sich neutral. Im Oktober 1985 versuchte Syrien zu vermitteln, da sich nun syrische Verbündete gegenseitig bekämpften. Die jeweiligen Führer konnten jedoch ihre eigenen Gruppen nicht mehr kontrollieren, so daß die Kämpfe weiter gingen. Zugleich kam es zu einem inner-maronitischen Krieg zwischen pro-syrischen und anti-syrischen Einheiten. Die Milizen der Drusen blieben 1987 auch im schiitisch-palästinensischen Konflikt nicht mehr neutral und griffen die Amal an. Die Amal sah sich gleichzeitig von der erstarkten

301 Hierzu s. Hanf, Libanon-Konflikt, 671-674; Nadine Picaudou, La déchirure libanaise, 175-197;

Friedman 126-222; Pott, Schimkoreit-Pott, Beirut, 8-138, 169-216. 302 Lebanon under Arms, in: The Middle East, May 1978, Nr. 43, 34; Gordon, The Republic of

Lebanon, 105.

95

islamistischen Hizbollah bedroht, so daß im Südlibanon 1988 ein inner-schiitischer Krieg ausgefochten wurde.303

Das Auseinanderbrechen des Landes, Ende 1988-Ende 1990

Die Amtszeit von Amin Gemayel endete im September 1988. Über seine Nachfolge herrschte jedoch eine Pattsituation zwischen der syrischen Armee und den Forces Libanaises. Syrien konnte eine Wahl verhindern, die FL konnte genug Stimmen im Parlament kontrollieren, um die Wahl eines ihr unangenehmen Kandidaten zu verhindern. Gemayel ernannt entgegen dem Nationalpakt den christlichen General Aoun zum Übergangspremierminister, während sein Vorgänger, Salim al-Hoss, die Entlassung nicht annahm und die Gegenregierung unter syrischer Vorherrschaft übernahm. Das Land war erneut zweigeteilt: In der christlichen Enklave zwischen Beirut und Tripoli herrschte Aoun, während Hoss und der syrischen Armee der Rest des Landes unterstand.

Um die Regierung zu finanzieren griff Aoun die Forces Libanaises an, die in der christlichen Enklave Steuern einhoben und die Häfen kontrollierten. Sein Beschuß Westbeiruts zerstörte die letzte Gelegenheit in der muslimischen Bevölkerung Unterstützung zu finden. Zugleich stieß die Vormacht Syriens im Libanon zunehmend auf Kritik der Arabischen Liga. Ein Lösung für den Libanon schien nötiger als je zuvor. Um die Wahl eines Präsidenten zu ermöglichen wurde beschlossen, das Parlament außerhalb des Landes einzuberufen. Ein Waffenstillstand ermöglichte dann Verhandlungen in der saudi-arabischen Stadt Ta'if. Neben der Präsidentenwahlen sollte das Parlament eine Reform des politischen Systems verabschieden und die zukünftigen Beziehungen zu Syrien bestimmen. Die Reformen von Ta'if stellen ein politisches Ende des Bürgerkrieges dar. Das militärische Ende folgte erst ein Jahr später.

Während Aoun auf einen syrischen Abzug bestand, vereinbarte das Parlament lediglich eine Rückzug über zwei Jahre in das Bekaa-Tal. Das Parlament wählte Ende 1989 René Moawad zum Präsidenten. Er starb drei Wochen später bei einem Anschlag. Elias Hrawi wurde als Ersatz gewählt. Der Einfluß Aouns verringerte sich weiter, als er den Krieg gegen die FL fortführte und zunehmend an Boden verlor. Im Oktober 1990 beendete die libanesische und die syrische Armee die Herrschaft Aouns, der in die französische Botschaft flüchtete. Dieser Sieg Syriens wurde durch den Einmarsch des Iraks in Kuwait erleichtert. Erstens war der Libanon das Zugeständnis der USA an Syrien für dessen Teilnahme an der Allianz gegen den Irak. Zweitens erhielt Aoun Unterstützung vom Irak. Das Wirtschaftsembargo gegen den Irak ließ diese Hilfe für Aoun versiegen.304

303 Hierzu s. Hanf, Libanon-Konflikt, 674-676; Nadine Picaudou, La déchirure libanaise, 197-219;

Arnold Hottinger, 7mal Naher Osten (München-Zürich 1991) 138-147. 304 Hierzu s. Ronald D. McLaurin, Lebanon: Into or Out of Oblivion?, in: Current History, January

1992, Nr. 561, Jhrg. 91, 30 f.