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4. Ausgabe / November 2007 Fr. 5.00 / 3.20 www.2021-zeitschrift.com 2021 ZEITSCHRIFT FÜR GESELLSCHAFTSFRAGEN Der Aberglaube des Bildungsbürgers Akademiker im Interview über Religion, Metaphysik und Astrologie Sprache und Evolution Wird die Theorie Darwins durch die Sprachwissenschaft widerlegt? Homöopathie Warum sie dem modernen Menschen schleierhaft erscheint Die schweigende Mehrheit Über die Entstehung von Sprache nach W.V. Quine Reuven Bar-Efraim Der Rabbiner über Metaphysik und die säkulare Gesellschaft FOTO: © PHILIPP ROHNER

2021 4.Ausgabe (Nov. 07)

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Die schweigende Mehrheit, Reuven Bar-Efraim, Der Rabbiner Warum sie dem modernen Menschen schleierhaft erscheint, Wird die Theorie Darwins durch die Sprachwissenschaft widerlegt? Akademiker im Interview über Religion, Metaphysik und Astrologie Über die Entstehung von Sprache nach W.V. Quine über Metaphysik und die säkulare Gesellschaft

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4. Ausgabe / November 2007Fr. 5.00 / 3.20 www.2021-zeitschrift.com2021Z E I T S C H R I F T F Ü R G E S E L L S C H A F T S F R A G E N

Der Aberglaube des Bildungsbürgers Akademiker im Interview über Religion, Metaphysik und Astrologie

Sprache und EvolutionWird die Theorie Darwins durch die Sprachwissenschaft widerlegt?

HomöopathieWarum sie dem modernen Menschen schleierhaft erscheint

Die schweigende MehrheitÜber die Entstehung von Sprache nach W.V. Quine

Reuven Bar-Efraim Der Rabbiner über Metaphysik und die säkulare Gesellschaft

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© 2003-2007 KATJA PETERLa pura bellezza della dissoluzione Pure beauty of disillusion330 x 73 cmC-Print on Alucabond with matt varnish

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Liebe Leserinnen und Leser

Die aktuelle Debatte über die Klimaerwärmung zeigt, wie tief die moderne Gesellschaft in der Krise steckt. Öffentlich diskutiert

wird über energieeffiziente Technologien, alternative Energieträger und Sparmassnahmen. Die einzige Lösung liegt aber in einer

starken Verringerung der CO2-Emissionen. Dazu muss die Wirtschaftsleistung zurückgefahren werden. Die Gesellschaft müsste

sich damit abfinden, auf überflüssige Güter und Mobilität zu verzichten, weil Flugreisen, Motorfahrzeuge, klimatisierte Wohn-

räume, elektrische Geräte, Wein und Früchte aus Übersee und so weiter in hohem Masse CO2 erzeugen und dem Klima weiter

zusetzen. Nicht nur der Gebrauch vieler Güter erzeugt CO2, sondern auch deren Produktion und Vertrieb.

Der Bürger müsste also bereit sein, auf Wohlstand und Luxus zu verzichten. Das will er aber nicht. Lieber endet er in Naturkata-

strophen. Nicht einmal Umweltorganisationen oder linke Parteien ziehen die Möglichkeit einer Drosselung der Wirtschaftsleis-

tung in Betracht. Auch sie sind Teil eines morbiden Systems, in dem Wirtschaft und Wohlstand unantastbar sind.

In dieser Ausgabe können Sie Beiträge zu folgenden Themen lesen: Ein Artikel zeigt auf, warum vielen modernen Menschen der

Zugang zu Anschauungen wie Religion oder Astrologie verschlossen bleibt. Stefan Schlumpf beschreibt in einem Beitrag das Prin-

zip der Homöopathie. Es folgen zwei Artikel zum Thema Sprache: Martin Capeder zeigt in einem Beitrag, dass sich die einzelnen

Sprachen nicht im Sinn der Evolutionstheorie entwickelt haben, und Bernhard Ritter setzt sich in einer Buch-Rezension mit den

Vorstellungen von W.V. Quine über Sprache und Sprachfähigkeit auseinander.

Hannes Kriesi

EDITORIAL

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Heiss wie die Hölle, schwarz wie der T eufel,rein wie ein Engel und süss wie die Liebe -so muss ein Kaffee sein

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06 Der Bildungsbürger im VorstellungscontainerVorurteile prägen unsere Gesellschaft in weltanschaulichen Fragen. Akademiker äussern sich zu Religion, Metaphysik und Astrologie.

12 Die Homöopathie nach ParacelsusTheophrastus Paracelsus formulierte als Erster das Ähnlichkeitsprinzip der Homöopathie. Als Begründer der modernen Homöopathie gilt jedoch Samuel Hahnemann. Dieser hat die Homöopathie auf die Benennung von Symptomen reduziert und ihr Prinzip damit verraten.

15 Leserbriefe

16 Berner SpieleErwin A. Sautter-Hewitt über die Krawalle in der Bundeshauptstadt.

18 Sprache und EvolutionWenn der Mensch vom Affen abstammt, müsste auch die menschliche Sprache von Affenlauten abstammen. Die Ergebnisse der Sprachforschung weisen aber in die entgegengesetzte Richtung: Ältere Sprachen sind durchwegs komplexer als jüngere.

21 Colt in der AdlerburgDer Kolumnist beim Znüni mit den Arbeitern.

22 Bedeutungsvolles SchweigenW.V. Quine behauptet, dass die menschliche Sprache auf physikalische Zustände zurückführbar sei. Bernhard Ritter setzt sich mit den Thesen von Quine ausein-ander.

26 48 StundenAus dem Leben des Fribourger Pianisten Christoph Geissbühler.

28 Unsichtbares LebenReuven Bar-Efraim, Rabbiner der Zürcher Gemeinde Or Chadasch, im Gespräch über Religion, Metaphysik und den Darwinismus.

32 paul.werner.ichKurzgeschichte von Istvan Cseh jr.

35 Impressum / Abonnement

INHALT

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»Astrologie ist Humbug«. Der Mittdreissiger sagte es im Brustton der Überzeugung. Wer Leute zu weltanschaulichen Themen befragt, erhält oft klare Antworten. Die Meinungen sind festgefahren. Unsere in Wissens- und Glau-bensfragen weltlich orientierte Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie handfeste Erklärungen für Welt und Wirklichkeit sucht. Anschauungen wie Religion oder Astrologie, die nur unter Einbezug von Metaphysik ver-steh- und erklärbar sind, werden deshalb vom Bildungsbürger abgelehnt, weltlich zurechtge-schustert oder in die Ecke des Aberglaubens gestellt. So soll es gemäss einer naturwissen-schaftlichen Theorie eine Eisscholle gewesen sein, auf der Jesus stand, als er über Wasser schritt, oder brennende Dornbüsche seien Fata Morganas oder Träume gewesen. Der Bürger weiss das so genau, als wäre er selber dabei gewesen. Andersdenkende werden mit Be-griffen wie Wunschdenken, Einbildung oder »archaisches Denken« eingedeckt. Die Sachla-ge scheint dermassen klar, dass sich eine Aus-einandersetzung mit dem Gegenstand ihrer Meinung nach nicht lohnt.

Wer eine Haltung solcherart vertritt, lebt in einem Vorstellungskäfig und ist, gemäss Auf-klärungsphilosophen wie Kant oder Descartes, unmündig. »Sapere aude! Habe Mut, dich dei-nes eigenen Verstandes zu bedienen!«, schreibt Kant in seinem berühmten Essay »Beantwor-tung der Frage: Was ist Aufklärung?«. Faulheit und Feigheit, fährt Kant fort, seien die Ursa-chen, warum ein grosser Teil der Menschen zeitlebens unmündig blieben. Es sei so be-quem, unmündig zu sein. »Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt und so weiter: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann.« Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Missbrauchs seiner

Naturgaben, seien die Fussschellen einer im-merwährenden Unmündigkeit.

Kants Worte sind klar und unmissverständlich: Wer urteilt, ohne sich mit der Sache tiefer aus-einandergesetzt zu haben, wer Floskeln und Formeln von Lehrern, Eltern oder Autoren einfach repetiert und ihre Aussagen ungeprüft übernimmt und weitergibt, ist zeitlebens un-mündig, geht mit Ketten an den Füssen, trägt die Fussschellen einer immerwährenden Un-mündigkeit. Kant knüpft hier an Descartes an, der »soviel Zweifel und Irrtümer« in Bildung und Wissenschaften vorfand, dass er bezüglich all der Meinungen, die er bisher unter seine Überzeugungen aufgenommen hatte, »nichts Besseres unternehmen könne, als sie ernstlich wieder abzulegen«. »Es ist vielmehr Gewohn-heit und Beispiel, was unser Urteil bestimmt als eine sichere Einsicht«, schreibt Descartes. Deshalb fing er an, radikal zu zweifeln, alles zu hinterfragen und selber zu überprüfen.

Unsere in Wissens- und Glaubens-fragen weltlich orientierte Gesell-schaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie handfeste Erklärungen für Welt und Wirklichkeit sucht.

Descartes’ Erkenntnis sollte eigentlich jedem Bürger einleuchten. Wer sich in der Schule, im Studium oder privat mit Themen auseinan-dergesetzt hat, weiss, dass sich eine Meinung über einen Sachverhalt mit zunehmender Be-schäftigung verändert. Vor einer ersten Lekti-on in Lesen, Schreiben, Töpfern, Mathematik oder Computerlinguistik weiss man gewöhn-lich noch nichts über ein Fachgebiet, und die Vorstellungen, die man sich davon gemacht hat, erweisen sich praktisch immer als unzu-treffend. Wie soll man auch zu einer Einsicht gelangen, wenn man sich einer Sache nicht

angenommen hat? Erst nach eingehender Beschäftigung mit einem Thema oder einem Sachverhalt, nach zig gelesenen Büchern erhält man einen Überblick, und nach jahrelanger Auseinandersetzung, nach Prüfung von Fakten, Argumenten und Gegenargumenten, kennt man sich aus und kann ein Urteil fällen.

Roman, 32, JuristIch würde mich als Rationalisten bezeichnen.

Was ist ein Rationalist?Ein Rationalist glaubt an das, was er sieht, und an das, was schlüssig beweisbar ist.

Wann ist etwas bewiesen?Wenn etwas wissenschaftlich anerkannt und nachgewiesen ist… keine Pseudowissenschaft. Eine Definition für »Beweis« kann ich nicht geben.

Was ist Pseudowissenschaft?Pseudowissenschaften sind Wissenschaften, die keine Beweise… wie soll ich sagen… Astrologie ist ganz klar eine Pseudowissenschaft… Meta-physik ist auch Pseudowissenschaft, ich glaube nicht daran; ob es dann zutreffende Lehren dar-aus gibt, das ist wieder eine andere Frage. Man deutet etwas… in der Astrologie deutet man Sternbilder und das ist immer subjektiv und nicht objektiv bewiesen, dass es stimmt.

Hast du dich mit Astrologie auseinanderge-setzt?(Denkt nach.) Ja, verschiedene Zeitungsartikel und Fernsehsendungen habe ich verfolgt, letzt-hin war eben ein »Zischtigsclub« über Astrologie am TV… Bücher nie, das ist auch nicht notwen-dig, da fehlt das Interesse.

Und mit Metaphysik?Nein, sagt mir auch wenig.

Der Bildungsbürger im VorstellungscontainerReligion ist Glaubenssache. Metaphysik ist Pseudowissenschaft. Astrologie ist Hokuspokus. Solche Formeln sitzen in den Köpfen vieler moderner Menschen, die sich oft auf die Aufklärung berufen - offenbar ohne sich je mit den wichtigsten Aufklärungsphilosophen auseinandergesetzt zu haben. Von Hannes Kriesi

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Wie stehen die Aufklärungsphilosophen zu diesen Fragen?Die Aufklärer sind ganz klar gegen Pseudo-wissenschaften, gegen Metaphysik, auch gegen Religion. Und für mich geht dieses Pseudowis-senschaftliche auch in den Bereich Religion - weil gerade die Astrologie will den Menschen Hoffnung geben, sie will ein Gefühl vermitteln von… sie will ein Bedürfnis befriedigen von Übernatürlichem, von Wundern.

Was weisst du über Religion?Ich habe einen Teil der Bibel gelesen.

Ist etwas hängen geblieben?Ich kann dir die Weihnachtsgeschichte erzählen. Sonst habe ich ein paar Zeitungsartikel gelesen, die sich mit dem Thema befassten.

Ein unzutreffendes Vorurteil ist, dass sich die Aufklärungsphilosophen grundsätzlich gegen Religion gestellt hätten. Wer sich jemals mit einzelnen Exponenten der Aufklärung aus-einandergesetzt hat, weiss, dass das Gegenteil der Fall ist: René Descartes, Thomas Hobbes, John Locke, Denis Diderot, Montesquieu, Vol-taire oder Immanuel Kant waren tiefreligiöse Denker. Für Hobbes beispielsweise war »Re-ligion nicht Philosophie, sondern in jedem Staate Gesetz, und darum ist sie nicht zu er-örtern, sondern zu erfüllen«. Für Montesquieu »gleicht der Herrscher, der die Religion scheut und hasst, einem wilden Tier, das in die Kette

Ein folgenreiches Missverständ-nis des modernen Bürgers ist die Verwechslung von Kirche und Religion. Kirche und Religion haben nicht das Geringste mitein-ander zu tun.

beisst, die es hindert, die Vorübergehenden anzufallen«. »Man ist stumpfsinnig«, schreibt Voltaire, »wenn man nicht seinen Schöpfer er-kennt. Man ist ein Narr, wenn man ihn nicht verehrt«. Locke oder Descartes leiteten den »metaphysischen Gottesbeweis« her und ka-men zu eindeutigen Schlüssen. Descartes: » …dass es folglich mindestens ebenso gewiss ist, dass Gott, das heisst das vollkommenste Wesen, ist oder existiert, wie irgendein geomet-rischer Beweis es sein kann«. Locke glaubte, »behaupten zu dürfen, dass wir mit grösserer Sicherheit wissen, dass es einen Gott gibt, als dass irgend etwas ausser uns existiert«. Man kann die Werke Voltaires, Diderots, Rousseaus’, Kants und so weiter lesen. Religion und Gott standen für diese Aufklärungsphilosophen im

Zentrum, waren Dreh- und Angelpunkt ihrer Philosophie. Viele von ihnen wollten die Religi-on auf ein neues, undogmatisches Fundament stellen. Sie forderten eine Religion der Vernunft und wendeten sich deshalb gegen die Institu-tion Kirche, die sich hinter fragwürdigen Dog-men verschanzte und die Religion mit einem weltlichen Machtanspruch vermengte.

Eine Grundhaltung, die viele Aufklärungsphilo-sophen teilten und die in Voltaires Zitat »écra-sez l’infâme!« - »zermalmt die Niederträchtige!« - gipfelt, war die Ablehnung der Institution Kir-che. Erstaunlicherweise entwickelten sich die folgenden Jahrhunderte nicht im Sinn der Auf-klärer: die Kirche überlebte, Religion erodierte. Ein folgenreiches Missverständnis des moder-nen Bürgers ist die Verwechslung von Kirche und Religion. Kirche und Religion haben nicht das Geringste miteinander zu tun. Religion (lat. religare: wieder verbinden, anschauen) ist eine individuelle Angelegenheit und zielt auf Selbst-erkenntnis und (seelisch-geistige) Befreiung des Einzelnen. Die (modernen) Kirchen sind bürgerliche Institutionen, die den Einzelnen an Institution und gesellschaftliches Kollektiv binden und das ursprünglich Religiöse schän-den.

Daniel, 33, Historiker

Was ist Religion?Alles, was mit Glauben zu tun hat.

Warum glauben Menschen?Es ist ein Grundbedürfnis, eine höhere Macht ge-wissermassen als Beschützer bei sich zu wissen, da die Gewissheit, im grossen Weltenlauf nur eine Ameise, also ganz allein, ohne »jenseitige« Unterstützung zu sein, recht frustrierend sein kann. Auch die Angst vor dem Tod beflügelt die Menschen, sich einen Sinn zusammenzuzim-mern in diesem unendlich komplexen Chaos der menschlichen Existenz.

Was ist Metaphysik?Alles, was man nicht mit den Fingern greifen kann, das Ätherische, nicht mit den fünf Sinnen Erkennbare.

Glaubst Du an Metaphysik?Ich kenne die Metaphysik nicht. Daran zu glau-ben, ohne »dahinter zu sehen«, ist nicht mein Ding. Ich bin Agnostiker.

Du glaubst also nur an handfeste Dinge. Wie kommst Du zu dieser Haltung?Handfest, ein schönes Wort. Ich habe zu viele Schnurris gehört bezüglich nicht Handfestem. In der Geschichte, z.B. von Erlösungstheologen, wie auch in der Gegenwart, z.B. esoterisches Ge-

schwätz von Energieflüssen und dergleichen. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich zuwe-nig glaube. Das hat für mich etwas Entmündi-gendes, das Glauben.

Ist der mündige Mensch ein areligiöser Mensch?Ein mündiger Mensch kann Antworten finden, die ihm die Religion nicht vorgeben kann, und er kann sie trotzdem als richtig ansehen. Ein (sehr) religiöser Mensch bleibt im vorgespurten Gedankenraum hängen… ja, ich weiss, man braucht nur das moderne naturwissenschaft-liche Dogma als Religion anzusehen, und plötz-lich werden alle meine Argumente gegen diese »Religion« verwendet.

Woher hast du deine Ansichten? Ich hab mal versucht, Aristoteles’ Metaphysik zu lesen… unglaublich unverständlich. Ansonsten hatte ich Kontakt mit frühchristlichen Texten aus dem Studium, ich habe einen Teil der Bibel gelesen, bin aber irgendwo im 4. Buch Moses hängen geblieben. Mangels Interesses habe ich mich aber wenig mit der Thematik auseinan-dergesetzt. Letztlich interessiert es mich einfach zu wenig.

Wie standen die Aufklärungsphilosophen zu Fragen bezüglich Religion und Metaphysik?»Ecrasez l‘infâme!« ist ein Spruch, der mir dazu einfällt. Ich bin aber kein Aufklärungsspezialist. Vielleicht darf man noch Gibbon‘s »History of the Decline and Fall of the Roman Empire« zi-tieren, der als Historiker im 18. Jahrhundert en-orm belesen war und auf die Religion - für ihn das sich ausbreitende Christentum - schimpfte, oder besser, sich darüber amüsierte, wie leicht-gläubig die Menschen damals waren.

Mit Metaphysik verhält es sich genauso wie mit Religion. Wie es kaum einen bedeutenden Aufklärungsphilosophen gab, der Gott oder die zentrale Bedeutung der Religion ablehnte, so gab es kaum einen, der die Existenz meta-physischer Welten bestritt. Diderot: »Nur die,

Viele Aufklärungsphilosophen erkannten: Ohne Metaphysik kann es keine Religion geben, weil Religion ja gerade die Beziehung des Menschen zu metaphysischen, also zu höheren seelisch-geistigen Welten klärt.

welche nicht genügend Scharfsinn besitzen, sprechen schlecht von ihr (Metaphysik)«. Descartes erkannte, »dass ich eine Substanz

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bin, deren ganzes Wesen oder deren Natur nur darin besteht, zu denken und die zum Sein keines Ortes bedarf, noch von irgend einem materiellen Ding abhängt, so dass dieses Ich, das heisst die Seele, durch die ich das bin, was ich bin, völlig verschieden ist vom Körper, ja dass sie sogar leichter zu erkennen ist als er, und dass sie selbst wenn er nicht wäre, doch nicht aufhörte, alles das zu sein, was sie ist.« Rousseau sah die ersten Ursachen der Bewe-gung nicht in der Materie. Sei erster Grundsatz lautete deshalb, »dass ein Wille das Universum bewegt und die Natur beseelt«. Voltaire sprach seine Bewunderung aus »für den Geist, der über diesen ungeheuren Kräften (der Natur) waltet«. Locke schreibt: »Kann es wohl noch eine einfältigere Anmassung und etwas noch Unangemesseneres geben als wenn jemand denkt, er selbst trage zwar Geist und Verstand in sich, im ganzen übrigen Weltall aber sei nichts derartiges vorhanden!« Für Kant war »Metaphysik die Königin der Wissenschaften«. Er propagierte und verteidigte in den Prolego-mena von 1783 sogar den wissenschaftlichen Charakter der Metaphysik. Kant gestand: »…dass ich sehr geneigt sei, das Dasein immate-rieller Naturen in der Welt zu behaupten und

meine Seele selbst in die Klasse dieser Wesen zu versetzen«.

Viele Aufklärungsphilosophen erkannten: Ohne Metaphysik kann es keine Religion ge-ben, weil Religion ja gerade die Beziehung des Menschen zu metaphysischen, also zu höheren seelisch-geistigen Welten klärt. Wer also Meta-physik verneint, verneint das Religiöse.

Marcel, 33, GeografReligion ist eine Art Ersatzerziehungswissen-schaft, eine Art soziale Erziehungswissen-schaft.

Wie ist das zu verstehen?Die Religionen waren es, die die ersten Gesetze schufen. Bevor es staatliche Gesetze gab, wa-ren es die Religionen, die Leitsätze aufstellten. Die Religion ist ein Überbleibsel aus älteren Zeiten, eine Erfindung der Machthaber, wenn es sie nicht gäbe, müsste man sie erfinden… ich glaube das kommt von Brecht.

Was ist der Inhalt von Religion?Eben das!

Woher weißt du das?Teils Eigenreflexion, teils Schulbildung.

Inwiefern ist es die Schulbildung?Was die Schule sicher vermittelt, ist der Weg zu einer naturwissenschaftlichen Erklärung der Welt.

Basiert die heutige Schulbildung auf der Auf-klärung?Die Aufklärung war sicher wichtig, dazu kom-men Rationalismus und Industrialisierung. Die Aufklärung setzte die Gesellschaft in den Mittel-punkt und weniger Gott, der die Welt erschaffen haben soll. Die Aufklärung schaffte im Prinzip Gott ab - oder war es Nietzsche?

Was denkst du über Astrologie?Astrologie ist Humbug!

Wieso?Ich sehe nicht ein, wieso die Planeten einen Ein-fluss haben sollen und wieso die ganze Prägung des Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgen soll.

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Gibt es einen Zusammenhang zwischen As-trologie und Religion?Ja, schon, es ist etwas Ähnliches. Wie vorher ge-sagt: beides ist eine Art Erziehungswissenschaft, die Astrologie weniger auf Machtstrukturen be-stehend.

Astrologie wird von vielen modernen Bürgern als einheitliche Lehre betrachtet. Das ist ein Irr-tum. Es gibt verschiedenste astrologische Sys-teme und wie es z.B. in der Physik verschiedene Schulen, Stufen und Stärkeklassen gibt, verhält es sich mit der Astrologie. Es gibt Astrologie auf Glückspost-Niveau, die ausschliesslich Unterhaltungswert hat. Es gibt aber auch fun-dierte astrologische Systeme mit einem gänz-lich anderen Stellenwert. Offenbar begegnet der Bürger im Normalfall einer Astrologie auf Glückspost-Niveau und schürft nicht tiefer.

Der religiöse Weg ist der individu-elle Lebensweg, der Weg zu sich selber, zum seelisch-geistigen Wesenskern, der Weg zu Bewusst-werdung und Verwirklichung der individuellen Bestimmung.

Ein immer wieder vorgebrachtes Argument lautet, dass Planeten keine Wirkung auf den Menschen hätten. In der Astrologie geht es jedoch nicht um physischen Einfluss von Pla-neten auf Menschen. Der Stand der Planeten zu einem gewissen Zeitpunkt an einem bestimm-ten Ort ist eine Ort-Zeit-Gleichung, welche u.a. Veranlagung und Bestimmung des Menschen anzeigt. Hier liegt die Verbindung zwischen Astrologie und Religion. Der religiöse Weg ist der individuelle Lebensweg, der Weg zu sich selber, zum seelisch-geistigen Wesenskern, der Weg zu Bewusstwerdung und Verwirklichung der individuellen Bestimmung. Astrologische Deutung ist in erster Linie dafür zuständig, dem Menschen in diesem Sinn die Richtung zu weisen, sich im Leben zu orientieren.

Gefangen im Vorstellungskäfig

Viele Zeitgenossen vertreten eine starre Hal-tung in weltanschaulichen Fragen. Die Inter-views sind Beispiele dafür. Manche berufen sich dabei auf die Aufklärung. Es zeigt sich aber, dass der Verweis auf die Aufklärung oft spekulativ ist; die wichtigsten Schriften der Aufklärungsphilosophen wurden offenbar nicht gelesen. Gemäss Kant oder Descartes sind solche Menschen unmündig. Sie gehen

mit Ketten an den Füssen. Wie aber ist es mög-lich, dass Unwissenheit und falsche Vorstellun-gen solcherart unsere angeblich »aufgeklärte« Gesellschaft dominieren? Weshalb vertreten viele moderne Menschen, besonders in welt-anschaulichen Fragen, starre Positionen, ohne sich gründlich mit der Thematik auseinander-gesetzt zu haben?

Ein Hauptgrund liegt in den Strukturen des modernen Gesellschaftssystems. Der moder-ne Bürger wird von der Gesellschaft zu einem Homo Oeconomicus zurechtgestutzt. Er lebt im Vorstellungskäfig einer säkularen, von der Wirtschaft diktierten Gesellschaft. Innerhalb eines solchen Systems muss Metaphysik ne-giert werden, weil nur der weltliche Bürger das Leben nach den Anforderungen der Wirtschaft ausrichtet. Metaphysische Anschauungen wer-den von einer säkularen Gesellschaft (struktu-rell) verhindert, indem den Heranwachsenden von frühester Kindheit eingetrichtert wird, Metaphysisches sei Humbug, Esoterik oder Scharlatanerie. Der heranwachsende Bürger erhält durch die Sozialisation eine materialisti-sche »Gehirnwäsche«. Der Zugang zu Anschau-ungen wie Religion, Astrologie oder Homöopa-thie, die nur unter Einbezug von Metaphysik begreifbar sind, ist deshalb für die Mehrheit einer weltlichen Gesellschaft versperrt.

Der Zugang zu Anschauungen wie Religion, Astrologie oder Homöo-pathie, die nur unter Einbezug von Metaphysik begreifbar sind, ist deshalb für die Mehrheit einer weltlichen Gesellschaft versperrt.

Ein eng damit verknüpftes Problem ist, dass Lebensmuster in den Familien tradiert werden. Die meisten Bürger können das auf die Wirt-schaft ausgerichtete Leben nur bestreiten, in-dem sie ihre individuelle Veranlagung und ihre Bestimmung ignorieren und als Konsequenz ein fremdbestimmtes Leben führen, d.h. ein Leben, für das sie nicht veranlagt sind. Dieses Muster wird im bürgerlichen Milieu von den Eltern auf die Kinder übertragen. Selbstredend unternimmt das Bürgertum alles, um die ei-gene Lebensform ideologisch zu untermau-ern. Die Kinder werden so in eine Ideologie hineingeboren, die das bürgerliche Leben zu legitimieren versucht. Dazu gehören Vor-stellungen von Leben und Wirklichkeit sowie fixe »Wahrheiten«, die angeblich nicht mehr überprüft werden müssen. Das Kind glaubt den Eltern oder den Lehrern, und diese wiederum

hatten adaptiert, was ihnen in ihrer Jugend vermittelt worden war. Auf diese Art und Wei-se werden Irrtümer und Halbwahrheiten über Generationen tradiert. Manche wissen intui-tiv, dass etwas »faul ist im Staate Dänemark«, doch fehlt oft der Mut oder die Kraft, aus dem bürgerlichen Vorstellungscontainer herauszu-treten und sich der Wirklichkeit zu stellen. Der moderne Bürger kann bildhaft mit einem Tier verglichen werden, das in Gefangenschaft zur Welt kam und die Freiheit scheut, weil es sich an sein Leben im Käfig gewöhnt hat.

Manche wissen intuitiv, dass etwas »faul ist im Staate Däne-mark«, doch fehlt oft der Mut oder die Kraft, aus dem bürgerlichen Vorstellungscontainer herauszutre-ten und sich der Wirklichkeit zu stellen.

In Anbetracht dieser Umstände ist es fraglich, was geschehen muss, damit sich in unserer Ge-sellschaft Fundamentales ändert. Die Erfah-rung lehrt, dass bei fehlender innerer Bereit-schaft für notwendige Veränderungen Impulse von aussen kommen.

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Die Homöopathie nach ParacelsusSimilia similibus currantur. Ähnliches heilt Entsprechendes. Theophrastus Paracelsus (1493-1541) formulierte als erster das Prinzip der Homöopathie. Der Arzt und Naturheiler gehört zu jenen Denkern, die über das Sichtbare hinaus dachten. Für Ärzte, die Krankheit in erster Linie als biochemischen Vorgang im Körperlichen ansehen, hatte der bei der Teufelsbrücke an der Sihl in der Nähe von Einsiedeln Geborene nur ein mitleidiges Lächeln übrig. Von Stefan Schlumpf

D ie Homöopathie ist ein Ur-Prinzip, das seit dem ersten Tag der Schöpfung be-steht. Moses war schon als Homöopath

tätig, als er das goldene Kalb zerrieben und in Wasser gelöst dem Volk zu trinken gab. Ebenso ist das Christliche Abendmahl zu nennen, das ein urhomöopathisches Geschehen ist, indem über die Wandlung von Wein und Brot an das Leben von Jesus und das Prinzip, das er in die Welt getragen hat, erinnert wird. Das Prinzip der Homöopathie ist in der altgriechischen Sprache belegt mit dem Begriff »Narkonon«, der sowohl Gift als auch Heilmittel bedeutet.

Am Beispiel des Begriffs »Narkonon« kann das Prinzip der Homöopathie erklärt werden. Nar-konon bedeutet zugleich Gift und Heilmittel. Die Homöopathie geht davon aus, dass der Stoff, der ein Leiden auslöst, dem Kranken in einer seelisch-geistigen Form verabreicht werden muss, um ihn zu heilen. In langen Versuchsreihen testeten Homöopathen, wel-che Gifte beim Menschen welche Symptome bewirken. Weist ein Kranker Vergiftungssymp-tome auf, ausgelöst durch ein spezifisches Gift, wird ihm dasselbe Gift homöopathisch zube-reitet verabreicht. Wenn beispielsweise der Biss einer Schlange eine Lähmung bewirkt, hat das homöopathisch zubereitete Gift eine Wirkung, die die Lähmung löst. Das Schlangengift wird potenziert, d.h. verdünnt und verschüttelt und als Arzneimittel verabreicht. Dieselbe Grund-substanz ist also zugleich Gift sowie Gegengift, wie es der Begriff »Narkonon« besagt. Das Gift wirkt auf der physischen Ebene, das Gegen-gift bewirkt im seelisch-geistigen Bereich einen Ausgleich. Nimmt der Patient das Heilmittel ein, dann nimmt er das aus der Materie be-freite metaphysische Prinzip des Giftes ein. Die Wirkung des Schlangenprinzips geschieht (primär) auf der seelisch-geistigen Ebene, d. h. das homöopathische Schlangengift bringt seelisch-geistige Lähmungen zur Lösung.

Um das Prinzip der Homöopathie zu verste-hen, muss von einer metaphysischen (see-lisch-geistigen) Wirklichkeit ausgegangen werden. Die physischen Körper sind in dieser Anschauung Erscheinungen von seelisch-geis-tigen Wesenheiten. Weist der physische Körper eines Menschen Krankheitssymptome auf, ist er in seinem seelisch-geistigen Wesen krank. Körper, Seele und Geist können gleichnishaft mit einer Diaprojektion verglichen werden: Der Körper ist die Leinwand, die Seele der Projektor, und der Geist ist das projizierte Dia-Bild. Würde versucht, einen Kranken nur körperlich zu heilen, wäre dies dasselbe, wie wenn man versuchte, eine Bildstörung an der Leinwand zu beheben. Eine Bildstörung muss aus homöopathischer Sicht am Projektor oder am Dia behoben werden. Entsprechend muss eine Krankheit an den Primärebenen Seele und Geist angegangen werden.

Körper, Seele und Geist können gleichnishaft mit einer Diaprojekti-on verglichen werden: Der Körper ist die Leinwand, die Seele der Projektor, und der Geist ist das projizierte Dia-Bild.

Der wichtigste Aspekt einer homöopathischen Heilung ist somit nicht die Unterdrückung eines Krankheitssymptoms, sondern die Be-reinigung der seelisch-geistigen Ursache ei-ner Krankheit. Entsprechend dem Gleichnis mit der Diaprojektion ist es für den Kranken entscheidend, eine »Bildstörung«, d.h. eine Krankheit auf der seelisch-geistigen Ebene zu beheben und nicht die Leinwand, d.h. den Körper zu manipulieren. Eine seelisch-geistige Störung ist immer mit einer ungeeigneten Le-

bensführung verbunden. In diesem Sinn gibt der Schlangenbiss dem Betroffenen die Mög-lichkeit, zu erkennen, dass er sich in einem Zu-stand der Lebensverneinung befindet, d.h. er führt ein Leben, das seiner Veranlagung nicht entspricht. Um diese ungeeignete Lebensform auf der seelisch-geistigen Ebene anzugehen, nimmt der Patient das seelisch-geistige Prinzip der Substanz ein. Das homöopathische Mittel bringt ihm die verdrängten Bilder ins Bewusst-sein. Die Schlange, welche in unserem Beispiel die materielle Erscheinung des verdrängten seelisch-geistigen Schlangenprinzips ist, wird also homöopathisch ergänzt.

Homöopathie kann nur verstanden werden, wenn berücksichtigt wird, dass der Mensch veranlagt ist, gewisse seelisch-geistige Prin-zipien in die Zeit zu bringen, d.h. sie zu leben. Werden diese Prinzipien nicht zugelassen, dann erscheint diese Verdrängung früher oder später als materielle Erscheinung, im unange-nehmeren Fall als Krankheit oder als Schlange. Krankheit oder Schlange wollen dem Menschen bewusst machen, dass er sein Leben nicht ent-sprechend seiner Veranlagung lebt. Wird ein verdrängtes Prinzip jedoch homöopathisch ergänzt, dann ist die materielle »Ergänzung« nicht mehr notwendig. Jedes seelisch-geisti-ge Prinzip hat also »ähnliche« Erscheinungs-formen auf der materiellen Ebene. Dies besagt das oben erwähnte Ähnlichkeitsprinzip.

Eine Krankheit oder auch ein Unfall muss folg-lich immer in Verbindung mit der Lebensge-schichte eines Patienten betrachtet werden. Nur im Zusammenhang mit den lebenshisto-rischen Gegebenheiten der Krankheit macht eine »homöopathische Ähnlichkeit« Sinn. Dieser Zusammenhang ist bewusst herzustel-len, da es der Schlüssel zur Heilung ist, die lebenshistorische Bedeutung der Krankheit zu erkennen. Durch diese Einsicht wird die

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Ursache schrittweise bereinigt und seelisches Wachstum wird in Gang gesetzt.

Homöopathie kann nur verstanden werden, wenn berücksichtigt wird, dass der Mensch veranlagt ist, ge-wisse seelisch-geistige Prinzipien in die Zeit zu bringen, d.h. sie zu leben.

Die entsprechenden homöopathischen Arz-neimittel zusammenzustellen ist die äussere Handlung (Abrundung) des Orientierungsge-schehens, indem über die Einnahme der Arz-neimittel das Prinzip auch in die Stofflichkeit kommt, um eine direkte Wirkung herzustel-len. Es werden dabei nicht nur die symptoma-tischen und in die Körperlichkeit reichenden Krankheitsanteile behandelt, sondern das Krankheitsbild wird in seiner Gesamtheit be-rücksichtigt, um auch die ursächlichen Anteile im seelisch-geistigen Bereich zu klären. Die

Einzelmitteltherapie, wie sie vor allem in der Klassischen Homöopathie geläufig ist, ist da-bei grundsätzlich in Frage zu stellen, da ein Krankheitsbild nie mit einem einzigen Mittel anzugehen ist, weil alle Daseinsebenen in Be-tracht gezogen werden müssen. Ausnahme ist ein Akutgeschehen, welches mit Einzelmitteln angegangen und beruhigt werden kann. Zu einem späteren Zeitpunkt sollte jedoch eine Einzelmittelbehandlung ausgeweitet werden.

Ein seelisches Wachstum ist bei jeder Krank-heitsgeschichte zu beobachten. Ein bewusstes Erleben und Durchstehen der Krankheit führt zu zunehmender Eigenständigkeit, während eine Symptomverdrängung den Patienten weiter in die Fremdbestimmung treibt. Die Krankheit hat in letzterem Fall die Therapie gut überstanden, indem sie ins Unerkenn-bare abgesunken ist, und der Patient wurde erfolgreich in seiner gewohnten Umgebung bestätigt, obschon die Krankheit eine Grenze angezeigt hätte. Medizinisch kommt es an die-sem Punkt zur Symptomverschiebung, die ein neues Symptom hervorruft, das nach offizieller Manier wieder als neue Krankheit angesehen

wird. Diese tritt in einem neuen Kleid auf und wird mit zunehmender Therapie resistent und chronisch und beginnt das Leben zu bestim-men. Dabei läuft das Geschehen der Krankheit bereits ab, wenn der Körper noch gesund ist, also vor der symptomatischen Erkrankung. Die Ursache der körperlichen Erkrankung liegt in der Zeit vor dem eintretenden Symptom, in-dem der Patient wie erwähnt an »Seele und Geist krankt«. Die Krankheit tritt letztlich im Körper als Auswirkung auf.

Krankheitsbilder sind also nie willkürlich, sondern immer auf eine seelisch-geistige Ur-sache zurückzuführen. Es gibt kein Rücken-leiden ohne geschwächte Selbstständigkeit, kein Rheuma ohne revierbezogene Eineng-ung und keine Bulimie ohne »mütterlichen Schicksalsauftrag«, und es ist notwendig, di-ese Zusammenhänge herzustellen und dem Bewusstsein zugänglich zu machen. Ansonsten werden lediglich die Symptome der Krankheit zum Verschwinden gebracht und die Ursache bleibt bestehen.

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Von Hahnemann zur modernen Schulmedizin

Hier ist auf eine Entwicklung hinzuweisen, die ein umfassendes Verständnis der Homöo-pathie verhindert. Seit geraumer Zeit gilt das wissenschaftliche Weltbild, welches das Leben auf die Nachweisbarkeit in der Erscheinungs-welt reduziert, als alleingültiges Erklärungsmo-dell für Welt und Wirklichkeit. Das Prinzip der Homöopathie ist damit aber nicht erfassbar. Die Homöopathie ragt zwar wie erwähnt in die Erscheinungswelt hinein, doch handelt es sich dabei lediglich um den Niederschlag des Prinzips, aber nicht um das Prinzip selbst. Die-se Verwechslung führte auch den sächsischen Arzt Samuel Hahnemann (1753-1843), der als der Begründer der Klassischen Homöopathie gilt, auf einen Irrweg. Anstatt das Erbe von Pa-racelsus zu behüten und weiter zu führen, hat Hahnemann das Prinzip der Homöopathie auf die Benennung von Symptomen reduziert, was seither als Klassische Homöopathie bekannt ist. Damit hat er das Prinzip der Homöopathie verraten. Zudem hat Hahnemann zeitlebens versucht, für die Homöopathie einen offiziellen Status und öffentliche Anerkennung zu erstrei-ten, was ihr Prinzip ebenso aufhebt, da die of-fizielle Verhaltensnorm weder Schicksal noch

Bewusstsein noch seelische Eigenständigkeit zulässt. In der Folge wurde die Homöopathie systematisiert und der linearen Methodik der wissenschaftlichen Betrachtung angeglichen, was ihr Prinzip ad absurdum führt.

Die Homöopathie ragt zwar wie erwähnt in die Erscheinungswelt hinein, doch handelt es sich dabei lediglich um den Niederschlag des Prinzips, aber nicht um das Prinzip selbst. Diese Verwechs-lung führte auch den sächsischen Arzt Samuel Hahnemann (1753-1843), der als der Begründer der Klassischen Homöopathie gilt, auf einen Irrweg.

Auf der Basis der Forschungsarbeiten von Hahnemann wurden folgerrichtigerweise die Bildbeschreibungen und die lebenshisto-rischen Zusammenhänge einer Krankheit aus

dem Bewusstsein verdrängt. Der Vorwurf an Hahnemann ist jedoch zu relativieren, weil die auf die materielle Erscheinungswelt fixierte Gesellschaft keine andere Heilkunde zulassen kann, da sonst (nicht nur) in der Medizin vieles grundsätzlich in Frage gestellt werden müsste. Krankheit ist aufgrund dieser Entwicklungen vom religiösen Heilsgeschehen zum wirt-schaftspolitischen Vorgang pervertiert. Die Empfindung meldet dies dem modernen Men-schen von Zeit zu Zeit. Die Artikulationsmög-lichkeiten für dieses Geschehen sind jedoch verschüttet und müssen zuerst freigeschaufelt werden, um es benennen zu können.

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Leserbrief an 2021, im Mai 2007

Ihre Zeitschrift ist ein Papier, das zunächst ganz unaufdringlich daherkommt, scheinbar harmlos. Doch bei näherer Betrachtung ändert sich dieses Bild rasch. Die Autoren fangen dort zu denken resp. schreiben an, wo viele andere aufhören. Das ist eine grosse Ausnahme. Leider.

Mit dem Bemühen einen grösseren Radius zu Themen des Lebens zu ziehen, gelingt es dieser Zeitschrift, Perspektiven einzunehmen und auszuleuchten, die ansonsten so gern und häufig unter den Tisch gekehrt werden. Sei dies die Darstellung der Zivilcourage eines Menschen wie Charlton Heston, von dem die Öffentlichkeit seit Michael Moore vornehmlich eine Seite kennengelernt hat, nämlich die, wie ihn letzterer sehen wollte. Oder seien es konkrete Themenbereiche wie Medizin, Astrologie und Kulturentwicklung, die um ihre geistige Dimension ergänzt wurden. - Altes, weisheits-volles Wissen tönt da hinein, wie es früher wohl nur Mystikern und Theosophen vorbehalten war. Heute will es wiederentdeckt und mit dem gegenwärtigen Leben in Wissenschaft und Kultur verbunden werden.

In diesem Sinne scheint mir 2021 den Forderungen unserer Zeit nachzukommen. Es bleibt zu wünschen, dass sie viele Zeitgenossen erreicht!

Georg Saltzwedel, Zürich

Wir - meine britische Gattin und ich (Schweizer) - haben mit Gewinn Ihr Heft meist in den kleinen Stunden vor Sonnenaufgang durchblättert und sind auf anspruchsvolle Beiträge gestossen, die einen zweiten Überflug erforderten wie der Artikel »Ursache der Vogelgrippe«, der Schullektüre sein müsste. Müsste! Ist es vermut-lich nicht.

Beste Grüsse Erwin A. & Patricia H. Sautter-Hewitt, Zumikon ZH

Sehr geehrter Herr Kriesi,

Sie schreiben Seite 24: »Der Mensch begann also - im glauben an die Vergänglichkeit des Lebens... usw. Mir wäre es lieber, Sie wür-den schreiben: Im Glauben an die letztgültige (französisch: ultime) Vergänglichkeit des Lebens... Manche Menschen glauben nur noch an das berühmte »Staub bist du, und Staub wirst du werden«, was aber sehr wohl ein Wunschdenken (!) sein könnte, denn ein solcher Glaube (!) gibt freie Bahn für die absolute Freiheit (»alles ist erlaubt«) im rein diesseitigen Jetzt. Man kann also die bekann-te Wunschdenken-Theorie von Freud (in Bezug auf die Religion) und die bekannte »Opium des Volkes« - Theorie von Marx (auch in Bezug auf die Religion) sehr wohl umdrehen…

Herzlicher Gruss Robert Sinner

Leserbrief an Herrn Hörler 2021 / 3

Petra sagt zu Peter: sieh mal Peter, da steht ein Haus (es steht da, es liegt nicht da) wenn du hineingehst dann bist du dir nicht b e w u s s t dass das Haus dir angemessen ist (das Haus steht dir gut)

das menschliche Mass des Hauses ist dir selbst - verständlich deshalb bemerkst du es nicht gedankenlos gehst du hinein selbst wenn du ein Denker bist

so ist es auch mit der Sprache: so wie das Haus dem Menschen angemessen ist (Tür Fenster usw.) so ist die Sprache des Menschen der Welt des Menschen angemessen deshalb sprichst du täglich ohne den Schatten eines Zweifels -

anders gesagt: die Sprache ist ein goldener Käfig kein Wort ist rein vom Gold dieses Käfigs auch nicht das Wort »Evolution« - ach Peter eine Rose ist eine Rose nur weil sie Blume ist

Gruss Robert Sinner

LESERBRIEFE

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WAHLEN 2007

Berner Spiele

Klubleitung und Coach von Schwarzer Block International SBI sind über den Auftritt

vom 6. Oktober in Bern erfreut. Erfreut über die wenigen Verletzten und das internati-

onale Medienecho sowie über die Verwirrung des Gegners beim Analysieren der Heim-

niederlage. Die Eventmanager der Schwarzer Block GmbH, in der International Herald

Tribune vom 8. Oktober als »Black Sheep Committee« tituliert, den Ordnungskräften

von früheren Treffen vermutlich bekannt, profitieren wie andere »Wirtschaftskreise«

von den organisatorischen Schwächen des eidgenössischen Föderalismus wie einem

zu stark zergliederten Nachrichtennetz im Gegensatz zu den engvernetzten Akteuren

vom SBI.

Verdienstvoll sind Aktivitäten des SBI wie der Al Queida oder sonstigen fun-damenta-

listischen Gotteskriegern in Afghanistan und im Nahen Osten, weil sie die Wachsamkeit

in Nichtschurkenstaaten durch müde Überläufer aktiv fördern. Hier liegt ein noch

weites Feld für Geheimdienste offen. Und für einen listenreichen Bundesanwalt. An

lahmen Enten ist kein Bedarf. Sonst gewinnt der SBI auch das nächste Spiel.

Von Erwin A. Sautter-Hewitt

Schwarzer Block International - Ordnungshüter Interkantonal 1:0

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Am Latein faszinierte mich die beinah ma-thematische Ordnung und Rationalität: Latein hat ungleich mehr Struktur und

insofern »Intelligenz« als unsere modernen Sprachen. Das macht die Sprache auch rela-tiv schwierig zu erlernen: Selbst nach Jahren des Studiums liest sie sich nicht so mühelos, wie wir das vielleicht von Englisch oder Fran-zösisch gewohnt sind. Geschweige Latein fliessend zu sprechen; eine Fertigkeit, die ich bisher bei niemandem angetroffen habe. Eine ähnliche Erfahrung machte ich später mit dem Griechischen: Wie vom Deutschen zum Latein, empfand ich auch hier, vom Latein zum Grie-chischen, nochmals einen Sprung, eine erneu-te Steigerung an Ordnung und Rationaliät. Die Morphologie ist hier noch vollkommener, der Ausdruck eleganter und raffinierter. Griechisch ist von geradezu uranischer Transparenz. Dass die grössten Werke der Philosophie in dieser Sprache gedacht und geschrieben worden sind, wundert mich nicht: Griechisch ist in der Art und Weise, die Welt abzubilden, das Sein zu spiegeln, selbst schon Philosophie. Die Geni-alität der Alten Griechen war auch die Geni-alität ihrer Sprache. Nach dem Griechischen führte mich mein Weg weiter nach Osten zu den Arischen Indern und ihrer uralten Hoch-sprache, dem Sanskrit. Was mir begegnete, war - ich kann es kaum anders sagen - ein intellek-tueller Gigant: Sanskrit ist von solcher Komple-xität und zugleich rationaler Durchsichtigkeit, dass es diesbezüglich alle anderen Sprachen, einschliesslich Griechisch und Latein, in den Schatten stellt. Ich zähle: drei Numeri (neben Singular und Plural noch den Dual), acht Kasus (neben den uns bekannten Nominativ, Akku-sativ, Dativ und Genitiv noch Vokativ, Ablativ, Instrumental und Lokativ), etwa zwanzig De-klinationsschemata (unser Deutsch hat deren zwei), drei genera verbi (neben dem Aktiv und Passiv noch das Medium), zehn Konjugations-klassen etc. etc. Man hat das Gefühl, dass hier alles stimmt, alles da und vorhanden ist: Eine nahezu perfekte Sprache, eine Sprache von so

vollkommener Architektur, dass sie geradezu geplant oder konstruiert und daher für unser heutiges Empfinden beinah artifiziell wirkt. - Soviel zu meinen Erfahrungen mit den klas-sischen Sprachen.

Sanskrit ist von solcher Kom-plexität und zugleich rationaler Durchsichtigkeit, dass es diesbe-züglich alle anderen Sprachen, einschliesslich Griechisch und Latein, in den Schatten stellt.

So sehr sich Latein, Griechisch und Sanskrit auch unterscheiden: die Sprachwissenschaft hat gezeigt, dass diese Sprachen alle verwandt sind und zur grossen Familie der Indogerma-nischen Sprachen gehören. Deren Stammbaum hat im wesentlichen folgende Mitglieder: das Lateinische mit Französisch, Italienisch, Spa-nisch, Katalanisch, Portugiesisch, Rumänisch und Rätoromanisch; das Griechische mit seiner Vielfalt an Dialekten; das Arische mit Indisch und Iranisch; das Slawische mit Russisch, Uk-rainisch, Polnisch, Tschechisch, Slowakisch, Bulgarisch, Slowenisch und Mazedonisch; das Albanische mit Toskisch und Gegisch; das Keltische mit Irisch, Walisisch und Bretonisch sowie das Germanische mit Isländisch, Nor-wegisch, Schwedisch, Dänisch, Holländisch, Englisch und Deutsch. Fehlt uns noch der Ur-ahn: Sämtliche indogermanischen Sprachen lassen sich nämlich auf eine Ursprache, das Indogermanische, zurückführen, aus welchem alle anderen indogermanischen Sprachen sich im Laufe der Zeit gebildet haben. Mindestens nach Ansicht der Indogermanisten. Denn das Indogermanische ist hypothetisch: Es sind bisher keine Zeugen seiner Existenz gefunden worden; keine Inschriften, keine Papyri, keine Erwähnungen. Das gleiche gilt für die Indo-

germanen selber. Trotzdem: Was verwandt ist, braucht einen gemeinsamen Vorfahren. Und so begnügt man sich damit, diesen zu kons-truieren: Das Indogermanische ist eine aus seinen Abkömmlingen erschlossene Sprache. Und so glaubt man heute zu wissen, wie unsere Urahnen gesprochen haben, und kann deren Sprache sogar erlernen. Doch Vorsicht: Sie ist rasend kompliziert!

Ein kleines Zwischenspiel: Im Jahre 1859 ver-öffentlichte Charles Darwin das Buch Origin of Species. Er zeigte, dass es keinen Gott noch sonst irgendetwas »Übernatürliches« zur Erklä-rung des Lebens und seiner Vielfalt braucht. Die Arten haben sich gemäss Darwins Theorie allein mittels der natürlichen Mechanismen von Mutation und Selektion aus den primitiven Einzellern über Fische, Amphibien und Säuger zu den Primaten und schliesslich zum Men-schen entwickelt. Im zwanzigsten Jahrhundert wurde die Darwinsche Theorie der Artenevo-lution wesentlich erweitert: Mit der Theorie des Urknalls, der Theorie der Planetenentstehung und der Theorie der chemischen Evolution als Vorstufe der biologischen Evolution hat man das umfassende Bild eines Kosmos gezeichnet, der sich allein und ausschliesslich aufgrund physikalischer Gesetzmässigkeiten durch zu-fällige Anordnung von Materieteilchen selbst organisiert. Der Mensch und seine Kultur ist das Ergebnis zufälliger Konglomeration von Parti-keln. Eine ungeheure, eine monströse und für jedes natürliche Empfinden auch irgendwie lä-cherliche und absurde Behauptung! Und doch: Das Theoriegebäude ist »offiziell anerkannt« und wird an den Schulen und Universitäten als Wahrheit gelehrt. Was aber nicht gelehrt wird: Die Theorie wird durch den Befund der Tatsachen nicht annähernd in dem Masse ge-stützt, wie man das seitens ihrer Befürworter und Vertreter gerne behauptet. Sie ist von rein hypothetischer Natur. Mit den Fakten nimmt man es nicht besonders genau, ist doch die Logik eine ganz andere: Es hat eine mechanis-

Sprache und EvolutionAlte Sprachen wie Sanskrit oder Griechisch müssten laut Evolutionstheorie primitiver als moderne Sprachen wie Deutsch oder Französisch sein. Sind sie aber nicht. Im Gegenteil: Je älter eine Sprache, desto komplexer ist sie. Die Evolution vom grunzenden Affen zum immer komplexer sprechenden Menschen scheint fraglich. Von Martin Capeder

GESELLSCHAFTGESELLSCHAFT

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tische Evolution von Kosmos und Leben ge-geben, weil es eine mechanistische Evolution von Kosmos und Leben gegeben hat. Was denn sonst, um Gottes Willen!? Es gibt nunmal kei-ne Alternative, möchte man nicht ins »finstere Mittelalter« zurückfallen. Und was heute nicht bewiesen ist, wird morgen bewiesen sein. Also dürfen wir schon heute mit ruhigem Gewissen sagen: Ja, es war so!

Ältere Sprachstufen sind durch-wegs komplexer als jüngere.

Zurück zur Sprache. Gehen wir einmal davon aus, dass die menschliche Spezies tatsächlich durch zufällige Genmutationen und Selektion des Lebensfähigen aus Primaten entstanden ist, der Mensch also vom Affen abstammt. Dann muss auch die menschliche Sprache von der Affensprache abstammen. Die mensch-liche Sprache müsste sich aus Affenlauten zur relativen Komplexität der modernen Idiome entwickelt haben. Ältere Sprachstufen müss-ten, wie man das auch von älteren Kulturstu-fen behauptet, entsprechend primitiver sein. Kurzum: Der empirische Befund müsste eine Evolution der menschlichen Sprache zeigen. Die Ergebnisse der Indogermanistik weisen aber in eine andere Richtung: Ältere Sprach-stufen sind durchwegs komplexer als jüngere. So finden sich etwa im Latein Reste des Lo-kativs und Instrumentals. Das Griechische besitzt noch Reste des Duals. Man kann da-von ausgehen, dass das »Urlatein« bzw. das »Urgriechisch«, beides Sprachen, die mangels Zeugnissen unbekannt sind, im vollumfäng-lichen Besitze dieser Formen waren. Gestützt wird diese Vermutung durch die Tatsache, dass im Sanskrit, das bekanntlich älter ist als Latein und Griechisch, die besagten Formen noch intakt sind. Das Sanskrit selber ist aber bereits eine Zerfallsform einer noch älteren Sprache, des Vedischen, dessen Morphologie noch vollständiger ist. »Sanskrit« heisst denn auch nichts anderes als »zurechtgemacht« (sams-krtam = con-fectum): Der Grammati-ker Panini hat die damals bestehende Sprache festgelegt, um sie vor dem weiteren Verfall zu bewahren. Nicht anders war es bei Griechisch und Latein: Auch sie wurden irgendwann kon-serviert und in dieser Form an die Nachwelt überliefert. Doch ist Grammatik bekanntlich nicht jedermanns Sache: So haben nach dem Ende des Römischen Reiches die Barbaren-völker das Latein weiter zu den lateinischen Sprachen zerredet. Zur Illustration: Aus klas-sisch egomet ipsimus (ich selbst in Person) entstand metipsimus, dann medisme, dann meisme, dann mesme und schliesslich même. »Sprechökonomie« möchte ich das nennen:

FOTO: © PHILIPP ROHNER

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Warum sich so kompliziert ausdrücken, wenn es auch einfacher geht? Kurzum: Die moder-nen indogermanischen Sprachen sind allesamt Zerfallsformen älterer Hochsprachen, die wie-derum auf eine allen gemeinsame Ursprache, das Indogermanische, als deren Archetyp zu-rückgehen. Es gab keine Evolution der Sprache, sondern eine Devolution: Die Sprachen haben sich im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtau-sende durch den Gebrauch abgeschliffen, ähn-lich einem behauenen Stein, den man in einen Fluss geworfen und den erodierenden Kräften der Strömung überlassen hat. Die einst vorhan-denen Muster sind weitgehend verschwunden. Und beinah könnte man behaupten, dass die indogermanischen Sprachen durch den Ge-brauch zu Affenlauten geworden sind, statt sich aus diesen entwickelt zu haben. Oder ist etwa das französische même einem Tierlaut nicht deutlich näher als das lateinische egomet ipsimus? Man könnte sich weiter fragen, was aus dem Französischen würde, wenn nicht die Académie Française streng darüber wachte?

Die Frage nach der Herkunft der indogerma-nischen Ursprache selber bleibt freilich un-beantwortet. Wäre es denkbar, dass diese sich aus der Affensprache entwickelt hat? Dann

kommen wir aber in einige Schwierigkeiten: Warum entwickelt sich die Sprache erst zu sol-cher Komplexität, um dann den grössten Teil der erworbenen Muster wieder aufzugeben?

Es gab keine Evolution der Sprache, sondern eine Devolution: Die Sprachen haben sich im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtau-sende durch den Gebrauch abge-schliffen, ähnlich einem behaue-nen Stein, den man in einen Fluss geworfen und den erodierenden Kräften der Strömung überlassen hat.

Wenn sich das Indogermanische aus niederen Sprachstufen entwickelt hat, warum ist es dann nicht bei diesen niederen Stufen geblieben, wo doch die Erfahrung hinlänglich zeigt, dass eine relativ simple Sprache zur Verständigung völlig ausreicht? Und schliesslich: Wie vertragen sich

die erkannten Prinzipien der Sprechökonomie und der Spracherosion überhaupt mit einer Evolutionstheorie der Sprache? - Nein, die menschliche Sprache kann nicht durch Evo-lution entstanden sein. Ihre Herkunft bleibt ein Rätsel. Und der Mensch selber? Soll er sich etwa aus Affen entwickelt haben, wobei irgendein XY (war es vielleicht Prometheus?) ihm noch eine Sprache verpasst hätte? Im Klar-text: Ohne Evolution der Sprache wird auch die Evolution des Menschen sinnlos.

Seit Darwin wird die Evolutionstheorie voraus-gesetzt, die Fakten der Archäologie (freilich nur die passenden!) in ihrem Sinne gedeutet und das ganze Paket als Wahrheit verkauft. Es ist an der Zeit, die materialistischen Theorien zu überdenken, die Fakten (und zwar alle!) neu zu interpretieren und eine Sicht von Mensch und Kosmos zu entwickeln, die wirklich adä-quat ist.

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Kurz vor neun betrete ich die Adlerburg. Das Restaurant ist leer, ich setze mich allein

an einen Tisch. Eine rundliche Seconda fragt mich, was ich trinken möchte. »Ein Bier«

lautet meine Antwort. Stumm stellt sie mir die Stange hin - sie hat den Köder gefressen.

Normalerweise trinke ich am Morgen nicht. Doch heute nehme ich meinen Znüni mit

den Arbeitern - da will ich nicht auffallen. Plötzlich fliegt die Tür auf und eine lärmige

Meute drängt in die warme Stube. Die Kneipe füllt sich bis auf den letzten Platz. Ziga-

rettenqualm und das dumpfe Brummen von Männerstimmen erfüllt den Raum. Ich

bin umzingelt von schwieligen Händen, unrasierten Gesichtern und finsteren Blicken.

Die Adlerburg hat sich in ein Piratenschiff verwandelt. Ich komme mir vor wie das

Greenhorn in einem Westersaloon. Die Seconda bringt den Männern Café-Crème

und Coca-Cola. Wie ein Leuchtturm strahlt meine Stange durch den Qualm und verrät

mich bis an den hintersten Tisch. In allen Sprachen wird geflucht und gelacht. Meinen

sie mich? Oder bin ich ihnen egal? Hastig stürze ich mein Bier hinunter und versuche

Kaffee zu bestellen. Doch die Bedienung sieht mich nicht. Am anderen Ende des Raums

trägt sie Salami-Sandwiches durch Reihen aus Faserpelzen. An meinem Tisch wollen

die ersten schon zahlen. Wenig später ist die Beiz wieder leer. Der Spuk ist vorbei, so

schnell wie er gekommen ist. Ich blicke aus dem Fenster. Dort gehen sie, die Männer,

denen wir soviel zu verdanken haben. Machts gut, ihr Mauersegler! Dann drehe ich

mich um. Die Seconda räumt die Tische ab. Vor mir steht eine Tasse Kaffee.

COLT IN DER ADLERBURG

Von Andreas Pfister und Philippe Zweifel

KOLUMNE

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Bedeutungsvolles Schweigen Der Mensch rätselt immer noch, wie Sprachfähigkeit und Sprache entstanden sind. Ein moderner Erklärungsansatz geht von folgender Grundannahme aus: Sprachfähigkeit sei auf eine Reizung der Sinnesorgane zurückzuführen. Ein Grashalm beispielsweise, der über die Sinnesorgane wahrgenommen werde, reize die Nervenbahnen in einer bestimmten Art und Weise. Diese Reizung habe beim Menschen im Naturzustand einen Grunzlaut ausgelöst. Der Mensch habe also naturgemäss eine Disposition zu Sprache, weil er veranlagt sei, auf solche Reizungen zu reagieren. Im Laufe von Zeit und Evolution sollen sich aus Grunzlauten Worte und schliesslich Sprache entwickelt haben. Ein moderner Mensch grunze nicht mehr, sondern reagiere mit einer Beschreibung, z.B. »das ist grün«, wenn er in einer gewissen Weise gereizt werde. Dieser Erklärungsansatz basiert auf der Annahme der so genannten Materialisten oder Physikalisten, dass alle Phänomene letztlich physikalische Phänomene seien, d.h. physikalisch erklärt werden können. Die Sprachfähigkeit des Menschen könne also auf physikalische Zustände, auf Reizungen der Nervenbahnen, zurückgeführt werden.

Quines physikalistische Theorie der Sprache Von Bernhard Ritter

REZENSION

Z E I T S C H R I F T F Ü R G E S E L L S C H A F T S F R A G E N

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From Stimulus to Science heisst das letzte Buch des amerikanischen Logikers und Philosophen Willard Van Orman Quine (1908 - 2000). Der Titel ist programmatisch: Schallwellen erschüt-tern unser Trommelfell, die Sehzellen werden durch Licht und die Tastkörperchen durch Berührung stimuliert; der menschliche Or-ganismus verarbeitet diese Reize und reagiert - womit? Mit der Artikulation einer wissen-schaftlichen Theorie! Schon ist umrissen, was Quines Ansicht nach heute noch Aufgabe der philosophischen Disziplin »Erkenntnistheorie« sein kann: Sie hat den kausalen Zusammen-hang von der Reizung unserer Sinnesorgane bis zur Entstehung von Wissenschaft schematisch nachzukonstruieren. In seinen Augen kann Erkenntnistheorie nur insofern Theorie des Wissens sein, als sie die notwendigen Bedin-gungen für die Entstehung von Wissenschaft eruiert.

Diese schematische Nachkonstruktion lässt sich nach Quine durchführen, ohne andere Gegenstände als physikalische in Anspruch zu

nehmen. Auch die menschliche Sprachfähigkeit soll letzten Endes auf physikalische Zustände zurückführbar sein. Quine behauptet (1), dass das Ganze der Sprache aus den Dispositionen des Menschen zu öffentlichem Sprachverhal-ten besteht und (2), dass Sprachdispositionen

Quine behauptet (1), dass das Gan-ze der Sprache aus den Dispositi-onen des Menschen zu öffentlichem Sprachverhalten besteht und (2), dass Sprachdispositionen nichts an-deres sind als physikalische Zustän-de des Nervensystems.

nichts anderes sind als physikalische Zustände des Nervensystems. Im vorliegenden Beitrag wird die Auffassung vertreten, dass sich diese beiden Thesen nicht miteinander vereinbaren lassen. Es wird also nicht direkt gegen die eine

oder gegen die These andere argumentiert. Be-hauptet wird nur ihre Unverträglichkeit.

Werfen wir einen Blick auf Quines Sprachtheorie:

Die Bedeutungsgleichheit zweier okkasio-neller Sätze [...] für einen Sprecher in einem be-stimmten Stadium seiner Entwicklung ist das Haben der Disposition [...], dasselbe Urteil zu geben (Zustimmung, Verneinung, Enthaltung) über beide Sätze bei jeder Gelegenheit. [...] Die Disposition, wenn vorhanden, ist ein gegenwärtiger physikalischer Zustand des Nervensystems des Subjekts, wie wenig ver-standen dieser auch sein mag und gleichgül-tig, ob aktiviert oder in irgendeiner anderen Weise ausfindig gemacht. Das Subjekt freilich kann diesen Zustand ausfindig machen und hat gelernt, ihn zu verbalisieren [...], und zwar indem es sagt, dass die Sätze »dieselbe Bedeutung haben«.

(Stimulus, S. 76, Übersetzung B. R.)

REZENSION

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Der Ausdruck »okkasionelle Sätze« bezeichnet Sätze, die wahr sind unter bestimmten Um-ständen und falsch unter anderen. Ein Beispiel ist »Es regnet«. Dieser Satz ist wahr, wenn es in der Umgebung des Sprechers regnet, und falsch, wenn das nicht der Fall ist. Gesetzes-aussagen sind dagegen keine okkasionellen Sätze. Eine Gesetzesaussage wie »Jedem Blitz folgt Donner« ist auch wahr, wenn das Wetter schön ist. Gesetzesaussagen sind allgemeine Sätze: Sie handeln von jedem Blitzen und je-dem Donnern.

Gemäss Quine müsste sich die Disposition zu bedeutungsvollem Schweigen von der Disposition zu nicht-bedeutungsvollem Schwei-gen physikalisch unterscheiden. Das aber ist unplausibel:

Quine verfügt über kein anderes Modell zur Erklärung von Sprachverhalten als das be-schriebene: Sprechen ist Reagieren auf Reize der Aussenwelt aufgrund neurologischer Dis-positionen. Seine Theorie hat die folgende Konsequenz: Es kann nicht sein, dass es zwei

Arten von sprachlichem Verhalten gibt, denen nicht auch verschiedene Typen von neurolo-gischen Zuständen entsprechen. Geht man davon aus, dass Quine die Theorie in dieser einfachen Form vertritt, kann man sich folgen-dermassen gegen sie wenden:

Cum tacent, clamant. Dadurch, dass sie schwei-gen, klagen sie an. Man kann durch Schwei-gen etwas tun: jemanden strafen, eine Frage disqualifizieren, die Aussage verweigern oder eben: anklagen. Unter bestimmten Umstän-den ist Schweigen Sprachverhalten. Gemäss Quine müsste sich die Disposition zu bedeu-tungsvollem Schweigen von der Disposition zu nicht-bedeutungsvollem Schweigen phy-sikalisch unterscheiden. Das aber ist unplau-

sibel: Eine Disposition zu bedeutungsvollem Nichtstun wird sich nicht von einer Disposition zu bedeutungslosem Nichtstun physikalisch unterscheiden. Das scheint ein Gegenbeispiel zu sein.

Dagegen gibt es zwei Einwände. Man kann ein-wenden, dass die Schweiger doch sicher die Absicht haben, mit ihrem Schweigen etwas zu bewirken. Und dieser Absicht entspreche ein distinkter neurologischer Zustand. Dem kann man entgegenhalten, dass die Absicht ein Schweigen noch nicht zu einem bedeutungs-vollen macht. Wenn einer unter den Schwei-gern nicht die Absicht gehabt hätte, durch sein Mitschweigen anzuklagen, so ist es dennoch

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möglich, dass sein Schweigen dieselbe Be-deutung hat wie das der anderen. Ihm könnte etwa erst im Nachhinein aufgegangen sein, wie andere Anwesende das Schweigen der Gruppe interpretieren mussten, worauf er die Konse-quenzen gutgeheissen hätte. Ob ein Schweigen ein anklagendes ist, kann auch davon abhän-gen, was nachher geschieht.

Der zweite Einwand ist, dass es sich beim be-deutungsvollen Schweigen nicht um symbo-lisches Verhalten im eigentlichen Sinn handle. Schliesslich sei der Sinn des Schweigens nur kontextabhängig und nicht konventionell. Auch darauf gibt es eine Erwiderung. Man stelle sich eine Sprachgemeinschaft vor, in der derselbe Sinn (Anklagen) konventionell an das Schweigen gebunden ist. Denkbar, dass sich auch hier zufälligerweise in einer Versamm-lung eine Gruppe von Schweigern findet, die das Nämliche tut: schweigend anklagen. Man stelle sich weiter vor, es würde einer unserer Schweiger teleportiert (wie in »Raumschiff En-terprise«) und im selben Augenblick Molekül für Molekül wieder zusammengesetzt, so dass er einen Schweiger in jener Gruppe ersetzt - und umgekehrt.* Der Schweiger würde in jener linguistischen Gemeinschaft neu per Konven-tion schweigend anklagen! Er befände sich dabei in keiner anderen Lage als ein anderer Schweiger in derselben Gruppe, der die kon-ventionelle Bedeutung seines Verhaltens nicht kennt. Was jemand mit seinem Sprachverhal-ten ausdrückt, ist also durch keinen seiner neu-rologischen Zustände strikte determiniert.

Im ersten Schritt sind Beispiele diskutiert wor-den, die mit einer physikalistischen Theorie nicht zu meistern sind, wenn sie die Sprech-akt-Typen eines Individuums auf die neurolo-gischen Zustände dieses Individuums zurück-zuführen versucht. Könnte das aber nicht von einer physikalistischen Sprachtheorie geleistet werden, welche sich den Sinn der Sprechakte eines Individuums determiniert denkt über die neurologischen Zustände aller Sprecher einer Sprache oder aller Sprecher, die sich an einer kommunikativen Interaktion beteiligen?

Eine solche physikalistische Theorie müsste in der Lage sein zu bestimmen, was »gleiche neurologische Zustände« verschiedener Indi-viduen sind. Was die Sprachkompetenz angeht, weiss man, dass die entsprechenden Mecha-nismen stark variieren können. Nehmen wir aber an, die Theorie könnte diese Schwierigkeit bewältigen. Und nehmen wir ferner an, dass

jeder, der - zum Beispiel - unehrlich ver-spricht, tatsächlich dieselbe Sprachdispo-sition, also den gleichen neurologischen Zu-stand hat. Es ist denkbar, dass alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft so einen neuro-logischen Zustand teilen. Wenn immer also jemand sagt: »Ich verspreche, dass...«, hätte sie oder er zu einem bestimmten Zeitpunkt den gleichen neurologischen Zustand und würde ein unehrliches Versprechen geben.

Was jemand mit seinem Sprach-verhalten ausdrückt, ist also durch keinen seiner neurolo-gischen Zustände strikte deter-miniert.

Dagegen kann Folgendes eingewendet wer-den: Es ist nicht möglich, unehrlich zu ver-sprechen, wenn nicht die meisten Leute ihre Versprechen hielten. Wenn niemand sein Wort hält, so kann der Einzelne zwar sagen »Ich verspreche, dass...« und sich dabei in einem bestimmten neurologischen Zustand befinden; der Sinn dieser Äusserung könnte aber sicher nicht mehr das sein, was wir un-ter »Versprechen« verstehen. Aus unserer Sicht hat Versprechen keinen Sinn, wenn alle Mitglieder einer Gemeinschaft einander andauernd Dinge »versprechen«, die sie nie halten. Und dabei ist es ganz gleichgültig, ob sie in demselben neurologischen Zustand sind wie einer von uns, wenn er ein unehr-liches Versprechen gibt.

Physikalisten wie Quine sind von ähnlichen Argumenten, wie sie hier vorgebracht wur-den, dazu bewogen worden, ihre Theorien zu modifizieren. Die einfache Theorie, die hier betrachtet worden ist, führt Arten von Sprachverhalten oder psychischen Zustän-den auf Arten neurologischer Zustände zurück. Neuere Theorien behaupten nur noch, dass jedes einzelne Exemplar eines psychischen Zustandes mit einem physika-lischen Exemplar identisch ist. Es gibt auch Theoretiker, die eine »gemischte« Version vertreten, wie das in Wahrheit auch Quine tut.

Die Modifikation vom Typen- zum Token-Phy-sikalismus (Englisch »token« für »Exemplar«) scheint gering zu sein, ist es aber nicht. Der Token-Physikalismus behauptet die Identität eines mentalen Ereignisses mit einem physi-kalischen, nicht aber, dass die Gesetzmässig-keiten korrelieren, kraft deren ein und dasselbe Ereignis als »mental« oder als »physikalisch« identifiziert werden kann. Das bedeutet: Es gibt keine psycho-physischen Gesetze, keine wah-ren Gesetzesaussagen wie »Jedem Blitz folgt Donner«, die das ausnahmslose Verknüpftsein eines mentalen mit einem physikalischen Er-eignistyp aussagen. (Man beachte dabei, dass Gesetzesaussagen als allgemeine Sätze von Ar-ten von Objekten, Ereignissen oder was auch immer handeln.) Der Übergang vom älteren Physikalismus zum neueren Token-Physika-lismus beinhaltet die Aufgabe des Versuchs, psychische Zustände über strikte Gesetze auf neurologischer Basis zu erklären. Da psy-chische Zustände im täglichen Leben vor allem sprachlich identifiziert werden, gilt diese Kon-sequenz auch für Teile der Sprache.

Kehren wir zur Behauptung zurück, die zu Be-ginn aufgestellt wurde, und zwar mit der Fra-ge, worin genau die Unverträglichkeit bestehe zwischen

(1) Sprache ist die Gesamtheit aller Dispositi-onen zu öffentlichem Sprachverhalten und

(2) Sprachdispositionen sind physikalische Zustände.

Wenn die beiden Thesen von Arten von Sprach-verhalten und Arten von neurologischen Zu-ständen handeln, so ist die Identifikation von Sprachdispositionen und Verhaltenstypen of-fensichtlich falsch, wenn nicht immer das eine vorliegt, sobald das andere gegeben ist. Wie man gesehen hat, gibt es solche Beispiele. Dass es diese Gegenbeispiele gibt, kann wie folgt erklärt werden: Da Sprache eine soziale Kunst ist, mag der, der eine sprachliche Regel kennt, sich in einem bestimmten neurologischen Zu-stand befinden. Es kann dieser Zustand aber nicht hinreichend dafür sein, dass es sich bei dem, was er weiss, um eine Sprachregel, eine allgemein geteilte Technik handelt. Dies hängt ab vom Sprachverhalten des Kollektivs, vom Wissen und den Bewertungen anderer.

* Bei diesem Gedankenexperiment darf nicht vergessen werden, dass es sich an den Physikalisten richtet. Um die damit verbundene Argumentation plausibel zu finden, muss man nicht voraussetzen, dass derglei-chen möglich sei. Dem Physikalisten wird es nicht als unmöglich erscheinen, da er Bewusstseinszustände als blosse Epiphänomene physiologischer Prozesse betrachtet.

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Eigentlichwollten wir hier ein MP3 einkleben,

doch die Druckmaschine weigerte sich.

Papier ist eben nicht unsere Stärke!

A kitchen driven Music Blog: http://starfrosch.ch

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48 STUNDEN …

tobel

tunnel

isabelle

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solothurn

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tunnel

Aus dem Leben des Fribourger Pianisten Christoph Geissbühler

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MONATSGESPRÄCH

HK: Wenn man das Testament liest, fällt die Terminologie auf. »Geist« wird unzählige Male erwähnt. Was ist Geist?

RB-E: Geist wird im zweiten Satz der Genesis erstmals erwähnt als Geist Gottes, der in der Tiefe umherwandelt. Wir sind beschränkt innerhalb unserer menschlichen Sprache, und was wir nicht ganz genau verstehen oder kennen, da haben wir keine Worte dafür. Was ich darunter verstehe, ist das unsichtbare Leben. Wir können wahr-nehmen, dass ein Mensch lebt, mit unseren Sinnen und so weiter, aber das Leben selber können wir nicht greifen.

HK: Im Testament steht, Gott ist ein geistiges Wesen. Es handelt sich demnach um eine unsichtbare, transzendente Gottheit, eine metaphysische, transzendente Wesenheit?

RB-E: Ja. Metaphysisch heisst, es hat keinen Körper, keinen Anfang, kein Ende und nochmals, es ist nicht etwas, was wir mit unserer drei-dimensionalen Wahrnehmung erfassen können.

HK: Wenn die Wirklichkeit aus physischen und metaphysischen Welten besteht, dann besteht auch der Mensch, der Teil dieser Wirklichkeit ist, aus mehr als nur aus Haut und Knochen…

RB-E: Ja.

HK: Glauben Sie, dass ein geistiger Teil des Menschen den phy-sischen Tod überdauert?

RB-E: Im Judentum besteht der Glaube, dass die Seele ewig ist. Und es gibt auch eine kleine Strömung, die sagt, es gibt Reinkarna-tion, dass also die Seele wiederkommt, wenn es noch etwas fertig zu machen gilt. Das Mainstream-Judentum sagt jedoch, dass die Seele ewig besteht. Nach dem Tod ist sie geborgen unter den »Flügeln Gottes«. Dann gibt es noch eine Gruppe, die sagt, wenn der Messias kommt, werden alle Gestorbenen aufwachen. Das ist nicht genau der Gedanke der Reinkarnation, denn diese Gruppe glaubt, dass die Verstorbenen in ihrem ursprünglichen Körper aufwachen und nach Israel gehen werden.

HK: Was halten Sie vom kabbalistischen Grundgedanken, dass oben gleich unten, Mikrokosmos gleich Makrokosmos, dass also die materielle Welt ein Abbild einer geistigen Parallelwelt ist?

RB-E: Das ist nicht nur in der Kabbala, sondern auch in früher tal-mudischer Literatur so. Oben, das heisst in den Regionen Gottes, gibt es eine ähnliche Welt, wie wir hier unten auch haben. Wenn beispiels-weise Opfer in irdischen Tempeln dargebracht werden, gibt es auch im Himmel metaphysische Tempel, wo Opfer gebracht werden, es könnte mit dem Bild eines Spiegels verglichen werden. Die physische Welt spiegelt sich in der geistigen Welt.

HK: Die physische Welt als Spiegel von metaphysischen Welten - glauben sie persönlich daran?

RB-E: Ich persönlich nicht, aber die Kabbalisten glauben das. Ge-gründet auf der Kabbala sind auch die Gruppen, die an Reinkarnati-on glauben. Das ist aber nicht die grosse Mehrheit.

HK: Wenn Gott etwas Metaphysisches ist, kann es dann überhaupt Religion ohne Metaphysik geben?

RB-E: Religion ist Glauben. Glauben ist nicht wissenschaftlich abgestützt. Es ist etwas, das man hat, das man fühlt. Das ist eine Welt. Die andere ist die wissenschaftliche Welt, die überprüfbar ist. Das sind zwei verschiedene Welten.

HK: Wenn man jedoch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse betrachtet, z.B. von Rupert Sheldrake, John C. Eccles oder Hans-Peter Dürr, dann stossen diese Wissenschafter an den Rand anderer Welten. Eccles beispielsweise bekam den Nobelpreis für seine Ar-beit, die aufzeigt, dass das Gehirn ein Informationsempfänger ist, der Impulse aus einem nicht mehr messbaren Bereich aufnimmt…

RB-E: Mit Glaube und Religion ist es so, dass man keine Prüfung dafür nötig hat. Es gibt sehr viele Leute, die um eine Prüfung beten, dass Gott zum Beispiel ein Signal gibt, dass er bestätigt, dass sie auf dem richtigen Weg sind und so weiter.

HK: Könnte man sagen: Religion ist eine Sache der Empfindung, und ein wissenschaftlicher Beweis ist eine Sache der positivisti-schen Ratio?

RB-E: Ja.

Unsichtbares Leben

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2021

Mit Reuven Bar-Ephraim, Rabbiner der Jüdischen Liberalen Gemeinde Or Chadasch, Zürich, sprach Hannes Kriesi

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HK: Wir leben heute in einer sehr rationalen Gesellschaft. Leben wir in einer religionsfeindlichen Gesellschaft?

RB-E: (Überlegt lange.) Ja und nein. Unsere Gesellschaft, wenn wir zum Beispiel Europa anschauen, gibt es sehr viele Diskussionen über Religion und den Platz der Religion. Nicht über das Juden- und Christentum, aber beispielsweise über den Islam. Ich glaube, Religi-on hat bei vielen Leuten keine Funktion im Leben; aber ich erfahre nicht, dass sie feindlich sind. Ich erfahre die Gesellschaft nicht als religionsfeindlich, sondern das Gegenteil, dass die Religion geschätzt wird, dass es sie gibt. Ich habe viele Schüler, die nach der Synagoge kommen und Fragen stellen. Nicht feindlich also.

HK: Haben wir nicht ein Problem, wenn Religion eine Sache der Empfindung ist? In der Schule wird nämlich ausschliesslich das rationale Denken gefördert. Besteht da nicht das Problem, dass man die Empfindung, die es ja braucht für das Religiöse, vernach-lässigt? Wir trainieren den Verstand und die Empfindung, die uns das Göttliche offenbaren würde, die liegt brach.

RB-E: Ja, das stimmt. Ich glaube aber, dass das nicht die Sache der Schule ist. Die Eltern sollen das beibringen. Wenn Religion im Elternhaus erfahren wird, entscheiden sich die Kinder später für Religion. Ich glaube nicht, dass Glauben oder Empfindung angelernt werden kann. Meine Erfahrung ist, dass Leute, die nicht mit Religion aufgewachsen sind, oft mit fünfunddreissig oder mit fünfundfünfzig Jahren vielleicht nicht zum Glauben kommen, aber zur Entdeckung, dass es zwischen Himmel und Erde noch mehr gibt als das, was wir wahrnehmen können. Und dass Religion auch eine Funktion für das eigene Leben hat, dass es etwas ist, was mit mir zu tun hat.

HK: Kann die Empfindung zerstört werden?

RB-E: Das glaube ich nicht. Den Gläubigen kann etwas passieren, wodurch der Glaube zerstört werden kann. In der Sowjetunion wurde während 70 Jahren versucht, die Religion zu verbannen. Die Kirchen sind aber heute voll, die Leute gehen zum Gebet. Viel ist persönliche Erfahrung. Ich glaube nicht, dass der Glaube von aussen zerstört werden kann.

HK: Das liberale Judentum geht von einer geistigen Umwandlung aus. Was ist damit gemeint?

RB-E: Was Sie gesagt haben: Der Mensch besteht nicht nur aus Haut und Knochen. Es gibt eine Seele, die von Gott gegeben ist. Wir haben die Möglichkeit als Menschen, Gott zuzulassen, aber auch die Möglichkeit, das nicht zu tun. Und dass dieser Unterschied sich auch darin manifestiert, wie wir miteinander umgehen.

HK: Ist das religiöse Ziel im Judentum diese geistige Unwand-lung?

RB-E: Das religiöse Ziel ist nicht metaphysisch. Das religiöse Ziel ist, dass wir die Aufträge, die wir von Gott bekommen haben, nachleben sollen. In diesem Leben, jetzt. Aber innerhalb dieser Aufträge gibt es auch die Beziehungen zu anderen Leuten, die sehr wichtig sind. Ein

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Rabbiner im zweiten Jahrhundert hat gesagt, dass die Nächstenliebe die goldene Regel ist. Das ist das Wichtigste, was wir haben, wie wir anderen Menschen gegenüberstehen. Das ist vielleicht auch eine me-taphysische Verbindung, die wir miteinander machen. Den richtigen Kontakt kann man auch nicht greifen.

HK: Wird dieser zwischenmenschliche Kodex in der heutigen Gesellschaft gelebt?

RB-E: Ja, vielleicht nicht Makro, sondern Mikro. Zum Beispiel innerhalb unserer Gemeinde. Schliesslich kann man nicht alle Menschen kennen und lieben. Aber wir versuchen, untereinander gut zu sein. Und es gibt in der Gesellschaft Menschen, die versuchen gut zu sein.

HK: Und gesamtgesellschaftlich gesehen?

RB-E: Ja, das ist schwierig: Die Gesellschaften richten sich immer mehr nach der Ökonomie aus. Wegen Wirtschaft und Geld werden soziale Gesetze manchmal nicht sehr hoch gehalten.

HK: Sie sagen, wir leben in einer Kultur, die von der Wirtschaft dominiert ist. Und das Problem einer solchen Kultur ist, dass der Mensch dem Geld nachrennt. Wäre es die Lösung, wenn der Mensch nicht dem Geld, sondern Gott und geistigen Gütern nach-rennt?

RB-E: Ja, aber auch das soll beschränkt sein. Überall, wo man »zu« zufügt, ist es nicht gut. Wenn man zu religiös ist, ist das nicht gut, wenn man zuwenig religiös ist, ist das nicht gut. Es soll eine Balance sein. Wenn man nur dem Geld nachrennt, ist das nicht gut, wenn Leute nur Gott nachrennen, haben wir auch ein Problem.

HK: Müsste der moderne verweltlichte Wirtschaftsmensch an eine metaphysische Gottheit glauben, damit er seine Einseitigkeit aufheben und er neben Geld auch nach religiösen Gütern streben würde?

RB-E: Ja, ja, sicher.

HK: Die Grundlage für den verweltlichten Wirtschaftsmensch ist der Darwinismus. Wie sehen sie diese Theorie in diesem Zusam-menhang?

RB-E: Wir haben so viel Geld in unseren Wirtschaften, so viel Geld. Und einige wollen immer mehr. Man kann sagen, ich brauche jetzt kein neues Auto, sondern gebe mein Geld in einen Fonds, der ande-ren Leuten hilft, die nichts oder zuwenig haben. Es gibt zum Beispiel genug Nahrung in der Welt, sie ist aber nicht gut verteilt. Zwei oder drei Produkte weniger im Supermarkt wäre kein Problem.

HK: Die Basis des materialistischen Denkens, des immer mehr Wollens, ist der Darwinismus. Ist dieser falsch?

RB-E: ich glaube nicht, dass man falsch oder richtig sagen kann. Es gibt eine tierische Seite im Menschen. Wir wollen überleben. Man kann die tierische Seite nicht ausradieren, man kann sie aber beherr-schen.

HK: Über den Darwinismus wird abgeleitet, dass sich der Mensch aus toter Materie entwickelt hat und eine biochemische Maschi-ne sei. Sie sagen jedoch, der Mensch sei ein geistiges Wesen… wie passt das zusammen?

RB-E: Ich glaube an eine Mischform. Einerseits glaube ich, dass der Mensch geschaffen ist, wie in Genesis beschrieben. Ich glaube, dass sich der Mensch evolutionär entwickelt hat, dass aber in einem gewissen Moment das Geistliche dem Menschen zugefügt worden ist. Und das ist der Unterschied vom Menschen zum Affen. Wir haben eine Entwicklung durchgemacht und das, was in Genesis geschrieben ist, ist nur eine schematische Weise der Evolution, das kann man auch behaupten.

HK: Viele neuere wissenschaftliche Erkenntnisse widerlegen den Darwinismus und die Diskussion, ob der Primat des Lebens im Geist oder in der Materie liegt, ist neu entfacht. Ist die Annahme einer primär materiellen Evolution falsch?

RB-E: Ich glaube, Geist und Materie haben sich zusammen entwi-ckelt. Ab einem gewissen Punkt der physischen Entwicklung konnte der Mensch das Göttliche empfangen.

HK: Man kann in der Bibel viel über die Endzeit lesen. Wie schät-zen sie die Situation der heutigen Gesellschaft in Bezug auf die Endzeit ein?

RB-E: Ich glaube, dass… Ich werde von einer anderen Seite an-fangen: Im Judentum gibt es zwei Theorien dazu: Eine ist, dass der Messias kommen wird, und nachher wird die Welt gut sein. Das heisst, in Jesaja wird gesagt, dass der Wolf mit den Schafen zusammen liegen kann. Die Leute, die sich benehmen wie die Wölfe, werden in der messianischen Zeit gut sein miteinander. Je weiter wir weggehen vom Prinzip einer guten Welt, desto weiter gehen wir vom Ziel einer guten Welt weg.

HK: Je weiter wir uns also von diesem Ziel entfernen, desto schwie-riger wird die gesellschaftliche Situation?

RB-E: Ja.

HK: Und wo sind wir heute? Viele sagen, wir seien an einem End-punkt…

RB-E: Wenn man es in Jahren betrachtet, dann gibt es in der Kab-balistischen Literatur Berechnungen. Zweitausend Jahre war es gut und zweitausend Jahre war es schlecht. Nach sechstausend Jahren wird es wieder gut gehen. Im Judentum sind wir jetzt im Jahr 5867. Es dauert also noch rund 130 Jahre bis 6000. Es ist also noch ein bisschen

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Weg. Wir entfernen uns aber immer weiter von diesem Ziel, auch in Europa. Wenn ich die Gesellschaft anschaue, dann gibt es nicht viel Hoffnung, dass es besser kommen wird.

HK: Was bräuchte es, damit es besser würde?

RB-E: Ja, die Leute müssten bereit sein, zu geben, zu teilen, mitein-ander zu leben und einander zu akzeptieren. Wir haben alle unsere Eigenschaften, gute und schlechte. Die Leute sind sehr intolerant, individuell und auch als Gruppe oder Volk.

HK: Sie erwähnen die Zahl 5867. Gibt es nicht auch Berech-nungen, die auf das Jahr 5995 kommen.

RB-E: Die kenne ich nicht.

HK: Gibt es Parallelen zwischen aktuellen Ereignissen und Bibel-stellen?

RB-E: (Überlegt.) Ja, im Judentum lesen wir auch den Talmud. Adam war der erste Mensch, das steht nicht in der Tora, sondern im Talmud. Gott hat ihm gesagt: sieh, was du hast hier und sorge dafür, dass das nie kaputt geht. Wenn du es kaputt machst, wird niemand da sein, der es wieder reparieren kann. Das wurde im dritten Jahr-hundert geschrieben. Wenn wir sehen, was die Menschheit mit der Natur macht, dann stimmt das. Es gibt niemanden nach uns, der das reparieren kann. Was kaputt ist, ist kaputt. Die Erderwärmung zum Beispiel. Wenn wir weiter gehen auf diesem Weg, dann wird das nicht gut enden. Es kann nur schlecht enden. Es gibt Warnungen in der Bibel. Aber ich glaube nicht, dass man das eins zu eins übertragen kann.

HK: Welche Warnungen?

RB-E: Zum Beispiel, dass man vorsichtig mit der Welt und mit an-deren Menschen umgehen sollte. Wenn eine Gesellschaft keine Rechte hat, ist das nicht gut. Man sollte immer die Schwachen unterstützen. Witwen und Weisen sollten zum Beispiel unterstützt werden. Mit Fremden wird es dann aber problematisch.

HK: Wie sehen Sie die Entwicklung im Nahen Osten?

RB-E: Mit Sorge. Auch innerhalb der einzelnen Staaten. Ich bin nicht so optimistisch.

HK: Trifft das Bild des Kampfes zwischen Ischmael und Isaak auf die Region zu?

RB-E: Es gibt in der Bibel keinen Kampf zwischen Ischmael und Isaak. In der Regel waren sie Brüder, die einander geliebt haben. Und es war die Mutter Isaaks, die dafür gesorgt hat, dass Ischmael wegge-schickt wurde. Nachher sind Ischmael und Isaak zusammengekom-men, um ihren Vater Abraham zu beerdigen. Wenn wir das biblische Vorbild nehmen können, dann wird es gut. Das ist meine Hoffnung.

Aber ich glaube, wir sind heute weit weg von dieser Darstellung, beide Seiten des Konflikts. Wir sind noch nicht dort, um zu geben. Um Frieden zu haben, soll man bereit sein, zu geben. Von sich selber. Und nicht nur zu nehmen.

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KURZGESCHICHTE

paul ist suizidfreak. nein, nein! nicht was sie jetzt denken. hören sie nochmals genau zu:

paul ist suizidfreak - paul lebt; und wie er lebt. hätte ich paul vor wenigen stunden nicht kennenlernen dürfen, wo wäre ich jetzt bloss? ich würde ihn schrecklich vermissen.

paul ist nicht sehnsüchtig nach dem eigenen tod. paul ist einfach paul. stolz zeigt er mir seine gesammelten informationen, aufbewahrt in einem knallroten aktenordner, mit der überschrift: »spring weiter, als du kannst!«.

»siehst du! ich bin ein suizidfreak, aber… ich lebe. schau doch in den ordner. der titel ist…, na ja, der ist nebensächlich!«, meinte paul.

ich lese nochmals die überschrift. in grossen lettern steht immer noch: »spring weiter, als du kannst!«

was meint paul bloss damit? »also doch springen«, antworte ich. »ach papperlapapp, ist doch alles schnee von gestern«, kontert paul. »spring weiter, als du kannst ist dort, wo die grenze aufgelöst, über-schritten wird und der suizidfreak seine informationen sammeln geht«. »ein pilger auf seiner gratwanderung. stürzt er in den wahn-sinn oder in die genialität oder pilgert er geradeaus…?«

paul hört nicht mehr auf zu erzählen. er weicht ab, kommt zurück, baut brücken, erfindet tunnels, aber irgendwie schafft paul kurz vor meiner totalen verwirrtheit den faden schnell aufzuteilen und anderswo zu einem gemeinsamen strang wieder zusammenzuknüpfen.

paul ist und bleibt paul. auch ich entfernte mich - wort um wort. ich begann zu träumen, malte mir pauls gedankensprünge aus. ich sah wunderschönen schnee, leicht wie zuckerwatte. schnee, der aus federn fällt, aber mit sünden befleckt ist. sünden, die nur eine messerscharfe klinge kennt, wenn sie ein letztes mal den geist vom körper trennt.

»alles schnee von gestern«, brüllt mir paul erneut ins gewissen. ich wache auf. »alles schnee…«, denke ich.

ich hattte paul verstanden - klar und deutlich. paul. paul? paul?

werner der neben mir auf der parkbank sitzt, hält inne. werner ist nicht paul. werner sitzt neben mir.

»verrückte geschichte«, sagt er. werner blickt nach seinen geliebten vögeln im park. kleine fiepsige wesen, gut aufgehoben zwischen den wipfeln der natur und dem schützenden, blauen meer.

werner und seine geschichten. »verrückt«, dachte ich! paul war wirklich ein suizidfreak. soviel habe ich jetzt begriffen. aber paul war auch paul, der durch einen schrecklichen suizid viel zu früh von sich gehen musste. paul ist tot. verstehen sie endlich? hören sie genau zu, bitte. paul ist nicht mehr! er ist kein suizidfreak mehr. paul ist tot. ok?

werner? wen interessiert jetzt werner, ich habe doch zu beginn gesagt, wie sehr ich paul vermissen würde. paul ist tot und werner ist weg, ein-fach aufgestanden und weg. auf und davon.

werner ist verschwunden. ich sitze alleine auf dieser parkbank. ich fühle mich jetzt noch einsamer. einsamkeit ist doch keine tugend des menschen. einsamkeit ist das zartbitter, wenn deine feuer erstummt sind.

wie schrecklich. einsamkeit ist das zartbitter, wenn meine feuer erstummt sind.

ich bin ich. einsam, aber ich. ich will gehen, ich will aufstehen. ich halte das nicht mehr aus. paul ist weg. werner ist verschwunden. werner der geschichtenerzähler. und ich? was spiele ich überhaupt für eine rolle? ich? paul? wer? ich verliere noch den verstand.

paul. werner. ichVon Istvan Cseh jr.

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paul durchstöberte alle tages- und lokalzeitungen, die er finden konnte und suchte nach artikeln über neue suizidfälle. in diesen mo-menten war paul im element. er raste wie ein verrückter mit seinem motorrad zum vermeintlichen unfallort. er knipste unzählige fotos, nahm die seltsamsten dinge nach hause, die er auf dem boden rund um den ort finden konnte. stellen sie sich vor: er liess sogar ein aufnahmegerät laufen, nur um sich später auch akkustisch an den ort erinnern zu können.

paul schrieb an einem buch und nannte die geschichte: »der suizid-freak, der weiter springt«. meistens hörte sich paul die aufnahmen zig mal an, betrachtete hun-derte von fotos und dias, berührte seine funde vom unfallort, suchte nach worten, verfasste sätze und schlief völlig übermüdet ein.

zigarettenstummel, papierfetzen, kieselsteinchen, bilder, das rau-schen des diaprojektors - paul war ein verdammter suizidfreak.

paul, ein autor, der ein buch darüber verfassen wollte, wie ein unfallort stunden später zur normalität überging. da nimmt sich ein mensch sein leben und stunden später zollt das leben keinen respekt mehr gegenüber… gegenüber diesem menschen. das leben geht weiter, passanten rauschen vorbei, die jahreszeiten wechseln und spätestens im frühling sind alle mit ihrer verliebtheit beschäftigt.

ich werde noch verrückt!

diese einsamkeit, ich sage ihnen: nicht zum aushalten. sind sie auch einsam? flüchten sie auch vor der frühlingspanik ihrer mitmenschen? wollen sie am liebsten diese zeilen aus dem fenster werfen? tun sie das.

nehmen sie anlauf und werfen sie diese geschichte aus dem fenster. geniessen sie die ruhe, dass sie noch da sind und dieser geschichte endlich den garaus gemacht wurde.

na los!

nein, sie sind nicht paul. ihm war es so leid, dass stunden später, nachdem die letzten gaffer sich verzogen hatten, die gesellschaft so tat, als gehe das leben weiter. Deshalb wollte paul alles akribisch festhalten. so akribisch, dass paul plötzlich nicht mehr paul war.

paul ist paul. das wissen sie jetzt. aber paul wurde bei seiner sucht von solch einer wucht getroffen, dass er dies nicht überleben konnte. paul war auf der stelle tot, einfach tot. aus! vorbei.

irgendwann hat mir werner erzählt, dass paul unter schizophrenie litt. die krankheit packte paul immer fester. die arbeit als autor half paul zeitweise über die krankheit hinweg. ganz gefeit von den heim-tückischen anfällen war auch er nicht verschont geblieben.

paul schlich sich öfters aus dem haus und suchte eine telefonkabine auf. er wählte seine eigene nummer, beschimpfte den anrufbe-antworter und drohte mit selbstmord falls der paul zuhause nicht abnehmen würde um ihn zu besänftigen, dass die krankheit doch nicht so schlimm war. paul tobte und schrie, er schlug mit den fäusten mehrmals gegen die kabinenwand bis er nicht mehr konnte; dann sank er in sich und liess sich auf den boden fallen, den hörer immer noch fest in der hand.

irgendwann schleppte er sich in sein haus zurück und schlief neben seiner arbeit ein. armer paul.

paul ist paul aber paul ist tot. der aufprall, diese wucht hat ihn ein-fach aus dem leben gerissen. werner konnte mir nie genau sagen, ob paul als paul oder paul als paul während eines anfalls gestorben ist.

ich möchte das auch nicht wissen.

diese verfluchte einsamkeit. wie können sie nur weiterlesen?

verstehen sie nicht, wie ich an meinen eigenen schnitten verblute? jeder schnitt erzählt eine geschichte. jeder schnitt taucht in eine andere ebene ein. jeder schnitt ist ein verlust. tun sie nicht so, als wäre das scheissegal!

paul ist tot, werner ist weg und ich bin ganz allein. dieser schmerz frisst mir jede pore aus meinem körper. ich bin ge-nauso tot, wenn paul tot ist. ich bin genauso nicht mehr hier, wenn werner nicht mehr hier ist.ich bin, ja ich verliere den verstand, erraten. ich werde verrückt, ich bin nicht paul, bin nicht werner, bin nicht der autor, einfach nichts.

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entschuldigen sie. ich erzähle jetzt weiter.

paul liegt neben mir, in so einem schäbigen gemeinschaftsgrab. nicht einmal unterhalten können wir uns bei diesem höllenlärm. überall diese baustellen, überall diese aufgerissenen wunden. alles provisorisch zugedeckt, damit ja keiner auf die schliche kommt, dass man ob einer wunde noch tiefer fallen kann.

paul liegt also neben mir.

»scheiss baulärm, scheiss baulärm«, brüllt irgendjemand zurück. werner?

ich will meine ruhe. ich denke an paul, der von einem hochhaus gesprungen ist, weil der gleiche paul am nächsten morgen dorthin gehen wollte um für sein buch weiter zu recherchieren.

ich denke an werner, der mir immer ins gewissen geredet hat und doch nie da war.

ich denke an, ich denke an…

paul.

werner.

»spinnst du?« schreit mich werner an.

ich denke an nichts.

meine augen sind geschlossen.

ich schalte den lärm um mich ab.

vorbeihuschende flugzeuge werden zu sanften wolkenzügen. hören? sehen? ich erkenne nicht einmal meinen herzschlag mehr.

da ist nur noch dieses rauschen. da bin nur noch ich.

ich! bin ich.

ich springe. ...springe tatsächlich …und falle tief.

ich falle so tief...

ich… paul… werner…

ich falle so tief… …an alle vorbei …an alles vorbei

paul? werner?

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4. Ausgabe / November 2007Auflage: 10‘000 Expl.

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Autoren dieser AusgabeAndreas Pfister: [email protected] Ritter: [email protected] Geissbühler: [email protected] A. Sautter-Hewitt: [email protected] Kriesi: [email protected] Cseh jr.: [email protected] Capeder: [email protected] Zweifel: [email protected] Schlumpf: Gupfe 1, 8427 Freienstein

Grafisches Konzept und Gestaltungr4c.network/red, Stefan Schafer: [email protected]

FotografiePhilipp Rohner: [email protected]

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IMPRESSUM

ABONNEMENT

Vorankündigung:

Die viergeteilte GesellschaftsordnungÜberarbeitete und erweiterte Ausgabe von »Demokratie und Mystik«.

Das Ende des Kapitalismus zeichnet sich ab.

Wo liegen in unserer Gesellschaft Potentiale, auf

deren Basis eine neue Ordnung entstehen könnte?

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