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TABULA GRATULATORI

Andre Nguemning, Kamerun • Maja Krejci, Freiburg •Günther Grewendorf, München • Manfred Czubayko,Bad Arolsen • UH Opdenberg, Aachen • Ulrich Bauer,Bayreuth • Celia Robledo, Degerndorf »Anna Ries,Oerlinghausen • Michael Emter, Mainhardt • AugustoCarli, Triest • Franz Dokoupil, Ahrensburg • GeorgLang, Bamberg • Theo Grundhöfer, Würzburg • DieterErtl, Mainz • Lutz Götze, Herrsching • DieterWunderlich, Düsseldorf • Peter Kubiak, Ganderkesee •Martin Supper, Berlin • Horst Schrägle, Osnabrück •Klaus Spätgens, Köln • Karl Hassbach, Bad Kreuznach• Bert Thinius, Berlin • Karl Wirth, Helmbrechts •Hans-Joachim Frick, Hornberg-Reichenbach • AlbrechtWill, Tangerhütte • Hermann Golfen, Duisburg • DieterKinkelbur, Altenberge • Erhard Albrecht, Greifswald •Martine Dalmas, Allauch • Hans-Jochen Vogel,Chemnitz • Christian Margiotta, Zürich • Bernd Fischer,Vaals • Heinrich Josef Quadt, Aachen • HellmutGeissner, Lausanne • Wolfram Heinrich, Köln •Giovanni Sommaruga, Freiburg • Henner Barthel,Landau • Hans-Wilhelm Püschel, Aurich • Jan BartBös, Eemnes • Martina Pregartner, Lebring • MarkusSchröder-Augustin, Hanau • Jan Heilmann, Chemnitz •Christian Kleinert, Frankfurt/M. • Gert Schäfer,Hannover »Hans-Jürg Schrum, Hamburg • Elke Brüns,Berlin • Ralf Grigoleit, Bayreuth • Erich Chr. Schröder,Leopoldshöhe • Ernst G. Just, Neunkirchen-Seelscheid •Andreas Zienczyk, Osnabrück • Thorsten Schumacher,Göttingen • Bernd Büscher, Dortmund • HeinrichReiss, Schwabach • Elmar Holthaus, Bietigheim •Helmut Brückner, Lüneburg • Jürgen Mümken, Kassel •Peter Ernst, Bernbeuren • Bernd Buldt, Konstanz •

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Noam Chomsky

Sprache und PolitikHerausgegeben und aus dem amerikanischen Englisch übersetzt

von Michael Schiffmann

PHILO

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© 1999 Philo Verlagsgesellschaft mbH : Berlin und Bodenheim bei MainzAlle Rechte vorbehalten.

© der Originalbeiträge by Noam ChomskyUmschlaggestaltung: Gunter Rambow, Frankfurt a. M.

Druck und Bindung: Nexus Druck GmbH, Frankfurt a. M.Printed in Germany

ISBN 3-8257-0123-9

digitalisert vonDUB SCHMITZ

Die Seitenzahlen dieser digitalenVersion entsprechen dem Original.

nicht zum Verkauf bestimmt !

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Inhaltsverzeichnis

John Pilger: Noam Chomsky

I. Sprache und menschliche Natur

1. Aspekte einer Theorie des Geistes2. Gleichheit

II. Notwendige Illusionen

3. Demokratie und Medien4. Bemerkungen zu Orwells Problem

III. Die Verdammten dieser Erde

5. Osttimor6. Die Schwachen erben nichts

IV. Staatskapitalismus und Staats-,,Sozialismus"

7. Das Gegenteil von Sozialismus8. Die Bilanz der neunziger Jahre

V. Wege der Freiheit: Autokratie oder Anarchie?

9. Einige Aufgäben für die Linke10. Die heutige Relevanz des Anarchosyndikalismus

VI. Blick in die Zukunft

11. Die ungezähmte Meute

Nachwort

Ausgewählte Literatur

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1745

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123136

144150

196214

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Der Übersetzer dankt Tobias Erler für Gespräche über die Theoriedes Geistes, Irmela und Axel Rütters für ihre verlegerischeUnterstützung und Claudia Görgen, Monika Regelin, AnnetteSchiffmann, Ulrich Schloßmacher und Falk Wiedenroth für ihreRatschläge bei der Übersetzung. Mein besonderer Dank gilt FalkWiedenroth, der auch das Nachwort gelesen hat.

Michael Schiffmann

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Noam Chomsky

- John Pilger* -

„Einem Geist zu begegnen, der unsere Wahrnehmung von derWelt radikal verändert", schrieb Jim Peck in seiner Einführung zuder Sammlung The Chomsky Reader, „stellt eine der beunruhi-gendsten, aber zugleich auch eine der befreiendsten Erfahrungenim Leben dar. Beunruhigend, weil eine solche Erfahrung sorgfältigzurechtgelegte Rationalisierungen untergraben kann, und be-freiend, weil man endlich das Offensichtliche als das sieht, was esist."

Für mich hat Chomsky das „Offensichtliche" sichtbar gemacht,seit ich zu der Zeit, als ich aus den Vereinigten Staaten über denamerikanischen Krieg in Vietnam berichtete, seine Bücher undArtikel las. Ohne Chomskys peinlich genaue Auflistung desBeweismaterials und seine Kritik an der Machtausübung Amerikaswäre die Wahrheit, das „Offensichtliche" über diesen Krieg nichtgesagt worden; dasselbe gilt für die Wahrheit über viele andere„kleine Kriege" und gesellschaftliche Auseinandersetzungenunserer Zeit. Seine Suche nach der Wahrheit ist fraglos heroisch;ebenso wie Millionen anderer, zu deren Aufklärung er beigetragenhat, verdanke ich ihm viel. Auf einzigartige Weise hat Chomskybeständig die Mauern der Orwellschen „Wahrheit" durchbrochen,die so viel von unserer „freien" Gesellschaft und dem Leid jenerMenschen in der ganzen Welt verbergen, die den Preis für unsere„Freiheit" bezahlen.

In seinen Essays, Büchern und Vorträgen hat er unnachgiebigeinen offiziell beglaubigten Mythos nach dem anderen zerstört,und zwar mittels Fakten und Dokumenten, die zumeist aus offizi-ellen Quellen stammen. Seine Enthüllungen und die Klarheit, mitder er sie betreibt, sind ein lebendiges Beispiel für KunderasAphorismus, daß „der Kampf des Menschen gegen die Macht derKampf der Erinnerung gegen das Vergessen ist". Er hat gezeigt,daß der Krieg in Vietnam keineswegs der „tragische Fehler" war,als der er so oft hingestellt wird, sondern die logische Konsequenz

* John Pilger ist australischer Journalist und Dokumentarfilmer. Er hat mehrere Bücherveröffentlicht, in denen er über die sozialen Verhältnisse in den westlichen Demokratien, dieUnterdrückung in den realsozialistischen Staaten und die nationalen und sozialen Kämpfe in derDritten Welt berichtet, zuletzt Distant Voices (1994) und Hidden Agendas (1998). Seinebekanntesten Filme sind Cambodia Year Zero, Cambodia Year Ten, Death of a Nation (überOsttimor) und Breaking the Mirror (über den Niedergang der populären demokratischen Presse inEngland). Er lebt in London. Der vorliegende Text entstand im Dezember 1992.

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der Ausübung imperialer Macht, und daß die Vereinigten Staatenin Verfolgung ihrer strategischen Interessen in Südostasien einkleines bäuerliches Land überfielen, es systematisch verwüstetenund seine Menschen, Kommunisten ebenso wie Nichtkommuni-sten, töteten. Ohne den massiven Widerstand in den VereinigtenStaaten selbst, der Noam Chomskys kritischem Geist und schrift-stellerischer Tätigkeit viel verdankt, wäre Ronald Reagan viel-leicht mit amerikanischen Truppen in Nicaragua einmarschiert.

Ich las Noam Chomskys Buch The Backroom Boys zuerst aufeinem Flug nach Vietnam 1974. Der „ehrenvolle Friede", dasVersprechen, aufgrund dessen Richard Nixon und Henry Kissin-ger erneut an die Macht gewählt worden waren, befand sich invollem Gang. Die amerikanischen Bodentruppen waren abgezo-gen worden, und amerikanische Bomber warfen eine größereBombenlast über Indochina ab als sämtliche Kriegsteilnehmerüber allen Kriegsschauplätzen während des gesamten ZweitenWeltkriegs.

Der Krieg in Asien machte keine Schlagzeilen mehr.In The Backroom Boys zitierte Chomsky einen amerikanischen

Piloten, der die „besonderen Vorteile" von Napalm auseinander-setzte: „Natürlich sind wir auch wirklich zufrieden mit den Jungsin den Hinterzimmern von Dow Chemical. Das ursprünglicheMaterial war nicht so scharf - wenn die Schlitzaugen schnell ge-nug waren, konnten sie es abkratzen. Also fingen die Jungs an,Polystyrol zuzusetzen - jetzt klebt das Zeug wie Scheiße amLeintuch. Es brennt jetzt sogar unter Wasser."

Ich wußte aus eigener Erfahrung, daß das stimmte; ich be-rührte einmal das Opfer eines Napalmangriffs, und danach hatteich die Haut des Mädchens an meiner Hand. Was Chomsky indiesem und anderen Büchern und in seinen Vorträgen und Arti-keln vorlegte, war nicht nur eine Chronik moderner Barbarei,sondern auch die Einordnung dieser Barbarei in den Rahmen einersystematischen „Arbeitsteilung". Die eine Gruppe von „Jungs inden Hinterzimmern" hatte die Entwicklung von Napalm in Auf-trag gegeben, während eine andere es dann verfeinert hatte, „da-mit es bis hinunter auf den Knochen brennt". Die Piloten brauch-ten es dann nur noch abzuwerfen. Unterdessen sorgten die Mediendafür, daß das Gesamtbild dieses unvorstellbaren Vorgangs so gutwie unsichtbar und damit akzeptabel blieb.

Auf diese Weise konnten politische Führer, deren „gemä-ßigtes" Auftreten nicht einmal entfernt an Totalitarismus denkenließ, aus der sicheren Entfernung physischer und kultureller Di-stanz Menschen in einem Ausmaß töten und verstümmeln, das andie Taten der berüchtigten Ungeheuer unserer Zeit heranreicht. So

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unterwarf John F. Kennedy Vietnam einem Terrorbombardement;Gerald Ford und Henry Kissinger unterstützten den Völkermord inOsttimor; und George Bush verübte 1991 mit John Major imSchlepptau die Schlächterei am Golf und nannte sie einen„Kreuzzug für die Moral".

Indem er solche Wahrheiten benannte, hat Chomsky sich eineMenge Schwierigkeiten eingehandelt. Einer der Gründe für dieFeindseligkeit, die ihm entgegengebracht wird, liegt darin, daß erden Kern des freiheitlichen Selbstbildes Amerikas angreift undzwischen Liberalen und Konservativen nur unterscheidet, um ihreGemeinsamkeiten zu beleuchten. Tatsächlich stellten seine erstenbeiden Bücher, Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen (1967)und Amerika und die neuen Mandarine (1969), frontale Angriffeauf einen Großteil der amerikanischen Intellektuellen und Journa-listen dar, deren Liberalismus seiner Ansicht nach dazu diente, ihreRolle als „ideologische Manager" eines gesetzlosen, imperialenSystems, das rund um den Globus Tod und Zerstörung verursachte,zu maskieren.

Wie die Dissidenten in der früheren Sowjetunion kehrt er ineinem Großteil seines Werks immer wieder zu einem Thema vongrundlegender moralischer Bedeutung zurück: der Tatsache, daßdie Amerikaner, und in entsprechender Weise auch diejenigen vonuns, die innerhalb der Reichweite des amerikanischen Einflussesleben, „einem der herrschenden Macht dienenden ideologischenSystem" ausgesetzt sind, dem Gewissenserwägungen fremd sindund das von den Menschen „Apathie und Gehorsam" verlangt,„um jede ernsthafte Bedrohung der Herrschaft der Elite von vorn-herein zu verhindern".

Abweichende Meinungen werden durch den „Mechanismus derhistorischen Amnesie und des Tunnelblicks, wie sie in denintellektuellen Kreisen kultiviert werden", an den Rand gedrängt.Chomsky bezeichnet das Gros der amerikanischen Akademikerund Journalisten als eine „weltliche Priesterkaste", für die Ameri-kas „manifester Auftrag", sein „Recht", kleine Nationen anzugrei-fen und unter die Knute zu zwingen, allem Anschein nach etwasGottgegebenes sind.

Aus diesem Grund ist es ihm oft unmöglich gemacht worden,seine Ansichten zu veröffentlichen, besonders in den großen libe-ralen Zeitungen, denen er lästig ist und die er in Verlegenheitbringt, da seine Analyse der imperialen Macht eben jene intellek-tuelle Unabhängigkeit aufweist, die seine Kritiker und die liberalenJournalisten so gerne für sich in Anspruch nehmen. Was bei derErinnerung an die skandalösen Vorfälle um Watergate, die Iran-Contra-Affäre, das geheime Bombardement Kambodschas

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und die tief verwurzelte Korruption während der Reaganjahre oftvergessen wird, ist die Tatsache, daß so wenige Journalisten ver-suchten - oder die Gelegenheit erhielten -, sie zu enthüllen. Überden Zionismus, der immer noch eines der großen Tabus in Ameri-ka ist, schrieb Chomsky in The Culture of Terrorism, das Verhält-nis der amerikanischen liberalen Intellektuellen zu Israel sei ver-gleichbar mit dem Flirt ihrer Vorgänger mit der Sowjetunion inden dreißiger Jahren. Sie seien, so schrieb er, Trittbrettfahrer, fürdie eine „Schutzhaltung gegenüber dem Heiligen Staat und derVersuch, dessen unterdrückerische Haltung und Gewalttätigkeitherunterzuspielen und Entschuldigungen dafür zu finden", typischseien.

Was Chomskys Feinde in Rage bringt, ist die Tatsache, daß esfast unmöglich ist, ihn in eine Schublade einzuordnen. Er sprachsich gegen die Manipulationen beider Seiten im Kalten Krieg ausund vertrat die Auffassung, die Supermächte seien sich in Wirk-lichkeit in der Unterdrückung der Bestrebungen kleinerer Nationeneinig. Es ist typisch für diesen brillanten Außenseiter, daß er zueinem Zeitpunkt, als viele das Ende des Kalten Krieges feierten,vorsichtig blieb. Er beschrieb „die Beherrschung der eurasischenLandmasse durch eine einzige vereinigte Macht", nämlich Europa,als einen Alptraum für die amerikanischen Machthaber, und stelltefest, daß das, was wir heute sehen, „eine schrittweiseWiederherstellung der Handels- und Kolonialbeziehungen West-europas mit dem Osten darstellt". Weiter sagt er: „Der große, sichverschärfende Konflikt der heutigen Welt ist der zwischen Europaund den Vereinigten Staaten. So verhält es sich schon seit Jahren,und mittlerweile ist dieser Konflikt sehr ernst. Das US-Establish-ment will den Europäern klarmachen, wer der Herr ist."

Obwohl Chomsky sich als libertären Sozialisten bezeichnet, ister nicht Anhänger irgend einer Ideologie. Tatsächlich scheint sei-ne politische Haltung für jemanden, der sich seinen Namen alsTheoretiker - in der Sprachwissenschaft - gemacht hat, merkwür-dig untheoretisch. Er ist der Ansicht, daß Revolutionen Gewaltund Leid mit sich bringen, und er vertritt die Position, daß „nie-mand, der sich ein wenig mit Geschichte befaßt, überrascht seinwird, diejenigen, die am lautesten nach Destruktion und Zerstö-rung schreien, als Verwalter eines neuen Systems der Unterdrük-kung wiederzufinden". Sofern er überhaupt an etwas glaubt, ist es l„der gesunde Menschenverstand gewöhnlicher Menschen... seitüberhaupt irgendein politisches Bewußtsein hatte, war ichimmer auf der Seite der Verlierer". Der Essayist Brian Mortonschrieb kürzlich, daß „viele Amerikaner nicht mehr davon über-zeugt sind, daß unsere Regierung das Recht hat, jedes Land, das

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es will, zu zerstören - und das ist zum großen Teil Chomskys Ver-dienst". Der verstorbene Francis Hope schrieb über ihn: „Leute wieer sind gefährlich; ihr Fehlen ist eine Katastrophe."

Ich habe jahrelang mit Chomsky korrespondiert, ihn aber erst1989 persönlich getroffen. Ich ging damals zu einer Veranstaltungin einer überfüllten Halle in Battersea, um ihn sprechen zu hören,und zu meiner Überraschung fand ich keinen routinierten Rednervor, sondern einen freundlichen, bescheidenen Mann, der eine ge-winnende Atmosphäre der Anarchie um sich verbreitete. Mankonnte ihn kaum über die dritte Reihe hinaus verstehen, und erverwendete ein Gutteil seiner Mühe darauf, auf die weitschweifi-gen Unterbrechungen eines Zwischenrufers zu antworten. SeinEngagement für das Prinzip der Meinungsfreiheit, das Prinzip, daß„die Stimme eines jeden gehört werden muß", hat ihn oft inSchwierigkeiten gebracht; der Mann, der Brandreden gegen ihnhielt und dessen Recht, angehört zu werden, er dennoch vertei-digte, verfocht neofaschistische Ansichten. Chomsky machte denEindruck eines humanen und sehr moralischen Menschen aufmich, und ich mochte ihn.

Auf jeden Fall widerspricht seine Sanftmut dem Bild des Auf-rührers; sie erinnert mich an die Beschreibung, die Norman Mai-ler, der nach dem Marsch auf das Pentagon 1967 eine Gefängnis-zelle mit ihm teilte, in seinem Buch Heere in der Nacht von ihmgab: „ein schlanker Mann mit scharfgeschnittenen Zügen und as-ketischem Gesichtsausdnick, den eine Atmosphäre von Milde, abergleichzeitig von absoluter moralischer Integrität umgab". Davonabgesehen hat er viel Humor; sein Gebrauch von Farce und Ironie,der oft als Sarkasmus mißverstanden wird, ermöglicht es ihm, ausoffiziösen Verlautbarungen und Formulierungen deren wahrenGehalt herauszuschälen.

Als ich ihn traf, fragte ich ihn danach, besonders nach demGewicht gängiger politischer Bezeichnungen wie „Gemäßigter"und „Extremist".

Er sagte: „In gebildeten Kreisen werden sie sehr ernst genom-men. Kein Journalist, kein Intellektueller, kein Schriftsteller kanneinfach die Wahrheit über den Vietnamkrieg sagen, nämlich daßdie Vereinigten Staaten Südvietnam angriffen. So etwas zu sagen,ist nicht gemäßigt... In den dreißiger Jahren bezeichnete die ame-rikanische Regierung Hitler als einen Gemäßigten, der zwischenden Extremisten der Linken und der Rechten stand; daher mußtenwir ihn unterstützen. Auch Mussolini galt als Gemäßigter. Mitte der achtziger Jahre war Saddam Hussein ein Gemäßigter, der zur'Stabilität' beitrug. General Suharto von Indonesien wird häufigund immer wieder als Gemäßigter bezeichnet. Seit 1965, als er an

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die Macht kam, wobei er vielleicht 700.000 Menschen abschlach-tete, haben die New York Times und andere Zeitungen ihn als denFührer der indonesischen Gemäßigten ausgemacht."

Ich sagte: „Aber Sie werden oft als Extremist bezeichnet."„Sicher, ich bin ein Extremist, weil ein Gemäßigter jeder ist,

der die Macht des Westens unterstützt, und ein Extremist jeder, dersich gegen sie wendet. Nehmen wir zum Beispiel George Kerman,den amerikanischen Strategen des Kalten Kriegs nach demZweiten Weltkrieg. Er war einer der führenden Architekten derheutigen Welt und stand auf dem „linken" oder pazifistischenFlügel des Spektrums der US-Planer. Als er Vorsitzender des po-litischen Planungsstabs war, sagte er - in internen Dokumenten,natürlich nicht öffentlich - ganz explizit, wenn wir die Diskrepanzzwischen unserem enormen Reichtum und dem Elend aller anderenaufrechterhalten wollten, müßten wir verschwommene undidealistische Slogans über Menschenrechte, Demokratisierung unddie Hebung des Lebensstandards beiseite lassen und statt dessen inreinen Machtkonzepten denken. Aber es ist selten, daß jemand soehrlich ist."

Ich sagte: „Sie haben einige spektakuläre Auseinandersetzun-gen hinter sich. Arthur Schlesinger hat Sie angeklagt, die intel-lektuelle Tradition zu verraten,"

„Das stimmt, da bin ich mit ihm einer Meinung. Die intellek-tuelle Tradition ist eine Tradition der Dienstbarkeit gegenüber derMacht, und wenn ich sie nicht verraten würde, müßte ich michmeiner selbst schämen."

Ich erinnerte ihn daran, daß er Schlesinger und andere Liberalebeschuldigt hatte, eine „weltliche Priesterschaft" zu bilden, die dieUS-Regierung in einer Reihe übler außenpolitischer Aktivitätenunterstütze. Ob er diesen Punkt untermauern könne?

„Ja, durchaus, ich habe das dokumentiert. Den Begriff 'weltli-che Priesterschaft' habe ich in Wirklichkeit von Isaiah Berlin ent-liehen, der ihn auf die russische Kommissarsklasse anwendete; undnatürlich haben auch wir eine derartige Priesterschaft. 'Kom-missar' ist ein zutreffender und brauchbarer Ausdruck. In sämtli-chen Ländern dominieren die geachteten und respektablen Intel-lektuellen, die einer äußeren Macht dienen, das Bild. Wir mögenzwar die sowjetischen Dissidenten ehren, aber in der Sowjetunionwurden sie nicht geehrt, sondern in den Schmutz gezogen. DieLeute, die geachtet waren, waren die Kommissare, und dieserSachverhalt reicht weit in die Geschichte zurück. Den Erzählun-gen der Bibel zufolge waren es regelmäßig die falschen Prophe-ten, die Ehre und Anerkennung genossen. Diejenigen, die wirheute als die Propheten bezeichnen, wurden zu ihrer Zeit ins Ge-

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fängnis geworfen oder in die Wüste verjagt und was sonst noch.Wenn etwa ein britischer Intellektueller vulgäre Rechtfertigungenfür Greueltaten der US-Regierung verbreitet, unterscheidet sich dasin keiner Weise von den vulgären Rechtfertigungen irgendwelcheramerikanischer Intellektueller für Stalin."

Ich sagte: „Ihre Bücher werden in der amerikanischen Main-streampresse fast nie besprochen, und man bittet Sie dort nie umGastkommentare. Hat man Sie in den etablierten Kreisen zur Un-person erklärt?"

„Oh ja. Tatsächlich würde ich mich fragen, was ich falsch ma-che, wenn das nicht der Fall wäre... Nehmen Sie zum Beispiel Bo-ston, die Stadt, in der ich lebe. Der Boston Globe ist wahrschein-lich die liberalste Zeitung der Vereinigten Staaten. Ich habe vieleFreunde beim Globe. Sie dürfen nicht nur meine Bücher nicht be-sprechen, sie dürfen sie nicht einmal auf die Liste der Bücher derBostoner Autoren setzen! Tatsächlich hat der für Buchbespre-chungen zuständige Redakteur gesagt, keines meiner Bücher dürfebesprochen werden, und auch von den Büchern des BostonerVerlagskollektivs South End Press werde keines je besprochenwerden, solange dort Bücher von mir herauskommen."

Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß seine Angriffe haupt-sächlich auf die Vereinigten Staaten abzielten, und daß er oft vonder „schlechten Seite" Amerikas spreche. Und doch behaupte er,Amerika sei wahrscheinlich die freieste Gesellschaft der Ge-schichte. Ob darin nicht ein grundlegender Widerspruch liege?

„Nein. Die Vereinigten Staaten sind in der Tat die freieste Ge-sellschaft der Welt. Der Grad der Freiheit und des Schutzes derRedefreiheit hat nirgendwo sonst eine Parallele. Das war kein Ge-schenk; es verhält sich ja nicht deshalb so, weil es in der Verfas-sung steht. Bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts warendie Vereinigten Staaten sehr repressiv, wahrscheinlich noch re-pressiver als England. Der große Durchbrach kam 1964, als dasGesetz über aufrührerische Verleumdung für nichtig erklärt wurde.Dieses Gesetz erklärte grundsätzliche Kritik an der Staatsgewaltzum Verbrechen. Es wurde damals im Verlauf der Bürger-rechtskämpfe für verfassungswidrig erklärt. Nur der Kampf derMenschen selbst schützt die Freiheit."

„Aber wenn Amerika die freieste Gesellschaft der Welt ist, woist denn dann die systematische Unterdrückung, die Sie so oft an-greifen?"

„Im neunzehnten Jahrhundert war Großbritannien eines derfreiesten Länder der Welt und hatte dennoch eine schauerliche Bi-lanz von Greueltaten, Es gibt ganz einfach keine Korrelation zwi-schen der Freiheit im Inneren eines Landes und der Gewalt, die es

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nach außen anwendet. In den Vereinigten Staaten wird die Sachedadurch noch komplexer, daß sie wahrscheinlich das ausgefeilte--ste System doktrinären Managements der Welt besitzen. Wir müs-sen uns klar machen, daß der grundlegende Gedanke, der sichdurch die gesamte moderne Geschichte und den modernen Libe-ralismus zieht, besagt, daß die Bevölkerung marginalisiert werdenmuß.

In diesem System betrachtet man die Bevölkerung als Ganzelediglich als Ansammlung unwissender und lästiger Außenseiter,eine verwirrte Schafherde. Und es sind die verantwortlichen Män-ner, die die Entscheidungen treffen und die Gesellschaft vor demStampfen und der Wut der verwirrten Herde beschützen müssen.Da wir aber in Demokratien leben, erlaubt man den Leuten - derverwirrten Herde - gelegentlich, ihr Gewicht zugunsten des einenoder anderen Mitglieds der verantwortlichen Klasse in die Waag-schale zu werfen. Das nennt man dann Wahlen.

Ich erwähnte den Vorfall in der Town Hall von Battersea, beidem er das Recht des Neofaschisten, ihn mit Zwischenrufen zustören, verteidigte. „Gilt dieses Recht Ihrer Ansicht nach für je-den?" fragte ich.

„Ja. Wenn wir nicht an das Recht auf freie Meinungsäußerungfür Menschen glauben, die wir nicht leiden können, glauben wirüberhaupt nicht daran."

„Aber hat ein Rassist, der in Anwesenheit einer anderen ethni-schen Gemeinschaft spricht und eine provozierende, gewalttätigeSprache verwendet, dasselbe Recht?"

„Natürlich. Nehmen wir einen Fall, den es wirklich gegebenhat. In Illinois gibt es eine Stadt mit einem großen jüdischen Be-völkerungsanteil, in der viele Überlebende des Holocaust wohnen.Eine Gruppe von Nazis forderte das Recht, dort zu demonstrieren -das war sehr provokativ. Die amerikanische BürgerrechtsunionACLU verteidigte ihr Recht dazu, und ich habe sie darin unter-stützt."

Ich fragte ihn, ob er das Recht auf „freie Rede" für jene unter-stützen würde, die den Tod Salman Rushdies fordern.

„Unter gewissen Vorbehalten, ja... aber da muß man fragen, obes dabei um unmittelbare Anstiftung zu gewalttätigen Hand-lungen geht. Hier gibt es keinen klaren Lackmustest, aus dem ein-deutig hervorginge, wo die Grenze ist. Was Rushdie betrifft, binauch ich der Meinung, daß wir da hart an diese Grenze heran-kommen. Ich meine, wenn wir an den Punkt kommen, wo jemanddas Kommando zum Schießen gibt, und Rushdie befindet sich inunmittelbarer Nähe, dann fällt das nicht unter das Prinzip der frei-en Meinungsäußerung. Wenn es sich nur um jemanden handelt, der

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eine Rede hält, in der er sagt, 'Ich finde, er sollte getötet werden',denke ich nicht, daß man ihn daran hindern sollte. Wo genau manhier die Scheidelinie ziehen soll, ist nicht leicht zu sagen, aber ichbin der Ansicht, daß das Recht auf freie Meinungsäußerung vonäußerst großer Bedeutung ist."

Es ist offensichtlich, daß Chomsky für seine abweichende Hal-tung einen hohen Preis bezahlt. „Es macht mich wütend," sagte er.,,Ich werde zornig. Ich bin ein ziemlich sanfter Typ. Ich randalierenicht herum, aber innerlich koche ich die ganze Zeit... Viele vonmeinen Freunden können einfach nicht mehr, und ich kann sieverstehen. Es ist sehr kräftezehrend und sehr frustrierend."

Ich fragte ihn, was ihn dazu bringt, weiterzumachen. „Ich den-ke, man sollte die Belohnungen nicht unterschätzen. Die Verei-nigten Staaten sind heute ein ganz anderes Land als vor dreißigJahren. Sie sind ein viel zivilisierteres Land geworden, jedenfallsaußerhalb der gebildeten Kreise... Wir müssen heute das Bewußt-sein des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts wiederbeleben,daß die autokratische Kontrolle über das Wirtschaftssystemunerträglich ist. Heute findet in der ganzen Welt ein großangeleg-ter Angriff auf die Demokratie statt, und es wird eine Art Weltre-gierung etabliert, zu deren Institutionen der Internationale Wäh-rungsfonds und die Weltbank und die Welthandelsorganisationgehören. Das müssen wir verstehen... Und wir müssen dagegenkämpfen."

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I. Sprache und menschliche Natur

1. Aspekte einer Theorie des Geistes*

Matthew Rispoli: Könnten Sie Ihre Ideen hinsichtlich der psy-chologischen Basis der menschlichen Sprache skizzieren unddarlegen, wie sich diese Ideen seit Ihrem Buch Aspekte der Syn-taxtheorie (1965) zu der Theorie in ihrer heutigen Form entwik-ke11 haben?

Noam Chomsky: Wenn man die Sache auf einer sehr allgemeinenEbene betrachtet, hat sich die Theorie gar nicht so sehr verändert.Es gab aber eine Menge von Modifikationen theorieinterner Natur,die ich für ziemlich wichtig halte, und gerade in den letzten dreioder vier Jahren haben sich einige Perspektiven und Standpunktein durchaus markanter Weise verändert. Sie lassen dasUnternehmen zwar von außen her nicht wesentlich anderserscheinen, aber im Rahmen der Theorie selbst haben wir heuteeine andere Sicht der Dinge als vorher.

Anfang der sechziger Jahre sah die allgemeine Vorstellung dermeisten Leute, die sich mit diesem Gebiet beschäftigten, etwafolgendermaßen aus: Eine Grammatik besteht aus einem Systemvon Regeln, und die genetische Ausstattung des Menschen liefertuns einen Mechanismus, eine Art Notationssystem, das die For-mulierung von Grammatiken ermöglicht. Dabei handelte es sichum eine generelle Festlegung, ein „Format" möglicher Regeln, undim Rahmen dieses Formats konnte es dann die ein oder andere Artvon Regeln geben, diese Regeln konnten wiederum aufverschiedene Art in Wechselbeziehung zueinander stehen undähnliches mehr. Die Frage war dann: „Gut, wie wählt ein Kind, dasdie Sprache lernt, eine der vom Format erlaubten Grammatikenaus?" Und da war der Gedanke der, daß es eine Art von Be-wertungsmaßstab gibt. Bei Vorliegen einer bestimmten Art vonDaten gibt es unter den Grammatiken, die sowohl dem Formatentsprechen als auch mit den Daten in Übereinstimmung stehen,

* Das folgende Interview mit Noam Chomsky wurde Ende 1984 von Richard Beckwithund Matthew Rispoli für die Zeitschrift New Ideas in Psychology gefuhrt, in der es 1986(Vol. 4:2) erschien. Zusammen mit vielen anderen Interviews zu ähnlichen Themen istes ferner abgedruckt in Chomskys von Carlos Otero zusammengestelltem undherausgegebenem Sammelband Language and Politics, S. 450 - 469. Die vorliegendeFassung enthält einige nicht gesondert gekennzeichnete Ergänzungen, die dem Leserohne sprachwissenschaftliche Vorbildung das Verständnis erleichtem sollen.

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eine, die am höchsten bewertet wird, und das ist diejenige, dieman auswählt, das ist die, die man lernt. Demnach handelt essich gewissermaßen um Hypothesen, von denen jede eine Gram-matik ist, und der Sprachlernprozeß besteht darin, daß das Kind,sobald einmal bestimmte Daten gegeben sind, die am höchstenbewertete Hypothese auswählt. Das war grob gesagt das Bild.

Damit gab es eine Menge Schwierigkeiten und Probleme.Zum Beispiel war es sehr schwierig, all diese Metaphern in ir-gend etwas umzuformulieren, was nach einem realistischen Al-gorithmus für den Spracherwerb aussah. Ich meine, es konntenicht sein, daß der Sprachlerner erst einmal sämtliche der er-laubten Hypothesen absucht. Es war alles andere als einfach, einsolches System so zu gestalten, daß es empirisch tragfähige Re-sultate lieferte. Das allgemeine Problem spiegelte sich in densprachwissenschaftlichen Einzelstudien wieder. Es zeigte sich,daß die Beschreibung der untersuchten Phänomene sehr reicheund komplexe Regelsysteme erforderte.

Hier lag tatsächlich die erste Aufgabe für die generativeGrammatik. Gleich zu Beginn unserer Arbeit sahen wir uns beidem Versuch, eine präzise Beschreibung der Phänomene derSprache zu geben, sofort einer riesigen Skala mysteriöser Phä-nomene gegenüber, die zwar teilweise in gewisser Hinsicht sehrsimpel waren, von denen aber die meisten bisher einfach unbe-merkt geblieben waren. Das Problem war, Regelsysteme auszuar-beiten, die diese Probleme wenigstens deskriptiv erfassen konn-ten. Das führte allerdings zur Entwicklung sehr reicher undkomplexer Regelsysteme, wodurch sich die Frage, wie man siejemals erlernen konnte, natürlich noch schärfer stellte. Wie kannein Mensch jemals diese verrückten Regelsysteme entwickeln,wenn doch die Datenmenge, die für diese Aufgabe zur Verfügungsteht, so klein ist?

Man muß sich erinnern, daß ungefähr zur selben Zeit ein sehrscharfer Wandel in der allgemeinen Einstellung der Wissenschaftzu Fragen wie diesen stattfand. Noch zu Anfang der fünfzigerJahre zum Beispiel ging man generell davon aus, dem Sprachlernerstünden zum Erlernen der Sprache Daten im Überfluß zurVerfügung, und das Problem, das die Psychologen formulierten,lautete: „Wie kommt es zu diesem Phänomen der Überdetermi-nierung?" Sobald man sich aber die Tatsachen wirklich genauansieht, wird sofort klar, daß das Problem genau entgegenge-setzter Natur ist; es besteht in dem, was damals „Armut des Sti-mulus" genannt wurde. Für die meisten Dinge, die die Menschenwissen, stehen ihnen gar keine Erfahrungsdaten zur Verfügung.Die Auffassung, daß Menschen durch Einübung zum Wissen

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gelangen, oder daß es sich beim Erwerb von Wissenssystemen um„überdeterminiertes Lernen" (oder auch nur „Lernen" in ir-gendeinem brauchbaren Sinn dieses Begriffs) handelt, basierte aufdem Versäumnis, auch nur den einfachsten PhänomenenAufmerksamkeit zu schenken. Sobald man das Wissen, über daseine Person verfugt, wirklich aufmerksam betrachtet, liegt auf derHand, daß einem Kind, das solches Wissen erwirbt, keine relevanteErfahrung, oder zumindest nicht das für dieses Wissen relevanteMinimum an Erfahrung zur Verfügung steht. Da wir unsereForschungsresultate also ausschließlich in Kategorien komplexerRegelsysteme ausdrücken konnten, aber zugleich der Tatsachegegenüberstanden, daß die zur Konstruktion solcher Systemeverfügbare Erfahrung sehr begrenzt ist, sahen wir uns mit einemechten Rätsel konfrontiert, nämlich: Wie ist es möglich, auf derGrundlage begrenzter Erfahrung ein hochkomplexes Regelsystemzu konstruieren?

Fortschritte in der Psychologie der Sprache

Seit Anfang der sechziger Jahre setzten sich dann verschiedeneLeute mit diesem Problem auseinander, indem sie sich das Zielsteckten, die allgemeinen Prinzipien herauszufiltern, die für Re-gelsysteme der skizzierten Art gelten - Prinzipien, die die zulässigeSorte von Regeln stark beschränken. Sie versuchten zu zeigen, daßdie ungeheure Komplexität der Regelsysteme in Wirklichkeitnichts weiter als die Realisierung einer kleinen Anzahl vonOptionen ist, die von sehr viel allgemeineren Bedingungen fürRegelsysteme gestattet werden. Diese Arbeit ist nun seit zwanzigJahren weitergeführt worden, was zu den verschiedensten Erfolgenund Fehlschlägen geführt hat, aber vor einigen Jahren kristallisiertesich aus dieser Forschung eine weitgehend einheitliche Perspektiveheraus, die ein neues Bild der ganzen Sache lieferte. Dieses Bildwird jetzt manchmal als eine „Theorie der Prinzipien undParameter" bezeichnet.

Das, was verschiedentlich Universalgrammatik genannt wurde,nämlich die Theorie des kognitiven Ursprungszustands, desgenetisch determinierten Systems des Sprachlerners, wäre ausmeiner heutigen Sicht kein Format für Regelsysteme plus einerMethode der Hypothesenbewertung, um aus den Regelsystemendas richtige auszuwählen; gerade an diesem Punkt hat sich eini-

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ges geändert. Wenn wir das mit Hilfe einer Metapher beschreibenwollen, wäre das eine Art System mit einer verwickelten undkomplexen Verdrahtung, von der aber einige Teile noch nicht festmiteinander verbunden sind. Für diesen Teil gäbe es einen Kastenmit Schaltern, die sich in einer von mehreren (vielleicht nur zwei)Schaltpositionen befinden können. Sobald die Schalter auf ihrejeweilige Position eingestellt sind, sind die fehlendenVerbindungen hergestellt, und dann ist das System voll funkti-onsfähig. Nun, die Schalter sind das, was „Parameter" genanntwird. Sie müssen aufgrund sprachlicher Erfahrung eingestelltwerden - die Erfahrung muß einem sagen, wie jeder dieser Schaltereingestellt werden muß. Sobald man sie auf eine der zulässigenArten eingestellt hat, hat man eine bestimmte Sprache erworben.Wenn ein solches System eine genügend große innere Komplexitätaufweist, kann die Veränderung nur einer einzigenSchaltereinstellung sehr heftige, unvorhersehbare und komplexeAuswirkungen auf das Gesamtresultat haben. So kommt es danndazu, daß sich Sprachen, die sich - wie zum Beispiel das Franzö-sische von den anderen romanischen Sprachen - erst relativ spätvoneinander getrennt haben, dennoch in einer ganzen Reihe be-stimmter Eigenschaften voneinander unterscheiden. Das liegtmöglicherweise nur daran, daß ein einziger Schalter irgendwannwährend des Prozesses umgeschaltet wurde, was dann eine ganzkomplexe Skala von Konsequenzen mit sich brachte.

Nehmen wir einmal das Französische und das Italienische. Siesind geschichtlich eng verbunden, weisen aber recht starkestrukturelle Unterschiede voneinander auf. So kann man zumBeispiel im Standarditalienischen das Subjekt eines Satzes weg-lassen, man kann sagen, „ging" statt „er ging", und es bedeutet „erging"; im Französischen geht das nicht. Und im Italienischen oderSpanischen kann man eine Reihenfolge wie „kam an Jean"verwenden. Im Französischen ist das nicht möglich - die richtigeReihenfolge lautet „Jean kam an". Es gibt eine Reihe derartigerEigenschaften, in denen das Französische sich vom Italienischenunterscheidet, und dementsprechend hat mein Kollege hier amMIT Luigi Rizzi die These aufgestellt, daß dieser Unterschiedhinsichtlich einer bestimmten Gruppe von Eigenschaften aus einereinzigen Schaltereinstellung folgt, die an einem der Parametervorgenommen wird. Diesen Parameter nennt er den „Null-Subjekt-Parameter". Bei diesem Parameter geht es um die Frage, ob dasSubjekt eines Satzes vom Sprecher der Sprache ausgespro-chen werden muß oder nicht. Die Theorie ist so aufgebaut, daß

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man bei Einstellung des Parameters auf die eine Art eine ganzbestimmte Serie von Konsequenzen erhält, während man eineandere Serie von Konsequenzen bekommt, wenn man ihn auf eineandere Art einstellt. Aus der Einstellung des Null-Subjekt-Parameters folgt ein beträchtlicher Teil genau der Eigenschaften,durch die sich das Französische vom Italienischen unterscheidet; indieser Hinsicht stehen nicht nur das Französische, sondern auchdas Englische und weitere Sprachen auf der einen und dienichtfranzösischen romanischen Sprachen auf der anderen Seite.

Es gibt weitere Parameter dieser Art. Betrachten wir zum Bei-spiel Reflexivpronomen im Englischen, wie etwa „himself“. Einsolches Reflexiv kann sich im Englischen entweder auf das Sub-jekt oder auf das Objekt des Satzes beziehen. So kann ich sagen,„John told Bill about himself“. „Himself“ kann sich hier entwederauf „John" - das Subjekt von „told" - beziehen, oder auf Bill, dasObjekt von „told". In einigen anderen Sprachen kann sich dasentsprechende Element nur auf das Subjekt beziehen. Das ist alsoein anderer parametrischer Unterschied, und auch dieser hat dannwieder eine Reihe von Konsequenzen.

Gleichzeitig war klar, daß eine sehr kleine Menge sprachlicherDaten ausreichen mußte, um die Einstellung der Parameterfestzulegen, weil Kindern eben nur eine begrenzte Datenmengezur Verfügung steht. Sobald die Parameter festgelegt sind, funk-tioniert auch der ganze Rest des Systems. So scheint es bei-spielsweise so zu sein, daß die Art, wie sprachliche Ausdrückeaufgebaut und zusammengesetzt werden, auf einer abstraktenEbene für alle Sprachen weitgehend gleich ist; sie haben annä-hernd dasselbe System der Phrasenstruktur. Aber einer derPunkte, wo sich verschiedene Sprachen unterscheiden, bestehtdarin, daß in der einen Sprache das Verb dem Objekt folgt, wäh-rend es ihm in der anderen Sprache vorausgeht. Wenn das Verbdem Objekt vorausgeht, ist es sehr wahrscheinlich, daß auch dasAdjektiv seiner Ergänzung vorausgeht. Dasselbe gilt für das No-men und die anderen Wortkategorien, die eine Ergänzung for-dern: die Sprache hat dann die Eigenschaft dessen, was man„Kopf-zuerst" nennt - nämlich daß das Verb, die Präposition, dasAdjektiv und das Nomen den Ergänzungen, die mit ihnen jeweilsverbunden sind, vorausgehen. So sagen wir im Englischen „read -the book", „in - the room", „happy - that John is here", „the fact -that John is here". Andererseits gibt es Sprachen, bei denen derWert des Parameters „Kopf-zuletzt" ist und in denen das Verb,das Adjektiv, die Präposition (die in diesem Fall eine Postpositi-

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on ist) und das Nomen den Ergänzungen, die mit ihnen verbundensind, folgen. Das Englische ist eine typische „Kopf-zuerst"-Sprache; die typische Eigenschaft des Japanischen dagegen ist„Kopf-zuletzt". Sobald der Parameter „Kopf-zuerst/Kopf-zuletzt"einmal auf seinen sprachspezifischen Wert festlegt ist, ergebensich daraus zahlreiche Konsequenzen. Sowie diese und einigeandere Optionen fixiert sind, sind die Regeln für den grundle-genden grammatischen Aufbau der Sprache, die Phrasenstruktur-regeln, im wesentlichen gegeben; sie müssen nicht eigens gelerntwerden und stellen keinen von irgendwelcher Erfahrung abhän-gigen Teil unseres Wissens dar. Tatsächlich können wir den Be-griff der Phrasenstrukturregel sogar fallenlassen.

Neben den Prinzipien des Phrasenaufbaus gibt es noch anderesehr allgemeine Prinzipien ähnlicher Art (von denen einige zuabstrakt und verwickelt sind, um sie hier zu beschreiben), Prinzi-pien, die mit Parametern verbunden sind - Schaltern, um das ebenverwendete Bild wiederaufzunehmen, die auf der Grundlage sehreinfacher Daten eingestellt werden können. Um zum Beispiel zulernen, ob die eigene Sprache den Parameterwert „Kopf-zuerst"oder „Kopf-zuletzt" und damit entweder die Eigenschaften desEnglischen oder die des Japanischen hat, reicht es vollkommenaus, Drei-Wort-Sätze wie „John saw Bill" oder „John Bill saw" zuhören. Wenn man hört „John saw Bill" („John sah Bill"), hat manes mit einer „Kopf-zuerst"-Sprache zu tun. Wenn man hört „JohnBill saw" („John Bill sah"), weiß man, daß es sich um eine „Kopf-zuletzt"-Sprache handelt. Einfache Daten dieser Art genügen, undsolche Daten stehen Kindern natürlich zur Verfügung. Sie reichenaus, um den Wert der Parameter festzulegen, und dann ergebensich die entsprechenden Konsequenzen daraus. Es funktioniertnicht immer ganz so einfach, aber das ist der grandlegendeGedanke.

Daraus ergibt sich eine andere Auffassung über das Lernenvon Sprache. In dieser Konzeption dreht es sich beim Spracher-werb nicht darum, aus einer unendlichen Menge sehr verwickel-ter Hypothesen eine Hypothese auszuwählen. Sondern es gehtdarum, innerhalb eines von vornherein sehr stark beschränktenSystems, bei dem die Komplexität der Regeln ausgesondert undin die von Anfang an vorhandene Verdrahtung verlegt wordenist, die für eine „vollständige Verdrahtung" noch fehlenden Pa-rameterwerte festzulegen. Das müßte in etwa die richtige Sichtsein. Ich meine, ein System dieser Art ist intuitiv einleuchtend;es hat die richtige Art von qualitativen Eigenschaften. Mit seiner

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Hilfe ließe sich erklären, wie man auf der Grundlage so geringenDatenmaterials so viel sprachliches Wissen haben kann, undweshalb die menschlichen Sprachen eine so reichhaltige Strukturhaben, während sie ja andererseits keinesfalls ein Regelsystemhaben können, das so komplex und umfangreich ist, daß man esgar nicht lernen kann. In einigen Bereichen hat diese Herange-hensweise zu ziemlich interessanten Ergebnissen geführt.

Gleichzeitig hat sich die Bandbreite der empirischen Arbeitenorm erweitert. Das ist natürlich sehr hilfreich gewesen. So fandzum Beispiel vor zwanzig Jahren die wichtigste theoretische Arbeitgrößtenteils im Bereich der Erforschung des Englischen statt. Mankann eine Sprache nicht wirklich erforschen, wenn man sie nichtzumindest annähernd wie seine Muttersprache beherrscht, genauwie man ja auch nicht Chemie betreiben kann, wenn man dieDaten nicht versteht. Man kann keine Arbeit auf einem Gebietleisten, in dem man die Daten nicht beherrscht, und auf diesemGebiet die Daten zu beherrschen, heißt, annähernd einMuttersprachler zu sein. Selbst der phantastischste Linguist wirdnur mit oberflächlichen Informationen arbeiten, wenn er die be-treffende Sprache nicht beinahe so perfekt spricht wie seine eigene.Die Situation änderte sich dann grundlegend, als Muttersprachlerund andere mit annähernd mratersprachlicher Kenntnis anfingen,an anderen Sprachen zu arbeiten. Das geschah zuerst umfassendbei den romanischen Sprachen. Es gibt jetzt eine hervorragendeSchule von Linguisten, die damals, in den sechziger und siebzigerJahren noch sehr jung waren. Viele von ihnen waren Studentenvon Richard Kayne, der hier am MIT seinen Doktor machte, späternach Frankreich ging und dort eine Reihe weiterer Wissenschaftlerausbildete. All diese Leute machten sich an eine umfangreicheErforschung der romanischen Sprachen.

Aus dieser Arbeit ging eine Reihe neuer Erkenntnisse hervor.Dasselbe geschah im Bereich des Holländischen, der skandinavi-schen Sprachen, des Japanischen, seit kurzem auch des Chinesi-schen und einer Anzahl indianischer, australischer und weitererSprachen. Als Resultat ist die Bandbreite der relevanten Datensehr stark gewachsen. Damit meine ich nicht einfach deskriptiveDaten, sondern solche, die für unsere Forschung wichtig sind,solche, die wirklich Folgen dafür haben, wie die Universalgram-matik formuliert und verstanden werden muß. Dadurch könnenwir an einer Menge neuer Probleme arbeiten. Wir haben alsojetzt ein Ineinandergreifen theoretischer Ideen und einer Erweite-rung der empirischen Basis, das zu einer neuen, sehr aufregen-

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den Phase geführt hat. Ich sollte noch erwähnen, daß zur Zeit eineganze Anzahl verschiedener Theorien ausprobiert wird, von denenalle sich im großen und ganzen in dem Bereich bewegen, den ichgerade umrissen habe.

Matthew Rispoli: Und dementsprechend auch auf dem Modell der„Prinzipien und Parameter" beruhen.

Noam Chomsky: Ja. Diese Theorien mögen es zwar anders for-mulieren, aber sie haben diesen Charakter. Ich würde sagen, daßsie einander wahrscheinlich ähnlicher sind, als es zunächst aus-sieht. Wenn wir die richtige Ebene der Abstraktion finden, wirdsich wahrscheinlich herausstellen, daß mehrere Zugänge, die jetztaktiv verfolgt werden, mehr oder weniger dasselbe sagen undlediglich verschiedene Notationen dafür verwenden. Im Au-genblick erwecken sie noch den Anschein, als stünden sie inscharfem Widerspruch zueinander.

Richard Beckwith: Sind diese „Prinzipien" Prinzipien desOrganismus selbst?

Noam Chomsky: Ich gehe davon aus, daß diese Prinzipien ge-nauso ein Teil unserer genetischen Ausstattung sind wie diePrinzipien, die bestimmen, daß uns Arme und Beine wachsen undnicht Flügel, oder daß wir ein menschliches Auge haben undkein Insektenauge. In der Arbeit von David Marrs findet sich ei-ne Analogie, die vielleicht hierher gehört. Laut Marrs Theoriedes Sehens repräsentiert das visuelle System den visuellen Inputauf einer bestimmten Ebene mehr oder weniger in Form zylindri-scher Figuren. Falls das stimmt, liegt hier ebenfalls ein Prinzip derkognitiven Repräsentation von durch die Außenwelt gegebe-nen Daten vor, das zweifellos Bestandteil unserer genetischenAusstattung ist. Bei anderen Organismen werden wir höchst-wahrscheinlich nicht diese Form der Repräsentation finden; einInsektenauge zum Beispiel wird vermutlich anders funktionieren.Um ein weiteres Beispiel zu nehmen: Einer von Marrs Kolle-gen, Shimon Ullman, hat auf überzeugende Weise gezeigt, daßdas visuelle System des Menschen auf einer Art „Rigiditätsan-nahme" basiert. Das heißt, die zweidimensionalen Erscheinun-gen, die auf die Netzhaut geworfen werden, werden interpretiert,als seien sie die Bewegungen eines Gegenstandes, dessen Form„rigide" ist, d. h. unverändert bleibt, auch wenn die Bilder auf

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der Netzhaut sich aufgrund der Bewegung verändern. Metapho-risch gesprochen ist das so, als ob der menschliche Geist sichsagte: „Ich werde versuchen, herauszufinden, was für ein form-gleich bleibender Gegenstand Anlaß für diese seltsame Folge vonzweidimensionalen Bildern gewesen sein könnte", und deshalbsehen wir das, was vor uns ist, als dreidimensionale Gegenständein Bewegung, deren Form wir als gleichbleibend interpretieren,obwohl sich das aus den Bildern auf der Netzhaut nicht ablesenläßt. Vermutlich legt die von vornherein vorhandene Struktur desvisuellen Systems die Art von Dingen, die wir sehen können unddie Weise, in der wir sie sehen, fest. Die Prinzipien der Univer-salgrammatik sind ganz ähnlicher Art.

In letzter Zeit hat Elizabeth Spelke auf einem anderen Gebietsehr interessante Arbeit geleistet, nämlich über die Art, wie KinderGegenstände identifizieren, und darüber, welche Eigenschaften fürsie hervorstechend sind. Sie stellt fest, daß Kinder Konturen undden „gemeinsamen Lebenslauf“ der Teile als wesentlicheEigenschaften von Gegenständen beurteilen, aber Dinge wie zumBeispiel dieselbe Farbe nicht. Auch das ist wieder Bestandteil derursprünglichen Anlagen; es ist einfach die Art, auf die das KindErfahrung verarbeitet bzw. Erfahrung organisiert. Und ich gehedavon aus, daß es sich mit den Prinzipien der Sprache ebensoverhält.

Angeborene Ideen, Universalgrammatik und Kerngrammatik

Matthew Rispoli: In letzter Zeit scheint man etwas von der viel-leicht irrigen Vorstellung abgekommen zu sein, nach der dieUniversalgrammatik auf so etwas wie angeborenen Ideen basiert,und es wird statt dessen von angeborenen Neuronensystemen ge-sprochen, die später dann an unterschiedlichen Stellen verstärktwerden. Wie 'würden Sie heute die Universalgrammatik charakte-risieren? Ist sie die Menge aller Prinzipien, deren Parameter nochnicht festgelegt sind?

Noam Chomsky: Um mit dem zweiten Teil Ihrer Frage zu be-ginnen: In meiner Sicht besteht die Universalgrammatik aus demskizzierten System von Prinzipien, den damit verbundenen Pa-rametern und den zwischen den verschiedenen Parametereinstel-mngen bestehenden Zusammenhängen. Aber was den ersten TeilIhrer Frage betrifft, glaube ich nicht, daß es die Art von Verände-rung gegeben hat, die Sie beschreiben. Da liegen einfach viele

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Mißverständnisse vor. Die Verbindungslinie zu den traditionellenTheorien über die angeborenen Ideen wurde Mitte der sechzigerJahre entwickelt und ist meines Erachtens von beträchtlichemhistorischem Interesse. Ich bin der Ansicht, daß die gegenwärtigenTheorien der kognitiven Entwicklung in vieler Hinsicht einenaheliegende Wiederbelebung der Tradition darstellen, die von„angeborenen Ideen" sprach und in sehr reicher Weise im 17. und18, Jahrhundert entwickelt und dann großenteils fallengelassenwurde. Natürlich gibt es da große Unterschiede. Wir machen unsheute nicht mehr die cartesianische Metaphysik von Geist undKörper zu eigen. Ferner muß man auch daran denken, daß dieCartesianer unter „Idee" etwas ganz anderes verstanden als wirheute. Für die Cartesianer beinhaltete der Begriff der IdeeWahrnehmungen und Aussagen und semantische Repräsentationenjeder Art. „Idee" war ein Ausdruck, mit dem in Wirklichkeit„theoretisches Konstrukt der Theorie des Geistes" gemeint war.Und die dem Geist zugeschriebenen Gebilde waren dann auf ir-gendeine Weise in der Natur des Organismus verankert. Aber soetwas wie „menschlichen Geist" gab es für die Cartesianer garnicht; es gab einfach nur Geist. Es gab Geist und Materie. Men-schen waren im Besitz von Geist und alles andere war einfach nurKörper. Heute sehen wir das natürlich anders. Wir studieren diegeistigen Funktionen von Tieren und gehen dabei davon aus, daßsie sich von denen des Menschen unterscheiden.

Es gibt da also viele Unterschiede, aber es gibt auch interes-sante Ähnlichkeiten. Man betrachte zum Beispiel die Theorien des17. Jahrhunderts über das, was man damals die „erkenntnis-bildende Fähigkeit" nannte, die Fähigkeit, Gedanken, Bilder undBegriffe hervorzubringen. Das waren sehr reichhaltige Theorien,die sich auf alle möglichen Vorstellungen über Gestalteigen-schaften und auf Begriffe vom Kantschen Typ stützten, und zwarschon lange vor Kant. Diese Tradition war wirklich sehr vielfältigund komplex. Aber natürlich kann keine Rede davon sein, siewiederauferstehen zu lassen - die metaphysischen und sonstigenAnnahmen, auf denen sie basierte, waren ganz andere als heute.

Ich sollte vielleicht auch erwähnen, daß die Wiederentdek-kung dieser Tradition gewissermaßen nachträglich stattfand. Eswar nicht so, daß diese Traditionen die gegenwärtige Arbeit in-spirierten, sondern eher anders herum: die gegenwärtige Arbeitführte zu einem erneuten Interesse an einigen früheren Vorläu-fern, die ähnliche Ideen entwickelt hatten. Dies geschieht derzeitauch im Hinblick auf den Begriff der Modularität. So hat zum

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Beispiel Franz Josef Gall kürzlich eine Renaissance erlebt. Einganzes Jahrhundert lang war er eine der meistgeschmähten Ge-stalten der Psychologie, aber jetzt ist er auf einmal der neue Held.Man hat sich noch einmal mit seinem Werk beschäftigt und kamdabei darauf, daß all das nicht so dumm war, wie es später hinge-stellt wurde. Tatsächlich waren seine Theorien klug gedacht undwahrscheinlich durchaus auf dem richtigen Weg. Auch wenn dieeinzelnen Fähigkeiten, die er identifizierte, nicht die von ihm be-hauptete Beziehung zu Unebenheiten des Schädels haben, gelanges ihm anscheinend doch, die verschiedenen Sorten von Fähig-keiten, die jeweils ein Modul bilden, richtig auszumachen. UnsereVorgänger sind eben oft doch nicht die Dummköpfe gewesen, dieman später aus ihnen hat machen wollen.

Matthew Rispoli: In der gegenwärtigen neurolinguistischen For-schung gibt es tatsächlich einiges, das die neueren Hypothesenüber die Lokalisierung menschlicher Fähigkeiten an bestimmtenStellen des Gehirns unterstützt. Gehen Sie davon aus, daß Datenaus der Neurolinguistik und über aphasische Syndrome für IhreArbeit von Bedeutung sind? Erwarten Sie, daß man aphasischeSyndrome finden -wird, in denen sich linguistische Prinzipien -wi-derspiegeln?

Noam Chomsky: Es wäre schön, wenn das der Fall wäre. Viel-leicht wird man das eines Tages demonstrieren können. Die bisjetzt vorliegenden Daten sind Resultate von „Experimenten derNatur", und aus ethischen Gründen kann es auch gar nicht an-ders sein. Sie sind vermutlich zu ungenau, um präzise Antwortenzu liefern, aber ich denke schon, daß Ihre Überlegung in dierichtige Richtung geht. Wir hätten dann physisch realisierteNetzwerke der ein oder anderen Art, die den jeweiligen Aspektenoder einzelnen Eigenschaften der Struktur der kognitiven Sy-steme des Menschen entsprechen. Es könnte sein, daß Verlet-zungen sie in differenzierter Weise in Mitleidenschaft ziehen. Esgibt positive Resultate, die darauf hinweisen, allerdings ist dasMuster noch sehr grob. So gibt es zum Beispiel klinische Fällevon Kindern, die anscheinend insofern volle Sprachkompetenzbesitzen, als sie Sätze in derselben Weise verstehen wie wir. Aberdiese Kinder wissen dann nicht, wie sie die Sätze verwendensollen. Sie haben die pragmatische Kompetenz verloren. Sie wis-sen nicht, -wann es angebracht ist was zu sagen, obwohl sie denSätzen dieselbe Interpretation geben wie ein normaler Mensch.

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Man sollte annehmen, das dies einer physischen Veränderung anirgendeiner Stelle des Gehirns entspricht. Ein Teil der in letzterZeit geleisteten Arbeit über Aphasien scheint darauf hinzudeuten,daß Vorstellungen wie diese richtig sind und könnte spezifischeresMaterial über den Zusammenhang zwischen linguistischenStrukturen und ihren neuralen Grundlagen liefern; dabei denke ichzum Beispiel an einige Resultate, die von Yosef Grodzinsky ineiner Dissertation an der Brandeis Universität vorgelegt wordensind.

Richard Beckwith: Was ist eine Kerngrammatik? Ist sie das, waswir in der sprachlichen Entwicklung des Kindes vorfinden, nach-dem die Parameterwerte einmal eingestellt sind?

Noam Chomsky: Was ich vorhin beschrieben habe, ist in Wirk-lichkeit das, was manchmal „Kerngrammatik" genannt wird. Wirsollten uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sehr unklar ist,auf was sich die Bezeichnung „Sprache" bezieht, wenn überhauptauf etwas. Was wir als eine Sprache, sei es nun Englisch oder eineandere Sprache, bezeichnen, ist in Wirklichkeit ein Durcheinander,eine Ansammlung von verschiedenen Dialekten und eineAnhäufung von Unregelmäßigkeiten und Anleihen. Aber wirsollten von keinem der konkreten Systeme, die in der Kom-munikation tatsächlich verwendet werden, erwarten, daß es genauden Prinzipien der Universalgrammatik entspricht. Angesichts derkonkreten Bedingungen ist von vornherein klar, daß sie diesePrinzipien nicht widerspiegeln. Man würde von derUniversalgrammatik nur dann erwarten, daß sie präzise realisiertwird, wenn ein Kind in einer vollkommen homogenen Sprach-gemeinschaft aufwüchse, in der die sprachlichen Daten keinerleiinneren Widersprüche enthalten, wo es keine Fälle gibt, wo dieeine Person auf die eine Weise und eine andere Person auf eineandere Weise spricht. Unter solchen Bedingungen vollkommenerHomogenität und bei Abstraktion von sämtlichen sprachlichenEinsprengseln, die nur dem zufälligen Verlauf der Geschichtegeschuldet sind, würde die Grammatik, die herauskäme, einfacheine Widerspiegelung der Universalgrammatik sein. Aber natürlichkommt so etwas in der realen Welt nie vor. Wir wachsen immerinnerhalb einer Mischung von Sprachen auf, und so ist das, wassich schließlich in unserem Kopf befindet, etwas viel Komplexe-res. Dementsprechend unterscheiden wir manchmal zwischen einerKerngrammatik, also dem Subsystem innerhalb der tatsächlich vor-

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kommenden sprachlichen Systeme, das direkt die Universal-grammatik widerspiegelt und sich einfach aus der Einstellung derSchalter, aus der Fixierung der von der Universalgrammatikvorgesehenen Parameter ergibt, und einem System der sprachli-chen Peripherie, das das System der Kerngrammatik ergänzt.

Die Rolle der „Parameter" beim Sprachenverb

Richard Beckwith: Was meinen Sie zu der häufig vorgebrachtenBehauptung, nach der die eben angesprochene Homogenisierungdes Inputs das Problem mit dessen Dürftigkeit beseitigen würde?Und zweitens: würden unter solch idealisierten Umständen dieFehler, die das Kind beim Spracherwerb macht, den ursprüngli-chen Zustand des Sprachvermögens widerspiegeln?

Noam Chomsky: Das Problem der Stimulusarmut und der Dürf-tigkeit des Input bleibt auch bei Idealisierung des Dateninputs imwesentlichen unverändert. Man könnte argumentieren, daß in derrealen Welt die Situation um einiges komplexer ist als unter denidealisierten Voraussetzungen, weil Kinder hier nicht nur lernenmüssen, wie sie die Schalter setzen müssen, sondern auch vor derTatsache stehen, daß verschiedene Leute um sie herum die Schalterverschieden setzen. So stehen sie nicht nur der Armut des Stimulusgegenüber, sondern auch widersprüchlichen Daten, was es nochschwieriger macht, den Spracherwerb zu erklären. Bei idealisiertenDaten würden einige dieser Schwierigkeiten teilweise, anderesogar völlig wegfallen.

Was die Bereiche betrifft, in denen Kinder Fehler machen,scheint es im wesentlichen zwei Kategorien zu geben. So wissenwir ja, daß Kinder auf einer bestimmten Stufe annehmen, dieVergangenheitsform von sleep sei sleeped (schlafen/schlafte),und daß sie dann aber lernen, daß nicht sleeped, sondern slept(schlief) die richtige Form ist. Es kommt auch vor, daß sie es garnicht lernen. In gewissen Dialekten kommt die Form sleeped vor,und manchmal werden Formen wie diese am Ende zur regulärenForm. Damit haben wir eine erste Klasse von Fehlern. Die ande-re Klasse von Fehlern sind die Fälle, wo das Kind einfach nochnicht weiß, welches der richtige Parameterwert ist. So ist es zumBeispiel durchaus möglich, daß ein Kind, das die englische Spra-che erlernt, auf einer gewissen Stufe des Spracherwerbs an-nimmt, daß sich Reflexive nur auf Subjekte beziehen können underst noch lernen muß, daß sie sich manchmal auch auf Objekte

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beziehen - daß es falsch wäre, das Objekt als Bezugswort auszu-schließen.

Richard Beckwith: Gibt es für die Parameter manchmal einenbevorzugten, einen „ nichtmarkierten " Wert?

Noam Chomsky: Das ist anzunehmen. Manche Parameter habendiese Eigenschaft, andere dagegen nicht. Nehmen wir zum Beispielden „Kopf-zuerst/Kopf-zuletzt"-Parameter. Wahrscheinlich istkeiner der Werte markiert; der eine ist genauso gut wie der andere.Aber in einigen Fällen, so etwa beim „Null-Subjekt-Parameter"oder bei dem Parameter für die Bezugswörter für Reflexive gibt eswahrscheinlich einen markierten und einen unmarkierten Wert,was bedeutet, daß das Kind den Parameter in der unmarkiertenPosition festlegen wird, falls es keine Daten gibt, die das Gegenteilbesagen.

Robert Berwick von der Fakultät für Computerwissenschaftenam MIT hat eine interessante Doktorarbeit geschrieben, in der erversucht hat, ein Programm für den Spracherwerb zu konstruieren.Das ist ein Algorithmus, dessen Anwendung auf die Datenautomatisch das sprachliche Wissen eines Sprechers ergibt. Dabeistellte er sich unter anderem die Frage: „Wie stellen wir fest,welches der unmarkierte Wert eines Parameters ist?" Er berück-sichtigte, daß Sprache nur anhand positiver Daten gelernt wird;das heißt, daß die Berichtigung von Fehlern keine nennenswerteRolle spielt. Nur das, was der Sprachlerner an sprachlichen Äu-ßerungen hört, sind seine Daten, sonst nichts. Darauf wendeteBerwick dann die formale Lerntheorie an, eine rein mathemati-sche Theorie, die untersucht, wie Funktionen unter unterschiedli-chen Bedingungen bestimmte Grammatiken oder andere Systemehervorbringen können. Im Rahmen dieser Theorie gibt es Ber-wick zufolge eine notwendige und hinreichende Bedingung fürdas Erlernen eines Systems ausschließlich anhand positiver Da-ten: jeder Parameter muß immer auf seinen „minimalen Wert"festgelegt werden, das heißt, den Wert, der die kleinste Spracheergibt. Wenn also ein Parameter einen Wert hat, der mehr Sätzeergibt als der andere Wert, dann muß man den Wert nehmen, derdie Sprache mit weniger Sätzen ergibt. Das ist das, was er das„Teilmengenprinzip" nennt: man nimmt immer die kleinere Spra-che, die sogenannte Subsprache, wenn eine Wahl besteht. Es gibtalso eine gewisse mathematische Unterstützung für das Markie-rungsprinzip.

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Dann ging er natürlich dazu über, sich empirische Daten an-zusehen. Aber ist es tatsächlich so, daß Kinder Parameterwerte aufeine Weise festsetzen, die eine kleinere Sprache ergibt? Das istkitzlig, weil die mathematische Theorie aufgrund der Annahmearbeitet, daß die Parameter alle voneinander unabhängig sind, aberin Wirklichkeit sind sie das vielleicht gar nicht. Es kann sein, daßdie Einstellung von Schaltern auf einen bestimmten Wert dieEinstellung von anderen Schaltern beeinflußt, und das wirft dannweitere Fragen auf. Die empirischen Daten reichen bis jetzt nichtsehr weit. Es ist schwer, wirklich überzeugende Daten aus realenSituationen zu bekommen, die etwas über formale Idealisierungenaussagen könnten, in deren abstrakter Handhabung man sichauskennt. Immerhin ist es ein interessanter Gedanke, undtatsächlich könnte man fast sagen, daß es vielleicht das erstetheoretische Lernprinzip ist, das jemals vorgeschlagen worden ist.

Eine allgemeine Lerntheorie

Richard Beckwith: Welche Beziehung besteht zwischen einerLerntheorie und dem, was sie effektiv leisten bzw. erklären kann?So vertreten ja einige Leute die Auffassung, daß PiagetsLerntheorie den grammatischen Lernprozeß hinreichend erklärenkann, obwohl sie weder restriktiv noch klar definiert ist.

Noam Chomsky: Nun, ich frage mich, wieso jemand das glaubt,weil ich nicht sehe, wie es im Rahmen von Piagets Lerntheoriemöglich sein soll, überhaupt irgend etwas zu lernen. Sie funktio-niert nicht einmal bei den Dingen, von denen er spricht. Sie ist zuamorph. Es scheint leider auch nicht möglich, sie in eine Mengevon Prinzipien zu verwandeln, mit denen man Lernprozesseerklären könnte. Jede Art aussichtsreicher Theorie in diesemBereich muß eine Menge an eingebauter Struktur postulieren, undnur weil es diese eingebaute Struktur gibt, kann Lernen überhauptstattfinden. Und das ist genau das, was Piaget nicht anerkennenwollte. Tatsächlich war Piagets Hauptpunkt, daß man von dieserinneren Struktur, die letztlich die Form der resultierenden Theoriebestimmt, gerade nicht ausgehen soll, und das ist einer der Gründe,warum er keine Lerntheorie hat.

Ich persönlich glaube nicht, daß es jemals so etwas wie eineLerntheorie geben wird. Ich sehe das, was wir Lernen nennen,als bestimmte Art von Wachstum an. Es ist ja klar, daß wir nicht

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lernen, Arme zu bekommen. Aber wir lernen auch nicht in ir-gendeinem sehr interessanten Sinn, Sprache zu haben. Was pas-siert, ist, daß Systeme, die in der ein oder anderen Weise vorge-formt oder von vornherein auf bestimmte Daten abgestimmt sind,dann mit der Umgebung dergestalt interagieren, daß sie durch dasAuffüllen von Leerstellen konturiert werden, und so entwik-keltsich die endgültige Form des Systems.

In letzter Zeit haben sich einige Leute mit der Frage befaßt, wieeine erklärungskräftige Theorie auszusehen hat. So hat sich StevePinker mit den Annahmen beschäftigt, die man in ein Systemeinbauen muß, um daraus eine Theorie wie die lexikalisch-funktionale Grammatik ableiten zu können. Bob Bervvick arbeitetean der Sorte von Annahmen, die eine Theorie enthalten muß, dieGrandlage der Rektions-Bindungs-Theorie sein kann. Ich vermute,daß beide Ansätze nicht sehr weit auseinanderliegen. Aber so oderso wird jede „Lerntheorie" in Wirklichkeit eine Theorie derangeborenen Struktur sein. Tatsächlich ist der einzige Vorschlaghinsichtlich einer allgemeinen Lerntheorie, den ich je gesehenhabe, Berwicks „Teilmengenprinzip". Die anderen Dinge, dieLerntheorie genannt werden, bestehen in Wirklichkeit nur ausHypothesen über die anfänglichen Zustände von Systemen, die Artvon Optionen, aus denen diese Systeme auswählen können undähnlichem mehr.

Richard Beckwith: Das hört sich so an, als ob sich Lernen auf dasreduzieren ließe, was Eric Kandel bei seiner Arbeit mit derSchlange Aplysia fand. Glauben Sie, daß Lernen sich letztlich auförtliche Veränderungen der synoptischen Wirksamkeit an be-stimmten genetisch festgelegten Stellen reduziert?

Noam Chomsky: Ja, das denke ich schon. Es mag paradox klin-gen, aber das, was wir Lernen nennen, ist wohl nicht wirklichLernen; damit meine ich, daß die Eigenschaften, die wir meist mitdem Begriff „Lernen" verbinden, vermutlich nicht Eigenschaftender Prozesse sind, die wir Lernen nennen. Wenn wir zum Beispielunter Lernen etwas verstehen, was auf Assoziation und Induktionberuht, dann sind viele Prozesse, die wir Lernen nennen, nichtLernen; sie passen nicht in diese Rubrik. Außerdem kommt mankaum an der Tatsache vorbei, daß man sich seit siebzig oderachtzig Jahren um diese sogenannte „Lerntheorie" bemüht hat,aber nach all der Zeit kaum Resultate vorzuweisen hat - es ist sehrwenig dabei herausgekommen.

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Richard Beckwith: Viele Lerntheoretiker scheinen sich ja jetzt indie Richtung Kandels zu bewegen.

Noam Chomsky: Die Vernünftigeren von ihnen gehen allmählichdazu über, zu fragen, was für innere Strukturen angenommenwerden müssen, um den Entwicklungsverlauf, dem ein Or-ganismus folgt, zu erklären. Aber wenn man darüber nachdenkt,dann hat man, was Lernprinzipien betrifft, außer ein paar Beob-achtungen über die Wirkung von Verstärkungen auf die Reakti-onsintensität und ähnlichem nichts gefunden, und diese Beob-achtungen scheinen mir wirklich nicht sehr bedeutend zu sein.

Richard Beckwith: Wie sollten denn Ihres ErachtensLemprinzipien aussehen?

Noam Chomsky: Ich glaube ebenso wenig daran, daß wir allge-meingültige Lemprinzipien finden werden wie daran, daß wirPrinzipien des Wachstums etablieren können. Stellen wir uns vor,irgend jemand käme an und würde sagen: „Schauen Sie, ich hättegern eine Theorie der Wachstumsprinzipien, die begründet, warumdas visuelle System zu dem wird, was es dann ist, warum die Leberzu dem wird, was sie ist, warum das Herz zu dem wird, was es ist."Es wird keine Gruppe solcher Prinzipien geben. Die einzige Ebene,auf der solche Prinzipien formuliert werden können, ist die derZellbiologie, die für sämtliche der genannten Bereiche relevant ist.Aber die Organe entwickeln sich so, wie sie es tatsächlich tun, weiles genetische Anweisungen gibt, die sie in bestimmte Richtungenlenken, und wegen der Art, in der die interne Struktur sichgegenüber dem durch die Umwelt gegebenen Kontext verhält.

Richard Beckwith: Sie scheinen der Ansicht zu sein, daß viele derProbleme bei der Ausarbeitung von Theorien der Psychologie undder Entwicklung erst gelöst werden können, sobald wir mehr überdie Physiologie des Gehirns wissen. Die eliministi-schenMaterialisten wie zum Beispiel Rorty sagen, daß unsereaugenblicklichen Theorien, die nichts seien als Amateurtheorien,mit dem Fortschritt unserer physiologischen Kenntnisse TheorienPlatz machen werden, die sich mit der Beschreibung der Phy-siologie befassen. Empfinden Sie eine Verwandtschaft zu den eli-ministischen Materialisten?

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Noam Chomsky: Wir hoffen, daß das Studium der Physiologieauf die Mechanismen stoßen wird, die die von unseren abstrakterenTheorien des Geistes postulierten und entwickelten Eigenschaftenaufweisen, vielleicht analog zu der Art, wie es der Physik gelang,nicht nur die Mechanismen zu finden, die den in der Chemie des19. Jahrhunderts postulierten Gebilden und Kräften -wie Valenzund ähnlichem - entsprachen, sondern auch zu erklären, warumdiese eine Rolle spielen. Was die Lerntheorie angeht, vermute ich,daß wir auf der Ebene der Zellbiologie auf allgemeine Prinzipienstoßen werden, die für sämtliche Systeme gelten, aber wenn wirdann wissen wollen, welche besonderen Systeme sich im Geistoder dem restlichen Körper entwickeln, werden wir uns immernoch die für jedes System spezifischen, von unserer biologischenAusstattung festgelegten Instruktionen ansehen müssen. DieLerntheorie würde aus den Prinzipien bestehen, die dasWechselspiel regieren, das zwischen komplex strukturiertenSystemen und der Umgebung, in der diese wachsen, sichentwickeln und reifen, stattfindet.

Richard Beckwith: Eine Theorie des Lernens würde eine kausaleKette vom Input zur mentalen Repräsentation enthüllen?

Noam Chomsky: Genau. Ich möchte an dieser Stelle noch einmalauf einige interessante Resultate der formalen Theorie des Lernenshinweisen. Diese Theorie abstrahiert von einer Reihe im einzelnenauftauchender Komplexitäten und fragt: „Unter welchenBedingungen kann sich ein System so entwickeln, daß es einenstabilen Endzustand erreicht?" Es liegen jetzt einige nochunveröffentlichte Ergebnisse vor, die zeigen, daß eine Theorie desSpracherwerbs, die von vernünftigen Voraussetzungen ausgeht,nur dann das gewünschte Resultat liefern kann, wenn die Anzahlder möglichen Sprachen begrenzt ist. Wenn man von trivialenAspekten absieht und nur die Struktur ins Auge faßt, gäbe esdemnach nur eine begrenzte Anzahl verschiedener Sprachen.Wenn diese Bedingung nicht gegeben und die Zahl der möglichenSprachen unbegrenzt wäre, könnten wir der erwähnten Theoriezufolge gar nichts lernen. Das Lernsystem könnte niemals einenstabilen Zustand erreichen.

Das ist interessant, weil es mit dem Unterschied zwischen un-seren früheren Vorstellungen von der Sprache und den aktuelle-ren, die wir gerade diskutiert haben, in Zusammenhang steht.Einer der Unterschiede zwischen dem Bild der frühen sechziger

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Jahre und unserer von mir hier skizzierten gegenwärtigen Vor-stellung besteht darin, daß es dem gegenwärtigen Bild zufolge nureine begrenzte Zahl von Sprachen, das heißt, von strukturellunterschiedlichen Sprachen gibt. Es gibt eine endliche Anzahl vonSchaltern mit einer jeweils sehr kleinen Anzahl von Schalt-zuständen, und aus jeder Gesamtheit von Schaltereinstellungenresultiert (wenn man sich an die Struktur hält und von der Wahlder lexikalischen Elemente absieht) eine mögliche Sprache. Diefrühere Konzeption besagte dagegen, daß es eine unendliche An-zahl von Grammatiken gibt und man sich dann die einfachsteaneignet. Nun, diese neueren formalen Theorien gehen von rechtvernünftigen Voraussetzungen in Bezug auf das Lernen aus, zumBeispiel davon, daß man sich an einzelne Dinge nicht allzu langerinnern kann. Unter solchen Bedingungen ist das Erlernen einesstabilen Systems - nämlich der Sprache, wie man sie beherrscht,wenn man volle Kompetenz erlangt hat - nur möglich, wenn dieMenge der grundsätzlich verschiedenen Sprachen - der Sprachen,die in einem präzis definierten Sinn strukturell verschieden sind -nur endlich viele Mitglieder hat. Das gibt uns einen Hinweisdarauf, wie die Struktur der Universalgrammatik aussehen sollte.Sie sollte nur eine begrenzte Zahl verschiedener Grammatikenerlauben. Zur Integration von linguistischen und formalenTheorien gibt es eine wichtige Arbeit von Wexler und Culicover,in der sie versuchen, einige Probleme der formalen Lerntheorie mitgrundlegenden Fragen der Struktur der menschlichen Sprache inVerbindung zu bringen. Sie legten einige von der formalenLerntheorie motivierte Prinzipien vor, von denen sich herausstellte,daß sie einsichtige empirische Gegenstücke haben. Das ist einesehr interessante Arbeit. Man könnte all das als einen Beitrag zurLerntheorie betrachten, aber ich würde es lieber einfach als einenTeil der Theorie des Wachstums bezeichnen.

Menschliche Intelligenz und Psychologie als Wissenschaft

Richard Beckwith: Wodurch wäre Ihrer Ansicht nach eine an-gemessene Theorie der Psychologie charakterisiert?

Noam Chomsky: Ich glaube gar nicht, daß es je so etwas wie eineTheorie der Psychologie geben wird. Ich denke, daß es Theorieninnerhalb der Psychologie geben wird, die sich jeweils mitbesonderen Themen befassen. Was sie angemessen machen wird,ist dasselbe, was jede Art von Theorie angemessen macht: daß sie

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uns Einblick in einen bestimmten Bereich von Phänomenen gibt,eine Erklärung für rätselhafte Dinge liefert, oder Prinzipien darlegt,die einerseits von der Erfahrung gestützt werden, andererseits abernicht einfach offensichtlich sind. Das ist es, was eine Theoriebefriedigend macht. Außerhalb eines kleinen Kerns vonNaturwissenschaften ist es sehr schwer, so etwas zustande zubringen. Ich weiß nicht, ob es in der Psychologie einmal derartigeTheorien geben wird. Vielleicht ja.

Richard Beckwith: Bitte spekulieren Sie ein wenig, welche Gebieteinnerhalb der Psychologie aussichtsreiche Kandidaten seinkönnten.

Noam Chomsky: Es gibt gewisse Gebiete in der Psychologie, indenen wir die Probleme und Fragen in ähnlichen Begriffen for-mulieren können wie in den wenigen anderen - in erster Linie denNaturwissenschaften zugehörigen - Bereichen, wo es wissen-schaftliche Fortschritte gegeben hat. Das sind vor allem die Ge-biete, wo ein Problem im Rahmen von Input/Output-Systemenformuliert werden kann, wo uns eine Charakterisierung sowohl desInputs als auch des Outputs möglich ist. Der Output kann einementale Repräsentation sein, für die wir indirekte Belege findenkönnen; so könnte der Output zum Beispiel der Output einesWahrnehmungssystems sein. Dann wird es möglich, die Prozesseoder Prinzipien zu untersuchen, die Stimulus und Repräsentation inBeziehung setzen. In der Erforschung des Sehens oder im Fall derSprache ist es zum Beispiel möglich gewesen, Theorien zuentwickeln, die einen gewissen Grad an Tiefe aufweisen. Es gibtjedoch viele Fragen, von denen wir nicht wissen, wie wir sieüberhaupt ernsthaft angehen sollen, wie zum Beispiel Fragen, diemit der Willens- und Entscheidungsfreiheit zu tun haben.

In Wirklichkeit ist das ja eine klassische Beobachtung. VielePhilosophen des 17. und 18. Jahrhunderts waren der Auffassung,der entscheidende Unterschied zwischen Mensch und Maschine -so die Terminologie jener Zeit - bestehe darin, daß Maschinengezwungen seien, auf bestimmte Art zu agieren, während Men-schen dazu nur angeregt oder geneigt, nicht aber gezwungensind. Diese Unterscheidung berührt einen sehr wesentlichenPunkt. Wenn wir nämlich anfangen, über Dinge zu sprechen wiedie Frage, warum wir letztlich so handeln, wie wir es tun, oderwie die Tatsache, daß wir zu unseren Handlungen nur angeregtoder geneigt, aber nicht gezwungen sind, begeben wir uns meines

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Erachtens in einen Bereich, wo ich nicht glaube, daß es irgend-welche Kandidaten für eine Theorie oder eine Erklärung gibt. Obwir auch nur die richtige Art von Intelligenz haben, um dieseFragen zu erforschen oder ob ein solches Projekt für uns einfach zuschwierig ist oder was sonst, weiß ich nicht. Aber so oder soscheint es mir hier heute genauso wenig sinnvolle Antworten zugeben wie im Verlauf der letzten paar tausend Jahre.

Richard Beckwith: Könnte es bei einem System, das wir mittelsder Input/Output-Relation und mentaler Repräsentationen charak-terisieren, nicht verschiedene mentale Repräsentationen geben, dieals Zwischenstation zwischen Input und Output fungieren?

Noam Chomsky: Nun, die interessanten Theorien sprechen mitt-lerweile von vielen Repräsentations- und Verarbeitungsebenen.Das gilt unter anderem für David Marrs Theorie des Sehens, diemeines Erachtens ein sehr erfolgreiches Beispiel für eine nichttri-viale psychologische Theorie ist. Eine repräsentationale Theorieder Sprache zieht ebenfalls eine Anzahl verschiedener Kandidatenals mögliche eigenständige Repräsentationsebenen in Betracht, umdann die zwischen diesen Ebenen stattfindenden Interaktionen zuerforschen. Es ist übrigens zu einfach und führt in die Irre, das einInput/Output-Systeme zu nennen. Ein Großteil der Erforschung derSprache besteht im Studium der Organisation einesWissenssystems, und dieses Wissenssystem als solches ist keinInput/Output-System. Aber es spielt eine Rolle bei In-put/Output-Systemen wie der Sprachverarbeitung. Außerdem behandelt dieErforschung der Universalgrammatik die Daten, die dem Kind zurVerfügung stehen als Input und die aufgrund der Datenkonstruierten Wissenssysteme als Output, wobei sie versucht, dieBeziehung zu bestimmen, die zwischen beidem besteht.Tatsächlich scheinen wir nur insoweit, wie man Probleme inBegriffen von In- und Output formulieren kann, zu wissen, wieman sie auf eine Weise behandeln kann, die halbwegs einerwissenschaftlichen Methodik entspricht.

Richard Beckwith: Eine angemessene Psychologie würde dem-nach nicht versuchen, einen möglichst weiten Bereich abzudek-ken, sondern sie würde eher nach Erklärungen auf eng um-schriebenen Gebieten suchen, für die sie spezielle Forschungs-strategien entwickeln würde.

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Noam Chomsky: So habe ich das vorhin nicht gemeint. Ichvermute, daß Sie, wenn Sie von einer angemessenen Psychologiesprechen, wissenschaftliche Psychologie im Auge haben. Eskönnte jedoch durchaus sein, daß man sich, was die Psychologiebetrifft, besser an die Literatur hielte. Wenn man etwas über diePersönlichkeiten und Beweggründe der Menschen lernen möchte,sind dazu Romane wahrscheinlich besser geeignet als Psycholo-giebücher. Vielleicht gelangt man so am besten zu einem Ver-ständnis menschlicher Wesen und der Art, wie sie handeln undfühlen, aber das ist nicht Wissenschaft. Wissenschaft ist nicht daseinzige auf der Welt, sie ist was sie ist. Wenn wir uns fragen, wieeine angemessene wissenschaftliche Psychologie aussehen würde,dann wäre die Antwort: nicht anders als eine angemessenewissenschaftliche Physik. Es wäre eine Theorie, die eine be-stimmte innere Strenge hat und Erklärungen für empirische Phä-nomene und Einsichten in die für diese Phänomene verantwortli-chen Prinzipien bietet, Prinzipien, die nicht offen auf der Handliegen und daher geeignet sind, rätselhafte Phänomene zu erklären.Aber Wissenschaft ist nicht der einzige Weg, zu einem Verständnisvon Dingen zu kommen.

Richard Beckwith: Also besteht möglicherweise ein großer Un-terschied zwischen einer erkenntnistheoretisch geleiteten Wis-senschaft und dem, was wir vielleicht als geeignete Form vonPsychologie bezeichnen würden.

Noam Chomsky: Ja. Wenn wir unter einer geeigneten Form vonPsychologie etwas verstehen, das uns hilft zu begreifen, wasMenschen tun, wie sie fühlen, und wie sie sich für ihre Handlun-gen entscheiden, kann es sein, daß die Psychologie, die das allesam genauesten beschreiben kann, nicht die wissenschaftlichePsychologie ist. Tatsächlich hat die Psychologie als Wissenschaftüber diese Themen sehr wenig zu sagen. Aber es gibt andere Mittelund Wege, die ein wenig Einblick in diese Fragen vermittelnkönnen, zum Beispiel die Literatur. Wolfgang Köhler behaupteteeinmal, einer der Gründe dafür, daß es so schwer ist, derPsychologie einen wissenschaftlichen Charakter zu verleihen,bestehe darin, daß die Menschen schon so viel intuitives Wissenüber diesen Gegenstand haben, daß all die Dinge, die eine wis-senschaftliche Psychologie entdecken kann, bereits offensichtlichsind, während man im Fall der Physik diese Art von Wissen ebennicht hat und daher selbst an sich einfache Resultate schon über-

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raschend sind. Er vertrat die Auffassung, einer der Gründe dafür,daß es der Psychologie kaum einmal gelingt, irgend etwas Inter-essantes zu sagen, sei darin zu suchen, daß sie lediglich Dingerekonstruiert, die wir die ganze Zeit gewußt haben, obwohl wir unsihrer vielleicht nicht in den Begriffen wohlformulierter Prinzipienbewußt waren. Damit wollte er darauf hinweisen, daß diePsychologie, um eine Wissenschaft mit überraschenden Ergeb-nissen zu werden, beträchtlich über die Tiefe von anderen Wis-senschaften hinausgehen muß.Ich vermute, daß das stimmt, obwohl ich gleichzeitig denke, daß eseinige Bereiche gibt, in denen wir mit den uns zur Verfügungstehenden Methoden der wissenschaftlichen UntersuchungResultate erzielen können. Ich denke, wir sollten uns demgegen-über eine offene Einstellung bewahren. Aber unser gegenwärtigerErkenntnisstand legt zumindest nahe, daß der menschliche Intellektfür die Lösung bestimmter Fragen einfach nicht ausgerüstet ist,und dazu gehören sehr wahrscheinlich auch viele Fragenhinsichtlich des menschlichen Verhaltens. Das wäre ja schließlichnicht allzu überraschend. Wenn wir die Menschen lediglich alseinen Organismus unter anderen betrachten, die es in der Weltnoch gibt, dann müssen wir auch sehen, daß unsere geistigen undphysischen Fähigkeiten genau wie die jedes anderen Organismusbeschränkt sind. Organismen können einige Dinge gut, andereschlecht - diese beiden Seiten sind untrennbar miteinanderverbunden. Ein Organismus von endlicher Größe kann nicht allesgleich gut können - dann würde er überhaupt nichts können. Ermuß gut an bestimmte Arten von Aufgaben und Problemenangepaßt sein, wenn er etwas erreichen soll, was über gänzlichtriviale Dinge hinausgeht. Genau diese Anpassung wird dannandere Dinge ausschließen. Wenn ein Organismus gut zumSchwimmen geeignet ist, wird er dafür nicht gut fliegen können.Dasselbe gilt für das mentale Leben. Wenn man fähig ist, in be-stimmten Bereichen Probleme zu lösen, dann liegt das an spezifi-schen Anpassungen, hochspezifischen genetischen Anweisungen,die dafür aber den Zugang zu anderen Bereichen blockieren. Wenndie Menschen Teil der physikalischen Welt sind, wovon wir jawohl ausgehen können, und wenn Menschen ganz bestimmteAufgaben sehr gut lösen können, wie es im Bereich desSpracherwerbs oder (auf einer anderen Ebene der Untersuchung)der Konstruktion von Theorien wie etwa der Quantentheorie derFall ist, dann werden genau die Strukturen, die sie in diesen Be-reichen erfolgreich machen, dazu führen, daß sie auf Gebieten,

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die nun einmal nicht so geordnet oder aufgebaut sind, daß sie ihrerIntelligenz entsprechen, fortwährend versagen. Wir könnenvernünftigerweise davon ausgehen, daß die Geschichte erfolgrei-cher Wissenschaft irgendwie die Natur der menschlichen Intelli-genz widerspiegelt. Innerhalb des großen Bereichs all der Fragen,über die wir gerne etwas wüßten, gibt es hier und da Gebiete, wodie Menschen in der Lage sind, Antworten zu finden, wo sie fähigsind, die Probleme so zu formulieren, daß sie sie untersuchen undmanchmal auch Antworten finden können. Ich gehe davon aus, daßdas Bild, das sich dann ergibt, den besonderen Charakter derStruktur der menschlichen Intelligenz widerspiegelt. MancheFragen kann man lösen, und dann gibt es wieder andere Fragen,die vielleicht gar nicht so weit davon entfernt sind und die vomStandpunkt irgendeines anderen Organismus oder einer anderenIntelligenz genauso leicht aussehen würden -aber wir werdeneinfach nicht mit ihnen fertig.

Richard Beckwith: Meinen Sie denn auch, daß die Geschichte derIdeen innerhalb einer bestimmten Wissenschaft die Natur unsererIntelligenz -widerspiegelt?

Noam Chomsky: Ich glaube, daß das sogar in hohem Maß zu-trifft. So finden Sie in jedem Fach, das überhaupt gewisse Fort-schritte vorzuweisen hat, daß es bestimmte Zeiten gibt, wo sichdie Entwicklungen überschlagen. Man hat dann ein bestimmtesNiveau des Verständnisses erreicht und steht vor einem gewissenBereich brennender und herausfordernder Probleme, und plötz-lich kommen dann viele Leute auf dieselbe Idee oder ähnlicheIdeen darüber, wie die Sichtweise geändert werden muß, um dasVerständnis auf eine neue Ebene zu heben. Das ist gelegentlichals wissenschaftliche Revolution bezeichnet worden. Das Auffal-lende daran ist, daß hinterher sehr weitgehend anerkannt wird,daß es der richtige Schritt war, obwohl keineswegs jeder einzelneForscher in der Lage wäre, so einen Schritt durchzuführen. Wirsind uns vollkommen klar darüber, daß Theorien vom Datenma-terial sehr stark unterbestimmt sind. Aber dennoch finden wir,daß bestimmte Schritte von den Daten zur Theorie als vernünftigbetrachtet werden, während man andere Schritte als lächerlichansieht. Offenbar legt die spezifische Struktur unseres Geistesfest, daß wir die jeweiligen Problemsituationen, vor denen wirstehen, in eine scharf begrenzte Unterklasse möglicher Theorienabbilden. Die ganze Geschichte der Wissenschaft deutet darauf

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hin, daß es so ist. Aber natürlich ist genau dieselbe Beschränkung,die zur Auswahl bestimmter Theorien und zur Ablehnung vonanderen führt, auch eine von vornherein gegebene Beschränkungdessen, was unsere Intelligenz leisten kann. Und es ist möglich,daß diese Beschränktheit uns in die falsche Richtung führt. Es gibtkeine Garantie, daß die Welt so aufgebaut ist, daß sie mit derStruktur unserer Intelligenz übereinstimmt. Es ist eine Art Wunder,wenn das überhaupt je der Fall ist.

Richard Beckwith: Würden Sie also sagen, daß wir so strukturiertsind, daß wir zu zutreffenden Charakterisierungen einigerMerkmale unserer Umgebung in der Lage sind?

Noam Chomsky: Wir sind fähig, einige der in möglichen Weltenvorkommenden Strukturen zu erfassen. Wenn wir Glück haben,entspricht die wirkliche Welt in mancher Hinsicht unserenEntdeckungen. Es ist einfach purer Zufall, wenn die Struktur un-serer Intelligenz und die Natur der Welt auf irgendeinem Gebietungefähr übereinstimmen. Charles Sanders Peirce schlug vor etwaeinem Jahrhundert einen deus ex machina vor, der das Problemlösen sollte: die Evolution. Er argumentierte, wir hätten uns ebenso entwickelt, daß wir an die reale Struktur der Welt angepaßtseien. Aber dieses Argument funktioniert überhaupt nicht. Wirhaben die Fähigkeit, Fragen der Zahlentheorie zu lösen und dieQuantentheorie zu entdecken, aber diese Fähigkeiten waren keinFaktor in der Evolution. Die Evolution führte zu einer Anpassungan den Umgang mit Problemen, bei denen es um mittelgroßeGegenstände unter normalen Bedingungen geht. Wenn Menschenzum Beispiel nicht fähig wären, die Flugbahn eines Gegenstandeszu berechnen, der auf sie zukommt, würden sie in Schwierigkeitenkommen. Solche Arten von Fähigkeiten haben einfach keinenBezug zu den Problemen, vor denen wir im Bereich derWissenschaft stehen. Demnach liefert auch die Evolution keinemagische Lösung für die Frage, weshalb wir die Fähigkeitenbesitzen, die für uns spezifisch sind. Es ist einfach so, daß nurdann, wenn ein Aspekt der Welt zufälligerweise mit der Strukturunserer Intelligenz, so wie diese sich entwickelt hat,übereinstimmt, eine Wissenschaft das Ergebnis sein wird; wennnicht, dann haben unsere Aussagen darüber nichts mit Wissen-schaft zu tun.

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Die instinktive Basis der Moral

Richard Beckwith: Wenn wir an Peirces Ideen hinsichtlich einereins-zu-eins Abbildung der Welt auf unsere Erfahrung von ihrfesthielten, würden wir Kants Unterscheidung zwischen der Welt,wie wir sie wahrnehmen und der Welt, so wie sie ist, verlieren.Dem Kantschen Idealismus wird oft eine zentrale Stellung in KantsAuffassungen über moralische Urteile eingeräumt. Sie selbst habeneinmal davon gesprochen, daß das Konzept der vorgeformtenStruktur und der Modularität des menschlichen Geistes auf einebestimmte Sichtweise der Moral verweisen. Könnten Sie das einwenig ausführen?

Noam Chomsky. Ich möchte gleich feststellen, daß vieles vondem, was ich gerade sagte, in Kantsche Begriffe umformuliertwerden könnte. Man könnte sagen, daß die Struktur unserer Er-fahrung und unser Verständnis der Erfahrung eine Widerspie-gelung der Natur unseres Geistes sind, und daß wir zu dem, wasdie Welt wirklich ist, nicht vordringen können. Wir können le-diglich versuchen, Erklärungen zu entwickeln, und wenn sie dannmanchmal mehr oder weniger funktionieren und zu einem Resultatführen, das wir als Erkenntnisgewinn und Verständnis ansehenkönnten, sind wir zufrieden mit ihnen.

Was moralische Urteile angeht, denke ich, daß wir uns aufziemlich schwankendem Boden befinden. Wenn man sich jedochvon den Fingerzeigen leiten läßt, die uns von Anthropologie, Ge-schichte, eigener Intuition und ähnlichem mehr geliefert werden,scheint mir, daß es Grund für die Annahme gibt, daß es biologischverwurzelte Prinzipien gibt, die in moralische Urteile eingehen.Wir wissen nicht genau, was diese Prinzipien sind; nur durchErfahrung können wir mehr über sie lernen. Unsere moralischenund ethischen Urteile erwachsen zum Teil aus diesen Prinzipien,obwohl sie natürlich auch stark von unterschiedlichen, inGesellschaft und Geschichte verankerten ideologischen Systemenund den Entscheidungsmöglichkeiten und Interpretationsmustern,die dem Bewußtsein der innerhalb einer bestimmtengesellschaftlichen und historischen Situation Handelnden zurVerfügung stehen, geprägt werden. Ohne eine solche Annahmewäre es ziemlich schwierig, all das, was wir tatsächlich tun,überhaupt zu verstehen. Ich denke, es ist ganz natürlich, daß dieGeschichte von einer Zeit, wo Sklaverei als legitim betrachtetwird, zu einer Zeit fortschreitet, wo das nicht mehr so ist. Über-

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raschend fände ich dagegen, wenn sich die Geschichte über langeZeit hinweg in die andere Richtung bewegen würde. Wir könnendoch im Verlauf der gesamten Geschichte Dinge finden, die frühereinmal als vollkommen vernünftig, ethisch und akzeptabelbetrachtet wurden, später aber mit heftiger Verachtung und Wi-derwillen bedacht wurden. Das gilt auch sehr stark für unsere ei-genen Traditionen. Wenn Sie zum Beispiel die Bibel lesen, findenSie, daß sie einer der bluttriefendsten Texte unserer Literatur ist.Gott selbst ist es, der seinem auserwählten Volk befiehlt, dieAmalekiten noch bis auf das allerletzte Kind auszurotten. Heutigereligiöse Texte würden Menschen nicht mehr dazu auffordern, soetwas zu tun; heutzutage würden Menschen so etwas nicht mehrbereitwillig als die Worte ihres Gottes akzeptieren. Das ist einZeichen für einen gewissen moralischen Fortschritt. Auf deranderen Seite kann man an den Nazismus denken,'der nicht geradeein Anzeichen für moralischen Fortschritt ist, um es gelindeauszudrücken.

Richard Beckwith: Wie sieht demnach die Beziehung zwischen derModularitätsthese und moralischen Urteilen aus?

Noam Chomsky: Ich möchte noch einmal betonen, daß sie nichtoffensichtlich ist. Die Beweise dafür sind dünn und beruhengroßenteils auf Intuition. Dennoch neige ich zu der Annahme,daß es eine Komponente unseres intellektuellen Systems gibt, diefür moralische Urteile zuständig ist - Urteile darüber, was richtigund falsch ist, oder über die Art, wie Menschen behandelt wer-den sollten, über das, was anständig und gerecht ist. Ich würdeannehmen oder zumindest hoffen, daß es in irgend einer Formdas gibt, was Bakunin einmal den „Freiheitsinstinkt" nannte, dasheißt, ein Bestreben, frei von den Einschränkungen äußerer Au-torität zu sein, außer insoweit diese im jeweiligen Stadium derGeschichte irgendwie für das Überleben erforderlich sind. Alsosollten wir im Verlauf der gesamten Geschichte beständige An-strengungen finden, autoritäre Strukturen zu überwinden und denBereich der Freiheit zu erweitern. Wenn das zutrifft, und ichdenke, in bestimmten Maß tut es das, spiegeln sich darin wahr-scheinlich instinktive Muster wider, die einfach Teil unserermoralischen Natur sind. Im Verlauf der geschichtlichen Weiter-entwicklung lernen wir beständig mehr über sie. So wurde zumBeispiel vor etwas mehr als einem Jahrhundert die Sklaverei alsnicht nur nicht falsch, sondern sogar als höchst ethische Angele-

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genheit betrachtet. Wenn man die Rechtfertigungen für die Skla-verei liest, findet man, daß sie sich oft auf ethische Gründeberiefen. Das Argument lautete, es sei vollkommen falsch, denSklaven zu erlauben, frei zu sein. Es gehe ihnen viel besser, wennihre Eigentümer sich um sie kümmern könnten. Die Leute, die dasvorbrachten, waren zivilisierte Menschen, aber von unseremheutigen Standpunkt aus sind sie in moralischer HinsichtUngeheuer. Und vom Standpunkt einer natürlichen Moralität wa-ren sie das auch, nur daß die moralische und kulturelle Evolutionnoch nicht den Punkt erreicht hatte, wo sie sich darüber klarwerden konnten. Ich bin sicher, daß dasselbe auch für uns heutegilt. Falls wir, was leider keineswegs sicher ist, noch weiterehundert Jahre Geschichte vor uns haben, würde ich vermuten, daßdie Menschen dann auf viele Praktiken, die wir akzeptieren undgutheißen, zurückschauen werden und sie als moralischeUngeheuerlichkeit betrachten werden. Es ist ja nicht sonderlichschwierig, auf einige von ihnen hinzuweisen. Zum Beispielbetrachten wir es jetzt als moralische Niedertracht, wenn einePerson eine andere versklavt, aber wir betrachten es als richtig undgerecht, wenn Menschen gezwungen sind, sich an andere zuvermieten, um leben zu können - das, was man früher „Lohnskla-verei" genannt hat. Eines Tages kommen wir vielleicht soweit,einzusehen, daß auch das eine Verletzung grundlegender Men-schenrechte ist - wie es ja seitens der libertär-sozialistischen Tra-dition seit langem behauptet wird. Ganz ähnlich basiert auch dasStaatssystem auf Prinzipien von Kontrolle, Herrschaft und Zwang,die man hoffentlich eines Tages als moralisch unerträglichbetrachten wird. Dasselbe kann über viele Bereiche der menschli-Existenz gesagt werden.

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2. Gleichheit*

Sprachliche Entwicklung, menschliche Intelligenz und sozialeOrganisation

Ich möchte in diesem Vortrag über drei verschiedene Begriffevon „Gleichheit" sprechen: über Gleichheit der Rechte, Gleichheitder Bedingungen und Gleichheit der natürlichen Anlagen. Bei demletztgenannten Thema geht es um die Frage, worin diesenatürlichen Anlagen bestehen, oder kurz gesagt, um die mensch-liche Natur und die von ihr determinierten Unterschiede zwischenden Menschen. Dabei geht es im wesentlichen um Tatsachen, undzwar um solche, von denen wir bisher wenig verstehen, die abereindeutig im Bereich der Naturwissenschaften liegen und die wirnach bestem Wissen und Gewissen und vorurteilsfrei zu erforschenversuchen sollten. Die beiden ersten Themenkomplexekonfrontieren uns mit wichtigen Fragen des Werturteils. Alle dreiBegriffe erfordern eine sorgfältige Analyse, die weit über dashinaus geht, was ich hier leisten kann.

Gerade wenn sie für die Richtung unseres eigenen Handelnsvon Bedeutung sein soll, wird sich jede ernsthafte Diskussion überdie Gleichheit der Rechte und der Bedingungen unvermeidlich mitden real bestehenden Tatsachen beschäftigen müssen, denn wennwir die relevanten Fakten nicht in unsere Analyse einbeziehen,wird die Debatte gesellschaftlich irrelevant, ganz gleich, wieinteressant sie in intellektueller Hinsicht sein mag. In einem großenTeil der gegenwärtigen Diskussion über Probleme der Gleichheitwerden diese Fakten aber außer acht gelassen.

Nehmen wir zur Veranschaulichung die Artikelreihe über„Egalitarismus", die John Cobbs im Dezember 1975 in BusinessWeek veröffentlicht hat. Sie ist für die gegenwärtige Debatte übersolche Fragen nicht untypisch. Cobbs geht von der Tatsachenan-nahme aus, „sämtliche Sozialprogramme des Staates" seien „inder ein oder anderen Weise Gleichmacher", wobei er indes ein-räumt, die Bundesprogramme würden „dieses Resultat nicht im-

* Dieser Essay geht auf einen Vortrag auf der „Konferenz über Versprechen undProbleme der menschlichen Gleichheit" der University of Illinois im März 1976 zurückund wurde in der vorliegenden Form zuerst in dem von Walter Feinberg heraus-gegebenen Sammelband Equality and Social Policy abgedruckt (Champaign: Uni-versity of Illinois Press, 1978). Hier entnommen aus The Chomsky Reader (New York:Pantheon, 1987), S. 183 - 202.

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mer erreichen". Kommt diese faktische Voraussetzung der Wahr-heit überhaupt auch nur annähernd nahe? Man kann ziemlichstarke Beweise für das Gegenteil anfuhren. So ist zum Beispiel dieHöhe der Subventionen für die höhere Bildung mehr oder wenigerproportional zum Familieneinkommen. Das riesige Bun-desprogramm zum Ausbau der Autobahnen ist seit seinen An-langen weitgehend nichts anderes gewesen als eine Subventionie-rung des kommerziellen LKW-Verkehrs und der großen Kapital-gesellschaften, die aus dem Verkauf von Benzin und gesell-schaftlich gesehen enorm kostspieligen Formen des Transports ihreProfite ziehen. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß diesesProgramm die Lebenshaltungskosten letztlich in die Höhe getrie-ben hat. Die staatlichen Wohnungsbauprogramme der letztendreißig Jahre können ebenfalls kaum als „Gleichmacher" be-schrieben werden. So sind zum Beispiel die Programme, die inBoston, der Stadt, in der ich lebe, „eine von Wenigverdienern,darunter in erster Linie Italienern, bewohnte Nachbarschaft" amBeacon Hill zerstört und sie durch „aus Darlehen mit Regie-rungsgarantie finanzierte Appartementtürme für Bezieher hoherEinkommen" ersetzt haben, schwerlich zur „Gleichmacherei" ge-eignet. Ich zitiere hier aus der Beurteilung des Architekturprofes-sors am MIT Robert Goodman von Wohnbauprogrammen desBundes, die er als eine „wirksame Art, die Armen auszubeuten",beschreibt.1 Oder nehmen wir die staatliche Subventionierungvon Waffenfirmen und des Agrobusiness, wobei letzteres teilwei-se durch Bezuschussung von Forschungsprojekten unterstütztwird, die sich mit der Entwicklung von landwirtschaftlichenTechnologien im Interesse der Großkonzerne befassen und anstaatlich unterstützten Universitäten betrieben werden. Oder neh-men wir die gewaltigen Staatsausgaben, die das Ziel verfolgen,ein günstiges internationales Klima für Wirtschaftsoperationensicherzustellen. In einer hochgradig von Ungleichheit geprägtenGesellschaft ist es sehr unwahrscheinlich, daß staatliche Pro-gramme als „Gleichmacher" wirken. Viel eher ist zu erwarten,daß die in solchen Gesellschaften bestehenden Zentren privaterMacht diese Programme selbst ausarbeiten und manipulierenwerden, um ihre eigenen Zwecke zu befördern; und genau dieseErwartung sehen wir in beträchtlichem Maß bestätigt. Solange eskeine Massenorganisationen gibt, die bereit sind, für die Rechte

1 Robert Goodman, After the Planners (New York: Simon & Schuster, 1971).

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und Interessen der Bevölkerung zu kämpfen, kann dies auchschwerlich anders sein. Eine Bemühung, staatliche Programme, diewirklich zu sozialer Gleichheit führen würden, zu entwickeln undin die Tat umzusetzen, würde zu einer Form des Klassenkriegesführen, und beim gegenwärtigen Organisationsgrad derBevölkerung und der daraus resultierenden tatsächlichen Vertei-lung der Macht kann es kaum einen Zweifel darüber geben, wergewinnen würde - eine Tatsache, die einige „Populisten" manch-mal ignorieren, wenn sie ganz zu Recht die staatlichen Programme,die nur der Privatwirtschaft nutzen, beklagen.Eine Diskussion der Rolle des Staates in einer Gesellschaft, die aufdem Prinzip privater Macht basiert, darf die Tatsache nichtignorieren, daß „der Kapitalismus ganz allgemein als eineWirtschaft der unbezahlten Kosten betrachtet werden muß, 'un-bezahlt', insofern ein wesentlicher Teil der tatsächlichen Pro-duktionskosten in der unternehmerischen Bilanz niemals auftaucht;statt dessen werden diese Kosten auf dritte Personen oder dieGemeinschaft insgesamt abgewälzt und letztlich von ihnengetragen".2 Eine ernsthafte Analyse der gesellschaftlichen Pro-jekte des Staates - und erst recht der staatlichen Programme zurWirtschaftsintervention, zur Ausübung militärischer Macht undähnlichem mehr - muß versuchen, die Funktion solcher Pro-gramme für die Frage einzuschätzen, wer denn bestimmte derGesamtgesellschaft entstehende Kosten, die man nur unter Ver-leugnung der Realität in eine Fußnote abschieben kann, letztlichbezahlen muß. Der Gedanke, der Staat diene als Instrument so-zialen Ausgleichs, mag insofern eine gewisse Berechtigung haben,als ohne die Intervention des Staates die destruktiven Kräfte desKapitalismus sowohl die Gesellschaft selbst als auch die natürlicheUmwelt vernichten würden, eine Tatsache, die die Herrscher überdie private Wirtschaft schon seit langem begriffen haben. Nichtumsonst haben sie vom Staat immer wieder verlangt, dieseDestruktionskräfte zu beschränken und organisatorischen Formenzu unterwerfen. Aber die gängige Idee, derzufolge der Staat inerster Linie als Instrument sozialen Ausgleichs dient, kann kaumals allgemein gültiges Prinzip gelten.

Betrachten wir nun als zweites Beispiel für die Art, wie überdie uns hier interessierenden Fragen diskutiert wird, die weithin

2 K. William Kapp, The Social Cost of Private Enterprise, 1950 (New York: / SchockenBooks, 1971), S. 231.

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vertretene Doktrin, Schritte in Richtung auf die Gleichheit derBedingungen zögen verringerte wirtschaftliche Effizienz und Be-schränkungen der Freiheit nach sich. Die angeblich negative Be-ziehung zwischen Gleichheit und Effizienz beruht auf empirischenAnnahmen, und diese können natürlich richtig oder falsch sein.Falls diese Beziehung tatsächlich besteht, würde man erwarten,daß Gewerbezweige, die sich im Rahmen egalitärer Ge-meinschaften im Besitz der Arbeiter befinden und von den Ar-beitern selbst verwaltet werden, weniger effizient arbeiten alsvergleichbare Gegenstücke, die privatem Besitz und privaterVerwaltung unterstehen und sich ihre Arbeitskräfte auf dem freienMarkt mieten. Die Forschung zu dieser Frage ist nicht sehrumfangreich, aber das Wenige, was vorliegt, scheint eher zu zei-gen, daß das Gegenteil der Fall ist.3 Der Harvard-Ökonom Ste-phen Marglin zum Beispiel behauptet, daß in den frühen Stadiendes industriellen Systems harte Maßnahmen erforderlich gewe-sen seien, um die natürlichen Vorteile kooperativer Unterneh-men, in denen es keinen Platz für Befehlshaber gibt, wettzuma-chen, und es gibt eine Reihe von Arbeiten, die die empirischeSchlußfolgerung nahelegen, daß „die Produktivität dramatischsteigt, wenn die Arbeiter die Kontrolle über die Entscheidungenund die Zielsetzungen erhalten".4 Von einem anderen Stand-punkt aus hat der Wirtschaftswissenschaftler der CambridgeUniversity J. E. Meade die Auffassung vertreten, Effizienz undegalitäre Verteilung des Einkommens könnten miteinander ver-söhnt werden, indem man Maßnahmen „zum Ausgleich in derVerteilung des privaten Besitzes und zur Erhöhung des Nettoan-teils des in gesellschaftlichem Besitz befindlichen Eigentums"ergreift.5 Ungeachtet vieler leicht dahin gesagter Behauptungensind wir bislang nicht imstande, über die Beziehung zwischen

3 Cf. Seymour Melman, „Industrial Efficiency Under Managerial Versus CooperativeDecision-Making", Review ofRadical Political Economics, Frühling 1970; abgedrucktin B. Horvat, M. Marcovic und R. Supek, eds., Self-Governing Socialism, vol. 2 (WhitePlains, N.Y.: International Arts and Sciences Press, 1975). Siehe auch Melman,Decision-Making and Productivity (Oxford; Blackwell, 1958) und Paul Blumberg,Industrial Democracy: The Sociology of Participation (New York: Schocken Books,1969).4 Stephen A. Marglin, „What Do Bosses Do?", Review of Radical Political Economics,Sommer 1974; Herbert Gintis, „Alienation in Capitalist Society", in R.C. Edwards, M.Reich und T. Weiskopf, The Capitalist System (Englewood Cliffs, N.J.: Prentice-Hall,1972).5 J.E. Meade, Efficiency, Equality and the Ownership of Property (Cambridge, Mass.:Harvard University Press, 1965).

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Gleichheit und Effizienz eindeutige oder wohlbegründete Aussagenzu machen.

Wenn wir uns der angeblich gegensätzlichen Beziehung zwi-schen Gleichheit und Freiheit zuwenden, stoßen wir ebenfalls aufinteressante Fragen. So erweitert die Arbeiterkontrolle über dieProduktion ganz gewiß in einigen - meines Erachtens höchstwichtigen Aspekten - die Freiheit, wobei sie zugleich die grand-legende Ungleichheit zwischen der Person, die gezwungen ist, ihreArbeitskraft zu verkaufen, um zu überleben und der Person, die dasPrivileg genießt, Arbeitskraft zu kaufen oder auch nicht zu kaufen,beseitigt. Dabei sollten wir zumindest die traditionelleBeobachtung in die Diskussion einbeziehen, derzufolge Freiheitnur Illusion und Betrug ist, solange die Bedingungen für ihreAusübung nicht bestehen. Wir treten erst dann das Marxsche„Reich der Freiheit" ein, wenn die Arbeit nicht länger „durch Notund äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist",6 eine Einsicht, diekeineswegs ausschließlich die Auffassung von Radikalen undRevolutionären wiedergibt. So kam auch Vico zu dem Schluß, daßes keine Freiheit gibt, wenn die Menschen „in einem Meer desWuchers ertrinken" und „ihre Schulden durch Arbeit undSchinderei abbezahlen" müssen.7 David Ellerman formuliert diezugrundeliegende Frage in einem wichtigen Essay sehr gut:

In einer der wichtigsten Grundannahmen deskapitalistischen Denkens (und erst recht des sogenannten„rechtslibertären Denkens") wird behauptet, die moralischenMängel der Leibeigenschaft seien im Kapitalismus beseitigt,weil die Arbeiter im Unterschied zu Sklaven und Knechtenfreie Menschen seien, die freiwillige Verträge über ihrenLohn abschließen. In Wirklichkeit verhält es sich jedochlediglich so, daß im Fall des Kapitalismus die Negation dernatürlichen Rechte weniger vollständig ist, so daß derArbeiter als „freier Warenbesitzer" ein Stück weit einerechtlich anerkannte Person bleibt. Ihm ist daher gestattet,sein Arbeitsleben freiwillig auf dem Markt anzubieten.Wenn ein Räuber einer anderen Person das Recht aufunendlich viele Entscheidimgsmöglichkeiten nimmt, außerder einen, entweder sein Geld oder sein Leben zu verlieren,und wenn diese Negation durch einen Revolver unter-

6 Karl Marx, Das Kapital, Band 3, (Berlin: Ullstein, 1971), S. 765.7 Giambattista Vico, The New Science, übersetzt von T.G. Bergin und M.H. Fisch(Garden City, N. V.: Anchor Books, 1961).

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stützt wird, dann handelt es sich hier ganz klar um Raub,selbst wenn man sagen könnte, daß das Opfer eine„freiwillige Wahl" zwischen den ihm verbleibendenOptionen trifft. Wenn es dagegen das Rechtssystem selbstist, das im Namen der Vorrechte des Kapitals dienatürlichen Rechte arbeitender Menschen verneint, undwenn die Verneinung dieses Rechts durch die legale Gewaltdes Staates sanktioniert wird, dann sprechen die Theoretikerdes „libertären" Kapitalismus nicht von institutionellemRaub, sondern feiern statt dessen die „natürliche Freiheit"der auf Arbeit angewiesenen Menschen, zwischen denverbleibenden Optionen, nämlich dem Verkauf ihrer Arbeitals Ware und dem Zustand der Arbeitslosigkeit zu wählen.8

Wenn wir uns mit Fragen wie diesen beschäftigen, können wiruns nicht einfach mit der Annahme zufriedengeben, daß dieFreiheit abnimmt, sobald die Gleichheit - zum Beispiel in Bezugauf die Kontrolle über Ressourcen und Produktionsmittel - zu-nimmt. Unter den im Kapitalismus herrschenden gesellschaftlichenBedingungen mag es durchaus zutreffen, daß Gleichheit inumgekehrter Beziehung zu der Freiheit steht, Eigentum zu besitzenund zu gebrauchen, aber diese gesellschaftlichen Bedingungendürfen nicht einfach mit „Freiheit" schlechthin in eins gesetztwerden.

Dabei spreche ich noch nicht einmal von dem unermeßlichenVerlust, der in Kauf genommen wird, wenn ein Mensch in einWerkzeug der Produktion verwandelt wird, so daß er, in denWorten von Adam Smith, „keine Gelegenheit hat, sein Verständniszu Geltung zu bringen oder seinen Erfindergeist zu betätigen" und„daher natürlich die Gewohnheit verliert, diese ins Werk zu setzenund überhaupt so dumm und unwissend wird, wie einmenschliches Wesen es nur werden kann", da sein Geist „in jenestumpfe Dummheit" verfällt, „die in den zivilisierten Gesell-schaften das Verständnis praktisch des gesamten niederen Volkeszu betäuben scheint".9 Wie soll man den Verlust an „Effizienz"und an „Sozialprodukt" bezeichnen, der sich aus dieser erzwun-genen Dummheit ergibt? Was bedeutet es zu sagen, daß ein

8 David Ellerman, „Capitalism and Workers' Self-Management", in G. Hunnius, G. D.Garson und J. Gase, eds., Workers' Control (New York: Random House, 1973),S. 10-11.9 Adam Smith, Wealth ofNations, zitiert von Marglin, „What Do Bosses Do?"

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Mensch, der von seinen Arbeitsbedingungen in eine derartig„stumpfe Dummheit" getrieben wird, trotz alledem „frei" bleibt?

Wenn wir uns fragen, wie eine gerechte und menschenwürdigeGesellschaft aussehen würde, sehen wir uns widersprüchlichenIntuitionen, ungenauen und schlecht formulierten Normen undwichtigen Tatsachenfragen gegenüber. Wenn wir uns dabei daraufbeschränken, nur einigen dieser Intuitionen nachzugehen undandere beiseitelassen, mögen wir dem Anschein nach denkomplexeren Fragen und Konflikten entkommen, riskieren aberdabei, lediglich eine Übung in Logik vorzunehmen, die noch dazunicht sehr interessant ist. Einige Aspekte der gegenwärtigenDiskussion machen dieses Risiko sehr deutlich. Nehmen wir etwadie zur Zeit in Umlauf befindliche „Anspruchstheorie der Ge-rechtigkeit". Nach dieser Theorie hat eine Person auf alles einAnrecht, was sie durch gerechtfertigte Mittel erworben hat. Wenneine Person durch Glück oder Arbeit oder Erfindungsgeist diesoder jenes erwirbt, hat sie einen Anspruch darauf, es zu behaltenund damit nach eigenem Gutdünken zu verfahren, und einegerechte Gesellschaft wird dieses Recht nicht beschneiden.

Es ist leicht zu sehen, wohin ein solches Prinzip führen könnte.Es ist sehr leicht möglich, daß jemand durch legitime Mittel - zumBeispiel Glück in Verbindung mit Vertragsbeziehungen, die unterdem Druck von Not „frei eingegangen" werden - die Kontrolleüber alle lebensnotwendigen Ressourcen gewinnen könnte. Dieanderen sind dann frei, sich an jenen Menschen als Sklaven zuverkaufen, falls er sie überhaupt haben will. Ansonsten haben siedie Freiheit, zu sterben. Solange wir keine weiteren, in diesemSystem aber nicht vorgesehenen Bedingungen einführen, wäre einesolche Gesellschaft gerecht.

Das Argument hat alle Kennzeichen eines Beweises, daß zweiplus zwei fünf ergibt. Wenn jemand uns einen derartigen Beweispräsentierte, würde uns das vielleicht neugierig genug machen,um zu versuchen, die gedanklichen Fehler und verkehrten An-nahmen aufzuspüren, die zu diesem Irrtum geführt haben könn-ten, oder wir würden das Argument ignorieren und uns Wichti-gerem zuwenden. Auf einem Gebiet von wirklicher intellektuel-ler Substanz wie der Mathematik mag es interessant sein, solchenFragen nachzugehen, und tatsächlich hat sich das dort schon desöfteren als fruchtbar erwiesen. Wenn wir uns dagegen mit Pro-blemen der Gesellschaft und des menschlichen Lebens beschäfti-gen, ist dieses Unternehmen von zweifelhaftem Wert. Wenn nun

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ein Konzept einer „gerechten Gesellschaft" vorgeschlagen wird,das die soeben beschriebene Situation nicht ohne Rücksicht auf dieFrage, wie sie zustandekam, als äußerst ungerecht beschreibt,bleiben uns nur zwei Schlußfolgerungen. Wir können den Schlußziehen, daß das vorgebrachte Konzept einfach unwichtig und fürdie Orientierung unseres Denkens und Handelns uninteressant ist,da es nicht einmal für elementare Fälle wie diesen taugt. Oder wirkommen zu dem Ergebnis, daß das vorgebrachte Konzept falschsein muß, da es ihm nicht gelingt, den prätheoretischen Begriff vonGerechtigkeit, den es doch zumindest für klare Fälle umreißenwill, zum Ausdruck zu bringen. Wenn unser intuitives Konzept derGerechtigkeit klar genug ist, soziale Verhältnisse derbeschriebenen Art als krasse Ungerechtigkeit zurückzuweisen,dann liegt das einzige Interesse eines Nachweises, daß einebestimmte „Theorie der Gerechtigkeit" solche Verhältnisse alsgerecht bezeichnen würde, in dem durch reductio ad absurdumgezogenen Schluß, daß die Theorie offenbar hoffnungslosunangemessen ist. Die Theorie mag dann zwar gewisse Teilaspekteunserer Intuitionen in Bezug auf die Gerechtigkeit erfassen, abersie tut dies offensichtlich nur, indem sie andere Aspektevernachlässigt.

Angesichts der Popularität von Theorien, die auf so offen-sichtliche Weise ungeeignet sind, das Konzept der Gerechtigkeit ineinem bedeutsamen und intuitiven Sinn zu erfassen, sollte manbesser fragen, weshalb sie auf solches Interesse stoßen. Weshalbbeschäftigt man sich überhaupt mit ihnen, wo sie doch schon in soklaren Fällen so eklatant versagen? Vielleicht ist die Antwortdarauf teilweise die, die Edward Greenberg in seiner Diskussioneiniger jüngerer Arbeiten zur Anspruchstheorie der Gerechtigkeitgegeben hat. Nach einem Überblick über deren empirische undbegriffliche Mängel bemerkt er, derartige Theorien spielten „einewichtige Rolle dabei..., 'dem Opfer die Schuld zu geben' und dasEigentum gegen egalitäre Angriffe durch diverse besitzloseGruppen zu beschützen".10 Eine ideologische Verteidigung vonPrivilegien, Ausbeutung und privater Macht ist immerwillkommen, ganz gleich, was für Gründe sie vorweisen kann.

10 Edward S. Greenberg, „In Defence of Avance", Social Policy, Januar-Februar1976,S.63.

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Diese Fragen sind für die Armen und Unterdrückten in unseremLand und anderswo von nicht geringer Bedeutung. Formen dersozialen Kontrolle, die zur Zeit einer expandierenden Wirtschaftausreichten, den Gehorsam zu sichern, haben während der jetzigenStagnation ihre Wirkungskraft verloren. Ideen, die in denFakultätsklubs der Universitäten und den Chefetagen der Managergängige Münze sind, können in ideologische Instrumente derVerwirrung und Demoralisierung verwandelt werden. Fernerkönnen wir im Jahr 1976 kaum die Tatsache ignorieren, daß dieMacht des amerikanischen Staates seit vielen Jahren dazueingesetzt worden ist, unwilligen und widerspenstigen Opfern aufder ganzen Welt die sozialen Formen und ideologischen Prinzipiendes Kapitalismus aufzunötigen. Die akademischen Ideologen unddie politischen Kommentatoren in den Medien mögen dieGeschichte auf andere Art interpretieren. Die Wirtschaftspressebeschreibt die Realität jedoch viel genauer, wenn sie feststellt, daßdie „unseren Geschäftsoperationen förderliche stabileWeltordnung" und „die internationale Wirtschaftsstruk-tur,innerhalb derer die US-Unternehmen seit dem Ende des ZweitenWeltkrieges floriert haben", auf der organisierten Gewalttätigkeitdes Staates basierten: „Ganz gleich, wie negativ eine Entwicklungauch sein mochte, es gab immer den Schutzschirm deramerikanischen Macht, um sie einzudämmen", obwohl man indiesen Kreisen jetzt befürchtet, daß es damit in der Welt nachVietnam vielleicht vorbei sein könnte.11

Ich besuchte einmal ein Dorf in Laos, in dessen Mitte sich einhübscher See befand, der den Dorfbewohnern früher als Wasser-quelle und als Möglichkeit, ihre Freizeit zu verbringen, gedienthatte. In der Zwischenzeit war es einer mächtigen Einzelpersongelungen, alle anderen von der Nutzung des Sees auszuschließen,der nunmehr eingezäunt war. Um an Wasser zu kommen, mußtendie Dorfbewohner jetzt mehrere Meilen laufen. Die Dorfbe-wohner konnten den See jenseits des Zaunes sehen, aber siekonnten ihn nicht mehr für sich nutzen. Nehmen wir nun an, derBesitz an diesem See sei durch „gerechte" Mittel erlangt worden,was im Prinzip sicherlich der Fall gewesen sein könnte.12 Wür-den wir dann schließen, das Dorf sei in dieser Hinsicht eine „ge-rechte Gesellschaft"? Würden wir ernsthaft von den Dorfbewoh-

11 „The Fearful Drift of Foreign Policy", Kommentar, Business Week, 7. April 1975.12 In Wirklichkeit ist in diesem Fall simpler, staatlich unterstützter Raub die wahr-scheinlichere Erklärung.

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nern verlangen, dieses Ergebnis als richtig und gerecht zu ak-zeptieren? Die von den USA unterstützte - richtiger wäre es zusagen: eingesetzte - laotische Regierung nahm genau diese Positionein, indem sie nichts gegen solche Entwicklungen unternahm,während ihre Widersacher, die Pathet Lao, die laotischen Bauernorganisierten, um solche Formen der „Gerechtigkeit" zuüberwinden. Ihr Erfolg dabei war so groß, daß die US-Regierungsich daran machte, einen Großteil des bäuerlichen Laos zu zer-stören. Das war der sogenannte „Geheimkrieg" der US-Regierungin Laos, der indes nur insofern „geheim" war, als die freie Pressein unserer freien Gesellschaft sich frei dafür entschied, dieBerichterstattung über ihn lange Zeit zu unterdrücken, währendTausende von Bauern getötet und um ihr Eigentum gebrachtwurden. Und heute entscheiden wir uns frei dafür, zu vergessen,was damals geschah und die Geschehnisse aus der Geschichte zutilgen, oder sie als einen zwar unglücklichen, aber minder wich-tigen Zwischenfall abzutun, als ein weiteres Beispiel für unsere„stümperischen Bemühungen, Gutes zu tun", unsere „guten Ab-sichten", die sich durch unsere Unwissenheit, unsere Irrtümer undunsere Naivität mysteriöserweise in „schlechte Politik" ver-wandeln.13 In entscheidend wichtigen Fällen wie diesem ist dasKonzept der „Gerechtigkeit", das man sich zu eigen macht, ebenkeineswegs eine abstrakte und ungreifbare Sache, und wir täten gutdaran, ernsthaft darüber nachzudenken.

Ähnliche Fragen stellen sich sehr deutlich auch in unserer ei-genen Gesellschaft, in der gemessen am Rest der Welt ein be-trächtlicher Grad an Freiheit herrscht. In unserer Gesellschafthaben wir freien Zugang zu Informationen, jedenfalls im Prinzip.Im Fall des Geheimkrieges in Laos war es möglich, sich - wennauch viel zu spät - über die Tatsachen zu informieren, indem mandas Land besuchte, mit Flüchtlingen sprach und Berichte in derausländischen und schließlich sogar auch in Teilen unserereigenen Presse las. Aber diese Sorte von Freiheit ist gesellschaft-lich gesehen recht bedeutungslos, auch wenn es wichtig ist, daßwenigstens die Privilegierten sie genießen. Für die Masse derBevölkerung der Vereinigten Staaten gab es in der Praxis keine

13 Über die von akademischen Wissenschaftlern und liberalen Kommentatoren am Endedes Kriegs und danach gezogenen „Lehren aus Vietnam", siehe meine Artikel„Remaking History", Ramparts, September 1975 (abgedruckt in Towards a New ColdWar [New York: Pantheon Books, 1982]) und „The United States in Vietnam", VietnamQuarterly, Nr. l (Winter 1976).

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Möglichkeit, Zugang zu diesen Informationen zu erhalten undschon gar nicht, ihre Bedeutung zu verstehen. Die Verteilung vonMacht und Privileg begrenzt auf wirkungsvolle Weise den Zugangzu Informationen und die Möglichkeiten, die jemand hat, über denRahmen der von den ideologischen Institutionen, denMassenmedien, den meinungsbildenden Zeitschriften, der Schuleund den Universitäten verbreiteten Doktrin hinauszublicken. Undfür die anderen gesellschaftlichen Bereiche gilt dasselbe. ImPrinzip haben wir eine Reihe wichtiger gesetzlich verbriefterRechte. Aber wir wissen auch, wieviel diese in der Praxis fürMenschen bedeuten, die nicht in der Lage sind, den gefordertenPreis dafür zu entrichten. Wir haben das Recht auf freie Mei-nungsäußerung, obwohl einige aufgrund ihrer Macht, ihresReichtums und ihrer Privilegien eine lautere Stimme haben alsandere. Wir können unsere gesetzlichen Rechte vor Gericht ver-teidigen - aber nur, wenn wir sie kennen und die Kosten dafüraufbringen können. All das ist offensichtlich und verdient kaumeinen Kommentar. In einer perfekt funktionierenden kapitalisti-schen Demokratie ohne irgendwelchen illegitimen Machtmiß-brauch wird die Freiheit im Endeffekt eine Art Ware sein; einePerson wird demnach letztlich so viel davon haben, wie sie sichkaufen kann. Es ist daher nicht schwer zu verstehen, weshalb dieMächtigen und Privilegierten sich oft für die Verteidigung derpersönlichen Freiheit stark machen, da sie doch in der Praxis selbstderen hauptsächliche Nutznießer sind, während es ihnen zugleichüberhaupt nichts ausmacht, die Augen zu verschließen, wenn dienationale Polizei sich an politischen Morden und der Zerstörungpolitischer Gruppen beteiligt, die versuchen, die Armen zuorganisieren, wie es vor nicht allzu langer Zeit - 1969 -begleitetvom dröhnenden Schweigen der nationalen Presse und dermeinungsbildenden Zeitschriften in Chicago geschah.14

Ich habe bisher lediglich einige der Fragen grob skizziert, diesich stellen, wenn wir uns mit den Problemen von Freiheit undGleichheit befassen. Nichts gesagt habe ich bis jetzt über dendritten Begriff der Gleichheit, nämlich die „Gleichheit der Bega-bung". Auch hier gibt es eine weitverbreitete Doktrin, die einegenauere Untersuchung verdient. Dazu können wir ein weiteresMal auf die klaren Formulierungen von John Cobbs in der er-

14 Für eine Diskussion dieses Themas, siehe meine Einführung zu dem Buch NelsonBlackstock, ed., Cointelpro (New York: Vintage Books, 1976).

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wähnten Artikelserie zurückgreifen. Er bringt ein Thema ins Spiel,das er zum „großen intellektuellen Dilemma unserer Zeit"deklariert, nämlich die Tatsache, daß „ein Blick auf die Welt, wiesie nun einmal ist, demonstriert, daß einige Menschen klüger sindals andere". Ist es fair, so fragt er, darauf zu bestehen, daß „dieSchnellen und die Langsamen ... allesamt und gleichzeitigdieselben Bedingungen erreichen sollten?" Ist es fair, eineGleichheit der Bedingungen herstellen zu wollen, wenn doch dienatürlichen Begabungen und Anlagen so offenkundig unter-schiedlich sind?

Es ist aller Wahrscheinlichkeit nach richtig, daß in unserer„Welt, wie sie nun einmal ist", eine gewisse Kombinationmenschlicher Eigenschaften zum Erfolg fuhrt, da sie „den An-forderungen des ökonomischen Systems" entspricht. Gehen wireinfach einmal davon aus, daß diese Kombination von Eigen-schaften zum Teil auf angeborenen Anlagen beruht. Warum stelltdiese (behauptete) Tatsache für Vertreter einer egalitären Positionein „intellektuelles Dilemma" dar? Halten wir fest, daß wir unskaum größerer Erkenntnisse darüber rühmen können, wie dieentsprechende Kombination solcher Eigenschaften wohl aussehenkönnte. Ich wüßte keinen Grand für die Annahme, daß „Klugheit"viel damit zu tun hat, und ich persönlich glaube das auch nicht.Man könnte annehmen, daß eine Mischung aus Habgier,Selbstsucht, mangelnder Sorge um andere, Aggressivität undähnlichen Charakterzügen für das Vorankommen und den „Erfolg"in einer auf kapitalistischen Prinzipien basierendenKonkurrenzgesellschaft eine Rolle spielen. Was immer die zu-treffende Ansammlung notwendiger Charaktereigenschaften seinmag, können wir uns doch fragen, was aus der Tatsache (wenn esdenn eine Tatsache ist) folgt, daß eine teilweise erbliche An-sammlung von Charaktereigenschaften tendenziell zu materiellemErfolg führt? Soweit ich sehen kann, folgt daraus nicht mehr alsein Kommentar zu unseren spezifischen gesellschaftlichen undwirtschaftlichen Verhältnissen und Institutionen. Man kann sichleicht eine Gesellschaft vorstellen, in der körperliche Tüchtigkeit,die Bereitschaft, zu töten, die Fähigkeit zum Betrog und ähnlichesden Erfolg befördern; was das betrifft, brauchen wir leider kaumunsere Phantasie zu bemühen. Ein Verfechter des Egalitarismuskönnte bei allen derartigen Fällen antworten, daß dieGesellschaftsordnung so geändert werden sollte, daß die An-sammlung von Charakterzügen, die bis dahin zum Erfolg geführt

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hat, dies nicht mehr tun wird. Er könnte sogar argumentieren, daßman die Charakterzüge, die im Augenblick zum Erfolg führen, ineiner menschenwürdigeren Gesellschaft als pathologisch betrachtetwürde, und daß man den Menschen, die von dieser unglückseligenKrankheit befallen sind, auf dem Wege vorsichtigerÜberzeugungstätigkeit dabei helfen sollte, sie zu überwinden.Auch hier sind wir wieder auf die Frage zurückverwiesen: Wiesähe eine gerechte und menschenwürdige Gesellschaft aus? Ein„Verfechter des Egalitarismus" steht keinerlei „intellektuellemDilemma" gegenüber, das irgendwie andersgeartet wäre als dieFragen, mit denen Verfechter einer anderen Gesellschaftsordnungsich auseinanderzusetzen haben.

Eine Standardantwort lautet, daß es eben einfach in der„menschlichen Natur" liegt, mit allen Mitteln nach Macht und derBefriedigung materieller Interessen zu streben, solange man damitdurchkommt. Nehmen wir an, die menschliche Natur ist tatsächlichso angelegt, daß unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungendiese bewundernswerten Charakterzüge zum Vorschein kommen,oder genauer gesagt, daß Menschen mit solchen Neigungenerfolgreich sein werden. Nehmen wir weiter an, daß Reichtum undMacht, sobald man sie einmal erworben hat, dazu verwendetwerden können, um diese Privilegien zu erweitern und zuschützen, wie es unter dem industriellen Kapitalismus der Fallgewesen ist. Aber dann liegt doch die Frage auf der Hand, ob mannicht andere gesellschaftliche Bedingungen schaffen könnte, indenen diese Tendenzen nicht ermutigt würden und die statt dessendas Aufblühen anderer Charakterzüge fördern würden, die nichtweniger Teil unserer gemeinsamen Natur sind, zum BeispielSolidarität, Sorge um andere, Mitgefühl und Freundlichkeit.

Die Diskussion über egalitäre Ansichten ist oft irreführend,insofern sich die Kritik an solchen Ansichten oft gegen ein selbsterdachtes Schreckgespenst richtet, und die Verfechter des Egali-tarismus haben darauf auch sofort hingewiesen.15 Tatsächlich istdie „Gleichheit der Bedingungen", vor der die Ideologen unsererZeit so heftig warnen, nur äußerst selten das ausdrückliche Ziellinksgerichteter Reformer oder Revolutionäre gewesen. In derMarxschen Utopie wird „die Entwicklung der menschlichen

15 Siehe zum Beispiel Herbert J. Gans, „About the Equalitarians", ColumbiaForum, Frühling 1975.

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Energien" als „ein Ziel an sich" genommen, das verwirklichtwerden kann, sobald die Menschen dem „Reich der Notwendig-keit" entkommen, so daß Fragen der Freiheit ernsthaft gestelltwerden können. Das oftmals wiederholte und fast schon zum Kli-schee gewordene Grundprinzip lautet: „Jeder nach seinen Fähig-keiten, jedem nach seinen Bedürfnissen", während das Prinzip der„Gleichheit der Bedingungen" nirgends bemüht wird. Wenn dereine medizinische Behandlung braucht und der andere dieseglücklicherweise nicht benötigt, dann soll ihnen auch nicht dasgleiche Maß an medizinischer Fürsorge zuteil werden, und genaudasselbe gilt auch für die anderen menschlichen Bedürfnisse.

Die libertären Sozialisten, die die Theorie der Diktatur desProletariats ablehnten, sahen außerdem wenig Erstrebenswertes am„Egalitarismus" als solchem; statt dessen verurteilten sie den„autoritären Sozialismus" für sein Unverständnis der Tatsache, daß„der Sozialismus entweder frei sein oder gar nicht sein wird":

Im Gefängnis, im Kloster oder in den Baracken findetman ein ziemlich hohes Maß an ökonomischer Gleichheit,da alle Insassen dieselbe Unterbringung, dasselbe Essen,dieselbe Uniform und dieselben Aufgaben zugeteiltbekommen. Der alte Inkastaat und der Staat der Jesuiten inParaguay hatten aus der gleichen wirtschaftlichenVersorgung für jeden ihrer Einwohner ein festes Systemgemacht, aber nichtsdestoweniger herrschte dort derniederträchtigste Despotismus, und der Mensch war dortlediglich der Automat eines höheren Willens, auf dessenEntscheidungen er nicht den geringsten Einfluß hatte. Eshatte durchaus seine Gründe, wenn Proudhon in einem„Sozialismus" ohne Freiheit die schlimmste Form derSklaverei sah. Das Streben nach sozialer Gerechtigkeit kannV sich nur dann richtig entwickeln und entfalten, wenn esaus dem Gefühl der Menschen für Freiheit undVerantwortung erwächst und auf ihm basiert.16

Für Rudolf Rocker war der Anarchismus „freiwilliger Sozia-lismus", denn „Freiheit ist kein abstraktes philosophisches Kon-zept, sondern die lebendige, konkrete Möglichkeit für jeden

16 Rudolf Rocker, „Anarchism and Anarcho-Syndicalism", in P. Eltzbaoher, ed.,An-archism (London: Freedom Press, 1960), S. 234-35.

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Menschen, sämtliche Fähigkeiten und Talente, mit denen die Naturihn ausgestattet hat, voll zu entfalten und in die Gesellschafteinzubringen". Dem hätte auch Marx nicht widersprochen, und diegrundlegende Konzeption geht auf libertäre Gedanken noch weitvor Marx und Rocker zurück.17 Diese Ideen verdienen, daß mansich intensiv mit ihnen auseinandersetzt. Ich zumindest halte siefür den ernsthaftesten Versuch, ein Konzept einer gerechten undmenschenwürdigen Gesellschaft zu formulieren, das wesentliche,nicht zu ignorierende Prinzipien mit einbezieht und gleichzeitigwichtige soziale und geschichtliche Tatsachen berücksichtigt.

Für Sozialisten wie Marx, Bakunin, Rocker und andere Linkeergibt sich aus der Ungleichheit der natürlichen Anlagen keines-wegs ein „intellektuelles Dilemma". Das gilt insbesondere für dielibertären Sozialisten, die für eine „Föderation freier Gemein-schaften" kämpften, Gemeinschaften, „die durch ihre gemeinsa-men wirtschaftlichen und sozialen Interessen miteinander ver-bunden sind und ihre Angelegenheiten durch gegenseitiges Ein-vernehmen und freie Verträge regeln". So entstünde „eine freie,auf kooperativer Arbeit beruhende Assoziation aller produktivenKräfte, deren einziger Zweck die Erfüllung der unabdingbarenBedürfnisse jedes einzelnen Mitglieds der Gesellschaft sein wür-de".18 In einer solchen Gesellschaft gäbe es keinen Grund, wes--halb Belohnungen von einer spezifischen Kombination persönli-cher Charakterzüge abhängig sein sollte, ganz gleich, wie einesolche Kombination aussehen könnte. Die Ungleichheit der An-lagen und Begabungen gehört einfach zum Wesen des Menschen- eine Tatsache, für die wir dankbar sein sollten, denn eine Ge-sellschaft, die aus untereinander austauschbaren Teilen besteht,käme einer Vision der Hölle sehr nahe. Aus dieser Ungleichheit

17 Ich habe einige der Wurzeln dieser Doktrinen an anderer Stelle diskutiert, z. B. in ForReasons of State (New York: Pantheon Books, 1973).18 Rocker, op. cit., S. 228. Rocker charakterisiert hier die „Ideologie des Anarchismus".Darüber, ob Marx eine solche Konzeption gutgeheißen hätte, kann man nur mutmaßen.Da er in erster Linie ein Theoretiker des Kapitalismus war, hatte er über das Weseneiner sozialistischen Gesellschaft nicht sehr viel zu sagen. Dementsprechend arbeitetendie Anarchisten, die zumeist die Ansicht vertraten, die Organisationen der Arbeitermüsse schon innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft „nicht nur die Ideen, sondernauch die Tatsachen der Zukunft selbst" schaffen (Bakunin), eine viel umfassendereTheorie der nachrevolutionären Gesellschaft aus. Für eine Diskussion dieser Fragenaus linksmarxistischer Sicht, siehe Karl Korsch, „On Socialization", in Horvat et al, op.cit., vol. I.

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läßt sich keineswegs ableiten, nach welchen Kriterien eine Ge-sellschaft ihr System von Anreiz und Belohnung gestaltet.

In einer sozialistischen Gesellschaft, wie sie von der authenti-schen Linken ins Auge gefaßt wird,19 wird die Befriedigung derunverzichtbaren Bedürfnisse jedes Mitglieds der Gesellschaft einesder zentralen Ziele sein. Wir können davon ausgehen, daß diese„notwendigen Bedürfnisse" zum Teil historisch bedingt sind undsich zusammen mit der Erweiterung und Bereicherung dermateriellen Kultur entwickeln werden. Wenn wir versuchen, unsdem Marxschen „Reich der Freiheit" anzunähern, geht es dabeigewiß nicht um die „Gleichheit der Bedingungen". Die Be-strebungen, Fähigkeiten und persönlichen Ziele der einzelnenMenschen werden immer unterschiedlich sein. Für den einen mages ein überwältigendes Bedürfnis sein, zehn Stunden am TagKlavier spielen zu können, für den anderen dagegen nicht. Dieseunterschiedlichen Bedürfnisse sollten in einer menschenwürdigenGesellschaft, soweit die materiellen Umstände es erlauben,befriedigt werden, genau wie es ja in gesunden Familien schonheute der Fall ist. Die Frage, wie dies konkret geschehen kann,stellt sich in funktionierenden sozialistischen Gemeinschaften wieden israelischen Kibbuzim ununterbrochen. Dabei glaube ichkaum, daß es möglich ist, weitreichende allgemeine Prinzipien fürdie Lösung von Konflikten und die Abwägung zwischen denMöglichkeiten des Einzelnen und den Ansprüchen der Gesellschaftaufzustellen. Unterschiedliche Menschen werden über diese Dingeauch unterschiedliche Ansichten haben; sie müssen dannversuchen, durch Diskussion und solidarische Einbeziehung derBedürfnisse der jeweils anderen eine Einigung zu erzielen. DieProbleme, die hier entstehen, sind in keiner Weise exotisch; sieentstehen in allen funktionierenden Gemeinschaften, wie zumBeispiel der Familie, ununterbrochen. Aufgrund der inhumanenund pathologischen Voraussetzungen des Konkur-renzkapitalismus und seiner perversen Ideologie sind wir es ein-fach nicht gewohnt, über den Rahmen solch kleiner Gruppenhinauszudenken. Es ist kein Zufall, daß neben den Worten „Frei-heit" und „Gleichheit" immer auch das Wort „Brüderlichkeit"auf dem Banner revolutionärer Bewegungen stand. Ohne Bandeder Solidarität, des Mitgefühls und der Sorge um andere ist eine

19 Indem ich von „authentischer Linker" spreche, treffe ich natürlich ein Werturteil, fürdas ich mich nicht entschuldige.

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sozialistische Gesellschaft undenkbar. Wir können nur hoffen, daßdie menschliche Natur tatsächlich so ist, daß diese Elementeunseres menschlichen Wesens sich entfalten und unser Leben be-reichern können, sobald die sozialen Bedingungen, durch die sieunterdrückt werden, einmal überwunden sind. Sozialisten setzenauf die Überzeugung, daß wir nicht dazu verdammt sind, in einerGesellschaft zu leben, die auf Gier, Neid und Haß beruht. Ichwüßte nicht, wie man beweisen könnte, daß sie recht haben, aberes gibt auch keinerlei Grund für den gängigen Glauben, daß siezwangsläufig unrecht haben.

Bei näherem Hinsehen verliert die Unterscheidung zwischender Gleichheit der Bedingungen und der Gleichheit der Rechteihre scheinbare Schärfe. Nehmen wir an, wir legen fest, daß je-dem Einzelnen in jedem Stadium seines persönlichen Lebensseine unveräußerlichen Menschenrechte zugestanden werden; indieser Hinsicht muß die „Gleichheit der Rechte" aufrechterhaltenwerden. Dann müssen aber auch die Bedingungen derart sein,daß die Menschen diese Rechte auch genießen können. Soweitdie Ungleichheit der Bedingungen die Ausübung dieser Rechteverletzt, ist sie illegitim und sollte in einer menschenwürdigenGesellschaft beseitigt werden. Worin bestehen diese Rechte?Wenn sie das Recht jedes Menschen einschließen, seine Fähig-keiten so weit wie möglich entwickeln und das entfalten zu kön-nen, was Marx das „Speziesmerkmal" der „freien, bewußten Ak-tivität" und des „produktiven Lebens" in freien, auf konstruktiver,kreativer Arbeit basierenden Gemeinschaften nennt, dannmüssen die Bedingungen in beträchtlichem Maß, zumindest aberso stark aneinander angeglichen werden, daß dieses Recht ga-rantiert ist, denn andernfalls kann von einer Gleichheit derRechte keine Rede sein. Insgesamt besagt also die Sicht der Lin-ken, daß eine scharfe Unterscheidung zwischen der Gleichheitder Rechte und der Gleichheit der Bedingungen nicht möglichist, daß die Ungleichheit der Begabungen keine entsprechendeUngleichheit der Belohnung erfordert oder rechtfertigt, daß dieGleichheit der Bedingungen kein eigenständiges Prinzip seinkann und daß der Konflikt zwischen richtig verstandenen egali-tären Prinzipien und der Unterschiedlichkeit der menschlichenAnlagen und Begabungen kein unlösbares Dilemma darstellt.Statt an dieser Stelle ausweglose Probleme zu postulieren, solltenwir uns den Problemen einer repressiven und ungerechten Ge-

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sellschaft stellen, die klarer und klarer zu Tage treten, je mehr wiruns über das Reich der Notwendigkeit hinausbewegen.

Die Kritik am Egalitarismus geht also, zumindest was den li-bertären Teil der Linken betrifft, in die Irre. Es lassen sich jedochdurchaus andere legitime Fragen aufwerfen. So könnte man zumBeispiel argumentieren, daß die Intuitionen, von denen sich dieseVision einer menschenwürdigen und gerechten Gesellschaft leitenläßt, mit anderen Intuitionen in Konflikt stehen, so zum Beispielder Überzeugung, daß man für seine Sünden und Irrtümer bezahlenmuß. Oder es könnte jemand behaupten, daß all das utopischerUnsinn ist, und daß Lohnsklaverei und autoritäre Strukturen ineiner komplexen Gesellschaft unentrinnbare Notwendigkeiten sind.Oder man könnte eine begrenztere Zeitspanne ins Auge fassen undsich für „mehr Gleichheit" und „mehr Gerechtigkeit" einsetzen unddie Frage weitergehender Ziele und der Prinzipien, die solche Zieleinspirieren, beiseite lassen. Hier betreten wir den Boden legitimerund produktiver Auseinandersetzung. Wenn zum Beispieltatsächlich jemand ein Argument dafür vorlegen kann, daßfortgeschrittene Gesellschaften nur dann überleben können, wennein Teil der Menschen sich an andere vermietet und wenn nureinige wenige die Befehle geben, während der Rest imGleichschritt hinterhermarschiert, sollte dieses Argument ernstgenommen werden. Wenn dieses Argument zutreffend ist, stellt esdie sozialistische Vision in Frage. Aber den Beweis dafür müssendann schon jene antreten, die auf der unverzichtbarenNotwendigkeit einiger der grundlegenden Voraussetzungen fürUnterdrückung, Ausbeutung und Ungleichheit bestehen. Dazulediglich zu sagen, es sei schließlich noch nie anders gewesen, istnicht sonderlich überzeugend. Mit derselben Begründung hätteman im achtzehnten Jahrhundert „demonstrieren" können, daß diekapitalistische Demokratie ein unmöglicher Traum ist.

Was wissen wir Ernsthaftes zu der Frage: „Was ist diemenschliche Natur?" zu sagen? Besteht die Möglichkeit, daß wirwenigstens hier und da Fortschritte im Verständnis der mensch-lichen Natur machen können? Können wir eine Theorie der tiefstenmenschlichen Bedürfnisse, der Natur der menschlichen Fä-higkeiten und ihrer Variation innerhalb der Spezies und der Form,die diese Bedürfnisse unter unterschiedlichen sozialen Be-dingungen annehmen, entwickeln, eine Theorie, die gewisse Fol-gen im Hinblick auf Fragen von menschlicher und gesellschaftli-

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cher Bedeutung hat oder zumindest bestimmte Schlußfolgerungennahelegt? Im Prinzip begeben wir uns hier in den Bereich derwissenschaftlichen Forschung, obwohl dies bisher eher einepotentielle als eine wirkliche Wissenschaft ist.

Die Feststellung, daß sich die Menschen grundlegend von an-deren Organismen der natürlichen Welt unterscheiden, kann kaumernstlich bestritten werden. Wenn ein Wissenschaftler vom Marsdas Leben auf der Erde studieren würde, käme er mit hoherWahrscheinlichkeit zum selben Schluß, besonders dann, wenn erdie Veränderungen im Leben der betreffenden Organismen übereine längere Periode hinweg beobachten würde. Die genetischeKonstitution heutiger Menschen unterscheidet sich nur sehr ge-ringfügig von der ihrer Vorfahren vor vielen tausend Jahren, aberdie menschliche Lebensweise hat sich, besonders in den letztenJahrhunderten, sehr beträchtlich verändert. Das ist bei keinem deranderen Organismen der Fall - es sei denn als Resultatmenschlichen Eingreifens. Ein Beobachter vom Mars käme fernergar nicht an der Tatsache vorbei, daß es in jedem einzelnengeschichtlichen Augenblick Überreste früherer, selbst steinzeitli-cher Lebensweisen gibt, obwohl sich die Menschen, die ein sol-ches Leben fuhren, genetisch praktisch nicht von denen unter-scheiden, deren Leben sich höchst radikal verändert hat. Kurz, erwürde feststellen, daß Menschen insofern einzigartig sind, als sieeine Geschichte haben, in der es kulturelle Varianz und kulturelleEntwicklung gibt. Angesichts dessen würde sich unser hy-pothetischer Marsbewohner wohl die Frage stellen: „Warum ist dasso?"

Eben diese Frage haben sich die Menschen natürlich seit An-beginn der geschichtlichen Zeit in der ein oder anderen Formimmer wieder gestellt. Und das ist ja auch nicht verwunderlich. Esist ein spontanes Bedürfnis der Menschen, ihren Platz in dernatürlichen Welt zu definieren. Die Frage „Worin besteht die Naturdes Menschen?", das heißt, die Frage nach der Kombination vonMerkmalen, die die menschliche Spezies so radikal vom Reist derorganischen Welt unterscheiden, ist eine tiefe und im wesentlichenbis heute unbeantwortete wissenschaftliche Frage. Es istverschiedentlich behauptet worden, sie entziehe sich dem Be:reichmöglicher wissenschaftlicher Forschung, da das spezifischeMerkmal, das Menschen vor anderen Organismen auszeichnet, derBesitz einer unsterblichen Seele sei, die sich durch die Methodender Wissenschaft nicht genauer erforschen lasse.

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Dabei sollten wir aber festhalten, daß aus der dualistischen Theorievon Körper und Geist durchaus nicht unabdingbar folgt, daß dieSeele für die wissenschaftliche Forschung unzugänglich ist. Mankönnte sich den von den Cartesianern angeführten Gründenanschließen und wie sie behaupten, der Mensch und nur derMensch allein sei im Besitz der nichtmateriellen Qualität descartesianischen Geistes, und dennoch, wie es angesichts spätererEntwicklungen wohl auch die Cartesianer getan hätten, daraufbestehen, daß es eine Wissenschaft des Geistes geben kann. Aberwenn wir von der Frage der wissenschaftlichen Erforschbarkeiteinmal absehen, so steht doch fest, daß die menschliche Intelligenzhöchst einzigartige Merkmale aufweist, die Elemente einerspeziestypischen menschlichen Natur bilden. Wenn wir den Be-reich der Untersuchung nicht von vornherein dogmatisch be-schränken wollen, ist es eine empirische Frage, eine Frage derWissenschaft, herauszufinden, worin die menschliche Natur wohlbestehen mag.

Das Staunen unseres hypothetischen Marsbewohners über dieEinzigartigkeit der menschlichen Spezies würde vielleicht nochgrößer, wenn er ein wenig von moderner Biologie verstünde. Soscheinen sich zum Beispiel die Mengen der DNA im befrachtetenEi einer Maus, eines Rinds, eines Schimpansen oder einesMenschen kaum voneinander zu unterscheiden. Statt dessen sindes offenbar nur durch eine komplizierte Analyse aufzudeckendestrukturelle Unterschiede, die für den jeweiligen genauen Verlaufund Charakter der embryonalen Entwicklung verantwortlich sind.In einem komplexen und verwickelten System können kleineUnterschiede in den Ausgangsbedingungen bedeutende Unter-schiede hinsichtlich Form, Größe, Struktur und Funktion des re-sultierenden Organismus und seiner einzelnen Komponenten zurFolge haben. Auf dieses Phänomen stößt man in den Naturwis-senschaften sehr häufig. Es läßt sich zum Beispiel anhand derUntersuchung des komplizierten Systems der menschlichenSprache leicht demonstrieren. Wenn wir erst einmal eine lingui-stische Theorie haben, die aussagekräftig und komplex genug ist,ist es leicht, zu zeigen, daß schon geringfügige Modifikationender allgemeinen Bedingungen, denen sprachliche Regeln gehor-chen müssen, zu mannigfaltigen und merkwürdigen Verände-rungen im Bereich der von der Theorie vorausgesagten Tatsa-chen führen. Dieses Ergebnis basiert auf den komplexen Interak-tionen, die notwendig sind, um mittels eines solchen allgemeinen

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Bedingungen unterliegenden Regelsystems Sätze zu erzeugen.Falls sich die moderne Biologie im wesentlichen auf der richtigenSpur befindet, muß die natürliche Selektion irgendwie einebesondere, genetisch höchst komplexe Eigenschaft hervorgebrachthaben, die „eine neue Kraft" erzeugte: „den menschlichen Geist",ein „einzigartiges Werkzeug, [das] zum ersten Mal einerbiologischen Spezies die Macht gab, durch bewußte Manipulationder äußeren Welt ... ihre Beziehung zur Umwelt zu verändern".Dieses neue Instrument bildete außerdem ein Mittel zum Ausdruckvon Gedanken und Gefühlen, zur Schaffung von Kunst undWissenschaft und für die Planung von Handlungen und dieEinschätzung ihrer Konsequenzen, das alles im Tierreich Vor-handene weit in den Schatten stellt. Es wird oft die plausibleVermutung geäußert, daß „der entscheidende Schritt" in derEntwicklung dieses einzigartigen Instruments, des menschlichenGeistes, „die Erfindung der Sprache gewesen sein muß".20 Aufeine bisher kaum verstandene Weise veränderte sich die genetischeAusstattung des Vormenschen, was schließlich zur Entstehungeines Lebewesens führte, in dem zusammen mit einem ganzenSystem „mentaler Organe" auch die menschliche Sprache wächst,und dieses Wesen konnte dann in einem, so weit wir wissen, in dernatürlichen Welt nie dagewesenen Ausmaß dazu übergehen, selbstdie Bedingungen zu schaffen, unter denen es lebt.

Die Bedeutung der Frage „Was ist die menschliche Natur?"geht über den Bereich der Wissenschaft hinaus. Wie wir bereitsfestgestellt haben, ist sie zugleich auch eine Kernfrage des sozialenDenkens. Was ist eine gute Gesellschaft? Vermutlich doch eine,die, soweit die materiellen Bedingungen es erlauben, zurBefriedigung der im Wesen des Menschen verankerten Bedürf-nisse führt. Um Aufmerksamkeit und Respekt zu verdienen, sollteeine soziale Theorie in einem Konzept der menschlichenBedürfnisse und der Menschenrechte wurzeln, aber dann ist siezugleich eine Theorie über die menschliche Natur, da ansonstender Ursprung und Charakter dieser Bedürfnisse und Rechte voll-kommen im Dunkeln bliebe. Dementsprechend werden die so-zialen Strukturen und Beziehungen, die ein Reformer oder Re-volutionär zu erreichen versucht, auf einem Konzept der mensch-

20 Zitate aus Salvador E. Luria, Life: The Unfinished Experiment (New York: Scribner'sSons, 1973).

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lichen Natur basieren, selbst wenn dieses vielleicht vage und un-präzis ist.

Nehmen wir einmal mit Adam Smith an, die Neigung zuSchacher und Tauschhandel sei ein Kernelement der menschlichenNatur. Dann werden wir uns für die Schaffung einer früh-kapitalistischen Gesellschaft von Kleinhändlern einsetzen, derenWirken keiner Einschränkung durch Monopole, staatliche Inter-vention oder sozial kontrollierte Produktion unterliegt. Wir könnenaber auch die Konzepte eines anderen Denkers des klassischenLiberalismus, Wilhelm von Humboldts, übernehmen, der dementgegenhält: „Forschen und Schaffen - darum drehen und daraufbeziehen sich wenigstens, wenngleich mittelbarer oderunmittelbarer, alle Beschäftigungen des Menschen" und fernerdarauf besteht, daß wahre Schöpfung nur unter der Voraussetzungfreier Entscheidungen jenseits von „Einschränkung und Leitung"stattfinden kann, das heißt, in einer Gesellschaft, in der diesozialen Fesseln durch frei geschaffene soziale Bande ersetztworden sind. Und wir könnten weiter mit Marx der Meinung sein,daß Jedes Individuum nur in einem Zustand der Gemeinschaft mitanderen die Mittel hat, seine Neigungen in alle Richtungen zuentwickeln, also nur in einem Zustand der Gemeinschaftpersönliche Freiheit möglich werden wird" - wobei persönlicheFreiheit die Beseitigung der Entfremdung der Arbeit voraussetzt,die schon Humboldt verurteilte, nämlich einer Arbeitssituation, die„einen Teil der Arbeiter zu einer barbarischen Arbeit zurückwirftund den anderen Teil zur Maschine macht".21 Wenn wir vonsolchen Annahmen über die menschlichen Bedürfnisse ausgehen,erhalten wir ein ganz anderes Konzept der sozialen Ordnung, fürderen Zustandekommen wir uns einsetzen sollten.

Einige Marxisten haben die Position vertreten, daß es „abge-sehen von der historischen Existenz des Menschen keine Naturdes Menschen gibt"22 und daß „die menschliche Natur nichts vonder Natur Festgelegtes ist, sondern im Gegenteil eine 'Natur',die vom Menschen in den Akten seiner 'Selbsttranszendierung'als Naturwesen selbst geschaffen wird".23 Diese Interpretation

21 Für Quellen und Diskussion, siehe Fußnote 17; ferner auch Frank E. Manuel, „InMemoriam: Critique ofthe Gotha Program, 1875-1975", Daedalus, Winter 1976.22 Fredy Perlman, Essay on Commodity Fetishism, 1968, abgedruckt aus Telos, Nr. 6(Somerville, Mass.: New England Free Press, 1968).23 István Mészáros, Marx 's Theory ofAlienation (London: Merlin Press, 1970).

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stützt sich auf die Marxsche Äußerung, daß „die Natur, die in dermenschlichen Geschichte - der Genesis der menschlichenGesellschaft - entsteht, die wirkliche Natur des Menschen ist",24

sowie auf einige andere Bemerkungen, die in eine ähnlicheRichtung gehen. Selbst wenn wir uns dieser Meinung anschließensollten, bliebe es dennoch dabei, daß der nächste Schritt dersozialen Veränderung Bedingungen schaffen sollte, die der„wirklichen Natur" in einem gegebenen Stadium der historischenund kulturellen Entwicklung erlauben, sich maximal zu entfalten.

Stimmt es überhaupt, daß die Natur des Menschen in keinerWeise „von der Natur festgelegt" ist? Für die körperlichen Kom-ponenten der menschlichen Natur gilt dies ja ganz offensichtlichnicht. Wenn etwa ein moderner marxistischer Denker wie Antb-nioGramsci argumentiert, daß „die durch den Marxismus in die Politikund die Geschichtswissenschaften eingebrachte fundamentaleInnovation in dem Beweis besteht, daß es keine abstrakte,festgelegte und unwandelbare 'menschliche Natur' gibt, ... sonderndaß die menschliche Natur in der Totalität der geschichtlichdeterminierten gesellschaftlichen Beziehungen besteht",25 sprichter natürlich nicht von den physischen Organen des Menschenüberhaupt, sondern von einem spezifischen Organ, nämlich demmenschlichen Gehirn und dessen Schöpfungen. Der Inhalt dieserDoktrin läuft darauf hinaus, daß das menschliche Gehirn,zumindest soweit es die höheren geistigen Funktionen angeht,unter den uns bekannten organischen Systemen der natürlichenWelt insofern einzigartig ist, als es keine genetisch determinierteStruktur hat, sondern letztlich eine tabula rasa ist, in die dieTotalität der historisch bedingten gesellschaftlichen Beziehungeneingeschrieben wird. Diese Doktrin hat auf einen Teil der Linkenimmer eine fast magische Anziehungskraft ausgeübt. In seinemBericht über eine Diskussion, die kürzlich von der AmericanAssociation for the Advancement of Science veranstaltet wurde,schreibt Walter Sullivan:

Der extremsten Auffassung zufolge, die hier von einigen Dis-kussionsteilnehmern vorgebracht wurde, sind menschlicheGehirne von jeglichen genetischen Einflüssen 'abgekoppelt' -

24 István Mészáros, Marx 's Theory ofAlienation,25 Siehe mein Buch Reflections on Language (New York: Pantheon Books, 1975) fürQuellen und Diskussion.

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ihre jeweiligen Outputs sind wie bei Standardcomputernvollkommen durch die Programmierung bestimmt.26

Als wissenschaftliche Hypothesen scheinen mir diese bereitsvom radikalen Behaviorismus bekannten Annahmen wenig für sichzu haben. Solche Annahmen machen es so gut wie unmöglich, denReichtum und die Komplexität der kognitiven Systeme des Men-schen, die Uniformität ihres Wachstums und die bemerkenswertenqualitativen Unterschiede, die zwischen dem Menschen undanderen Arten bestehen, zu erklären. Jedenfalls sind bisher wederBeweise noch Argumente zur Unterstützung des Glaubens vorge-bracht worden, daß das menschliche Gehirn sich so sehr von jederanderen uns bekannten Struktur der natürlichen Welt unterscheidet,und es liegt vielleicht eine gewisse Ironie darin, daß solcheAnsichten - nicht nur von Seiten der Linken - vorgebracht werden,als seien sie das direkte Ergebnis irgend einer Form vonwissenschaftlichem Naturalismus. Mir scheint genau das Gegenteilder Fall zu sein. Das menschliche Gehirn ist tatsächlich in vielerleiHinsicht einzigartig, und die mentalen Strukturen, die sich unterden durch äußere Erfahrung gegebenen Grenzbedingungenheranbilden - die kognitiven Strukturen, die „gelernt" werden, umeinen gebräuchlichen und, wie ich meine, recht irreführendenTerminus zu gebrauchen -, rüsten den Menschen tatsächlich miteinem „einzigartigen Werkzeug" aus. Aber es ist schwervorstellbar, daß diese „Einzigartigkeit" auf dem völligen Fehlenvon Struktur beruhen soll, auch wenn diese Überzeugung sehr altist und weiterhin eine bemerkenswerte Macht über die moderneVorstellungskraft ausübt. Das wenige, was wir über dasmenschliche Gehirn und die kognitiven Stnikturen des Menschenwissen, deutet auf etwas völlig anderes hin, nämlich darauf, daßein hochgradig festgelegtes genetisches Programm die grundle-genden strukturellen Eigenschaften unserer „mentalen Organe"bestimmt und uns auf diese Weise ermöglicht, auf einheitliche Artund auf der Basis sehr begrenzter Erfahrung reiche und ver-wickelte Wissens- und Glaubenssysteme zu erwerben. Ich könntehinzufügen, daß eine solche Sicht der Dinge, besonders in Bezugauf die menschliche Sprache, für Biologen keine Überraschung

26 Walter Sullivan, „Scientists Debate Questions of Race and Intelligence", New YorkTimes, 23. Februar 1976, S. 23. Sein Bericht könnte durchaus zutreffend sein; ich habeoft ähnliche Kommentare von linksgerichteten Wissenschaftlern gehört und gelesen.

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sein wird.27 Und ich denke, daß sie von Neurophysiologen wohlmeist als etwas sehr Naheliegendes, wenn nicht gar Offensichtli-ches angesehen würde.

Wir müssen uns mit globalen und vagen Bemerkungen wiediesen nicht zufriedengeben. Zumindest im Bereich der Erfor-schung der menschlichen Sprache gibt es mittlerweile reichhaltigeHypothesen über den generellen Charakter des genetischenProgramms, das für das Wachstum der Sprachfähigkeit und diebesonderen Formen, die dieses Wachstum annimmt, sorgt, Hy-pothesen, die meines Erachtens beträchtliche Überzeugungs- undErklärungskraft besitzen. Ich sehe keinen Grund, weshalb wir nichtauch in anderen Bereichen zu vergleichbaren Ergebnissen kommensollten, sobald wir einmal beginnen, die Struktur der kognitivenFähigkeiten des Menschen zu verstehen. Wenn das, was ich bisjetzt gesagt habe, richtig ist, können wir uns die menschliche Naturals ein System vorstellen, wie wir es auch sonst in der biologischenWelt finden: ein System „mentaler Organe", das auf physischenMechanismen beruht, die bis jetzt noch weitgehend unbekanntsind, aber im Prinzip untersucht werden können. Dieses Systemermöglicht eine einzigartige Form der Intelligenz, die sich in sehrunterschiedlichen Teilbereichen manifestiert: in der menschlichenSprache, in unserem einzigartigen Vermögen zur Entwicklung derKonzepte von Zahl und abstraktem Raum,28 in der Fähigkeit, fürbestimmte Bereiche der Welt wissenschaftliche Theorien zukonstruieren und in anderen Bereichen bestimmte Systeme derKunst, des Mythos und des Rituals zu schaffen, der Fähigkeit,menschliche Handlungen zu interpretieren, bestimmte Systemesozialer Institutionen zu entwickeln und zu verstehen und anderemmehr.

Wenn wir von der Hypothese eines „leeren Organismus" aus-gehen, sind die Menschen natürlich mit Sicherheit in ihren in-

27 Vgl. zum Beispiel die Bemerkungen zur Sprache in Luria, op. cit.; Jacques Monod,Chance and Necessity (New York: Alfred A. Knopf, 1971); ferner François Jacob, TheLogic ofLife, (New York: Pantheon Books, 1973). Für eine Diskussion des Themas ausjüngerer Zeit, siehe mein Buch Reflections on Langnage.28 Es ist äußerst irreführend, wenn manchmal behauptet wird, bestimmte Vögel ver-fügten über ein elementares „Konzept von Zahl", was sich an ihrer Fähigkeit zeige, biszu einer gewissen Grenze (ungefähr bis 7) ordinale Systeme zu verwenden, die visuell[in Formen wie l, l l,... l l l l l l l, A.d. Ü.] präsentiert werden. Die Konzepte eins, zwei,... sieben dürfen nicht mit dem Konzept der natürlichen Zahl, wie es z.B. durch dieDedekind-Peano-Axiome formal als unendliches System charakterisiert und vonnormalen Menschen intuitiv verstanden wird, verwechselt werden.

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tellektuellen Anlagen gleich. Genauer gesagt, sie sind sich danngleich in ihrer Unfähigkeit, komplexe kognitive Strukturen der fürden Menschen typischen Art zu entwickeln. Wenn wir jedochannehmen, daß dieser biologische Organismus genau wie jederandere seine spezifischen Fähigkeiten hat, und daß sich unterdiesen Fähigkeiten auch die Fähigkeit zur Entwicklung dermenschlichen kognitiven Strukturen mit ihren spezifischen Ei-genschaften befindet, dann ergibt sich daraus die Möglichkeit daßes bezüglich der höheren geistigen Funktionen unter den einzelnenMenschen Unterschiede gibt. Tatsächlich wäre es wenn diekognitiven Fähigkeiten wirklich so etwas wie mentale Organe"sind, überraschend, wenn es solche Unterschiede nicht gäbe. Daßdie Menschen sich in ihren körperlichen Merkmalen undFähigkeiten unterscheiden, ist ja ganz offensichtlich; warum solltees also im Charakter ihrer geistigen Organe und der physischenStrukturen, auf denen diese basieren, keine solchen genetischfestgelegten Unterschiede geben?

Die Erforschung spezifischer kognitiver Fähigkeiten wie desSprachvermögens fuhrt zu spezifischen und, wie ich meine aus-sagekräftigen Hypothesen über den genetisch programmiertenSchematismus der Sprache, sagt uns aber nichts über die Band-breite der individuellen Variation. Vielleicht liegt das an der Un-angemessenheit unseres analytischen Vorgehens. Es könnte aberdurchaus sein, daß die grundlegenden sprachlichen Fähigkeitenvon schwer pathologischen Fällen abgesehen, tatsächlich so gutwie invariant sind. Zumindest finden wir in einem sehr weitenBereich bis in viele Einzelheiten hinein keine Unterschiede in derFähigkeit zum Erwerb und effizienten Gebrauch der menschlichenSprache, obwohl es durchaus gewisse Unterschiede sowohlhinsichtlich des Systems, das erworben wird, als auch hinsichtlichder Gewandtheit, mit der es gebraucht wird, geben mag Imletzteren Fall ist das ja ziemlich offensichtlich. Ich sehe keinenGrund dafür, hier irgendwelche Dogmen aufzustellen. Über anderekognitive Fähigkeiten ist so wenig bekannt, daß wir kaum auch nurspekulieren können. In der Praxis deutet alles darauf hm, daß dieMensclien sich in ihren intellektuellen Fähigkeiten und derenSpezialisierung tatsächlich voneinander unterscheiden. Das wäreauch kaum weiter überraschend, wenn wir davon ausgehen, daßwir es hier mit ganz normalen biologischen ^Strukturen zu tunhaben, auch wenn sie im vorliegenden Fall sehr verwickelt undbemerkenswert sind.

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Viele Leute, besonders solche, die sich selbst innerhalb des linkenoder liberalen Spektrums ansiedeln würden, finden derartigeSchlußfolgerungen anrüchig. Möglicherweise ist die Hypothesevom leeren Organismus zum Teil deswegen so attraktiv für dieLinke, weil sie die erwähnten Möglichkeiten ausschließt; wenn eskeinerlei Anlagen gibt, gibt es auch keine Varianz. Aber ichbegreife nicht ganz, weshalb Schlußfolgerungen wie die genannteüberhaupt irgendwie beunruhigend sein sollten. So bin ich zumBeispiel fest davon überzeugt, daß keinerlei Übung oderAusbildung mir die Fähigkeit hätten verschaffen können, Mittel-streckenmeister in der Leichtathletik zu werden, die GödelschenTheoreme zu entdecken oder ein Beethoven-Quartett zu kompo-nieren; dasselbe gilt für den allergrößten Teil der anderen un-endlich vielen Gipfelpunkte dessen, was Menschen vollbringenkönnen. Aber ich fühle dadurch, daß ich all das nicht kann, inkeiner Weise herabgesetzt. Es genügt mir vollkommen, daß ich,genau wie wahrscheinlich jeder andere Mensch mit normalenAnlagen, fähig bin, das, was andere erreicht haben, zu schätzenund zum Teil zu verstehen, und gleichzeitig, soweit und auf dieArt, wie ich das kann, meine eigenen, persönlichen Beiträge zudiesen Leistungen beizusteuern.

Innerhalb eines für die menschliche Art charakteristischenRahmens, der weiten Raum für schöpferische Arbeit - ein-schließlich der schöpferischen Betätigung, die darin liegt, dasWerk anderer zu genießen - läßt, variieren die Talente einzelnerMenschen ganz beträchtlich. Darüber sollten wir uns freuen, stattes als schrecklichen Fluch zu betrachten. Diejenigen, die hier an-derer Meinung sind, gehen offenbar von der stillschweigendenVoraussetzung aus, daß die Rechte oder die gesellschaftlichenBelohnungen der Menschen in irgendeiner Weise von ihren Fä-higkeiten abhängen. Was die Rechte der Menschen angeht, liegt,wie bereits erwähnt, insofern (und nur insofern) eine gewissePlausibilität in dieser Annahme, als in einer menschenwürdigenGesellschaft die Möglichkeiten so weit wie möglich den Bedürf-nissen entsprechen sollten, und solche Bedürfnisse können nuneinmal sehr speziell sein und mit ganz persönlichen Talenten undFähigkeiten zu tun haben. Aber meine Freude am Leben wirddurch die Tatsache, daß andere viele Dinge tun können, zu denenich nicht fähig bin, bereichert, und ich sehe keinen Grund, diesenMenschen die Möglichkeit zu verweigern, ihre Talente imEinklang mit den Bedürfnissen der Gesellschaft als Ganzer zu

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entfalten. Natürlich werden sich dabei in jeder funktionierendensozialen Gruppe in der Praxis schwierige Fragen stellen, einprinzipielles Problem sehe ich hier jedoch nicht.

Was die sozialen Belohnungen betrifft, wird oft behauptet, inunserer Gesellschaft korreliere die Entlohnung teilweise mit demIQ. Aber insoweit das stimmt, handelt es sich hier einfach um einesoziale Krankheit, die überwunden werden sollte, genau wie ineinem früheren Stadium der menschlichen Geschichte dieSklaverei beseitigt werden mußte. Es wird manchmal argumentiert,alle konstruktive und kreative Arbeit werde aufhören, wenn sienicht zu materieller Belohnung führt, so daß die gesamte Ge-sellschaft gewinnt, wenn die Talentierteren besondere Belohnun-gen erhalten. Für die Masse der Bevölkerung lautet die Botschaftalso: „Ihr seid besser dran, wenn ihr arm bleibt." Man sieht leicht,weshalb diese Doktrin den Privilegierten gefällt, aber man kannsich schwer vorstellen, daß irgend jemand sie ernsthaft vorbringenkönnte, der die kreative Arbeit von Leuten kennengelernt hat, diein der Kunst, der Wissenschaft, dem Handwerk oder ähnlichenBereichen tätig sind. Die Standardargumente für die sogenannte„Meritokratie" basieren meines Wissens weder auf Tatsachen nochauf logischen Erwägungen; sie beruhen auf apriorischenÜberzeugungen, die noch dazu nicht sonderlich plausibel sind. Ichhabe diese Frage an anderer Stelle diskutiert und werde sie hiernicht weiterverfolgen.29

Nehmen wir an, bei der Erforschung der menschlichen Naturstellt sich heraus, daß die kognitiven Systeme des Menschen durchunser genetisches Programm hochgradig strukturiert sind, und daßes innerhalb dieses gemeinsamen Rahmens Variationen unter deneinzelnen Individuen gibt. Das scheint mir eine vollkommenvernünftige Erwartung und darüber hinaus sehr wünschenswert zusein. Soweit ich sehen kann, hat sie abgesehen von dem, wasbereits skizziert wurde, keine Implikationen im Hinblick auf dieGleichheit der Rechte und Bedingungen.

Betrachten wir schließlich die Frage der „Rasse" und der in-tellektuellen Begabung. Halten wir noch einmal fest, daß nichtsvon dem, was man in dieser Frage an Entdeckungen machenkönnte, in einer menschenwürdigen Gesellschaft irgendwelchesoziale Konsequenzen hätte. Einzelne Menschen sind das, wassie sind; nur aufgrund von rassistischen Annahmen könnte ge-

29 Siehe mein Buch For Reasons of State, Kapitel 7.

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folgert werden, daß sie als Beispiele ihrer rassischen Kategoriebetrachtet werden müssen, so daß aus der bloßen Entdeckung, daßdie durchschnittliche Begabung einer rassischen Kategorie imHinblick auf die und die Fähigkeit so und so groß ist, eine anderegesellschaftliche Behandlung des einzelnen Angehörigen dieserGruppe folgen würde. Wenn wir rassistische Annahmenfallenlassen, haben die Tatsachen, wie immer sie aussehen mögen,keine sozialen Konsequenzen und sind zumindest unter diesemGesichtspunkt keiner weiteren Forschung wert. Wenn es irgendeinen Grund für die Untersuchung der Beziehung zwischen derRasse und einer bestimmten Fähigkeit geben soll, muß er sich alsoaus der wissenschaftlichen Bedeutung der Frage ableiten. Hier istes schwer, einen genauen Maßstab aufzustellen. Die Erforschungeiner Frage hat grob gesagt dann wissenschaftlichen Wert, wennihre Resultate uns vielleicht etwas über irgendwelche allgemeinenPrinzipien der Wissenschaften sagen können. Man stellt keineUntersuchungen über die Dichte der Grashalme auf verschiedenenRasenflächen oder über unzählige andere triviale und sinnloseFragen an. Aber die Untersuchung von Fragen wie der Beziehungzwischen Rasse und IQ scheint praktisch keinerleiwissenschaftliche Bedeutung zu haben. Man könnte sich vorstel-len, daß in der Erforschung der Korrelation zwischen teilweiseerblichen Merkmalen ein gewisses Interesse liegen könnte, aberwenn jemand an einer derartigen Frage interessiert wäre, würde ersich gewiß nicht solche Charakteristika wie Rasse und IQ aus-suchen, von denen jedes ein unverstandenes Amalgam komplexerEigenschaften darstellt. Statt dessen würde er fragen, ob es eineKorrelation zwischen meßbaren und klar definierbaren Merkmalengibt, wie etwa der Farbe der Augen und der Länge des großenZehs. Von daher ist schwer zu sehen, wie die Untersuchung vonRasse und IQ mit wissenschaftlichen Gründen gerechtfertigtwerden kann.

Da diese ganze Untersuchung weder wissenschaftlich nochsozial von Interesse ist, abgesehen von der rassistischen Annah-me, daß der Einzelne nicht als das betrachtet werden sollte, waser ist, sondern als der Durchschnitt seiner rassischen Kategorie,folgern wir, daß es eigentlich gar keinen vernünftigen Grund fürsie gibt. Also stellt sich die Frage, weshalb sie mit einem solchenEifer betrieben wird. Warum wird sie überhaupt ernst genom-men? Hier richtet sich die Aufmerksamkeit ganz von selbst aufdie erwähnten rassistischen Annahmen, die, wenn sie akzeptiert

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werden, der Untersuchung sehr wohl eine Bedeutung zuschreiben.In einer rassistischen Gesellschaft kann man davon ausgehen,

daß eine Untersuchung der Beziehung zwischen Rasse und IQVorurteile verstärken wird, ganz gleich, was bei der Untersuchungschließlich herauskommt. Wenn man schon mit Konzepten wie„Rasse" und „IQ" anfangt, steht zu erwarten, daß die Resultatejedweder Untersuchung vage und widersprüchlich und dieArgumente komplex und für Laien schwierig nachvollziehbar seinwerden. Für einen Rassisten wird das Urteil „nicht bewiesen" dieBedeutung annehmen: „wahrscheinlich wahr". Ein Rassist wirdgenügend Anlaß finden, sich in seinen Vorurteilen zu suhlen. Diebloße Tatsache, daß man sich mit der Frage beschäftigt, legt demPublikum den Schluß nahe, das Ergebnis sei doch immerhin voneiniger Bedeutung, und da es dies nur ist, wenn man vonvornherein von rassistischen Annahmen ausgeht, stekken dieseAnnahmen implizit schon im ganzen Unternehmen selbst, selbstwenn sie nicht offen ausgesprochen werden. Aus Gründen wiediesen wäre zum Beispiel eine Untersuchung der genetischenMerkmale von Juden in Nazideutschland ein abscheuliches Projektgewesen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß dieErforschung von Rasse und IQ den Opfern des amerikanischenRassismus enorm geschadet hat. Ich habe schon erlebt, wieschwarze Pädagogen lebhaft das Leid und die Verletzungbeschrieben haben, die Kindern zugefügt werden, denen man zuverstehen gibt, die „Wissenschaft" habe dieses oder jenes über ihreRasse bewiesen oder habe es zumindest für nötig befunden, dieseFrage aufzuwerfen.

Wir können nicht einfach die Tatsache ignorieren, daß wir ineiner zutiefst rassistischen Gesellschaft leben, auch wenn wir dasnur zu gerne vergessen würden. Wenn die Herausgeber der NewYork Times und der amerikanische UN-Botschafter Moynihanden ugandischen Diktator Idi Amin - vielleicht zutreffenderweise- als „rassistischen Mörder" geißeln, fuhrt das postwendend zueinem Aufwallen von Stolz im ganzen Land, und sie werden fürihren Mut und ihre Aufrichtigkeit gepriesen. Natürlich würdeniemand so vulgär sein, darauf hinzuweisen, daß dieselben Leutein nicht allzu fern zurückliegender Vergangenheit rassistischenMord in einer Dimension unterstützt haben, die weit jenseits derwildesten Phantasien Amins liegt. Daß solche heuchlerischenVerlautbarungen fast nirgends Ekel und Entsetzen auslösen,

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spiegelt in erster Linie die extrem machtvollen ideologischenKontrollen wider, die uns davon abhalten, uns mit unseren Hand-lungen und ihren Konsequenzen auseinanderzusetzen, und darüberhinaus die tiefe Verwurzelung unserer Nation in rassistischenPrinzipien. Die Opfer unserer Kriege in Asien wurden nie alsvollwertige Menschen betrachtet, eine Tatsache, die zu unsererbleibenden Schande nur allzu leicht demonstriert werden kann.Was den Rassismus in den USA selbst betrifft, ist wohl kaum einKommentar nötig.

Als Wissenschaftler ist man wie jeder andere auch für dievorhersehbaren Konsequenzen seines Handelns verantwortlich.Das liegt auf der Hand und wird im allgemeinen auch anerkannt;denken wir nur an die Beschränkungen für Experimente anmenschlichen Versuchsobjekten. Im vorliegenden Fall wird eineUntersuchung der Beziehung zwischen Rasse und IQ in einerrassistischen Gesellschaft aus den gerade erwähnten Gründen ganzunabhängig von ihrem Ergebnis einen hohen sozialen Preisfordern. Ein Wissenschaftler, der sich dennoch mit solcher For-schung befaßt, muß daher zeigen, daß ihre Bedeutung derart großist, daß sie diese Kosten aufwiegt. Wenn zum Beispiel jemandbehauptet, wie es der Präsident der Bostoner Universität JohnSilber (Encounter, August 1974) getan hat, diese Untersuchung seidurch die Möglichkeit gerechtfertigt, daß sie zu einer Verfeinerungder Methodologie der Sozialwissenschaften führen könne, gibt eruns einen Einblick in sein moralisches Kalkül: der möglicheBeitrag zur Forschungsmethodologie wiegt die sozialen Kosten desStudiums der Beziehung zwischen Rasse und IQ in einerrassistischen Gesellschaft auf. Vertreter derartiger Auffassungenscheinen häufig zu glauben, sie verteidigten damit die akademischeFreiheit, aber damit verwirren sie die Dinge vollends. Das Themader Freiheit der Forschung stellt sich hier in seiner ganz normalenForm: bringt die fragliche Forschung Kosten mit sich, und wenn ja,werden diese durch die Bedeutung der Forschung aufgewogen?Wissenschaftler haben kein besonderes Privileg, diewahrscheinlichen Konsequenzen ihres Tuns zu ignorieren.

Sobald die Frage von Rasse und IQ aufgeworfen wird, befin-den sich die Menschen, die die schwerwiegenden sozialen Folgensolcher Forschung in einer rassistischen Gesellschaft erkennenund darüber besorgt sind, in gewisser Weise bereits in einer Fal-le. Sie können solche Forschungsprojekte aus den angeführtenGründen ablehnen, und das sollten sie auch. Aber sie tun dies in

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einer rassistischen Gesellschaft, in der die Menschen noch dazugewohnt sind, Fragen von menschlicher und sozialer Bedeutung„technischen Experten" zu überlassen, die sich dann oft als Ex-perten der Verschleierung und Verteidigung von Privilegien er-weisen - „Experten der Legitimation", wie Gramsci sie nannte. DieKonsequenzen sind offensichtlich. Oder sie können in die Arenavon Argument und Gegenargument hinsichtlich der Frage eintretenund so implizit die Überzeugung stärken helfen, es sei furchtbarwichtig, welche Ergebnisse diese Untersuchung zeitigt, womit siestillschweigend die rassistische Annahme, auf der dieseÜberzeugung letztlich basiert, unterstützen. Indem man angeblicheKorrelationen zwischen Rasse und IQ (oder Rasse und X, wasimmer dieses X dann sein mag) bestreitet, wird man alsounvermeidlich rassistische Annahmen zementieren. Das Dilemmaist nicht auf dieses eine Thema beschränkt. Ich habe es an andererStelle in Bezug auf die Debatte über Mord und Aggressiondiskutiert.30 In einer hochgradig ideologisierten Gesellschaft kannes sich kaum anders verhalten, eine unangenehme Tatsache, diewir bedauern mögen, der wir uns aber schwerlich entziehenkönnen.

Wir leben und arbeiten unter gegebenen historischen Bedin-gungen. Wir können versuchen, sie zu verändern, aber ignorierenkönnen wir sie nicht, weder in unserer beruflichen Arbeit, noch inden von uns verfochtenen Strategien für soziale Veränderung, nochin den direkten politischen Handlungen, an denen wir teilnehmenoder von denen wir Abstand nehmen. Bei der Diskussion vonFreiheit und Gleichheit ist es sehr schwierig, Tatsachen vonWerturteilen zu trennen. Wir sollten versuchen, das zu tun und derempirischen Forschung ohne dogmatische Vorurteile in dieRichtung zu folgen, in die sie führt, ohne dabei die Konsequenzendessen, was wir tun, außer acht zu lassen. Wir dürfen nievergessen, daß unser Tun durch die Ehrfurcht vor dem Ex-pertentum, das die sozialen Institutionen als eines der Mittel zurDurchsetzung von Passivität und Gehorsam verbreiten, verfälschtund verdreht wird. Was wir als Wissenschaftler, als Gelehrte, alsVerfechter einer Sache tun, hat Konsequenzen, genau wie unsereAblehnung, uns zu Wort zu melden oder zu handeln, definitivKonsequenzen hat. In einer auf der Konzentration von Macht

30 American Power and the New Mandarins (New York: Pantheon Books, 1969),Einfuhrung.

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und Privileg basierenden Gesellschaft kommen wir an dieser Tat-sache nicht vorbei. Daraus resultiert eine schwerwiegende Ver-antwortung, die der Wissenschaftler oder Gelehrte in einer men-schenwürdigen Gesellschaft, in der die Einzelnen die Entschei-dungen über ihr Leben und ihre Überzeugungen nicht an ir-gendwelche Autoritäten delegieren würden, so nicht zu tragenhätte. Wir können - und sollten - uns an die ganz einfachen Wertehalten: Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, Verantwortlichkeit undinnere Beteiligung an den Angelegenheiten der Welt. Aber nachdiesen Richtlinien zu leben ist oft alles andere als einfach.

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II. Notwendige Illusionen

3. Demokratie und Medien*

Unter der Überschrift „Brasilianische Bischöfe unterstützen Planzur Demokratisierung der Medien" beschreibt eine kirchlichesüdamerikanische Zeitschrift einen in der verfassunggebendenVersammlung Brasiliens diskutierten Vorschlag „zur Öffnung dermächtigen und hochgradig konzentrierten Medien Brasiliens füreine Teilnahme der Bürger". „Die katholischen Bischöfe Brasiliensgehören zu den prominentesten Unterstützern [dieser] ...Gesetzesvorlage zur Demokratisierung der Massenmedien desLandes", berichtet der Artikel weiter, und weist dann darauf hin,daß „das brasilianische Fernsehen sich in den Händen von fünfgroßen Sendern befindet, [während] ... der größte Teil der Wer-bung in den Medien von acht großen multinationalen Konzernensowie diversen Staatsunternehmen bestritten wird". Der Vorschlag„sieht die Schaffung eines Nationalen Medienrats vor, der ausVertretern der Bürger und des Staates zusammengesetzt sein [und]... eine demokratische Medienpolitik ausarbeiten sowie Lizenzenfür den Radio- und Fernsehbetrieb vergeben soll". „Die Konferenzder Katholischen Bischöfe Brasiliens hat wiederholt die Bedeutungder Massenmedien hervorgehoben und sich für eine größereBasisbeteiligung eingesetzt. Die Medienkommunikation soll auchThema der diesjährigen ... Gemeindekampagne zur Reflexion überbestimmte soziale Themen" sein, einer Institution, die ebenfallsvon der Bischofskonferenz ins Leben gerufen worden ist.1

Über die von den brasilianischen Bischöfen aufgeworfenenFragen gibt es in vielen Teilen der Welt eine ernsthafte Diskussi-on. In mehreren Ländern Lateinamerikas und anderswo sind Pro-jekte in Gang gebracht worden, die sich mit diesen Fragen be-schäftigen. Es haben Diskussionen über eine „Neue Weltinfor-mationsordnung" stattgefunden, die den Zugang zu den Medien

* Im November 1988 hielt Noam Chomsky im Rahmen der Massey-Vorlesungen fünfVorträge über „Gedankenkontrolle in demokratischen Gesellschaften", die imkanadischen Radio gesendet wurden und zusammen mit umfangreichem Begleitmaterialin seinem Buch Necessary Illusions. Thought Control in Democratic Societies (Boston:South End Press, 1989) erschienen sind. Bei „Demokratie und Medien" handelt es sichum den Eröffnungsvortrag der Vorlesungsreihe; er ist dem angegebenen Buch (S. l - 20)entnommen.1 Jose Pedro S. Martins, Latinamerica Press (Lima), 17. März 1988.

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auf breitere Schichten der Bevölkerung ausdehnen und Alternati-ven zu dem von den westlichen Industriemächten dominiertenglobalen Mediensystem schaffen soll. Eine Studie der UNESCO,die sich mit solchen Möglichkeiten befaßte, hat in den VereinigtenStaaten extrem feindselige Reaktionen ausgelöst,2 die angeblichvon der Sorge um die Pressefreiheit inspiriert waren. Ich möchteim folgenden untersuchen, wie ernsthaft diese Sorge inWirklichkeit ist und worin ihr eigentlicher Inhalt besteht. Fernermöchte ich mich ein wenig mit den Möglichkeiten einer demo-kratischen Medienpolitik beschäftigen: Wie könnte eine solchePolitik aussehen, sollten wir etwas derartiges anstreben, und wennja, ist das überhaupt durchführbar? Und das fuhrt automatisch zuder allgemeineren Frage: Welche Art von demokratischer Ordnungsollten wir anstreben?

Das Konzept einer „Demokratisierung der Medien" hat in derpolitischen Debatte in den Vereinigten Staaten eigentlich garkeinen Platz. Schon die Worte selbst haben einen paradoxen, ir-gendwie sogar subversiven Klang. Eine Partizipation der Bürger anden Medien würde als Beschneidung der Pressefreiheit, als Schlaggegen die Unabhängigkeit der Medien betrachtet, der diese nur beider Erfüllung der von ihnen übernommenen Mission,unerschrocken und unparteiisch die Öffentlichkeit zu informieren,behindern würde. Diese Reaktion gibt zu denken. Sie beruht nichtnur auf gewissen Überzeugungen darüber, wie die Medien inunseren demokratischen Systemen funktionieren und was ihr Zielsein sollte, sondern auch auf einigen impliziten Vorstellungen überdas Wesen der Demokratie. Wenden wir uns nun der Reihe nachdiesen Fragen zu.

In seinem Kommentar zu dem abschlägigen Gerichtsbeschlußzu den Bemühungen der Regierung, die Veröffentlichung der Pen-tagon Papiere zu verhindern, zeichnete Richter Gurfein ein Bildvon der Rolle der Medien, das als typisch gelten kann. Danachhaben wir nun einmal „eine streitbare, halsstarrige, eine allge-genwärtige Presse", während „die Vertreter der Autorität" diesewortgewaltigen Sprecher des Volkes „ertragen müssen, damit dienoch höheren Werte der Meinungsfreiheit und des Rechts desVolkes auf die Wahrheit bewahrt werden". In seinem Kommentarzu dieser Entscheidung stellt Anthony Lewis fest, die Medien seien

2 Siehe Philipp Lee, ed., Communication for All (Orbis, 1985); William Preston,Edward S. Herman und Herbert Schiller, Hope and Folly: the United States andUNESCO, 1945-1985 (University of Minnesota, 1989).

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nicht immer so unabhängig, wachsam und widerspenstig gegen dieAutorität gewesen wie heute, hätten jedoch in der Ära Vietnamsund Watergates gelernt, ohne Rücksicht auf äußeren Druck oderdie Wünsche staatlicher und privater Macht ihre eigene „Macht,tief in unserem nationalen Leben herumzuwühlen" zu gebrauchenund alles „zu enthüllen, was ihres Erachtens enthüllt werden muß".Auch das ist eine weit verbreitete Überzeugung.3

Noch heute wird viel über die Rolle debattiert, die die Mediendamals spielten, aber diese Debatten befassen sich nicht mit demProblem der „Demokratisierung der Medien" und der Befreiungder Medien von den Einschränkungen durch staatliche und privateMacht. Statt dessen wird heiß darüber gestritten, ob die Mediennicht doch die angemessenen Grenzen überschritten haben, indemsie diese Einschränkungen hinter sich ließen und durch ihrearrogante und unverantwortliche Herausforderung der Autoritätenvielleicht sogar die Existenz der demokratischen Institutionen inGefahr gebracht haben. Eine 1975 erschienene Studie derTrilateralen Kommission über die „Regierbärkeit der Demo-kratien" zog den Schluß, die Medien seien zu einer „bemerkens-werten neuen Quelle nationaler Macht" geworden; auch sie seienein Aspekt des von der Kommission diagnostizierten „Übermaßesan Demokratie", das „zur Reduzierung der staatlichen Autorität"im Inneren und daher auch zu einem „Niedergang des Einflussesder Demokratie im Ausland" führe. Diese allgemeine „Krise derDemokratie" resultiere aus den Bemühungen vormals marginali-sierter Sektoren der Bevölkerung, sich zu organisieren und für ihreForderungen einzutreten. Dies führe zu einem Stau, der einangemessenes Funktionieren des demokratischen Prozesses ver-hindere. Früher, so räsonierte der amerikanische BerichterstatterSamuel Huntington von der Harvard University, „war Truman inder Lage gewesen, zusammen mit einer relativ kleinen Zahl vonAnwälten und Bankiers der Wall Street das Land zu regieren". Zujener Zeit gab es noch keine Krise der Demokratie, aber in densechziger Jahren entwickelte sie sich und nahm ernste Ausmaßean. Die Studie forderte daher mehr „Mäßigung in der Demokratie",um das Übermaß an Demokratie zu zügeln und die Krise zuüberwinden.4

3 „Freedom of the Press - Anthony Lewis distinguishes between Britain and America",London Review of Books, 26. November 1987.4 M. P. Crozier, S. J. Huntington und J. Watanuki, The Crisis of Democracy: Report onthe Governability of Democracies to the Trilateral Commission (New York University,1975).

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Das bedeutet nichts anderes, als daß die Gesamtbevölkerung inihre traditionelle Apathie und ihren traditionellen Gehorsamzurückgedrängt und aus der Arena der politischen Debatte und despolitischen Handelns vertrieben werden muß, wenn die De-mokratie überleben soll.

In der Studie der Trilateralen Kommission spiegeln sich dieWahrnehmungen und Werte der liberalen Eliten der VereinigtenStaaten, Europas und Japans sowie der führenden Figuren derCarter-Administration wider. Die politische Rechte ist dagegen derAuffassung, die Demokratie werde durch jene bedroht, die sichzugunsten angeblicher „Sonderinteressen" organisieren. Dabeibezeichnet dieser Begriff der politischen Rhetorik nichts anderesals die Forderungen der Arbeiter, der Farmer, der Frauen, derJugend, der Alten, der Behinderten, der ethnischen Minoritätenund ähnlicher Gruppen - kurz, praktisch der gesamten Be-völkerung. Während der US-Präsidentschaftswahlen der achtzigerJahre wurden die Demokraten beschuldigt, Instrument jenerSonderinteressen zu sein und somit das „nationale Interesse" zuuntergraben, von dem stillschweigend angenommen wird, es werdevon dem einzigen Sektor repräsentiert, der auf der Liste derSonderinteressen bemerkenswerterweise fehlt: den Konzernen,Finanzinstitutionen und sonstigen wirtschaftlichen Eliten.

Dabei ist die Beschuldigung, die Demokraten verträten dieSonderinteressen, durchaus ungerecht. In Wirklichkeit vertreten sieeinfach andere Elemente des „nationalen Interesses" als die Rechteund haben sich ohne sonderliche Gewissenspein amRechtsschwenk der Eliten in der Ära nach dem Vietnamkriegbeteiligt. Dazu gehörten der Abbau der kümmerlichen staatlichenProgramme zum Schutz der Armen und Benachteiligten, diemassive Umverteilung der Mittel von unten nach oben, die Ver-wandlung des Staates in einen Wohlfahrtsstaat für die Privile-gierten in noch höherem Maß als zuvor und die Erweiterung derStaatsmacht und des staatlich geschützten Sektors der Wirtschaftdurch das Militärsystem - das die innenpolitische Funktion hat,die Bevölkerung zur Subventionierung der Hightech-Industrie zuzwingen und dieser einen staatlich garantierten Markt für ihreProduktion von Hochtechnologiemüll zur Verfügung zu stellen.Ein mit dem Rechtsschwenk verbundenes Element war eine „ak-tivistischere" Außenpolitik, die darauf abzielt, die Macht derUSA durch Subversion, internationalen Terrorismus und Aggres-sion weiter zu verstärken: die Reagan-Doktrin, die von den Me-dien als energische Verteidigung der Demokratie auf der ganzen

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Welt dargestellt wird, wobei die Medien allerdings die Reagan-leute manchmal wegen ihrer Exzesse bei der Verfolgung diesesedlen Anliegens kritisieren. Die Oppositionspartei der Demokratenhat diese Programme der Reagan-Administration zumeist mehroder weniger unterstützt, Programme, die in Wirklichkeit nichtsanderes waren als eine Fortsetzung von Initiativen der Carterjahreund, wie die Meinungsumfragen ganz klar zeigen, mit nur wenigenAusnahmen von der Gesamtbevölkerung scharf abgelehnt werden.5

Die Organisation zur Medienbeobachtung FAIR kritisierte dieBerichterstattung der Journalisten über den Parteitag der Demo-'kraten im Juli 1988, weil sie den demokratischen KandidatenMichael Dukakis ständig als „zu liberal" für einen möglichen Siegbezeichnet hatten, und zitierte dabei eine New York Times-CBS-Umfrage vom Dezember 1987. Diese Umfrage zeigte eineüberwältigende Unterstützung der Bevölkerung für staatliche Maß-nahmen in den Bereichen Beschäftigung, medizinische Versorgungund Kinderbetreuung, und bei den 50 % der Befragten, die an denMilitärausgaben etwas ändern wollen, eine 75-prozentige Mehrheitzugunsten einer Verringerung. Dessen ungeachtet löste die Wahleiner Anhängerin der Reaganlinie als Vizepräsident-schaftskandidatin der Demokratischen Partei bei den Mediennichts als Lob für den Pragmatismus der Demokraten aus, hattendiese doch damit den „Linksextremisten" widerstanden, die dreisteine Politik gefordert hatten, die von der großen Mehrheit derBevölkerung unterstützt wird. Die Haltung der Bevölkerung be-wegte sich während der achtziger Jahre weiterhin auf eine ArtLiberalismus im Stil des New Deal zu, während der Ausdruck„liberal" in der politischen Rhetorik zu einem Unwort wurde.Umfragen zeigen, daß fast die Hälfte der Bevölkerung der Ansichtist, der Marxsche Satz „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nachseinen Bedürfnissen" stamme aus der US-Verfassung, die bei unsimmerhin als heiliges Dokument gilt - so offenkundig richtigscheint diese Maxime vielen Menschen zu sein.6

5 Siehe meine Bücher Turning the Tide (South End, 1985, Kapitel 5) und On Power andIdeology (South End, 1987, Vorlesung 5). Für eine detaillierte Untersuchung dieserThemen, siehe Thomas Ferguson und Joel Rogers, Right Turn (Hill & Wang, 1986).Für eine Zusammenfassung der Konsequenzen in den USA, siehe Emma Rothschild,„The Real Reagan Economy" und „The Reagan Economic Legacy", New York Reviewof Books, 30. Juni, 21. Juli 1988.6 FAIR, Presseveröffentlichung, 19. Juli 1988. Umfrage zur Verfassung, Boston GlobeMagazine, 13. September 1987, zitiert von Julius Lobel, in Julius Lobel, ed., A Lessthan Perfect Union (Monthly Review, 1988, S. 3).

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Man sollte sich von den angeblich erdrutschartigen WahlsiegenReagans nicht in die Irre fuhren lassen. Reagan wurde von wenigerals einem Drittel der Wahlberechtigten gewählt; von denen, die anden Wahlen teilnahmen, hoffte eine klare Mehrheit, seineGesetzgebungsprogramme würden nicht in die Tat umgesetzt,während die Hälfte der Bevölkerung auch weiterhin der Ansichtist, die Regierung werde „von einigen mächtigen Inter-essengruppen beherrscht, die sich nur um sich selber kümmern".7

Angesichts einer Wahl zwischen dem Reaganschen Programmeines von hurrapatriotischem Flaggenschwenken begleiteten key-nesianischen Nach-mir-die-Sintflut-Wachstums auf der einen undder demokratischen Alternative steuerlichen Konservatismus undder Aussage „Wir stimmen deinen Zielen zu, fürchten aber, daß eszu viel kosten wird" auf der anderen Seite zogen viele von denen,die sich überhaupt die Mühe machten, wählen zu gehen, ersteresvor - was nicht allzu überraschend ist. Die verschiedenen Zirkelder Elite haben die Aufgabe, Enthusiasmus zu verbreiten und diebrillanten Erfolge unseres Systems zu verkünden, denn schließlichhandelt es sich dabei um „eine Modelldemokratie und eineGesellschaft, die außergewöhnlich gut für die Bedürfnisse ihrerBürger sorgt", wie Henry Kissinger und Cyrus Vance in einemgemeinsamen Artikel über die „Überparteilichen Ziele derAußenpolitik" in der Ära nach Reagan proklamieren. Aber jenseitsder gebildeten Eliten scheint die Masse der Bevölkerung Staat undRegierung als ein Machtinstrument zu betrachten, das sie wederbeeinflussen noch kontrollieren kann; und wenn ihre eigeneErfahrung noch nicht ausreicht, genügt ein Blick auf einigevergleichende Statistiken, um zu zeigen, wie wunderbar diereichste Gesellschaft der Welt mit ihren unvergleichlichen Vor-teilen „für die Bedürfnisse ihrer Bürger sorgt".8

Das „Reaganphänomen" könnte tatsächlich einen Vorge-schmack der Richtung bieten, in die die kapitalistische Demokratiesich bewegt: die fortschreitende Eliminierung von Gewerk-schaften, unabhängigen Medien, politischen Vereinigungen und

7 New York Times/CBS-Umfrage; Adam Clymer, New York Times, 19. November 19858 Kissinger und Vance, Foreign Affairs, Sommer 1988. Eines der Beispiele dafür ist dieTatsache, daß die USA im Bereich der Verhütung der Kindersterblichkeit unter zwanzigIndustriestaaten auf dem 20. Platz liegen, wobei die USA hier noch hinter Ländern wieOstdeutschland, Irland, Spanien usw. liegen. Wall Street Journal, 19. Oktober 1988. Füreinen Überblick über die immer schlimmer werdende Armut, besonders unter derReagan-Administration, siehe Fred R. Harris und Roger Wilkins, eds., Quiet Riots(Pantheon, 1988).

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überhaupt jeder Form der Massenorganisationen, die der Herr-schaft privater Machtkonzentrationen über den Staat im Wegesteht. In einem Großteil der Welt außerhalb der USA mag manReagan als „seltsamen Cowboyheld" angesehen haben, der (umaus Editorials der Toronto Globe and Mail zu zitieren) neben an-deren Seltsamkeiten „verrückte" Aktionen wie die Organisierungeiner „Bande von Halsabschneidern" zum Angriff auf Nicaragua indie Wege leitete,9 aber die US-Bevölkerung scheint in ihm kaummehr als ein Symbol der nationalen Einheit gesehen zu haben,etwa in der Art der Flagge oder der Königin von England. DieKönigin eröffnet das Parlament durch Verlesen eines politischenProgramms, aber niemand fragt danach, was sie von diesemProgramm hält oder ob sie es überhaupt versteht. Dement-sprechend schien die Bevölkerung gänzlich unberührt von denkaum zu verheimlichenden Beweisen dafür, daß Reagan nur einehöchst nebulöse Vorstellung von der Politik hatte, die in seinemNamen betrieben wurde, oder von der Tatsache, daß der Präsident,wann immer sein Stab ihn nicht ordentlich präpariert hatte,regelmäßig höchst obskure Verlautbarungen von sich gab, diepeinlich gewesen wären, wenn man sie ernst genommen hätte.10

Das Abblocken der Einmischung der Bevölkerung in allen be-deutenden Angelegenheiten geht noch einen Schritt weiter, wennWahlen der Öffentlichkeit nicht einmal mehr die Möglichkeitbieten, unter Programmen, die von anderen ausgearbeitet werden,auszuwählen, sondern nur noch eine Prozedur zur Bestimmungeiner symbolischen Figur darstellen. Insofern ist es von einigemInteresse, daß die Vereinigten Staaten acht Jahre lang praktischohne einen gewählten obersten Amtsträger funktionierten.

Was die Medien betrifft, die beschuldigt werden, die unheil-kündenden Flammen eines „Übermaßes an Demokratie" angefachtzu haben, zog die Trilaterale Kommission den Schluß, für den Fall,daß die Journalisten nicht selbst „professionelle Standards"etablieren, ergebe sich aus den „höheren Interessen vonGesellschaft und Staat", daß „die Alternative durchaus in einerRegulierung durch den Staat bestehen könnte", um „das Gleich-gewicht zwischen Staat und Medien wiederherzustellen". Ganzähnliche Sorgen brachte der geschäftsführende Direktor von

9 Globe and Mail, 28., 18. und 5. Maß 198610 Für eine Auslese, siehe Mark Green und Gail MacColl, Reagan 's Reign of Error(Pantheon).

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Freedom House Leonard Sussman zum Ausdruck, der die Frageaufwarf: „Dürfen wir erlauben, daß freie Institutionen geradeaufgrund der Freiheit, die sie garantieren, gestürzt werden?" UndJohn Röche, der amtlich bestallte Intellektuelle während derJohnson-Administration, antwortete, indem er den Kongreß zueiner Untersuchung der „Mechanismen dieser Privatregierungen"aufforderte, die in ihrer „Anti-Johnson-Mission" die Wahrheit sogrob verzerrten, obwohl er befürchtete, der Kongreß werde viel zu„eingeschüchtert von den Medien" sein, um sich dieser dringlichenAufgabe zu widmen.11

Die Bemerkungen Sussmans und Roches entstammen Kom-mentaren zu Peter Braestrups von Freedom House finanzierterzweibändiger Studie der Medienberichterstattung über die Tet-Offensive von 1968.12 Diese Studie wurde weithin als bahnbre-chender Beitrag gefeiert, der den definitiven Beweis für die Un-verantwortlichkeit dieser „wichtigen neuen Quelle nationalerMacht" liefere. Röche bezeichnete die Studie als „eines der großenBeispiele der letzten 25 Jahre für Enthüllungsjournalismus understklassige Wissenschaft", eine „minutiöse Fallstudie über dieInkompetenz, um nicht zu sagen Böswilligkeit der Medien". DieserKlassiker der modernen Wissenschaft hatte angeblich de-monstriert, daß es letztlich die Medien mit ihrer inkompetenten,parteiischen, von der „Widerstandskultur" der sechziger Jahreinfizierten Berichterstattung waren, die die US-Niederlage imVietnamkrieg zu verantworten hatten, womit sie der Sache vonDemokratie und Freiheit, für die die Vereinigten Staaten vergeb-lich gekämpft hatten, schweren Schaden zufügten. Die Studiezog dann das Fazit, in dieser mangelhaften Berichterstattungspiegele sich „der unverantwortliche - durch Ermutigung oderTolerierung durch das Management noch angestachelte - journa-listische Stil, der seit Ende der sechziger Jahre so populär gewor-den ist". Der neue Journalismus sei „von einer oft hirnlosen Be-reitschaft" gekennzeichnet, „nach Konflikten zu suchen, vonStaat und Autorität überhaupt immer nur das Schlimmste zudenken und dementsprechend die Beteiligten immer in die 'Gu-ten' und die 'Bösen' aufzuteilen". Die „Bösen" seien in diesem Falldie US-Streitkräfte in Vietnam, der „militärisch-industrielleKomplex", die CIA und die US-Regierung gewesen; die „Guten"in den Augen der Medien waren dann vermutlich die Kommuni-

11 John P. Roche, Washington Star, 26. Oktober 1977.12 Peter Braestrup, Big Story (Westview, 1977).

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sten, die der Studie zufolge beständig mit Lob überhäuft und vorKritik in Schutz genommen wurden. Die Studie befürchtete „eineFortsetzung des gegenwärtigen unverantwortlichen Stils, wasimmer auch die düstere Möglichkeit beinhaltet, daß Außenste-hende - die Gerichte, die Bundesmedienkommission oder derKongreß - versuchen werden, eigene Heilmittel in Anwendung zubringen, falls die Medienmanager nicht selbst zur Tat schreiten".

Es gilt mittlerweile als gesicherte Wahrheit, daß „wir alsAmerikaner die Tendenz zur Selbstgeißelung haben, was be-stimmte Aspekte der Politik und der Handlungen unseres Landesbetrifft, denen wir nicht zustimmen", und daß es - wie das BeispielVietnam gezeigt habe - „fast unvermeidlich ist, daß eine solchbreite Berichterstattung die Kriegsanstrengungen schwächenwird", insbesondere „die oft extrem plastische Bildbe-richterstattung im Fernsehen" (so Landrum Bolling auf einer vonihm geleiteten Konferenz über die Frage, ob es tatsächlich „keineMöglichkeit gibt, eine Art Balance zwischen den Vorteilen, dieeine totalitäre Regierung genießt, weil sie unvorteilhafte Nach-richten während eines Krieges kontrollieren oder unterdrückenkann, und den Nachteilen einer freien Gesellschaft herzustellen,die dieser daraus erwachsen, daß sie eine offene Berichterstattungaller Kriegsereignisse zuläßt").13 Die Watergateaffäre, in der diePraxis des Enthüllungsjournalismus „dazu beitrug, einenPräsidenten aus dem Amt zu befördern" (Anthony Lewis), ver-stärkte ebenso wie einige Jahre danach der Iran-Contra-Skandaldiese düsteren Visionen einer bevorstehenden Zerstörung derDemokratie durch außer Rand und Band geratene, unabhängigeund feindselige Medien. Wohlklingende Verteidigungen derPressefreiheit wie die von Richter Gurfein und Anthony Lewissind Reaktionen auf Versuche, die Exzesse der Medien zu kon-trollieren und den Medien gewisse Standards der Verantwort-lichkeit aufzuerlegen.

Angesichts dieser heftigen Debatten über Medien und Demo-kratie stellen sich zweierlei Fragen: zum einen nach den Tatsa-chen, und zum anderen nach den zugrundeliegenden Werten. InBezug auf die Tatsachen lautet die grundlegende Frage: Habendie Medien tatsächlich eine „feindselige" Haltung eingenommenund dabei vielleicht auch noch übermäßigen Eifer an den Tag

13 Landrum Bolling, ed., Reporters under Fire: U.S. Media Coverage of Conflicts inLebanon and Central America (Westview, 1985, S. 35, 2-3).

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gelegt? Tragen sie mit ihrer „Geißelung der eigenen Nation" undder Machthaber tatsächlich dazu bei, unsere freien Institutionen zubedrohen und die Verteidigung unseres Landes in Kriegszeiten zuschwächen? Sollte dies der Fall sein, können wir weiter fragen, obes dann richtig wäre, ihnen äußere Beschränkungen aufzuerlegen,um dafür zu sorgen, daß sie sich innerhalb der Grenzen desVerantwortbaren halten, oder ob wir uns dem in einem klassischenMinderheitenvotum von Richter Holmes zum Ausdruck gebrachtenPrinzip anschließen sollten, daß „der beste Prüfstein für dieWahrheit die Kraft eines Gedankens ist", sich durch „freien Handelder Ideen" „im Wettbewerb des Marktes zu behaupten".14

Was die Tatsachen betrifft, wird selten auch nur ein Argumentvorgebracht; es wird einfach angenommen, die Fakten stündenbewiesenermaßen fest. Einige Analytiker haben jedoch dieMeinung geäußert, daß die allgemein über die autoritätsfeindlicheHaltung der Medien vertretenen Ansichten schlicht-weg falschsind. Um einen allgemeinen Rahmen abzustecken, sollten wir unszuerst der Funktionsweise des freien Marktes der Ideen zuwenden.In seiner Studie über die Mobilisierung der Volksmeinung zurFörderung staatlicher Macht vertritt Benjamin Ginsberg dieAuffassung, daß

die westlichen Regierungen sich oft der Mechanismen desMarktes bedienen, um die Sichtweisen und Gefühle derBevölkerung zu manipulieren. Der „Marktplatz der Ideen",der während des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundertsgeschaffen wurde, verbreitet sehr wirksam dieÜberzeugungen und Gedanken der Oberklassen, während erdie ideologische und kulturelle Unabhängigkeit der niederenKlassen untergräbt. Durch die Schaffung dieses Markteshaben die Regierungen des Westens feste und dauerhafteVerbindungen zwischen Positionen sozioökonomischerNatur und ideologischer Macht geschmiedet und so denOberklassen ermöglicht, jeden dieser Machtpole zurFörderung des jeweils anderen zu benutzen ... Besonders inden Vereinigten Staaten hat die herrschende Machtder Oberklassen und der oberen Mittelklassen über den Markt der Ideen diesen Schichten im allgemei-nen erlaubt, das Bild zu gestalten, das die gesamte Gesell-schaft von der politischen Realität und der Bandbreite reali-

14 Richter Holmes, Minderheitenvotum im Fall Abrams vs. United Staates, 1919.

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stischer politischer und sozialer Möglichkeiten hat.Während westliche Analytiker zumeist besagten Marktplatzmit der Freiheit der Meinungen gleichsetzen, kann dieverborgene Hand des Marktes ein beinahe ebenso mächtigesWerkzeug der Kontrolle sein wie die eiserne Faust desStaates.15

Wenn man von Annahmen über die Funktionsweise eines ge-lenkten freien Marktes ausgeht, die nicht sonderlich umstrittensind, hat Ginsbergs Schlußfolgerung von vornherein einiges fürsich. Die Teile der Medien, die ein großes Publikum erreichenkönnen, sind selbst Großunternehmen und außerdem eng mit nochgrößeren Wirtschaftsimperien verflochten. Ganz wie andereGeschäftszweige verkaufen sie Kunden ein Produkt. Ihr Marktbesteht aus Werbekunden, und ihr Produkt ist das Publikum(nämlich die Medienkonsumenten). Dabei werden sie eher zu ei-nem reichen Publikum tendieren, da ein solches Publikum dieWerbeeinnahmen steigert.16 Bereits vor mehr als einem Jahrhun-dert stellten britische Liberale fest, der Markt werde jene Zeitun-gen begünstigen, „die vom inserierenden Teil des Publikums be-vorzugt werden"; und in unseren Tagen stellt Paul Johnson in ei-nem Kommentar zum Niedergang einer neuen linken Zeitschriftklipp und klar fest, sie habe ihr Schicksal verdient: „Der Markthat gleich zu Anfang das angemessene Verdikt gesprochen, in-dem er sich weigerte, das erforderliche Kapital zu liefern", und

15 Benjamin Ginsberg, The Captive Public (Basic Books, 1986, S. 86, 89). GinsbergsStudie bringt wenig empirisches Material und weist oft logische Mängel auf; einBeispiel dafür ist seine Überzeugung, es bestünde ein Widerspruch zwischen derAnsicht, das Star-War-Programm Reagans „könne die Vereinigten Staaten nicht voreinem Nuklearangriff schützen" und der Ansicht, Star Wars könne „die Wahrschein-lichkeit, daß es zu einem solchen Angriffkommt, erhöhen", ein Widerspruch, der Teilseines Arguments dafür ist, das Eintreten „liberaler politischer Kräfte" für politischeAnliegen sei durch ihre „politischen Interessen" motiviert; tatsächlich gibt es hier abergar keinen Widerspruch, wie immer es um Ginsbergs Schlußfolgerung über liberalepolitische Kräfte bestellt sein mag. Er glaubt femer, daß „studentische Demonstrantenund ähnliche Kräfte", insbesondere Protestdemonstranten gegen den Vietnamkrieg,„kaum Schwierigkeiten haben, sich und ihren Anliegen eine vorteilhafte Publizität zusichern", und akzeptiert außerdem neben einigen weiteren unhaltbaren Annahmenunkritisch die gängigen Behauptungen über „die autoritätsfeindliche Haltung, die vonden Medien während der sechziger und siebziger Jahre eingenommen wurde".16 In einer etwas anderen Formulierung stellt V. O. Key fest, daß „Zeitungsverleger imwesentlichen Leute sind, die leeren Platz auf Zeitungsseiten an Werbekunden ver-kaufen". Zitiert von Jerome A. Barron, „Access to the Press - a New First AmendmentRight", Harvard Law Review, vol. 80, 1967; aus Key, Public Opinion and AmericanDemocracy.

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natürlich kann kein rechtdenkender Mensch daran zweifeln, daßder Markt den öffentlichen Willen repräsentiert.17

Kurz, die großen Medien - und besonders die Elitemedien, diedie Agenda festlegen, der die übrigen Medien weitgehend folgen -sind Konzerne, die den Zugang zu einem privilegierten Publikuman andere Wirtschaftsunternehmen „verkaufen". Es sollte kaumüberraschend sein, wenn das von ihnen präsentierte Weltbild diePerspektiven und Interessen der Verkäufer, der Käufer und desProdukts widerspiegeln würde. Die Eigentumskonzentration imMedienbereich ist stark ausgeprägt und wächst beständig weiter.18

Darüber hinaus gehören diejenigen, die Managerposten in denMedien innehaben oder die es als Kommentatoren zu Ruf undAnsehen bringen, ebenfalls zu den privilegierten Eliten, und sowerden auch sie aller Wahrscheinlichkeit nach dieWahrnehmungen, Bestrebungen und Haltungen ihrerGeschäftspartner teilen, da diese doch zugleich ihre eigenenKlasseninteressen widerspiegeln. Journalisten, die innerhalb diesesSystems arbeiten, werden dort höchstwahrscheinlich nichtvorankommen, wenn sie sich diesem ideologischen Druck nichtbeugen, im allgemeinen, indem sie die entsprechenden Werteverinnerlichen; es ist nicht leicht, das eine zu sagen und selbstetwas ganz anderes zu glauben. Diejenigen dagegen, die sich nichtkonform verhalten, werden durch die üblichen Mechanismenaussortiert werden.

Der Einfluß der Werbekunden ist manchmal noch weitaus di-rekter. „Projekte, die sich nicht für Sponsoring durch Konzerneeignen, sind meist von vornherein Totgeburten", stellt der Lon-doner Economist fest und bemerkt weiter, daß „die Sender inzwi-schen gelernt haben, den höchst delikaten Wünschen der Unter-nehmen aufgeschlossen gegenüberzustehen". Das Blatt zitiertden Fall des öffentlichen Fernsehsenders WNET, der „zur Strafefür einen Dokumentarfilm mit dem Titel 'Hunger und Profit'über multinationale Konzerne, die große Landstriche in derDritten Welt aufkaufen, seine Unternehmensförderung durchGulf+Western verlor". Die Ausstrahlung dieses Programmes sei

17 Sir George Lewis, zitiert in James Curran und John Seaton, Power without Re-sponsibility (Methuen, 1985, S. 31); Paul Johnson, Spectator, 28. November 1987.18 Eine Gruppe von Medienkritikern, die jährlich von Carl Jensen versammelt wird unddie „zehn meistzensierten Geschichten" des Jahres auswählt, gab den ersten Preis fürdas Jahr 1987 einer Studie von Ben Bagdaikian über diese Fragen. Die Preisverleihungbezog sich natürlich nicht auf regelrechte Staatszensur, sondern auf die Vermeidungoder Verdrehung wichtiger Themen durch die Medien.

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„kein freundlicher Akt gewesen", schrieb der Vorstandsvorsitzendevon Gulf an den Sender, und fügte hinzu, der Dokumentarfilm sei„extrem wirtschaftsfeindlich, wenn nicht sogar antia-merikanisch".„Die meisten Beobachter glauben, daß WNET denselben Fehlerheute nicht mehr machen würde", schließt der Economist.19

Dasselbe gilt auch für andere Sender. Es reicht, wenn die Warnungunausgesprochen im Raum steht.

Es gibt noch eine Reihe weiterer Faktoren, die die Medien dazudrängen, sich konform zu den Bedürfnissen des Komplexes ausstaatlicher und unternehmerischer Macht zu verhalten.20 MächtigenInteressen die Stirn zu bieten ist kostspielig und schwierig; dieStandards für Beweismaterial und Argumentation sind hoch, undkritische Analyse stößt bei gesellschaftlichen Kräften, die Machtgenug haben, energisch zu reagieren und außerdem über einereiche Skala von Belohnungen und Bestrafungen verfügen, imallgemeinen nicht auf Gegenliebe. Konformität gegenüber einer„patriotischen Agenda" bringt dagegen keine solchen Kosten mitsich. Anschuldigungen gegen offiziell zu Feinden erklärte Kräfteunterliegen kaum einem Beweiszwang; darüber hinaus ist eineKorrektur falscher Beschuldigungen praktisch unmöglich undwird meist als Rechtfertigung des verbrecherischen Treibensder Feinde oder als Methode, die vor lauter Bäumen denWald nicht sieht, abgetan. So schützt sich das System pikiertvor einer Infragestellung des Rechts auf Betrug im Dienstder herrschenden Macht, und schon der bloße Gedanke, dasideologische System einer rationalen Untersuchung zu unterziehen,ruft Unverständnis oder Empörung hervor, auch wenn diesesich oft hinter anderen Vorwänden verbergen. Wenn jemand derUS-Regierung die besten Absichten unterstellt und dabei viel-leicht diverse Fehler und Ungeschicktheiten beklagt, verlangt manvon ihm nicht, diese Haltung zu begründen, wie zum Bei-spiel, wenn wir uns fragen, weshalb uns im Nahen Osten oderMittelamerika „nie Erfolg beschieden war", weshalb „eine Na-tion, die so reich und mächtig ist und so gute Absichten verfolgt,ihre Ziele nicht rascher und effizienter erreichen kann" (Land-rum Bolling). Die von einer ernstzunehmenden Analyse gefor-derten Standards ändern sich allerdings sofort radikal, sobaldjemand feststellt, daß „gute Absichten" nicht zu den Eigenschaf-

19 Economist, 5. Dezember 1987.20 Für eine ausführlichere Diskussion dieser Frage, siehe Edward S. Herman und NoamChomsky, Manufacturing Consent. The Political Economy of the Mass Media(Pantheon, 1988), Kapitel 1.

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ten von Staaten gehören, und daß die Vereinigten Staaten,genau wie jeder andere Staat in Vergangenheit und Gegenwart,eine Politik verfolgen, die die Interessen jener widerspiegelt, dieaufgrund ihrer Macht im Lande selbst den Staat kontrollieren. Dassind Binsenwahrheiten, die im Mainstream in der Regel nichteinmal ausgesprochen werden können, so überraschend dieseTatsache auch sein mag.

Um die Sowjetunion wegen ihrer Aggression in Afghanistanund ihrer Unterstützung der Unterdrückung in Polen verurteilen zudürfen, muß man keine Beweise vorlegen; ganz anders verhält essich dagegen, wenn wir uns den US-Aggressionen in Indochinaoder den langjährigen Bemühungen der USA zuwenden, einepolitische Lösung des arabisch-israelischen Konflikts zu verhin-dern, die leicht zu dokumentieren, aber unwillkommen und dahereine Nichttatsache sind. Für eine Verdammung des Iran oder Li-byens wegen staatlicher Unterstützung des Terrorismus werdenkeine Argumente verlangt; eine Diskussion der prominenten -vermutlich sogar dominanten - Rolle der Vereinigten Staaten undihrer Klienten bei der Organisierung und Durchführung vonStaatsterrorismus - dieser Pest der neueren Zeit - löst dagegen nurEntsetzen und Verachtung aus; das Beweismaterial, das diesenStandpunkt unterstützt, wird, ganz gleich, wie zwingend es auchsein mag, als irrelevant abgetan. Die Medien und Intellek-tuellenmagazine preisen ganz selbstverständlich die US-Regierungfür ihr Engagement im Kampf für die Demokratie in Nica-ragua,oder sie kritisieren sie für die Mittel, die sie in Verfolgung dieseslobenswerten Ziels angewendet hat, ohne indes irgendwelcheBeweise dafür zu liefern, daß dies tatsächlich das Ziel der US-Politik ist. Eine Infragestellung der zugrundeliegenden pa-triotischen Annahmen ist innerhalb des Mainstream praktischundenkbar und würde, falls sie überhaupt geäußert werden könnte,als eine Abart des ideologischen Fanatismus und als Absurditätabgetan, selbst wenn ein Berg von Beweismaterial vorgelegt würde- was in diesem Fall nicht besonders schwierig wäre.

Fall für Fall finden wir, daß Konformität nun einmal dasLeichteste und außerdem der Weg zu Privilegien und Prestige ist;Dissidenz dagegen bringt persönliche Kosten und Nachteile mitsich, die durchaus ernst sein können, selbst in einer Gesellschaft,die nicht über Kontrollmittel wie Todesschwadronen, psychiatri-sche Kliniken oder Vernichtungslager verfügt. Die Struktur derMedien selbst erzeugt automatisch Konformität gegenüber deretablierten Doktrin. Es ist unmöglich, in einem dreiminütigen

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der verglichen, die so starke Parallelen miteinander aufweisen, wiees bei geschichtlichen Ereignissen nur möglich ist: Verbrechen, dieunseren Feinden zugeschrieben werden können, auf der einen, undVerbrechen, für die die Vereinigten Staaten und ihre Klienten dieVerantwortung tragen, auf der anderen Seite; lobenswerte Tatenunserer Feinde (insbesondere die Abhaltung von Wahlen)gegenüber vergleichbaren Handlungen der Klientenstaaten derUSA. Zusätzlich haben wir uns noch einiger anderer Methodenbedient, die unsere Resultate weiter untermauerten.

Es liegen mittlerweile Tausende von Seiten an Dokumentati-onsmaterial vor, die die Schlußfolgerungen des Propagandamo-dells unterstützen. Gemessen an den Standards der Sozialwissen-schaften hält es einer empirischen Überprüfung sehr gut stand, undoft werden seine Voraussagen sogar noch beträchtlich übertroffen.Falls es ernstzunehmende Einwände gegen seine Schluß-folgerungen gibt, sind sie mir nicht bekannt. Die Sorte von Ar-gumenten, die bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen dasThema im Mainstream überhaupt behandelt wird, gegen das Mo-dell vorgebracht werden, deuten darauf hin, daß das Modell in derTat die wesentlichen Gesichtspunkte berücksichtigt. Diehochangesehene Freedom-House-Studie, die angeblich den auto-ritätsfeindlichen Charakter der Medien und die dadurch erzeugteGefahr für die Demokratie ein für alle Mal demonstriert hat, löstsich bei näherer Analyse, das heißt, wenn ihre unzähligen Irrtümerund Verdrehungen erst einmal korrigiert sind, in Nichts auf undläuft auf wenig mehr als die Klage hinaus, die Medien seien beiihrem Eintreten für eine gerechte Sache wie den Vietnamkrieg zupessimistisch in Bezug auf die Erfolgsaussichten gewesen. Mirsind auch keine anderen Studien mit vergleichbaren Zielsetzungenbekannt, die bessere Resultate liefern würden.

Selbstverständlich gibt es noch weitere Faktoren, die die Lei-stungen und Resultate so komplexer sozialer Institutionen wie derMedien beeinflussen, und man kann Ausnahmen von demallgemeinen vom Propagandamodell vorhergesagten Muster fin-den. Dennoch ist meines Erachtens gezeigt worden, daß es einerecht exakte erste Annäherung liefert, die wesentliche Eigen-schaften der Medien und der insgesamt vorherrschenden intel-lektuellen Kultur treffend umreißt.

Eine der Vorhersagen des Modells lautet, daß zu erwarten ist,daß auch das Modell selbst von der Diskussion ausgeschlossenwerden wird, da es eine Tatsachenannahme in Frage stellt, diefür die Interessen der etablierten Macht höchst nützlich ist: näm-

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lich die, daß die Medien kritisch und streitsüchtig sind, und dasvielleicht sogar im Übermaß. Ganz gleich, wie gut das Modell dieTatsachen erklären mag - die Behauptungen, die es aufstellt, sindunzulässig, und von daher läßt sich aus dem Modell selbst dieErwartung ableiten, daß es aus dem Spektrum der Debatte über dieMedien ausgeschlossen bleiben wird. Auch diese Schlußfolgerungist empirisch gut bestätigt. Daraus ergibt sich eine ziemlichentmutigende Prognose für die Aufnahme des Propagandamodells:Das Modell trifft entweder zu oder nicht. Wenn es nicht zutrifft,braucht man sich nicht mit ihm zu befassen; wenn es aber zutrifft,wird man dies erst recht nicht tun. Wie im Fall der im achtzehntenJahrhundert bestehenden Doktrin der aufrührerischenVerleumdung stellt die Wahrheit einer Behauptung keinenVerteidigungsgrund dar; das Verbrechen der Anschwärzung derAutorität ist um so ungeheuerlicher, wenn die vorgebrachtenBehauptungen wahr sind.

Wenn die im Rahmen des Propagandamodells gezogenenSchlußfolgerungen richtig sind, können die kritischen Anwürfegegen die Medien wegen ihres widerspenstigen Standpunktes nurso verstanden werden, daß die Medien nicht einmal das Spektrumder innerhalb der herrschenden Eliten über taktische Fragengeführten Debatte widerspiegeln dürfen, sondern ausschließlichjenen Teilen der Eliten dienen sollen, die augenblicklich dasStaatsruder in der Hand haben, und daß sie die - per definitionemedlen - Ziele, die die Staatsmacht gerade verfolgt, mit demangemessenen Grad an Enthusiasmus und Siegesgewißheit zuunterstützen haben. George Orwell wäre wohl kaum darüberüberrascht gewesen, daß das der Kern der Medienkritik einerOrganisation ist, die sich selbst den Namen „Freedom House"gegeben hat.22

22 Über die Rolle von Freedom House als eine Art Propagandaarm der Regierung undder internationalen Rechten, siehe Edward S. Herman und Frank Brodhead, De-monstration Elections (South End, 1984, Appendix I) und Manufacturing Consent. Lauteinem Memorandum des Beamten des Nationalen Sicherheitsrats Walter Raymondgehörte Freedom House zu den Empfängern inoffizieller Gelder des Propagan-daapparats der Reagan-Administration (dazu siehe unten, Fn. 41), eine Behauptung, dievon Sussman in seiner Funktion als Sprecher von Freedom House bestritten wurde.Siehe Robert Parry und Peter Kombluh, „Iran-Contra's Untold Story", Foreign Policy,Herbst 1988; Korrespondenz, Winter 1988-89. Um die Unparteilichkeit und die gutenAbsichten von Freedom House zu demonstrieren, stellt Sussman fest, daß „wir über dieerbärmliche Menschenrechtsbilanz der Sandinisten gesprochen haben, ebenso wie wirMenschenrechtsverletzer in vielen anderen Ländern, wie in Chile oder Paraguaybloßstellen". Nicaragua, Chile und Paraguay sind die drei Länder Lateinamerikas, dieauch die Reagan-Administration offiziell für Menschenrechtsverletzungen verurteilt,und so kann niemand, der die Tätigkeit von Freedom House ein wenig kennt, überraschtsein, daß man dort gerade auf diese drei Beispiele verfallt. Charakteristischerweisespricht Sussman nicht von El Salvador und Guatemala, wo die Men-

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Journalisten legen in ihrer Arbeit oft ein hohes Maß an Pro-fessionalität, Mut, Integrität und Unternehmungsgeist an den Tag;das gilt durchaus auch für viele von denen unter ihnen, die fürMedien berichten, die weitgehend so funktionieren, wie es dasPropagandamodell vorhersagt. Darin liegt kein Widerspruch. Esgeht hier nicht um die Aufrichtigkeit der geäußerten Meinungenoder die Integrität derjenigen, die die Tatsachen recherchieren,sondern um die Auswahl der Themen und Schwerpunkte derBerichterstattung, das Spektrum zur Geltung kommender Mei-nungen, die unhinterfragten, Berichte und Kommentare prägendenPrämissen und den gesamten Rahmen, der auf die Präsentationeiner ganz bestimmten Weltsicht zugeschnitten ist. Wir brauchenuns hier gar nicht erst mit Feststellungen wie der folgenden zubefassen, die während der Libanoninvasion Israels großaufgemacht den Titel der New Republic zierte: „Ein Großteildessen, was Sie in den Zeitungen und Nachrichtenmagazinen überden Krieg im Libanon gelesen haben - und ein noch größerer Teildessen, was Sie im Fernsehen gesehen und gehört haben - ist ganzeinfach nicht wahr."23 Behauptungen wie diese kann man getrostden reichhaltigen Archiven hinzufügen, in denen bereits dieRechtfertigungen für die Greuel sonstiger jeweils favorisierterStaaten ruhen.

Die umfangreichen bisherigen Arbeiten im Rahmen des Pro-pagandamodells haben eine Menge Empörung und viele Verdre-hungsversuche ausgelöst (von denen Herman und ich in Manu-facturing Consent und anderswo einige diskutiert haben) unddarüber hinaus zu Mißverständnissen und Befremden geführt.Aber ich weiß von keinem wirklich ernsthaften Versuch, auf un-sere und ähnlich lautende Kritik zu antworten. Statt dessen wirddie Kritik, genau wie unser Modell es vorhersagt, einfach abge-tan. Die im Mainstream geführte Debatte über die Medienbe-richterstattung umfaßt im allgemeinen eine Kritik an der autori-tätsfeindlichen Haltung der Medien und die Antworten derer, diedie Medien gegen diesen Vorwurf in Schutz nehmen; eine Kritik

schenrechtsverletzungen weitaus schlimmer sind als irgend etwas, was den Sandinistenzugeschrieben werden könnte, aber eben auch von der Reagan-Administration, die jaeinen Großteil der Verantwortung dafür trägt, nicht kritisiert werden. Es ist bestürzend,daß Freedom House angesichts einer solchen Bilanz überhaupt ernstgenommen wird.23 Martin Peretz, New Republic, 1. August 1982. Mehr über dieses seltsame Dokumentund einige andere, ähnliche Machwerke in meinem Buch The Fateful Triangle (SouthEnd, 1983).

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an den Medien, weil deren Tätigkeit den Voraussagen des Propa-gandamodells entspricht oder zumindest das Zugeständnis, daßdies eine verstellbare Position sein könnte, sucht man in dieserDebatte jedoch vergebens. Im Fall der US-Kriege in Indochinazum Beispiel brachte das öffentliche Fernsehen 1985 eine Seriezum Rückblick auf den Krieg, auf die dann eine von der rechts-gerichteten Medienüberwachungsorganisation Accuracy in Mediaproduzierte Sendung, in der die Serie verurteilt wurde, und eineDiskussion folgten, an der ausschließlich Kritiker der angeblichstaatsfeindlichen Exzesse der Serie und die Verteidiger der Seriebeteiligt waren. Niemand machte darauf aufmerksam, daß die Serieden Erwartungen des Propagandamodells entsprach - wobei sieaber genau das tut. Die oben erwähnte Studie von Bolling über dieBerichterstattung der Medien über Konflikte in der Dritten Weltfolgt einem ähnlichen Muster, einem Muster, das ungeachtet derTatsache, daß die Bevölkerung die Medien als zu konformistischbetrachtet, fast durchgängig ist.24

Dabei ist es so, daß die Medien Verurteilungen ihres „atem-beraubenden Mangels an Ausgewogenheit oder zumindest sym-bolischer Fairneß" und „der Übel und Gefahren der unberechen-baren Presse von heute" bereitwillig Raum geben.25 Das tun sieindes nur, wenn, wie in diesem Fall, der Kritiker die „Me-dienelite" für ihr Verharren „in den Fängen liberaler Ansichtenüber Politik und die menschliche Natur" und für die „offenkun-dige Schwierigkeit der meisten Liberalen" kritisiert, „selbst beiden flagrantesten Fällen von linker Diktatur das Wort Diktaturzu verwenden"; selbstverständlich würde die Presse des Main-stream Fidel Castro niemals als Diktator bezeichnen, wo sie dochso gerne die eigene Nation geißelt und immer so zahm gegenüber

24 Bolling, op. cit. Zu der Fernsehretrospektive zum Vietnamkrieg und für weitereBeispiele, siehe Manufacturing Consent. Über die Meinung der Bevölkerung, die dieMedien als zu unkritisch gegenüber der Regierung und als zu leicht von den Mächtigenzu beeinflussen einschätzt, siehe Mark Hersgaard, On Bended Knee (Farrar StrausGiroux, 1988, S. 84-85).25 So der frühere Chefredakteur von Time Timothy Foote, der versichert, „jeder auf-merksame Leser" dieser Zeitschrift wisse genau, daß ihre Parteilichkeit manchmal „soklar zu sehen ist wie die gemeißelten Präsidentengesichter auf Mount Rushmore"(Besprechung von William Rusher, The Corning Sattle for the Media, WP Weekly, 27.Juni 1988). Rusher verurteilt die „Medienelite" für ihre angebliche Verfälschung derBerichterstattung aufgrund ihrer liberalen Parteiischkeit. Der Pressekritiker DavidShaw von der Los Angeles Times, der dasselbe Buch in der New York Times BookReview bespricht, antwortet mit der ebenso konventionellen Ansicht, daß „Journalistenes lieben, den Status Quo herauszufordern" und „Kritiker, Nestbeschmutzer,Unzufriedene" seien, die „an allem etwas auszusetzen haben".

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dem Kommunismus ist.26 Von solchen Schimpfkanonaden wirdnicht erwartet, daß sie auch nur den kleinsten Beweis vorlegen; dievorliegende enthält nur eine einzige Bezugnahme auf etwas, wasals Tatsache angesehen werden könnte, nämlich eine vageAnspielung auf eine angebliche statistische Manipulation durch dieNew York Times, mit der das Ziel verfolgt worden sei, „dasSinken der Zinsraten während Reagans erster Amtszeit zu ver-schleiern", als ob über die Zinsraten nicht lang und breit berichtetworden wäre. Anschuldigungen dieser Art sind oft nicht einmalunwillkommen, erstens, weil eine Antwort auf sie leicht oderunnötig ist; und zweitens, weil Debatten über Themen wie dieseden Glauben verankern helfen, die Medien seien entweder unab-hängig und objektiv und von hohen Standards professionellerIntegrität und der Offenheit für alle vernünftigen Ansichten in-spiriert, oder aber, alternativ dazu, parteiisch und modischen linkenAuffassungen, die auf die Herabsetzung etablierter Autoritätenhinauslaufen, verpflichtet. Beide Schlußfolgerungen sind für dieetablierte Macht und die Privilegierten durchaus akzeptabel -sogarfür die Medieneliten selbst, die gar nicht viel gegen die Be-schuldigung einzuwenden haben, sie seien in ihrer streitsüchtigenund halsstarrigen Herausforderung von Orthodoxie und etablierterMacht vielleicht sogar zu weit gegangen. Das Spektrum derDiskussion spiegelt genau das wider, was ein Propagandamodellvorhersagen würde: Verurteilung „liberaler Parteilichkeit" auf dereinen und Verteidigung gegen diese Beschuldigung auf deranderen Seite. Nicht Bestandteil der Debatte ist die - wie manleicht zeigen könnte, faktisch zutreffende - Möglichkeit, daß„liberale Parteilichkeit" vielleicht nichts weiter als eine der Vari-anten der höchst einseitigen Ideologie von Staat und Konzernen ist,und zwar eine besonders nützliche Variante, die die impliziteBotschaft in sich trägt: bis hierher und nicht weiter.

Wenn wir nun auf die Vorschläge der brasilianischen Bi-schöfe zurückkommen, besteht ein Grund dafür, daß sie im poli-tischen Kontext der USA überflüssig oder fehl am Platz erschei-nen, in der Annahme, die Medien seien dem Dienst am öffentli-

26 Für eine detaillierte Analyse der Medienberichterstattung über Kuba, siehe TonyPlatt, ed., Tropical Gulag (Global Options, 1987). Der führende Kubaspezialist undfrühere Leiter der US-Interessenvertretung in Havanna Wayne Smith beschreibt dieStudie als eine „niederschmetternde" Bestätigung der „außerordentlich negativen"Behandlung Kubas in den Medien, die völlig „der Version des Außenministeriums"entspreche, und führt weitere Beispiele für „unausgewogene Berichterstattung" und dieAblehnung an, über wichtiges Material zu berichten, das die Beschuldigungen derReagananhänger widerlegt; Social Justice, Sommer 1988.

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chen Wohl verpflichtet und würden ihre Unabhängigkeit von derObrigkeit vielleicht sogar zu weit treiben. Das hieße, daß sie jenesoziale Rolle bereits erfüllen, die Richter Powell vom OberstenGerichtshof mit den folgenden Worten auseinandersetzte, diespäter auch von Anthony Lewis in seiner Verteidigung der Pressezitiert wurden: „Kein Einzelner kann für sich allein die Informa-tionen erlangen, die zur intelligenten Ausübung seiner politischenVerantwortlichkeiten notwendig sind ... Indem sie die Öf-fentlichkeit in die Lage versetzt, eine wirksame Kontrolle über denpolitischen Prozeß auszuüben, spielt die Presse eine entscheidendeRolle bei der praktischen Realisierung des ErstenVerfassungszusatzes."

Eine andere Ansicht, von der ich glaube, daß sie richtig ist,besagt dagegen, daß die Medien in der Tat einen „gesellschaftli-chen Auftrag" erfüllen, nur daß es sich dabei um etwas ganz an-deres handelt. Es handelt sich um denselben gesellschaftlichenAuftrag, dem auch die staatliche Erziehung dient und den JamesMill anläßlich der Einführung des staatlichen Schulsystems als„die Ausbildung des Geistes der Menschen zu einer tugendhaftenTreue zur Regierung" und zur etablierten sozialen, wirtschaftlichenund politischen Ordnung insgesamt beschrieb.27 Weit davonentfernt, zu der vom liberalen Establishment so gefürchteten„Krise der Demokratie" der oben beschriebenen Art beizutragen,spielen die Medien die Rolle eilfertiger Wächter, die Reichtum undMacht davor schützen, daß die Öffentlichkeit ein Verständnis übersie gewinnt und an ihnen partizipiert. Falls diese Schlußfolgerungrichtig ist, basiert der erste Einwand gegen eine Demokratisierungder Medien auf einem Irrtum über die tatsächliche Situation undihre korrekte Analyse.

Ein zweiter Einwand ist von größerer Bedeutung, denn er istkeineswegs unangebracht: der Ruf nach einer Demokratisierungder Medien könnte zur Tarnung höchst unwillkommener Versuchedienen, durch öffentlichen Druck die intellektuelle Unabhängigkeiteinzuschränken, eine Sorge, die in der politischen Theorie rechthäufig zum Ausdruck gebracht wird. Das Problem kann nichteinfach von der Hand gewiesen werden, stellt aber kein unlösbaresHindernis für eine Demokratisierung der Medien dar.28

27 Zitiert in Ginsberg, CaptiveMind, S. 34.28 Der Widerwille gegen Demokratie ist manchmal derart ausgeprägt, daß als einzigvorstellbare Alternative zur Beherrschung der Medien durch konzentrierten privatenReichtum manchmal die Kontrolle durch den Staat angesehen wird. Es ist offenbardiese stillschweigende Annahme, die Nicholas Lehmann (New Republic, 9. Januar1989) zu der Behauptung veranlaßt, Edward Herman und ich träten in unserem BuchManufacturing Consent für „mehr Staatskontrolle" ein, wobei er diese Aussage aufunsere Feststellung stützt, daß „eine demokratische politische Ordnung langfristig ge-

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Das grundsätzliche Problem scheint mir anderswo zu liegen.Das in unserer politischen Kultur herrschende Konzept der De-mokratie ist ein anderes als das der brasilianischen Bischöfe. Fürletztere bedeutet Demokratie, daß die Bürger die Möglichkeit ha-ben, sich zu informieren, an der Untersuchung und Diskussionaller möglichen Fragen sowie an der politischen Willensbildungteilzunehmen und ihren Forderungen durch politische AktionGeltung zu verschaffen. Bei uns dagegen ist der Begriff der De-mokratie viel enger gefaßt: der Bürger ist ein Konsument, einZuschauer, aber kein Mitbeteiligter. Die Bevölkerung hat dasRecht, politische Programme zu bestätigen, die von anderen auf-gestellt werden, aber wenn die dadurch gezogenen Grenzen über-schritten werden, haben wir keine Demokratie mehr, sondern eine„Krise der Demokratie", die man irgendwie wieder in den Griffbekommen muß.

Dieses Konzept stützt sich auf Doktrinen, die schon von denamerikanischen Gründervätern formuliert wurden. Die Föderali-sten, schreibt die Historikerin Joyce Appleby, seien davon ausge-gangen, daß „die neuen politischen Institutionen Amerikas wei-terhin im hergebrachten Rahmen fungieren würden, der eine po-litisch aktive Elite und eine unterwürfige, gehorsame Wähler-schaft voraussetzt", während George Washington gehofft habe,„sein enormes Prestige werde jene große, nüchterne, vom gesun-den Menschenverstand beherrschte Bürgerschaft, an die die Poli-tiker sich immer wenden, dazu bringen, die Gefahren basisde-mokratisch organisierter Gesellschaften einzusehen".29 Unge- sehen weitaus größere Kontrolle und Zugang zu den Medien" auf Seiten der Gesamt-bevölkerung erfordert (S. 307). Unmittelbar vor der zitierten Stelle geben wir einenÜberblick über einige der Formen, die eine solche Kontrolle annehmen könnte, dar-unter die Ausweitung von Public-Access-Fernsehkanälen, die „die Macht desSenderoligopols geschwächt haben" und „örtlichen Gruppen erweiterten Zugangbieten" könnten, „nichtprofitorientierte lokale Radio- und Fernsehsender", den Betriebvon Radiosendem durch „kommunale Institutionen" (mit einer kleinen Kooperative inFrankreich als Beispiel), hörerunterstütztes Radio mit regionalem Einzugsgebiet undanderes mehr. Solche Optionen stellen tatsächlich eine Herausforderung für das Un-ternehmensoligopol und die Herrschaft der Reichen überhaupt dar. Leute, für die dieVorstellung undenkbar ist, daß die Gesamtbevölkerung ihre Angelegenheiten selbst indie Hand nehmen und sich dabei in einem ersten Schritt Zugang zu den Medienverschaffen könnte oder sollte, können diese Optionen daher nur als „Staatskontrolle"auffassen.29 Appleby, Capitalism and a New Social Order (NYU, 1984, S. 73). Ober den absurdenKult um George Washington, der Teil der Bemühung bildet, „die ideologischenLoyalitäten der Bürger zu kultivieren" und so das Gefühl einer „vitalen Na tion" zustimulieren, siehe Lawrence J. Friedman, Inventars of the Promised Land (Knopf, 1975,Kapitel 2). Washington war ein „makelloser Mensch" von „unerreichterVollkommenheit", der sich „über das Niveau der übrigen Menschheit" erhob usw. DieseSorte von Kult, die an das Nordkorea Kim II Sungs erinnert, wird von vielenIntellektuellen immer noch betrieben, zum Beispiel in Form der Verehrung Franklin

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achtet der Wahlniederlage der Föderalisten behielt deren Kon-zeption die Oberhand, auch wenn sich die Form dieser Konzeptionänderte, als der industrielle Kapitalismus Gestalt annahm. Siewurde von John Jay, dem Präsidenten des Kontinentalkongressesund ersten Obersten Richter des Obersten Gerichtshofs der USA ineiner Formulierung umrissen, von der sein Biograph schreibt, siesei eine seiner Lieblingsmaximen gewesen: „Die, die das Landbesitzen, sollten es auch regieren." Und sie brauchen dabei keineallzu feinfühligen Methoden anzuwenden. In Anspielung auf diewachsende Unzufriedenheit schrieb Gouverneur Morris 1783 ineinem Bericht an John Jay, man müsse sich, „obwohl eswahrscheinlich ist, daß es eine Menge Aufruhr geben wird", keinewirklichen Sorgen machen: „Das Volk ist gut darauf vorbereitet",daß die Regierung „jene Macht [an sich nimmt], ohne die eineRegierang nur dem Namen nach besteht ... Da es des Krieges müdeist, kann man sich auf sein Einverständnis mit absoluter Sicherheitverlassen, und Sie und ich, lieber Freund, wissen aus Erfahrung,daß, wenn nur einige vernünftige und geistvolle Männer sichzusammentun und sich zur Autorität erklären, die wenigen, dieanderer Meinung sind, leicht durch das mächtige Argument, das da'Galgen' heißt, von ihrem Fehler überzeugt werden können". Mitdem „Volk", bemerkt der Verfassungshistoriker Richard Morris,„meinte er eine kleine nationalistische Elite, die kenntlich zumachen er zu vorsichtig war" - die weißen Männer mitPrivatbesitz, zu deren Nutzen die verfassungsmäßige Ordnungerrichtet wurde. Der „große Exodus von Loyalisten undSchwarzen" nach Kanada und anderswohin spiegelte zum Teil dieTatsache wider, daß sie genau das begriffen hatten.30

Delano Roosevelts und seiner „Größe", „Majestät" etc. in der New York Review ofBooks (siehe The Fateful Triangle, S. 175 für einige beinahe unglaubliche Beispiele)und in Form des Camelotkults um die Kennedy-Administration. Manchmal steigen auchFührer oder Führerinnen anderer Länder zu diesem halbgöttlichen Status auf, undkönnen dann als „eine promethische Figur" von „kolossaler äußerer Stärke" und„titanischen Fähigkeiten" beschrieben werden, wie während der lächerlicherenMomente der Stalinära oder in der Lobhudelei, mit der Martin Peretz die israelischePremierministerin Golda Meir bedachte und aus der die gerade zitierten Beispieleentnommen sind (New Republic, 10. August 1987).30 Frank Monaghan, John Jay (Bobbs Merrill, 1935); Richard B. Morris, The Forging ofthe Union (Harper & Row, 1987, S. 46-47, 173, 12f.). Über die Flüchtlinge nach deramerikanischen Revolution, darunter „boat people", die in Angst und Schrecken ausdem vielleicht reichsten Land der Welt flohen, um mitten im Winter in Neuschottland zusterben, siehe The Political Economy of Human Rights, II, S. 41 ff; dieFlüchtlingszahlen während der amerikanischen Revolution sind, relativ zur jeweiligenGesamtbevölkerung, mit der Anzahl der Flüchtlinge aus dem vom Krieg verwüstetenVietnam vergleichbar. Für eine neuere Schätzung, die u.a. von 80.000-100.000Loyalisten spricht, siehe Morris, S. 13, 17.

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An anderer Stelle stellt Morris fest, daß das, was in dernachrevolutionären Gesellschaft „letztlich vorlag, eine von einerElite manipulierte politische Demokratie war", und daß in Staatenwie Virginia, wo es scheinen mochte, daß eine „egalitäreDemokratie" vorherrschte, in Wirklichkeit „stillschweigend dieVorherrschaft der Aristokratie akzeptiert wurde". In ähnlicherWeise sicherten sich in späteren Perioden, in denen es angeblichzum Triumph der volkstümlichen Demokratie kam, die aufstei-genden Fraktionen der Unternehmerklasse die Vorherrschaft.31

John Jays Maxime ist in der Tat das Prinzip, das der Errichtungder Republik zugrunde lag und seither Geltung behielt, und ihreminnersten Wesen nach kann die kapitalistische Demokratie ausleicht begreiflichen Gründen von diesem Muster nicht allzu weitabweichen.32

Im Innern des Landes erfordert dieses Prinzip, daß die Politiksich letztlich auf das Wechselspiel zwischen Gruppen von Inve-storen reduziert, die um die Kontrolle über den Staat konkurrieren,ein Prozeß, den Thomas Ferguson mittels einer „Investitionstheorieder Politik" beschreibt, durch die sich seiner plausiblenArgumentation zufolge ein großer Teil der politischen Geschichteder USA erklären läßt.33 Für die von uns abhängigen Gebietebedeutet dasselbe grundlegende Prinzip, daß Demokratie dannerreicht ist, wenn die Gesellschaft von einheimischen Oligarchien,eng mit US-Investoren verbundenen Unternehmern, dem unsererOberaufsicht unterstehenden Militär und professionellenFachkräften kontrolliert wird, Kräften, von denen mit Recht er-wartet werden kann, daß sie unseren Anordnungen gehorchen undden Macht- und Vorherrschaftsinteressen der USA dienen werden.Wenn es zu irgend einer Gefährdung der Herrschaft dieserGruppen kommt, sind die USA dazu berechtigt, auf Gewaltzurückzugreifen, um „die Demokratie wiederherzustellen" - umden gängigen, für die Praktizierung der Reagan-Doktrin in Nica-ragua verwendeten Ausdruck zu gebrauchen. Die Medien stellen

31 The American Revolution Reconsidered (Hiapzr and Row. 1967, S. 57-58).32 Siehe Joshua Cohen und Joel Rogers, On Democracy (Penguin, 1983) für einehellsichtige Analyse.33 Für Diskussion und weitere Quellen, siehe Turning the Tide, S. 232 f.

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die „Demokraten" den „Kommunisten" gegenüber, wobei ersterediejenigen sind, die den Machtinteressen der USA dienen, letzteredagegen jene, die von der Krankheit befallen sind, als „Ultra-nationalismus" bezeichnet wird - wie zum Beispiel in einigenGeheimdokumenten der politischen Planer, in denen ganz offenerklärt wird, daß die Bedrohung für unsere Interessen in „natio-nalistischen Regimes" besteht, die auf den Druck der Bevölkerungin ihren Ländern zugunsten einer Erhöhung des Lebensstandardsund sozialer Reformen reagieren und sich nicht in ausreichendemMaß um die Bedürfnisse der US-Investoren kümmern.

Die Medien folgen lediglich den Regeln dieses Spiels, wenn siedie „sich entwickelnden Demokratien" Mittelamerikas unter derKontrolle der Militärs und der Wirtschaftseliten dem „kom-munistischen Nicaragua" gegenüberstellen. Um so besser könnenwir verstehen, weshalb sie nichts über die 1987 durchgeführteMeinungsumfrage in El Salvador berichteten, die zeigte, daß ge-rade einmal 10 Prozent der dortigen Bevölkerung „glauben, daß esgegenwärtig einen Prozeß im Land gibt, der zu Freiheit undDemokratie führt". Die geistig minderbemittelten Salvadorianersind eben einfach unfähig, unser Konzept von Demokratie zuverstehen. Dasselbe muß wohl auch für die Herausgeber der füh-renden honduranischen Zeitschrift El Tiempo gelten. Sie betrachtenihr Land als eine Pseudodemokratie, die in einer Karikatur aufdemokratische Prozesse und unter der „Besatzungnordamerikanischer Truppen und der Contras" „Arbeitslosigkeitund Unterdrückung" bringt und in der „vitale nationale Interessenaufgegeben werden, um den Zielen von Ausländern zu dienen",während die Unterdrückungsmaßnahmen und illegalenVerhaftungen nicht abreißen und im Hintergrund bedrohlich dieTodesschwadronen der Militärs lauern.34

Nach den in den USA vorherrschenden Konzeptionen bestehtkeine Beeinträchtigung der Demokratie, wenn einige wenigeKonzerne das Informationssystem kontrollieren: in Wirklichkeitist das sogar das Wesen der Demokratie. So erklärte die seiner-

34 Editorials, El Tiempo, 5. und 10. Mai; übersetzt in Hondupress (Managua), 18. Mai1988, eine Zeitung honduranischer Exilierter, die Angst davor haben, in die „sichentwickelnde Demokratie" zurückzukehren, weil ihnen dort Ermordung und„Verschwindenlassen" drohen. Für weitere Einzelheiten über die Umfragen in El Sal-vador, siehe The Culture of Terrorism, S. 102. In den US-Medien habe ich über dieseUmfrage keine Meldung gefunden, obwohl dort regelmäßig ein Chor des Lobes für denFortschritt dieses edlen demokratischen Experiments unter Vormundschaft der USAerklingt.

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zeit führende Figur der Public-Relations-Industrie, EdwardBernays, in den Annals of the American Academy of Political andSocial Science, „die innerste Essenz des demokratischen Prozes-ses" sei „die Freiheit, zu überzeugen und Vorschläge zu machen":das, was er „die Konstruktion von Konsens" nennt. „Ein Führer",so fährt er fort, „kann oft nicht darauf warten, daß die Menschenauch nur zu einem simplen Verständnis gelangen ... DemokratischeFührer müssen ihren Part in ... der Herstellung ... von Konsens fürgesellschaftlich konstruktive Ziele und Werte spielen" und„wissenschaftliche Prinzipien und erprobte Praktiken auf dieAufgabe [anwenden], Menschen dazu zubringen, Ideen und Pro-gramme zu unterstützen"; und obwohl diese Tatsache nicht aus-drücklich erwähnt wird, ist es offensichtlich genug, daß genau dieKräfte, die die Kontrolle über die Ressourcen der Gesellschaftausüben, sich in der richtigen Position befinden, nicht nur zu be-urteilen, was „gesellschaftlich konstruktiv" ist, sondern auchmittels der Medien Konsens herzustellen und die von ihnen insAuge gefaßte Politik über die Mechanismen des Staates in die Tatumzusetzen. Wenn die Freiheit, zu überzeugen, zufälligerweise inder Hand einiger Weniger konzentriert ist, müssen wir anerkennen,daß dies nun einmal in der Natur einer freien Gesellschaft liegt.Die Public-Relations-Industrie wendet enorme Mittel „für dieAufklärung des amerikanischen Volkes über die wirtschaftlichenLebenstatsachen" auf, um ein günstiges Klima für die Wirtschaftherzustellen. Wie ein AT&T-Manager vor achtzig Jahrenfeststellte, ist es die Aufgabe der PR-Industrie, „die Meinungen derÖffentlichkeit" zu kontrollieren, da diese „die einzige ernsthafteBedrohung" darstellt, „der sich das Unternehmen ge-genübersieht".35

Ähnliche Ideen stellen quer durch das politische Spektrum dieNorm dar. Walter Lippman beschrieb eine „Revolution" in „derPraxis der Demokratie", da „die Fabrikation von Konsens"nunmehr „eine ihrer selbst bewußte Kunst und ein regulärer Me-chanismus populärer Regierungstätigkeit" geworden sei. Das isteine naheliegende Entwicklung, da „das Gemeinschaftsinteressesehr weitgehend außerhalb der Kompetenz der öffentlichen Mei-nung liegt und nur von einer spezialisierten Klasse verwaltetwerden kann, in der die persönlichen Interessen über das hier

35 Alex Carey, „Reshaping the Truth", Meanjin Quarterly (Australien), 35.4, 1976;Gabriel Kolko, Main Currents in American History (Pantheon, 1984, S. 284). Für eineausführliche Diskussion siehe Alex Carey, „Managing Public Opinion: The CorporateOffensive", Manuskript, University of New South Wales, 1986.

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und jetzt hinausreichen". Das schrieb er nach dem Ersten Welt-krieg, als die liberale intellektuelle Gemeinde sehr von ihremerfolgreichen Dienst als „getreue und hilfreiche Gehilfen einerOperation" beeindruckt war, „die vermutlich eines der größtenUnternehmen war, das je von einem amerikanischen Präsidenten indie Wege geleitet wurde" (New Republic). Bei dem Unternehmenhandelte es sich um Woodrow Wilsons spezielle Interpretation desMandats seiner Wähler, die sich für einen „Frieden ohne Sieger"im Weltkrieg ausgesprochen hatten, als günstige Gelegenheit,einen Sieg ohne Frieden anzuvisieren; hierbei genoß er die volleUnterstützung besagter liberaler Intellektueller, die sich späterselbst dafür lobten, mit Hilfe von Propagandaerfmdungen überGreueltaten der Hunnen und ähnlichen, vergleichbaren Praktiken„einer widerstrebenden oder gleichgültigen Mehrheit ihren Willenaufgedrängt" zu haben.

Fünfzehn Jahre später erklärte Harold Lasswell in der Ency-clopaedia of the Social Sciences, wir sollten nicht „demokratischenDogmatismen" darüber verfallen, daß „die Menschen die bestenRichter ihrer eigenen Interessen sind". Ihm zufolge sind sie dasselbstverständlich nicht; die besten Richter sind die Eliten, diedaher unbedingt über die Mittel verfügen müssen, demGemeinwohl zuliebe allen ihren Willen aufzuzwingen. Wenn denEliten aufgrund der sozialen Bedingungen die erforderlichenGewaltmittel zum Erzwingen von Gehorsam nicht zur Verfügungstehen, wird es aufgrund „der Unwissenheit und des Aberglaubens... der Massen" nötig, zu einer „ganz neuen Technik der Kontrolle,die weitgehend auf Propaganda beruht", zu greifen. In denselbenJahren argumentierte Reinhold Niebuhr, daß „Ratio-nalität eine Eigenschaft der kühlen Beobachter ist", während„der Proletarier" nicht der Vernunft, sondern dem Glauben folgt,der auf einem entscheidenden Element „notwendiger Illusionen"beruht. Ohne solche Illusionen wird der gewöhnliche Mensch in„Trägheit" verfallen. Niebuhr, der damals noch in seiner marxi-stischen Phase war, forderte sein Publikum - vermutlich diekühlen Beobachter - dazu auf, „die Dummheit des durchschnittli-chen Menschen" zu erkennen und die „emotional mächtigen,groben Vereinfachungen" zu liefern, die erforderlich seien, umden Proletarier auf dem Kurs zur Schaffung einer neuen Gesell-schaft zu halten; seine grundlegenden Konzeptionen ändertensich nur wenig, als Niebuhr später - so Richard Rovere - „der of-fizielle Theologe des Establishments" wurde und seinen Rat je-

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nen anbot, die sich „mit den Verantwortlichkeiten, die die Machtmit sich bringt, auseinandersetzen müssen".36

Als die unwissende Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkriegzu einer Zeit, da den Eliten längst die Notwendigkeit klar war, zuneuen Konflikten zu rüsten, in ihren trägen Pazifismus zurückfiel,räsonierte der Historiker Thomas Bailey, daß „unsere Staatsmännerangesichts der hartnäckigen Kurzsichtigkeit der Massen und ihrergenerellen Unfähigkeit, die Gefahr zu erkennen, bis sie ihnenschließlich an der Kehle sitzt, gezwungen sind, sie so lange zutäuschen, bis sie ihre langfristigen Interessen erkennen können.Eine solche Täuschung der Menschen könnte in Zukunft inwachsendem Maß notwendig werden, sofern wir nicht willenssind, unseren Führern in Washington freiere Hand zu geben." Alsdann 1981 ein weiteres Mal ein neuer Kreuzzug eingeläutet wurde,wies Samuel Huntington in einem Kommentar zum selbenProblem darauf hin, daß „wir [Interventionen oder andereMilitäraktionen] möglicherweise so verkaufen müssen, daß derfalsche Eindruck entsteht, es sei die Sowjetunion, gegen die wirkämpfen. Genau das haben die Vereinigten Staaten seit derTruman-Doktrin schließlich schon immer getan" - eine treffendeBeobachtung, die eine der wichtigsten Funktionen des KaltenKrieges enthüllt.37

Von einem anderen Ort des politischen Spektrums aus wird diekonservative Verachtung für die Demokratie sehr prägnant von SirLewis Namier artikuliert, der schreibt, daß „es im Denken und inden Handlungen der Massen ebensowenig einen freien Willen gibtwie im Bereich der Umlaufbahnen der Planeten, derWanderbewegungen der Vögel oder des Massentods vonLemmingen, die sich ins Meer stürzen".38 Wenn man den Massengestattet, sich auf bedeutsame Weise an der Arena politischerEntscheidungen zu beteiligen, kann nur eine Katastrophe die Folgesein.

36 Für Quellen, siehe mein Tovards a New Cold War (Pantheon, 1982, Kapitel 1).Niebuhr, Moral Man and Immoral Society (Scribners, 1952, S. 221-23, 21; Nachdruckder Ausgabe von 1932); außerdem Richard Fox, Reinhold Niebuhr (Pantheon, 1985, S.138-39). Zu weiteren Ausführungen über Niebuhrs Ideen und ihre Aufnahme, siehemeine Besprechung mehrerer Bücher Niebuhrs in Grand Street, Winter 1987.37 Bailey, zitiert von Jesse Lemisch, On Active Service in War and Peace: Politics andIdeology in the American Historical Profession (New Hogtown Press, Toronto, 1975).Huntington, International Security, Sommer 1981.38 England in the Age of the American Revolution (Macmillan, 1961, S. 40); zitiert inFrancis Jennings, Empire of Fortune (Norton, 1988, S. 471).

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Einige politische Kräfte sind in ihrer Verteidigung dieserDoktrin bemerkenswert offen: so schreibt zum Beispiel der nie-derländische Verteidigungsminister, daß jeder, „der sich gegen dieFabrikation von Konsens wendet, jeglicher Form effektiverAutorität Widerstand leistet".39 Es gibt wohl keinen Politkom-missar, der da nicht voller Wertschätzung und Verständnis mit demKopf nicken würde.

Wurzel dieses Verständnisses ist letztlich die Logik desdostojewskischen Großinquisitors, der Christus bittere Vorwürfemacht, weil er den Menschen Freiheit bietet und sie somit zumElend verdammt. Die Kirche muß das böse Werk Christi korri-gieren, indem sie der elenden Masse der Menschheit das Geschenkbietet, das sie sich am meisten wünscht und dessen sie am meistenbedarf: absolute Unterwerfung. Sie muß „die Freiheit besiegen",um „die Menschen glücklich zu machen" und ihnen dievollkommene „Gemeinschaft der Anbetung" zu verschaffen, nachder sie begierig suchen. In der heutigen weltlichen Zeit bedeutetdies die Anbetung der Staatsreligion, zu der in den westlichenDemokratien zusätzlich die Doktrin der Unterwerfung unter dieHerren des auf öffentlichen Subventionen und privatem Profit ba-sierenden Systems gehört, das sich freies Unternehmertum nennt.Die Menschen müssen zu ihrem eigenen Wohl unwissend gehaltenund auf das Nachbeten hurrapatriotischer Parolen beschränktwerden. Und genau wie der Großinquisitor, der sich der Kräfte desWunders, des Geheimnisses und der Autorität bedient, „umzugunsten ihres eigenen Glücks das Gewissen jener ohnmächtigenRebellen zu erobern und für immer in Gefangenschaft zu halten"und ihnen die Freiheit der Wahl zu verweigern, die sie soverachten und fürchten, müssen die „kühlen Beobachter" die„notwendigen Illusionen" und „emotional mächtigen, grobenVereinfachungen" schaffen, die die unwissenden und dummenMassen diszipliniert und zufrieden halten.40

Trotz solcher offenen Eingeständnisse der Notwendigkeit, dieÖffentlichkeit zu täuschen, wäre es in der Regel ein Irrtum zumeinen, daß die Praktiker dieser Kunst bewußt Täuschung be-treiben; nur wenigen gelingt es, in dieser Hinsicht das verfeinerteNiveau des Großinquisitors zu erreichen oder sich derartiger Ein-

39 Der holländische Verteidigungsminister Frits Bolkestein, NRC Handelsblad, 11.Oktober 1988. Dabei handelt es sich um seinen (empörten) Kommentar zu Materialien,die ich in meiner Huizinga-Vorlesung in Leiden 1977 zu diesem Thema präsentierte.Die Vorlesung ist abgedruckt in Towards a New Cold War, Kapitel l.40 Fjodor Dostojewski, Die Brüder Karamasow (Frankfurt: Suhrkamp, 1980).

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sichten über längere Zeit hinweg bewußt zu bleiben. Ganz imGegenteil. Während die Intellektuellen ihrer harten und an-spruchsvollen Berufung nachgehen, machen sie sich nur zu gerneÜberzeugungen zu eigen, die institutionellen Notwendigkeitendienen; diejenigen, die das nicht tun, werden sich anderswo nachArbeit umsehen müssen. Der Vorsitzende des Aufsichtsrats magaufrichtig glauben, daß jeder seiner wachen Augenblicke demDienst an den Bedürfnissen der Menschen gewidmet ist. Wenn erdiesen Illusionen entsprechend handeln würde, statt Profite undMarktanteile anzustreben, wäre er bald nicht mehr Vorsitzenderdes Aufsichtsrats. Aller Wahrscheinlichkeit nach reden sich sogardie unmenschlichsten Ungeheuer bis hin zu den Hitlers undMengeies erfolgreich ein, ihr Handeln sei äußerst edel und mutig.Die Psychologie des Führungspersonals ist ein Thema vongeringem Interesse. Statt auf das Seelenleben dieser Leute solltenwir unsere Aufmerksamkeit lieber auf die institutionellen Faktorenrichten, die den Rahmen für ihr Handeln und ihre Überzeugungenabstecken.

Der größte Teil der gebildeten Elite betrachtet die Tatsache,daß in demokratischen Gesellschaften auch die Stimme der Be-völkerung zu hören ist, als ein Problem, das überwunden werdensollte, indem dafür gesorgt wird, daß diese Stimme die richtigenWorte spricht. Die allgemeine Konzeption besagt, daß die Führeruns, nicht wir sie kontrollieren. Wenn die Bevölkerung außerKontrolle gerät und Propaganda nicht mehr hilft, ist der Staatgezwungen, in den Untergrund zu gehen und auf klandestineOperationen und Geheimkriege zurückzugreifen; das Ausmaßgeheimer Operationen ist oft ein guter Maßstab für das Ausmaßvon Dissidenz in der Bevölkerung, wie zum Beispiel während derAmtszeit Reagans. In dem um Reagan gruppierten Klüngelselbsternannter „Konservativer" haben das Engagement für un-gezügelte exekutive Macht und die Verachtung für die Demokratieein ungewöhnliches Ausmaß erreicht. Dementsprechend wurdewährend dieser Zeit massiv auf staatliche Propagandakampagnenzurückgegriffen, die auf die Medien und die Gesamtbevölkerungabzielten: hierher gehört zum Beispiel die Einrichtung des„Lateinamerikabüros für Öffentliche Demokratie" im Au-ßenministerium, das sich Projekten wie der „Operation Wahrheit"widmete, die von einem hohen Beamten als eine „riesigepsychologische Operation" bezeichnet wurde, „wie sie normaler-weise von Armeen aufgezogen wird, um die Bevölkerung inden für die eigenen Kräfte nicht zugänglichen Gebieten oder in

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Feindterritorien zu beeinflussen".41 Die Begriffe bringen klar dieHaltung gegenüber der irregeleiteten Öffentlichkeit zum Ausdruck:Feindterritorium, das erobert und unterworfen werden muß.

In den von ihnen abhängigen Staaten müssen die VereinigtenStaaten oft zu Gewalt greifen, um „die Demokratie zu verteidigen".Im Heimatland sind subtilere Mittel erforderlich: die Fabrikationvon Konsens, mit deren Hilfe die dummen Massen mit„notwendigen Illusionen" getäuscht werden, Geheimoperationen,von denen die Medien und der Kongreß behaupten, sie sähen sienicht, bis das Ganze zu offensichtlich wird, um weiter ver-schwiegen zu werden. Dann treten wir in die Phase der Scha-densbegrenzung ein, in der man sich bemüht, dafür zu sorgen, daßdie öffentliche Aufmerksamkeit auf übereifrige Patrioten oder diePersönlichkeitsdefekte von Führern, die sich zu weit von unserenedlen Zielen entfernt haben, abgelenkt wird. Das Wichtigste dabeiist, daß die institutionellen Faktoren nicht ins Licht rücken, durchdie der bleibende und substantielle Inhalt besagter Ziele festgelegtwird. In einer solchen Phase der Schadensbegrenzung ist es dieAufgabe der Freien Presse, die jeweiligen formalenVerfahrensmechanismen ernst zu nehmen und sie als Tribut an dieGesundheit unserer sich selbst reinigenden Institutionen zubeschreiben, die in Wirklichkeit mittels eben dieser Mechanismensorgfältig vor dem wachsamen Auge der Öffentlichkeit beschütztwerden.

Ganz allgemein gesprochen fällt den Medien und den gebil-deten Klassen die Aufgabe zu, ihren „gesellschaftlichen Auftrag"zu erfüllen, indem sie im Rahmen der vorherrschenden Konzeptionvon Demokratie ihrer staatsnotwendigen Tätigkeit nachgehen.

41 Alfonso Chardy, Miami Herold, 19. Juli 1987. Das Büro für Öffentliche Diplomatiedes Außenministeriums operierte unter Leitung der CIA und des NationalenSicherheitsrats, um Unterstützung für die nicaraguanischen Contras zu organisierenund die Medien und den Kongreß zu manipulieren. Ober die Aktivitäten des Büros, dieim September 1987 vom Generalinspekteur des Rechnungshofs GAO (GeneralAccounting Office) als illegal verurteilt wurden, siehe Stabsbericht, State Departmentand Intelligence Community Involvement in Domestic Activities Related to theIran/Contra Affair, Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten, US-Repräsentantenhaus,7. September 1988; Parry und Kombluh, op. dt. Ferner The Culture of Terrorism,Kapitel 10, über Chardys frühere Enthüllungen in zwei hervorragenden, aberweitgehend ignorierten Artikeln im Miami Herold.

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4. Bemerkungen zu Orwells Problem*

Im Mai 1983 geschah in Moskau etwas Bemerkenswertes. Einmutiger Nachrichtensprecher, Wladimir Dantschew, verurteilte infünf Sendungen im Lauf einer Woche über Radio Moskau denrussischen Krieg in Afghanistan und rief die Rebellen dazu auf,„nicht ihre Waffen niederzulegen", sondern gegen die sowjetische„Invasion" ihres Landes zu kämpfen. Die westliche Presseüberschlug sich vor Bewunderung für seine verblüffende Abwei-chung von „der offiziellen Parteilinie". In der New York Timesschrieb ein Kommentator, Dantschew habe gegen die „Normen desZwiedenkens und der Neusprache revoltiert". In Paris wurde zuseinen Ehren ein Preis für „Journalisten, die für das Recht aufInformation kämpfen", gestiftet. Im Dezember kehrte Dantschewzur Arbeit zurück, nachdem er einer psychiatrischen Behandlungunterzogen worden war. Ein sowjetischer Offizieller wurde mitden Worten zitiert: „Er wurde nicht bestraft, weil man einenkranken Mann nicht bestrafen kann."

Man war der Auffassung, dieses Ereignis habe einen Einblickin die Welt von 1984 gewährt, und Dantschews Tat wurde zuRecht als ein Triumph des menschlichen Geistes, als Weigerung,sich von totalitärer Gewalt einschüchtern zu lassen, betrachtet.

Was an Dantschews Handlung bemerkenswert war, war nichtnur der Protest selbst, sondern auch die Tatsache, daß er die so-wjetische Invasion Afghanistans als „eine Invasion" bezeichnete.In der sowjetischen Theologie gibt es ein Ereignis wie „die russi-sche Invasion Afghanistans" nicht. Statt dessen handelt es sichum eine „sowjetische Verteidigung Afghanistans" gegen Terrori-sten, die vom Ausland her unterstützt werden. Wie bei den mei-sten Propagandasystemen gibt es auch hier einen Kern vonWahrheit, der sich in einer massiven Lüge verbirgt. Die afghani-schen Mudschaheddin operieren tatsächlich von „Zufluchtsge- * Die „Bemerkungen zu Orwells Problem" (geschrieben im September 1984) erschienenals fünftes Kapitel von Chomskys sprachwissenschaftlichen Fragen gewidmetem BuchKnowledge of Language. Its Nature, Origin and Use (London: Praeger, 1986, S. 276 -287). Die restlichen vier Kapitel sind dem gewidmet, was Chomsky „Platos Problem"nennt. Während es bei „Orwells Problem" um die Frage geht, wie es kommt, daß wir -als Bürger einer demokratischen Gesellschaft - so wenig wissen, obwohl wir doch imPrinzip über so viele Informationen verfügen, handelt es sich bei Platos Problem um dieFrage, wie wir so reiche Wissenssysteme wie zum Beispiel die menschliche Spracheentwickeln können, obwohl doch, in den Worten Bertrand Russells, unser „Kontakt mitder Welt so kurz, persönlich und beschränkt" ist - also um das Thema, über dasChomsky im ersten Kapitel des vorliegenden Bandes spricht.

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bieten" in Pakistan aus, wo chinesische und CIA-Agenten denWaffenstrom überwachen, und es wird berichtet, daß die Guerillasneben vielen anderen von den Invasoren als „Greuel" betrachtetenTaten Schulen und Krankenhäuser zerstört haben. Die Invasorenhaben erklärt, daß sie abziehen werden, sobald Afghanistan gegensolche aus Pakistan kommenden Angriffe gesichert ist. DieseHaltung wird vom Westen mit der vollkommen vernünftigenBegründung abgetan, daß Aggressoren bedingungslos abziehensollten, der Position also, die auch der Sicherheitsrat der VereintenNationen mit der heuchlerischen und später zurückgezogenenUnterstützung der Vereinigten Staaten einnahm, als Israel 1982den Libanon überfiel. Außerdem ist man im Westen immer zurechtempört gewesen, wenn die Sowjets zynisch den „Terrorismus" desWiderstands anprangern oder wenn sie absurderweise vorgeben,Afghanistan gegen diese Banditen, die Unschuldige ermorden, zuverteidigen. Oder wenn die widerlichsten unter denParteischreiberlingen vor der Gewalt und Unterdrückung warnen,die - wie sie durchaus richtig bemerken - folgen würden, wenn sichdie Sowjetunion ihrer „Verantwortung entziehen" und dasSchicksal der Afghanen der Willkür der Rebellen überantwortensollte.

Die Sowjetunion wendet ein, daß sie schließlich dazu aufge-fordert wurde, ins Land zu kommen, aber wie der Londoner Eco-nomist großartig verkündete, ist „ein Eindringling [...] ein Ein-dringling, sofern er nicht von einer Regierung mit einem gewissenAnspruch auf Legitimität gerufen wurde". Nur innerhalb einerNeusprache ä la Orwell kann eine solche Aggression als„Verteidigung gegen von außen unterstützten Terrorismus" cha-rakterisiert werden.

Orwells Buch 1984 hatte zum großen Teil die Praxis der be-stehenden sowjetischen Gesellschaft zum Vorbild, die schon langevorher von Maximow, Souvarine, Beck und Godin sowie vielenanderen sehr genau beschrieben worden war. Nur in kulturellzurückgebliebenen Gegenden wie Paris wurden die Tatsachen überdie Gesellschaften des Realsozialismus lange abgestritten, so daßChruschtschows Enthüllungen über den Stalinterror undSolschenizyns anschauliche Gestaltung der längst bekannten Ge-schichte als derartige Offenbarung kamen - zu einer Zeit, als dieIntelligenz ohnehin begierig war, zu einer veränderten Marsch-musik zu marschieren. Was indes an Orwells Vision wirklichbemerkenswert war, war nicht seine Beschreibung des bestehen-

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den Totalitarismus in der Sowjetunion, sondern seine Warnung,daß dasselbe bei uns passieren kann.

Bis jetzt zumindest ist das nicht eingetroffen. Die industrie-kapitalistischen Gesellschaften weisen wenig Ähnlichkeit mitOzeanien auf - obwohl die Terror- und Folterregimes, die sie an-dernorts geschaffen und aufrechterhalten haben, ein Ausmaß anBrutalität erreichen, wie es bei Orwell niemals vorkommt. Mit-telamerika ist nur das derzeit offensichtlichste Beispiel.

Die Presseberichterstattung über die Dantschew-Affaire enthielteinen stillschweigenden Unterton von Selbstbeglückwünschung:das könnte bei uns nicht passieren. Schließlich erfordert es bei unsselbst in Grandsatzfragen wenig Mut, Staat und Regierung dieStirn zu bieten. Und erst recht ist bei uns noch nie ein Dantschewin eine psychiatrische Klinik gesperrt worden, weil er eineInvasion eine „Invasion" genannt hat. Aber untersuchen wir einmalgenauer, warum dies eigentlich der Fall ist. Es wäre ja zumBeispiel möglich, daß die Frage sich gar nicht stellt, weil es beiuns, von statistischen Irrtümern abgesehen, keine Dantschews gibt:das hieße, daß die Journalisten und anderen Intellektuellen demdoktrinären System derart unkritisch dienen, daß sie überhauptnicht zu der Erkenntnis fähig sind, daß „ein Eindringling einEindringling ist, sofern er nicht von einer Regierung mit einemgewissen Anspruch auf Legitimität gerufen wurde", falls es sichbei diesem Eindringling um die Vereinigten Staaten handelt. Daswäre eine Stufe jenseits dessen, was Orwell sich vorstellte, eineStufe jenseits dessen, was der sowjetische Totalitarismus erreichthat. Ist das nur eine abstrakte Möglichkeit, oder ist es eineSituationseinschätzung, die die Lage in unserer westlichen Weltunangenehm treffend beschreibt?

Betrachten wir einmal die folgenden Tatsachen. 1962 beganndie US-Luftwaffe mit ihren direkten Angriffen auf die Landbe-völkerung Südvietnams, bei denen schwere Bombardements undEntlaubung als Teil eines Programms eingesetzt wurden, mit demMillionen von Menschen in Lager getrieben wurden, um sie dort,umgeben von Stacheldraht und bewaffneten Wachen, vor den vonihnen unterstützten Guerillas - den „Vietcong", dem süd-vietnamesischen Nachfolger des früheren antifranzösischen Wi-derstands der Vietminh - zu „beschützen". Das ist genau das, waswir „Aggression" und „eine Invasion" nennen, wenn es von einemunserer offiziellen Feinde getan wird. Die Planer und Ana-lytiker der US-Regierung waren sich vollkommen im klaren dar-über, daß die von den Vereinigten Staaten im Süden installierte

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Regierung (GVN - Government of Viet-Nam) keine Legitimitätgenoß und kaum Unterstützung in der Bevölkerung hatte, unddementsprechend wurde die Führung dieses Regimes regelmäßigin US-unterstützten Staatsstreichen gestürzt, wenn befürchtetwurde, sie könne womöglich von einer verschärften Eskalation derAggression nicht begeistert genug sein oder sogar ein Abkommenmit dem südvietnamesischen Feind aushandeln. Bereits vor derregelrechten US-Invasion 1962 waren etwa 70.000 „Viet-cong" ineiner von den USA dirigierten Terrorkampagne getötet worden; bis1965, als die umfassende US-Landinvasion - begleitet von dersystematischen und intensiven Bombardierung des Südens unddem wesentlich schwächeren, aber viel stärkere Publizitätgenießenden Bombardement Nordvietnams - begann, kamenvermutlich noch einmal doppelt so viele hinzu. In den Jahren nach1962 blockierten die US-Invasoren weiterhin sämtliche Versucheeiner politischen Regelung und Neutralisierung Südvietnams, um1964 mit Vorbereitungen für die großangelegte Eskalation desKrieges gegen den Süden Anfang 1965 zu beginnen und zusätzlichnoch Nordvietnam, Laos und später Kambodscha anzugreifen.

Ich bin während der letzten 22 Jahre im Mainstream vonPresse, Fernsehen und Wissenschaft in den USA kein einziges Malauf eine Bezeichnung des Vorgehens der USA als „US-InvasionSüdvietnams" oder „US-Aggression" in Südvietnam gestoßen. Imdoktrinären System der USA kommt ein solches Ereignis einfachnicht vor. Es gibt bei uns keinen Dantschew, obwohl es in diesemFall keinen Mut, sondern lediglich Aufrichtigkeit erforderte, dieWahrheit zu sagen. Selbst auf dem Höhepunkt der Oppositiongegen den US-Krieg widersetzte sich nur ein winziger Teil dermeinungsbildenden Intelligenz aus prinzipiellen Gründen - weilAggression falsch ist - dem Krieg, während die meisten ihn inseiner späteren Phase, eine gute Weile, nachdem führendeGeschäftskreise ihn längst als verloren abgeschrieben hatten, mitder „pragmatischen" Begründung ablehnten, die Kosten seien zuhoch. In der Bevölkerung wurden hierzu übrigens ganz andereAuffassungen vertreten. 1982 betrachteten immer noch 70 Prozentder Bevölkerung den Krieg nicht einfach als einen Fehler, sondernals „grundsätzlich falsch und unmoralisch", ein Problem, das in derpolitischen Debatte in den USA als das „Vietnamsyndrom"bekannt ist. Unter den „Meinungsmachern" war ein weitausgeringerer Teil dieser Ansicht.

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Diese Tatsachen sollten uns zu denken geben. Wie wurde eineso erstaunliche Unterwürfigkeit unter das doktrinäre System er-reicht? Es liegt nicht daran, daß die Tatsachen etwa unzugänglichwaren. Die US-Angriffe auf Laos und Kambodscha wurden zwarvon den Medien tatsächlich lange Zeit verheimlicht, eine Tatsache,die bis auf den heutigen Tag verschwiegen wird, aber über den US-Krieg gegen Südvietnam wurde von Anfang an mit recht großerGenauigkeit berichtet - außer daß er nicht als das beschriebenwurde, als was die nackten Fakten ihn auswiesen, sondern als eineVerteidigung Südvietnams gegen von außen her unterstützteTerroristen. Arthur Schlesinger ging in seiner Geschichte derKennedy-Administration so weit, zu schreiben, 1962 - das Jahr, indem die direkte US-Aggression gegen den Süden begann - sei„kein schlechtes Jahr gewesen", da die „Aggression in Vietnamaufgehalten" worden sei! Die Darstellungen in der Wissenschaft,den Schulbüchern und den Medien gehen mit äußerst seltenenAusnahmen von der Annahme aus, die Haltung der USA seidefensiv und eine - möglicherweise unkluge - Reaktion auf eine„sowjetisch unterstützte Aggression" gewesen, oder auf eine„Aggression von innen", wie Adlai Stevenson die „Aggression"der einheimischen Bevölkerung gegen den ausländischenInvasoren und seine Klienten nannte.Es wird uns besser gelingen, die Mechanismen der Indoktri-nierung zu verstehen, wenn wir einmal einen näheren Blick auf dieDebatte werfen, die sich schließlich in Mainstreamkreisenentwickelte, als die Sache begann, schiefzulaufen. In dieser De-batte standen die sogenannten „Falken" den „Tauben" gegenüber.Die Falken waren diejenigen, die wie der Journalist Joseph Alsopder Überzeugung waren, daß der Krieg mit ausreichendem En-gagement gewonnen werden könne. Die Tauben waren mit Ar-thur Schlesinger der Ansicht, daß dies wahrscheinlich nicht derFall sei, obwohl es für sie ebenso wie für ihn selbstverständlichwar, daß „wir alle beten, daß Mr. Alsop recht behält" - kurz, wirbeten alle, daß die USA mit ihrer Aggression und ihren Massa-kern erfolgreich sind. Und wenn sie es sind, schrieb Schlesingerin einem Buch, das in den Augen der Mainstreamkommentare(wie dem von Leslie Gelb) seinen Ruf als „Antikriegsführer" be-gründete, „werden wir alle die Weisheit und Staatskunst deramerikanischen Regierung feiern", die schließlich nichts Schlim-meres tat, als einen Krieg zu führen, der Vietnam in „ein Landdes Verderbens und der Zerstörung" verwandelte. Dieselbe Posi-tion wird heute im Hinblick auf die US-Unterstützung für eine

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Reihe von Gangstern und Schlächtern in Mittelamerika und aufden Stellvertreterkrieg der USA gegen Nicaragua erneut vertreten.Wie der Kritiker Anthony Lake 1984 feststellte, sahen die Taubenden US-Krieg in Indochina als ein „hoffnungsloses Unterfangen"an. Es herrscht die weithin übereinstimmende Meinung, der Kriegsei „ein mißlungener Kreuzzug" gewesen, dessen Motive „edel",wenn auch „illusorisch" und „in der Zielsetzung höchstunrealistisch" gewesen seien, wie Stanley Karnow in seiner vorkurzem erschienenen Geschichte des Vietnamkriegs schrieb, dieals Begleitband zu der so hoch für ihre kritische Unparteilichkeiteingeschätzten PBS-Fernsehserie herauskam.

Was in der ganzen Debatte in auffälliger Weise fehlt, ist dieAuffassung, daß die Vereinigten Staaten hätten gewinnen können,aber daß es falsch gewesen wäre, zuzulassen, daß Aggression undMassaker Erfolg haben. Das war die Position eines sehr großenTeils der amerikanischen Bevölkerung und der authentischenFriedensbewegung. Wenn der Krieg, wie die Tauben meinten,lediglich ein „hoffnungsloses Unterfangen" war, gab es natürlichkeinen besonderen Grund, die Kriegsanstrengungen zu stören unddie Konsequenzen des Protests zu erdulden, die oft hart waren,besonders für die jungen Leute, die in der vordersten Front derAntikriegsbewegung standen. Dagegen ist die Auffassung, daß derKrieg prinzipiell falsch war, eine Position, die in der Debattezwischen den Falken und Tauben einfach nicht vorkommt.

Die zitierten, sehr typischen Kommentare illustrieren dasWesen demokratischer Systeme der Gedankenkontrolle. In einemauf Gewalt gegründeten System ist lediglich Gehorsam gegenüberder offiziellen Ideologie erforderlich. Propagandistische Äu-ßerungen sind unter solchen Verhältnissen leicht zu identifizieren:ihre Quelle ist ein sichtbares Wahrheitsministerium, und man kannihnen Glauben schenken oder auch nicht, solange man sie nichtoffen zurückweist. Die Strafen für Dissidenz variieren, jenachdem, wie gewalttätig der Staat ist: in der heutigen Sowjet-union kann das internes Exil oder Haft unter grausamen Bedin-gungen bedeuten; in den von den USA gesponsorten Schlacht-häusern wie El Salvador oder Guatemala sieht sich der Dissidentder hohen Wahrscheinlichkeit gegenüber, „verschwunden" odernach scheußlicher Folter enthauptet in einem Graben gefunden zuwerden.

Die demokratischen Systeme der Gedankenkontrolle habeneinen vollkommen anderen Charakter. Gewaltanwendung, zu-mindest gegenüber den privilegierteren Sektoren der Bevölke-

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rung, ist selten, aber dafür ist eine weitaus tiefergehende Form desGehorsams erforderlich. Es ist nicht genug, daß die Staatsdoktrinbefolgt wird. Hier wird es für notwendig gehalten, das gesamteSpektrum der Diskussion in Beschlag zu nehmen: außerhalb derParteilinie darf nichts auch nur gedacht werden können. Dabeiwerden die Doktrinen der Staatsreligion oft nicht offenausgesprochen, sondern als Rahmen für eine Diskussion unterrechtdenkenden Personen einfach vorausgesetzt, was eine weitwirkungsvollere Technik der Gedankenkontrolle ist. Die Debattedarf nur zwischen den „Tauben" und den „Falken", denSchlesingers und den Alsops stattfinden. Die Position, daß dieVereinigten Staaten sich der Aggression schuldig machen und daßdiese Aggression falsch ist, darf nicht gedacht und ausgesprochenwerden, da es sich hier um den Heiligen Staat handelt. Die„verantwortlichen Kritiker" leisten einen hochgeschätzten Beitragzu diesem Anliegen, und genau darum werden sie toleriert undsogar geachtet. Wenn selbst die Kritiker die Doktrinen derStaatsreligion übernehmen, wer könnte diese dann überhaupt nochin Frage stellen?

Dieses Wesen der westlichen Systeme der Indoktrinienmgwurde von Orwell nicht erkannt, und gerade Diktatoren sind in derRegel unfähig, es zu verstehen, da es ihnen nicht gelingt, diepropagandistische Nützlichkeit einer kritischen Haltung zu be-greifen, die sich die grandlegenden Annahmen der offiziellenDoktrin zu eigen macht und dadurch die authentische und rationalekritische Diskussion marginalisiert, auf deren Verhinderung esankommt. Selbst die kleinste Abweichung von diesem Muster istäußerst selten. Der vielleicht schärfste Kritiker des amerikanischenKriegs im Mamstreamjournalismus war Anthony Lewis von derNew York Times, der argumentierte, die Verwicklung der USA inVietnam habe mit „stümperhaften Versuchen, Gutes zu tun"begonnen, so etwa 1969 - 1969! - sei jedoch klar geworden, daß es„ein verheerender Fehler" war. Kaum ein Universitätswis-senschaftler stand der US-Politik kritischer gegenüber als JohnKing Fairbank von der Harvard Universität, der im Dezember 1969- ein Jahr, nachdem die Tet-Offensive einen großen Teil derWirtschaftselite davon überzeugt hatte, daß es besser war, denVersuch, Südvietnam zu unterwerfen, aufzugeben - in seiner Prä-sidentenansprache vor der Amerikanischen Gesellschaft für Ge-schichte verkündete, wir seien aufgrund eines „Übermaßes anAnständigkeit und selbstlosem Wohlwollen" in den Krieg einge-treten, die Ereignisse hätten aber nun gezeigt, daß es ein Fehler

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gewesen sei, das zu tun. Nur wenige Diktatoren können sich einerderart totalen Konformität ihrer Untertanen gegenüber HöherenWahrheiten brüsten.

Die Mechanismen, die benutzt werden, um solchen Gehorsamsicherzustellen, sind effektiv, wenn auch nicht übermäßig subtil.Nehmen wir zum Beispiel die Vorgänge, die überall als der„Friedensprozeß" im Nahen Osten bezeichnet werden und in denAbkommen von Camp David 1978-79 kulminierten. Kaum jemandfragt, weshalb die Bewohner der Gebiete unter israelischerBesatzung den „Friedensprozeß" nahezu einhellig ablehnen undihn als ihren Interessen abträglich ansehen. Dabei genügt eine ganzkurze Überlegung, um den Grund dafür herauszufinden. Es warvon vornherein offensichtlich, daß der „Friedensprozeß" dazudiente, Ägypten aus dem arabisch-israelischen Konflikt her-auszuziehen, damit Israel danach freie Hand haben würde, mitmassiver materieller und diplomatischer Unterstützung der USAseine Siedlungs- und Unterdrückungspolitik in den besetzten Ge-bieten auszudehnen sowie den Libanon anzugreifen - genau das,was es seither getan hat. Aber elementare Feststellungen wie diesewaren damals von der Diskussion ausgeschlossen und sind esimmer noch, obwohl die Tatsachen, die von vornherein offen-sichtlich waren, im Rückblick nachgerade auf der Hand liegen. DieVereinigten Staaten streben die Schaffung eines mächtigen undexpansionistischen Israels an, das als „strategischer Aktivposten"dienen soll. Alles, was zu diesem Ziel beiträgt, ist per defi-nitionem Bestandteil des „Friedensprozesses". Der Ausdruck selbstmacht jegliche weitere Diskussion überflüssig, denn wer kannschon etwas gegen Frieden haben?

Es gibt Tausende von ähnlichen Beispielen. Die US-Marine-soldaten im Libanon waren die „friedenserhaltende Streitkraft",und gegen sie gerichtete Aktionen waren „Terrorismus". Viele Li-banesen waren der Ansicht, daß diese Soldaten lediglich die is-raelische Invasion mit ihrem Ziel einer „neuen Ordnung" im Li-banon zu Ende führten: die Herrschaft der rechtsgerichtetenChristen und der privilegierten Teile der muslimischenBevölkerung über die Armen und Benachteiligten, die ihreals „Terrorismus" bezeichneten Taten als Widerstand betrachten- ein Standpunkt, der in der Diskussion bei uns natürlich keinenPlatz hat. In ähnlicher Weise werden israelische Verweiseauf „terroristische Dorfbewohner", die die israeli-schen Besatzungsstreitkräfte angreifen, kritiklos in die Be-richte aufgenommen und ohne jedes Bewußtsein überähnliche Arten des Sprachgebrauchs in der Vergangenheit

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kommentarlos weiterkolportiert. Wenn Israel wie im Januar 1984Dörfer in der nordlibanesischen Region um Baalbek bombardiertund 500 Menschen - in erster Linie Zivilisten, darunter auch 150Schulkinder - tötet oder verletzt, oder wenn es (wie oftmals vordiesem Datum und einige Monate darauf erneut) Schiffe in inter-nationalen Gewässern kapert und ihre Passagiere entführt, dann istdas nicht „Terrorismus", sondern „Vergeltung" - oder vielleicht„legitimes vorbeugendes Handeln" - und zieht bei uns wederKommentare noch Tadel nach sich. Als Klientenstaat der USAgenießt Israel ein Erbrecht auf Gewalttätigkeit, Terrorismus undAggression. Oft werden unerwünschte Fakten auch einfachunterdrückt. Wie schon erwähnt, waren die „geheimen Bombar-dierungen" von Laos und Kambodscha deshalb „geheim", weil dieMedien es ablehnten, über die reichlich vorhandenen Zeugnisseund Beweise zu berichten. Die von den USA unterstützteindonesische Aggression in Timor, die zum Tod von vielleicht200.000 Menschen und einer an Biafra erinnernden Hungersnotführte, wurde mehr als vier Jahre lang fast völlig verschwiegen.Eine Studie der Rand Corporation von Brian Jenkins aus dem Jahr1983 behauptet: „Seit 1975 hat es zwölf Konflikte unter be-trächtlichem Einsatz konventioneller Streitkräfte gegeben"; die vonden USA unterstützte Invasion Osttimors, die 1975 begann, istnicht darunter, obwohl der indonesische Truppeneinsatz dortunzweifelhaft „beträchtlich" war - und ist, ebenso wie der Nach-schub von US-Waffen, der im sicheren Wissen um den Verwen-dungszweck - das Massaker an der Bevölkerung Osttimors - er-folgte. Über die gegenwärtig andauernden Greuel wird kaum be-richtet, und wenn es dann, nach vielen Jahren des Schweigens,einmal einen Kommentar gibt, wird die entscheidende und sehrzielbewußte Rolle der USA geflissentlich ausgeblendet.

Die Medien können eine furchterregende Macht bilden, wennsie zur Unterstützung des staatlichen Propagandasystems mobili-siert werden. Einer der spektakulärsten Public-Relations-Trium-phe der jüngeren Geschichte folgte auf den Abschuß des koreani-schen Zivilflugzeugs KAL 007 durch die sowjetische Luftwaffeam ersten September 1983 - der sichere Beweis, daß die Sowjetsdie barbarischsten Teufel seit Attila dem Hunnen sind, so daß wirdie MX-Rakete entwickeln, Pershing II-Raketen in Deutschlandaufstellen und den Krieg gegen Nicaragua intensivieren müssen.Gleichzeitig, so bemerkte ein in der New York Times zitierterAnalytiker eines Raumfahrtkonzerns, lieferte der „Zwischenfallmit dem koreanischen Linienflugzeug [...] einen Anstoß zu einer

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positiveren Neubewertung der Verteidigungsindustrie und so gutwie aller Aktien in diesem Bereich." Nur wenige Ereignisse habenderartige Empörung ausgelöst, und über kaum eine Geschichte istin der US-Presse so massiv berichtet worden. Im eng gedrucktenIndex der New York Times nimmt diese Greueltat allein imSeptember 1983 volle sieben Seiten ein. Die Version der US-Regierung brach hinterher zusammen, und es wurde zugegeben,daß die sowjetischen Militärs wahrscheinlich nicht wußten, daß essich um ein ziviles Flugzeug handelte, aber da waren die mit dieserGeschichte einzuheimsenden Propagandaerfolge längst erzielt.

Innerhalb weniger Monate waren hinsichtlich des Flugs derKAL 007 einige Fragen aufgetaucht. Ein Artikel in der britischenMilitärzeitschrift Defence Attaché (Nr. 3, 1984) legte Material vor,das darauf hindeutete, daß das Eindringen der KAL 007 in einensensiblen Bereich des sowjetischen Luftraums möglicherweiseerfolgte, um US-Satelliten die Möglichkeit zu geben, diesowjetische Reaktion auf ein solches Eindringen zu beobachten;zur Unterstützung dieser Vermutung wurden einige frühere Bei-spiele für diese Taktik angeführt. Der Autor schrieb dazu: „Wennes im Westen ein Versagen gegeben hat, dann liegt es auf Seitendes investigativen Journalismus, der die Nachforschungen niitnicht annähernd dem Eifer betrieben hat, den man eigentlich er-warten würde." „Gerade in den Vereinigten Staaten sollte diePresse diese Herausforderung annehmen", war sein Kommentar.Bis jetzt (September 1984) ist die Herausforderung nicht ange-nommen worden. Die New York Times hielt es nicht einmal fürnötig, über diese Vorwürfe zu berichten, wenn man von einembeiläufigen Hinweis auf ein Dementi der US-Regierung einigeWochen später und einigen Bemerkungen, die durchblicken ließen,die Vorwürfe seien „eine Behauptung der Sowjetunion",einmal absieht. Das war natürlich eine bequeme Art, sie abzu-tun.1 Einige Monate später legte David Pearson Beweismaterialdafür vor, daß die US-Regierung genau darüber unterrichtet war,daß die KAL 007 weit ab vom Kurs war und „auf sowjetischesTerritorium zusteuerte, während dort ein wichtiger Raketentest inVorbereitung war, und daß die Linienmaschine daher in gro-ßer Gefahr war", und daß US-Nachrichtendienste „die Zeit unddie Mittel hatten, mit der KAL 007 zu kommunizieren und ihren

1 William Broad, New York Times, 1. September 1984; ebenso 8. Juli, 31. August. DieWashington Post brachte einen Bericht über den Defence Attaché-Artikel (19. Juni).

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Kurs zu korrigieren, aber keiner von ihnen es tat". Seiner Argu-mentation nach kann man davon ausgehen, daß man im WeißenHaus und im Pentagon ebenfalls genügend Informationen sowiedie Möglichkeit hatte, „Instruktionen an zivile Kontrollbehördenfür den Luftverkehr zu übermitteln, um den Kurs der Linienma-schine zu korrigieren, es aber nicht tat". Der frühere US-DiplomatJohn Koppel, der sich seinerzeit an dem Versuch zur Vertuschungdes U-2-Zwischenfalls beteiligt hatte, stellte fest, „seineUntersuchung des sowjetischen Abschusses des Flugzeuges derKorean Air Lines habe ihn davon überzeugt, daß die VereinigtenStaaten Beweismaterial unterdrücken, das darauf schließen läßt,daß das Flugzeug auf einer Spionagemission war", und forderteeine Untersuchung durch den Kongreß.2

Man sollte denken, daß diese Vorwürfe und die zu ihrer Stüt-zung vorgebrachten Informationen eine gewisse Aufmerksamkeitverdienen. Sie sind jedoch zum größten Teil mit Schweigenübergangen worden; es gab lediglich einige Berichte über offizielleDementis, darunter die Behauptung, daß „keine Behörde der US-Regierung vor dem Abschuß auch nur wußte, daß das Flugzeugnicht auf Kurs war und sich in Schwierigkeiten befand", und daß„die Besatzung der RC135 [das mit fortgeschrittenster Technologieausgestattete US-Spionageflugzeug, das in der Nähe deskoreanischen Linienflugzeugs flog, N.C.] nicht die geringsteAhnung" von der Anwesenheit des Flugzeugs hatte3 - das alles ineinem hochgradig sensiblen Gebiet unter intensiver US-Überwa-chung, die zu genau jener Zeit wegen der bevorstehenden sowje-tischen Raketentests verstärkt worden war. Diejenigen, die denoffiziellen Dementis Glauben schenken, sollten eine andere Artvon Kongreßuntersuchung fordern, nämlich eine Untersuchung

2 David Pearson, Nation, 18. August 1984; UPI, Boston Globe, 27. August 1984. TomWicker bezeichnet das Versäumnis der Presse, über Pearsons Behauptungen zuberichten oder ihnen nachzugehen, als Zeugnis der "deprimierenden Komplizenschaftmit der Regierung, zu der die freie amerikanische Presse seit Vietnam und Watergateabgesunken ist" - eine Komplizenschaft, die in Wirklichkeit schon damals und in derZeit davor bestand ("A Damning Silence", New York Times, 7. September 1984; es wargerade die New York Times, die in dieser Hinsicht ein besonders trauriges Schauspielgeliefert hat).3 In den Worten eines nicht identifizierten hohen Beamten des US-Außenministeriums(Fred Kaplan, Boston Globe, 29. August 1984). Die New York Times, die als"Zeitungslegende" besonderen Verantwortlichkeiten gerecht werden muß, hat über alldas mit Ausnahme von Regierungsdementis, denen ein gewisser Raum gewidmet wurde,praktisch nichts berichtet. Das Muster ist nicht untypisch. Wie sorgfältige Leser unsererfreien Presse wissen, sind offizielle Dementis oft eine nützliche Spur, die zu Tatsachenhinführt, über die in anderer Form nicht berichtet wird.

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der erstaunlichen Unfähigkeit der US-amerikanischen Nachrich-tendienste und Überwachungssysteme.

Der erwähnte Vorfall weist noch einige weitere verblüffendeAspekte auf. So verdient zum Beispiel die Tatsache Erwähnung,daß mitten im Aufruhr über die sowjetische Greueltat die von denVereinigten Staaten und Südafrika unterstützten „Freiheitskämp-fer" der angolanischen UNITA die Verantwortung für den Ab-schuß einer angolanischen Düsenmaschine übernahmen, bei dem126 Menschen starben. Hier gab es keinerlei Unklarheiten, dasFlugzeug befand sich nicht abseits des Kurses im Überflug übersensible Militäreinrichtungen, es gab kein US-Aufklärungsflug-zeug in der Nähe, das Fragen über die Angelegenheit aufwarf. Eswar ganz einfach vorsätzlicher Mord, der von unseren Heldenfreudig verkündet wurde. Diesem Vorfall räumte die New YorkTimes 100 Worte ein; wie es scheint, wurde er nirgends in denMedien kommentiert. Die weitere Behauptung der UNITA, im Fe-bruar 1984 ein angolanisches Zivilflugzeug abgeschossen und so100 Tote verursacht zu haben, wurde praktisch überhaupt nichterwähnt; meines Wissens war dieser Angelegenheit in der ge-samten US-Presse kein einziger eigenständiger Artikel gewidmet.

Diejenigen, die ein gutes Gedächtnis haben, erinnern sichvielleicht noch an andere Fälle. Im Oktober 1976 wurde eine ku-banische Linienmaschine von Terroristen mit langjährigen Ver-bindungen zur CIA mit einer Bombe gesprengt, und 73 Zivilistenwurden getötet. Dieser Vorfall fiel in eine Zeit, zu der die zwan-zigjährige Kampagne des internationalen Terrorismus gegen Kubaeinen Höhepunkt erreichte. 1973 schoß Israel ein Zivilflugzeug ab,das sich zwei Flugminuten von seinem Flugziel Kairo befand undsich in einem Sandsturm verirrt hatte; 110 Menschen wurdengetötet. Es gab kaum Protest, statt dessen las man in redaktionellenKommentaren, daß „durch scharfe Debatten überSchuldzuweisungen keinem sinnvollen Zweck gedient ist" (NewYork Times). Vier Tage später besuchte Premierministerin GoldaMeir die Vereinigten Staaten, wo man sie nicht viel mit lästigenFragen quälte, sondern ihr neue Militärflugzeuge für Israel zumGeschenk machte. Im Gegensatz zu Behauptungen aus letzerZeit, die in der Absicht vorgebracht wurden, diesen Fall von dersowjetischen Greueltat zu unterscheiden,4 lehnte Israel es ab,

4 Martin Peretz, NewRepublic, 24. Oktober 1983; Michael Curtis von den "Ameri-kanischen Professoren für Frieden im Mittleren Osten", Leserbrief, The New YorkTimes, 2. Oktober 1983.

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Entschädigung zu bezahlen oder überhaupt irgend eine Verant-wortung zu akzeptieren; es bot nur ex gratia Zahlungen an, die wieüblich von seinem großzügigen ausländischen Gönner finanziertwurden. 1955 wurde ein Flugzeug der Air India, das diechinesische Delegation zur Bandung-Konferenz bringen sollte,während des Fluges gesprengt; die Polizei Hongkongs bezeichnetedie Tat als „sorgfältig geplanten Massenmord". Ein amerikanischerÜberläufer bezichtigte sich später, die Bombe im Dienst der CIAgelegt zu haben.5 Natürlich zeugt keiner dieser Zwischenfälle von„Barbarei"; sie alle waren schnell vergessen. Keiner von ihnenverdiente die Bezeichnung als „eine der infamsten undwiderwärtigsten Taten der Geschichte", so der Wortlaut derResolution, mit der der Kongreß die sowjetische Greueltateinstimmig verurteilte, was Senator Moynihan zu einem Lobge-sang auf „das wichtigste Konzept in der Evolution des Verbre-chensbegriffs seit der Genfer Konvention"6 beflügelte.

Man kann eine lange Liste solcher Beispiele anführen. Das istdie Art, wie Geschichte im Interesse der Inhaber von Privilegienund Macht geschrieben wird.

All dies fällt in den Bereich dessen, was Walter Lippman 1921die „Fabrikation von Konsens" nannte, eine Kunst, die „großerVerfeinerungen fähig" sei und zu einer „Revolution" in „der Praxisder Demokratie" führen werde. Diese Kunst hat in den Sozial-wissenschaften große Bewunderung geweckt. Der bekannte ame-rikanische Politikwissenschaftler Harold Lasswell schrieb 1933,daß wir „demokratische Dogmatismen" wie den Glauben, dieMenschen könnten „ihre Interessen selbst am besten beurteilen",vermeiden müssen. In der Demokratie ist es auch der Stimme desVolkes erlaubt, zu sprechen, weshalb es die Aufgabe des Intel-lektuellen ist, dafür zu sorgen, daß diese Stimme das gutheißt,was nach Auffassung weitsichtiger Führer der richtige Kurs ist.Die Propaganda spielt für die Demokratie dieselbe zentrale Rollewie die Gewalt für den Totalitarismus. Die entsprechendenTechniken sind weit über alles hinaus, was Orwell sich hätteträumen lassen, zu einer regelrechten Kunst ausgefeilt worden.Als eines der subtileren Mittel gehört dazu der Mechanismus der

5 Brian Urquhart, Hammarskjold (New York: Knopf, 1972).6 Zitiert von Randolph Ryan, "Misusing the Flight 7 Tragedy", Boston Globe, 16.September 1984. Ryan zieht aus den Ereignissen die Lehre, daß man der Administrationund dem Kongreß nicht vertrauen kann, daß "sowohl Präsident Reagan als auch derKongreß der Wahrheit Gewalt angetan haben". Die wesentlichere Frage, die seltenaufgeworfen wird, müßte sich an die Presse richten.

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Pseudodebatte, die in Wirklichkeit die Doktrinen der Staatsreligionzur gemeinsamen Grundlage hat und dadurch eine rationale,wirklich kritische Diskussion vermeidet, obwohl simple Lügen, dieUnterdrückung von Tatsachen und weitere grobe Technikenebenfalls sehr häufig zur Anwendung kommen und sehr effektivdarin sind, uns vor der Kenntnis und dem Verständnis der Welt, inder wir leben, abzuschirmen.

Wir sollten uns darüber klar sein, daß ideologische Kontrolle(Agitprop) in den Demokratien weit wichtiger ist als in denStaaten, die mittels Gewalt herrschen, und daher im Westen vielhöher entwickelt und im übrigen wahrscheinlich auch wirksamerist. Bei uns gibt es nur wenige Dantschews, wenn man vom ex-tremen Rand des politischen Spektrums einmal absieht.

Für diejenigen, die halsstarrig am Ziel der Freiheit festhalten,kann es keine dringendere Aufgabe geben, als zu lernen, die Me-chanismen und Praktiken der Indoktrination zu verstehen. Diesesind in den totalitären Gesellschaften leicht zu erkennen; in denSystemen der „Gehirnwäsche ohne Zwang und Gewalt", denen wirausgesetzt sind und denen wir nur allzu häufig als freiwillige oderunwillentliche Werkzeuge dienen, ist das weit weniger leicht.

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III. Die Verdammten dieser Erde

5. Osttimor*

Die vom Westen unterstützte indonesische Invasion und das dar-auffolgende, immer noch andauernde Massaker in Osttimor ent-hüllen mit äußerster Klarheit die Heuchelei der westlichen Pro-paganda in Bezug auf die Menschenrechte, den vollkommen be-trügerischen Charakter des angeblich so großen Schmerzes übereine ganz bestimmte, wohldefinierte Sorte schrecklicher Greuel-taten (nämlich solche, die ideologisch von Nutzen sind, da es sichbei den Tätern um offizielle Feinde handelt), die Beiläufigkeit, mitder Handlungen hingenommen werden, die als Völkermordbezeichnet würden, wenn jemand anderes als wir selbst dafürverantwortlich wäre, und schließlich den Mechanismus, mit demAggression in den Deckmantel der Verteidigung gehüllt wird undder fast zu verbreitet ist, um noch besondere Erwähnung zuverdienen. Die Vorfälle, um die es hier geht, sind so entlarvend,daß sie nicht bekannt werden dürfen und auch tatsächlich außer inwinzigen Zirkeln nicht bekannt sind. Darüber hinaus muß dieWahrheit über diese Ereignisse aus der Geschichte getilgt werden,und man kann mit einiger Zuversicht vorhersagen, daß sie ihrenWeg in das immer sehr nützliche Orwellsche „Erinnerungsloch"finden werden und später einmal in den Vereinigten Staaten undanderswo im Westen genauso gut bekannt sein werden wie dasUS-Massaker an Hunderttausenden von Filipinos um dieJahrhundertwende, der Völkermord an der UrsprungsbevölkerungAmerikas und andere, für die Aufnahme in den Kanon deroffiziellen Geschichte ungeeignete historische Fälle.

Den Hintergrund der Tragödie Osttimors bildet die Global-planung der US-Regierung in der Zeit nach dem Zweiten Welt-krieg. Die politischen Probleme Südostasiens sollten auf eineWeise gelöst werden, welche die Region dazu befähigen würde,„ihre wichtigste Funktion als Quelle von Rohstoffen und als Marktfür Japan und Westeuropa zu erfüllen", wie es 1949 imAußenministerium hieß. Dabei sollte das rohstoffreiche Indonesi-

* Auszug aus Chomskys Vorwort zu dem Buch des osttimoresischen Nobelpreisträgersvon 1996, Jose Ramos-Horta: Funu. The Unfinished Saga of East Timor (Trenton, N.J.:Red Sea Press, 1987). Abgedruckt in The Chomsky Reader, S. 303 - 311. Geschriebenwurde der Text im November 1985.

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en eine zentrale Rolle in dem damals entstehenden globalen Sy-stem spielen, in dem der japanische und der westeuropäische Ka-pitalismus innerhalb eines größeren, von den Vereinigten Staatenorganisierten und letztlich ihren Interessen untergeordneten Rah-mens wiederaufgebaut werden sollten. Die portugiesische KolonieOsttimor, auf die Indonesien bis zu seiner Invasion von 1975keinen Anspruch erhob, wurde von den Nachkriegsplanern eben-falls erwähnt. Sumner Welles vertrat die Auffassung, Osttimorsolle das Recht auf Selbstbestimmung erhalten, wenn auch miteiner gewissen Verzögerung: „Das würde mit Sicherheit tausendJahre dauern", erklärte er mit der üblichen rassistischen Ver-achtung für die minderwertigen Völker. Indonesien dagegen solltesofort die Unabhängigkeit erhalten - auch wenn die USA hierfüreine ganz bestimmte Form anstrebten.

Die Vereinigten Staaten setzten sich für ein Ende des hollän-dischen Kolonialismus ein, da dieser ebenso wie die anderen, vonden USA nicht kontrollierten Regionalsysteme ein Hindernis fürdie US-Pläne darstellte, das globale System auf eine Weise zu or-ganisieren, die es den Bedürfnissen der USA unterordnen würde.Da sie aber mit dem konkreten Ergebnis des Entkolonialisie-rungsprozesses unzufrieden waren, versuchten die VereinigtenStaaten 1958, den Präsidenten Indonesiens, Sukarno, zu stürzen,indem sie eine „Rebellion" von indonesischen Dissidenten undSöldnern, die die CIA auf den Philippinen ausgebildet hatte, an-zettelten. Selbst als ein US-Pilot (der für eine Fluglinie flog, die alsFrontorganisation für die CIA diente) abgeschossen wurde, konntedie US-Presse nicht genügend Interesse aufbringen, um denentsprechenden Vorwürfen nachzugehen, die von Bernard Kalbvon der New York Times als „kommunistische Propaganda"abgetan wurden. Der Versuch, die indonesische Regierung zustürzen, schlug fehl, aber die entsprechenden Bemühungen gingenauf anderen Wegen weiter, nämlich denselben, die die VereinigtenStaaten beim Sturz von - durchaus auch demokratischen -Regierungen, die nicht nach ihrem Geschmack sind, immer wiedereingeschlagen haben. Einer der bekanntesten Fälle ist der SturzSalvador Allendes in Chile. Die Vereinigten Staaten unterhieltenenge Kontakte mit dem indonesischen Militär und liefertenMilitärhilfe, während die Beziehungen zur indonesischenRegierung immer feindseliger wurden. 1965 wurden während einesvon der offiziellen Doktrin (und einem Großteil der akademi-schen Wissenschaft) als „kommunistischer Putsch" bezeichnetenCoups sechs Generäle ermordet. Wundersamerweise verschonte

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der Putsch den proamerikanischen General Suharto und richtetesich statt dessen gegen als antiamerikanisch geltende Elemente desMilitärs. Suharto führte dann einen richtigen Militärputsch durch,in dessen Verlauf innerhalb einiger Monate etwa eine halbeMillion Menschen, zum größten Teil landlose Bauern, abge-schlachtet wurden. Die breit in der Bevölkerung verankerte kom-munistische Partei wurde vernichtet, und wie es der Zufall sowollte, verwandelte sich das Land zur gleichen Zeit in ein „Para-dies für Investoren".

Im Westen beobachtete man all das mit großem Wohlgefallen,ja sogar mit Entzücken. Verteidigungsminister Robert McNamarawurde im Verlauf von Anhörungen im Kongreß gefragt, ob dieMilitärhilfe an Indonesien während einer Periode angespannterUS-indonesischer Beziehungen „sich ausgezahlt" habe, und erantwortete: ja, das habe sie. Dieser Meinung war auch der Kon-greß, ebenso wie die Presse, die diesen „Lichtblick in Asien", „dieseit Jahren besten Nachrichten für den Westen in Asien", die„Hoffnung, wo es noch bis vor kurzem keine gab" etc. etc. warmbegrüßte. Westliche Liberale feierten die „dramatischen Verän-derungen" in Indonesien als Rechtfertigung für den US-Angriff aufSüdvietnam (der hier in den USA „die Verteidigung Südvietnams"genannt wurde), durch den ein „Schutzschild" gebildet worden sei,das die indonesischen Generäle ermutigt habe, ihr notwendigesWerk der Säuberung der Gesellschaft und der BefreiungIndonesiens für die Ausbeutung durch den Westen zu verrichten.Inzwischen treiben es angesehene Journalisten so weit, zuschreiben, daß die kommunistische Partei „das Land einemBlutbad aussetzte" (George McArthur), und daß 1965 „Tausendeniedergemetzelt wurden", „als das Militär des Landes einenblutigen Versuch Präsident Sukarnos und der von China un-terstützten Kommunistischen Partei Indonesiens, das parlamen-tarische Regierungssystem durch eine Diktatur zu ersetzen, ver-eitelte" (Robert Toth). Die Opfer des Massakers sind zu den Täterngeworden, das Ausmaß des Mordens um einen Faktor von Hundertverringert und die US-Rolle darin eliminiert worden, ganz, wie esdie Norm ist, wenn es um Greueltaten geht, die von den „gutenJungs" auf unserer Seite verübt wurden und sich für uns und unsereHilfe ausgezahlt haben.

Eine CIA-Studie der indonesischen Operation von 1965 bleibtweiterhin geheim. Der frühere CIA-Agent Ralph McGehee, unterdessen Leitung die Studie angefertigt wurde, dem aber bis heuteverboten ist, sie öffentlich zu diskutieren, sagt, aufgrund dieser

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Studie kenne er „die spezifischen Schritte, die die CIA unternahm,um die Bedingungen zu schaffen, die zum Massaker an mindestenseiner halben Million von Indonesiern führten".

Nach der Zerschmetterung der politischen Opposition in einemder gewalttätigsten Massaker der Neuzeit und der Inhaftierung von750.000 Menschen, von denen viele fünfzehn Jahre lang inGefängnissen und Konzentrationslagern weggesperrt blieben,wurde Indonesien in der Freien Welt willkommen geheißen, wo esauch weiterhin als loyaler Vorposten von Freiheit und Demokratieim üblichen Stil dient. Integrale Bestandteile sind die Verarmungeines Großteils der Bevölkerung in einer potentiell reichenGesellschaft, Terror und Folter sowie ein politisches System, fürdas selbst der Ausdruck „betrügerisch" noch ein Kompliment wäre,vor allem aber das weitgehende Fehlen von Barrieren für dieAusbeutung des Landes durch den Westen, der lediglich derRaubgier der indonesischen Generäle und ihrer örtlichen KumpaneTribut zollen muß.

Nach dem Sturz des portugiesischen Faschismus 1974 gab esauch in der Kolonie Osttimor Schritte in Richtung auf die Unab-hängigkeit. Politische Kräfte, die aus Indonesien unterstützt wur-den, machten im August 1975 einen Putschversuch, aber dieserPutsch wurde in einem kurzen, sehr blutigen Bürgerkrieg, bei demetwa 2.000 bis 3.000 Menschen getötet wurden, zurückgeschlagen.Anfang September war das Land in den Händen der FRETILIN,die von gut informierten Beobachtern vor Ort als „populistisch-katholisch" orientiert beschrieben wurde. Mitarbeiterinternationaler Hilfsorganisationen, Journalisten und andereBeobachter lobten die gemäßigte und konstruktive Weise, auf diedie FRETILIN die Entwicklung und die Unabhängigkeit desLandes in die Wege leitete. Aber die indonesische Führung hatteanderes im Sinn, und die Vereinigten Staaten und deren Verbün-dete waren nur zu glücklich, sich ihren Plänen zu fügen, solangedie Profite aus Indonesien weiterflossen.

Indonesien begann sofort mit Aggressionen im Grenzgebiet,und es bestand wenig Zweifel daran, daß es bald zu einer voll-ständigen Invasion übergehen würde. Geheime diplomatischeTelegramme, die in Australien veröffentlicht wurden, zeigen, daßdie US-Botschaft in Jakarta von Henry Kissinger angewiesenworden war, sich nicht mit der Angelegenheit zu befassen und„ihre Berichterstattung über Timor einzuschränken" (so der au-stralische Botschafter in Indonesien Woolcott). Woolcott zufolgevertrat US-Botschafter David Newsom damals die Auffassung,

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daß Indonesien, falls es intervenieren wolle, dies „effektiv, schnellund ohne US-Militärmaterial" tun solle. Letzteres war natürlich nurein durchsichtiges Täuschungsmanöver: in Wirklichkeit wargemeint, Indonesien solle unser Militärmaterial nicht in allzuauffälliger Weise benutzen. Neunzig Prozent der indonesischenRüstungsgüter stammten aus den Vereinigten Staaten und warenunter der Bedingung bewilligt worden, daß sie nur zur Selbst-verteidigung verwendet würden; das Konzept der „Verteidigung"kann jedoch recht breit ausgelegt werden, falls sich die Notwen-digkeit dazu ergibt.

Am 7. Dezember 1975 begann Indonesien mit der totalen In-vasion des Landes und leitete eine Massenschlächterei in dieWege, die bis 1979 wahrscheinlich etwa 200.000 Menschen dasLeben gekostet hat und die Überlebenden zu einem Existenzniveauwie seinerzeit in Biafra und, zu etwa der gleichen Zeit, an derthailändisch-kambodschanischen Grenze verurteilte. Im Gegensatzzu den offiziell verbreiteten Lügen beteiligten sich die VereinigtenStaaten enthusiastisch an diesem Feldzug. Die US-Regierungbehauptete später, sie habe damals ein geheimes sechsmonatigesWaffenmoratorium verfügt; wie sich dann herausstellte, war dasMoratorium derart geheim, daß die indonesische Regierung garnichts davon wußte, während der Waffenstrom während dieserPeriode unverändert weiterfloß; die Vereinigten Staaten-botensogar neue, für Maßnahmen zur Aufstandsbekämpfung besondersgeeignete Rüstungsgüter an. 1977 hatte Indonesien, in einem Krieggegen ein Land mit einer Bevölkerung von 700.000 Menschen,seinen Vorrat an Militärmaterial schon beinahe aufgebraucht, sodaß die Carter-Administration parallel zur Verbreitung vonFrömmigkeiten und Eigenlob hinsichtlich ihres Engagements fürdie Menschenrechte - „die Seele unserer Außenpolitik" - für einenenormen Anstieg des Waffenflusses nach Indonesien sorgenmußte, im vollen Wissen, daß diese Waffen dazu verwendetwürden, ein Massaker zu Ende zu führen, das inzwischenallmählich die Dimensionen eines Völkermords erreichte.

Was die amerikanischen Medien betrifft, so benötigten diesekeine Anweisungen vom Außenministerium, „ihre Berichter-stattung aus Timor einzuschränken". Sie verstanden die ihnenzugedachte Rolle auch so, und das Thema verschwand praktischvollständig aus der Öffentlichkeit. In der New York Times zumBeispiel war die Berichterstattung über Timor 1975 recht um-fangreich, sank aber ab, als Indonesien in Timor einmarschierte

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und kam 1978, als die Greuel mit dem neuen, von der Menschen-rechtsadministration gelieferten Militärmaterial ihren Höhepunkterreichten, praktisch auf dem Nullpunkt an. Die gelegentlichenBerichte sparten sorgfältig die vielen timoresischen Flüchtlinge inPortugal und Australien aus und hielten sich statt dessen an dieindonesischen Generäle, die dem Leser auf dem Weg über die freiePresse versicherten, die Timoresen, die von der FRETTLIN in dieBerge „gezwungen" worden seien, würden massenhaft bei denIndonesiern Zuflucht suchen, um sich der „Kontrolle" derFRETILIN zu entziehen. Diese „Tatsachen" wurden von der freienPresse umstandslos weiterkolportiert, sofern sie überhaupt einmalgeruhte, sich mit dem Morden zu befassen. Später wurden Wesenund Ausmaß der Greuel teilweise eingeräumt, allerdings hintereinem Vorhang betrügerischer Behauptungen und untersorgfältiger Umgehung der Rolle der US-Regierung und derKomplizenschaft der Presse.

Während die Vereinigten Staaten der wichtigste ausländischeTeilnehmer an der Schlächterei waren, versuchten andere, so weitwie möglich ebenfalls zu profitieren und bewahrten Stillschweigenüber die Vorfälle. In Kanada, dem damals wichtigsten westlichenInvestor in Indonesien, schwiegen Regierung und Presse, und dieRegierung behauptet jetzt, daß „in Opposition zur politischenFraktion der FRETILIN stehende Gruppen Indonesien um Hilfebaten, worauf das indonesische Militär intervenierte. Späterrichteten Repräsentanten der Anti-FRETILIN-Fraktionen eineformelle Bitte an die Regierung Indonesiens, Osttimor in denindonesischen Staatsverband einzugliedern, und Timor ist jetzt einintegraler Bestandteil der Republik Indonesien." Das ist alles;davon wäre selbst Goebbels beeindruckt gewesen. Le Mondeberichtete im September 1978, die französische Regierung werdeWaffen an Indonesien verkaufen, sich an keinerlei UN-Diskussionen über die Invasion beteiligen und generell nichts tun,was „Indonesien irgendwie in Verlegenheit bringen könnte". DiePariser Intellektuellen, die damals sehr stolz auf ihren Mut beider Verurteilung kommunistischer Verbrechen in Indochinawaren - was vermutlich in ihren Augen ein Jahrhundert französi-scher Verbrechen reinwusch, die die Kolonialmacht seinerzeit inAsien, Afrika und anderswo begangen hatte und die selbst wäh-rend des französischen Indochinakrieges nur auf wenig Protestgestoßen waren -, fanden keine Zeit, gegen Frankreichs Engage-ment in dem gerade stattfindenden Massaker zu protestieren undbelehren uns jetzt großzügig, Timor sei geographisch und histo-

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risch zu „marginal" gewesen, um Aufmerksamkeit zu verdienen(Gérard Chaliand). Britische Journalisten, die den kambodscha-nischen „Autogenozid" und sogar einen vorgeblichen vietname-sischen „Völkermord" in Kambodscha anprangerten, präsentierenuns eine „strukturell ernsthaftere Erklärung" dafür, daß über dieVorgänge in Osttimor nicht berichtet wurde: „Es gab nicht vieleFlüchtlinge; es gab keine 'Grenze', die die Journalisten hättenbesuchen können", und „es gab, verglichen mit anderen Fällen,nicht viele Quellen" (William Shawcross). Man erklärt uns alsoallen Ernstes, Lissabon, das zwei Flugstunden von London entferntist, sei schwieriger zu erreichen als die thailändisch-kambodschanische Grenze, und daß der ganze Berg von Material,der aus kirchlichen Quellen, herausgeschmuggelten Briefen,Flüchtlingsstudien seitens höchst kompetenter Autoritäten undanderen Berichten stammt, schlicht und einfach nicht existiert.Was Australien betrifft, so hatte Timor während des ZweitenWeltkriegs etwa 40.000 Tote zu beklagen, weil die Timoresenaustralischen Kommandos auf der Insel dabei halfen, gegen dieJapaner zu kämpfen; Australien brachte seinen Dank mit der zu-nächst stillschweigenden und mittlerweile offenen Unterstützungder indonesischen Aggression zum Ausdruck. Es ist in der ge-samten zivilisierten Welt mit äußerst seltenen Ausnahmen das-selbe, was uns einen gewissen Einblick in das Wesen dieser „Zi-vilisation" gibt.

Die US-Teilnahme an dem Massaker ging über die Ebeneentscheidend wichtiger materieller Unterstützung und der Kom-plizenschaft auf Seiten der ideologischen Institutionen noch hin-aus. Die US-Regierung lieh der indonesischen Invasion auch ihrediplomatische Unterstützung. Besonders wichtig war dabei, dasHandeln der Vereinten Nationen zur Eindämmung der Aggressiongleich in den Anfangstagen, als dieses Handeln ein wirksamesErgebnis hätte haben können, zu blockieren. Diese Aufgabe wurdedem US-Botschafter bei den UN, Daniel Patrick Moynihan,übertragen, und er beschreibt seinen Erfolg bei der Durchführungdieser Aufgabe mit großem Stolz. In einem geheimen, an denAußenminister Kissinger gerichteten Telegramm vom 23. Januar1976 führte er seinen Erfolg bei der Blockierung von Aktionen derUNO zu Timor als Teil des „beträchtlichen Fortschritts" an, den ermit Hilfe einer Taktik der starken Hand bei den VereintenNationen erreicht habe. In seinen Memoiren setzt er die Gründeauseinander, aus denen die UNO nicht in der Lage gewesen sei,auf sinnvolle Weise zu handeln:

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Die Vereinigten Staaten wünschten, daß die Dinge sich soentwickeln würden, wie sie es tatsächlich taten, und arbeite-ten daran, dies zustandezubringen. Das Außenministeriumwollte, daß die Vereinten Nationen sich in sämtlichen ihrergetroffenen Maßnahmen als total unwirksam herausstellenwürden. Diese Aufgabe wurde mir übertragen, und ichführte sie mit nicht unbeträchtlichem Erfolg aus.

Moynihan machte außerdem klar, daß er sehr gut begriff, was seineLeistung bedeutete. Er zitiert die Schätzung eines der indo-nesischen US-Klienten vom Januar 1976, „daß seit dem Ausbruchdes Bürgerkriegs [im August 1975] etwa 60.000 Personen getötetworden sind" - man erinnere sich, daß während des Bürgerkriegsetwa 2.000 bis 3.000 Menschen getötet worden waren, der Restdagegen seit der indonesischen Invasion im Dezember -, „10Prozent der Bevölkerung, beinahe die Proportion von Opfern, diedie Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs erlitt". Sobrüstet sich Moynihan öffentlich mit einer Leistung, die er stolzmit den Taten Hitlers in Osteuropa vergleicht.

Moynihan wird sehr für seine Verspottung Idi Amins undähnlich heldenhafte Taten während seiner Amtszeit bei den Ver-einten Nationen bewundert, und er erhielt große Zustimmung fürseine Anprangerung der Vereinten Nationen als „Bühne von'Handlungen, die wir als Verirrungen betrachten" und die dieVereinigten Staaten „niemals vergessen" werden - diese rhetori-schen Ergüsse äußerte er zur selben Zeit, als er mit großem Erfolgdaran arbeitete, die Vereinten Nationen an wirksamen Maß-nahmen gegen die US-unterstützten indonesischen Aggression zuhindern. Moynihan wird außerdem viel als Verfechter der Herr-schaft des Gesetzes und Kritiker der „totalitären Linken" gerühmt,die mit ihren „Orwellschen" Verdrehungen „die Wahr-nehmungsfähigkeit in den Demokratien abgestumpft" habe. Wie erim April 1983 im National Humanities Center vor einem be-wundernden Publikum erklärte (nachzulesen in einem Abdruckseines Vortrags durch die American Academy of Arts and Scien-ces, deren Herausgeber von seinen Einsichten sehr beeindrucktwaren), hat die „totalitäre Linke" den „liberalen Demokratien"durch ihre rhetorischen Schliche „ganz spezielle Schwierigkeiten"bereitet. Im Dezember 1980 war Moynihan der Hauptsprecher aufeiner Konferenz des Komitees für die Integrität der Ver- einten Nationen, auf der die UNO angeklagt wurde, „nicht mehrder Wächter der sozialen Gerechtigkeit, der Menschenrechte und

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der Gleichheit unter den Nationen" zu sein, da sie „durch irrele-vante politische Machenschaften mißbraucht" werde und somitGefahr laufe, „eine Kraft gegen den Frieden selbst zu werden";Damit meinten die Veranstalter natürlich nicht das Ergebnis derTätigkeit ihres ehrbaren Sprechers, der sich durch Mißbrauch derVereinten Nationen an einem gewaltigen Massaker beteiligt hatte,sondern die Tatsache, daß die UNO wiederholt die Rechte derPalästinenser unterstützt hat, was in den Augen der USA eingroßes Verbrechen ist.

Einige Zeit später erklärte Moynihan, das Senatsunterkomiteefür Nachrichtendienste, dessen Vizevorsitzender er war, habe denForderungen der Reagan-Administration nach Finanzierung derUnterstützung des Contra-Angriffs auf Nicaragua zugestimmt,„weil das internationale Recht den Vereinigten Staaten nicht nurdas Recht gab", paramilitärische Operationen in Mittelamerika zuunterstützen, „sondern sie sogar dazu verpflichtete, da doch dieRegierung Nicaraguas subversive Tätigkeiten gegen ihrenNachbarn El Salvador unterstützt hat". Moynihan hat ein feinesund treffsicheres Gespür dafür, was „Aggression" ist: ein Rinnsalvon Hilfe an Menschen, die von US-Klienten massakriert werden,stellt eine „Aggression" dar, die zu einer vom Ausland hergesteuerten Invasion durch eine Stellvertreterarmee verpflichtet (sodaß, a forteriori, die UdSSR das Recht und sogar die Pflicht hat,Pakistan, China und die Vereinigten Staaten anzugreifen, da diese„subversive Tätigkeiten" gegen die rechtlich anerkannte RegierungAfghanistans unterstützen), während die direkte und massive, mitder vollen und ausschlaggebenden Unterstützung der USAunternommene Aggression eines US-Klienten, die zu einem dergroßen Massaker unserer Zeit geführt hat, keine „Aggression"darstellt und es unser Recht und sogar unsere Pflicht ist, unter demreichlichen Beifall des liberalen westlichen Meinungsspektrumsinternationale Anstrengungen zur Verhinderung dieser Aggressionzu untergraben.

Am 12. Dezember 1975, während Moynihan mit großer Be-geisterung an der ihm vom Außenministerium zugewiesenenAufgabe arbeitete, erhielt er die höchste Auszeichnung der (in-zwischen in „Internationale Liga für Menschenrechte" umbe-nannten) Internationalen Liga für die Rechte des Menschen, mitder er für seine Rolle als „einer der eloquentesten Anwälte derMenschenrechte auf der nationalen und internationalen Szene"geehrt wurde. Am 10. Dezember 1982 verkündete die Liga, siewerde denselben Preis an den ehemaligen Präsidenten Jimmy

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Carter verleihen, um dessen „herausragende Leistungen auf demGebiet der Menschenrechte zu ehren". Ein bemerkenswertes Bei-spiel für dessen Verpflichtung gegenüber den Menschenrechtenwar das Engagement, mit dem er dafür sorgte, daß Indonesien überdie militärischen Mittel und die diplomatischen Unterstützungverfugte, sein edles Werk in Timor zur Vollendung zu „ bringen.Nebenbei bemerkt sind die Tatsachen über Osttimor und die Rolle,die die USA dabei gespielt haben, den Vertretern der •' Ligabestens bekannt, ist sie doch selbst eine der wenigen Grup-j-.'-pen,die eine respektable Bilanz des Protests in dieser Frage vor-,weisen können.

1977, als die Zahl der Todesopfer in Timor vielleicht 100.000erreicht hatte und Jimmy Carter eine Steigerung der Militärhilfe anIndonesien bewilligte, die den Todeszoll umgehend weiter in dieHöhe trieb, wand sich der Westen in ohnmächtiger Empörung überdie Greueltaten im Kambodscha der Roten Khmer. VonZeitschriften mit Massenauflage wie dem Reader's Digest und TVGuide bis hin zu Intellektuellenzeitschriften wie der New YorkReview of Books wurden die Roten Khmer als ebenso schlimm undvielleicht schlimmer als Hitler und Stalin verurteilt undbeschuldigt, sie hätten mit der „Eliminierung" eines Viertel derBevölkerung, das heißt, von 2 Millionen Menschen „geprahlt"(Jean Lacouture, der einige Wochen später eingestand, die Ge-schichte sei im wesentlichen eine Erfindung gewesen und die tat-sächliche Zahl der Toten habe vielleicht einige Tausend betragen,aber zugleich erklärte, ein Faktor von 1.000 sei nicht vonBedeutung: die Zahl von 2 Millionen blieb jedoch trotz diesesEingeständnisses orthodoxe Meinung im Westen). Schon zweiJahre zuvor, zu einer Zeit, als die Roten Khmer vielleicht einigetausend Menschen getötet hatten, wurden sie in der New YorkTimes des „Völkermord" bezichtigt. Mitte 1977 schätzten die US-Nachrichtendienste, die Zahl der Toten habe den Bereich von„Zehntausenden, wenn nicht Hunderttausenden" erreicht, die zumgrößten Teil aufgrund von Krankheiten, Unterernährung undÜberarbeitung gestorben seien, wobei sich die hohe Zahl in ersterLinie aus dem „brutalen, rapiden Wandel", nicht durch„Massenmord" erkläre; diese Einschätzung, die seinerzeit ignoriertwurde, da sie den damaligen propagandistischen Erfordernissennicht genügte, wurde von der späteren wissenschaftlichenForschung im allgemeinen bestätigt. Hier handelte es sich um einLand, dessen Bevölkerung zehnmal so groß war wie die Ostti-mors, ein Land, das von einem US-Angriff, der in der ersten

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Hälfte der siebziger Jahre zum Tod Hunderttausender geführthatte, verwüstet worden war und in dem als Folge dieses Angriffsdirekt vor der Machtübernahme der Roten Khmer allein in derHauptstadt Phnom Penh monatlich 8.000 Menschen starben(niemand wußte oder wollte wissen, was in den ländlichen Ge-bieten vor sich ging, die einem der schlimmsten Bombardementsder Kriegsgeschichte ausgesetzt waren). Die Empörung über dieRoten Khmer war nicht nur äußerst intensiv, sondern auch insonstiger Hinsicht beispiellos; sie war von einigen der erstaun-lichsten Erfindungen und Betrügereien in der Geschichte derPropaganda begleitet, da die tatsächlichen Greuel der RotenKhmer, die, wie jedermann (selbst angesichts der Einschränkungenund Vorbehalte der US-Nachrichtendienste, die als einzigetatsächlich etwas über die realen Vorgänge wußten) anerkannte,schrecklich genug waren, aus Sicht der Propagandisten für dasdamals ausschlaggebende Ziel nicht ausreichten: Entscheidendwar, die moralische Schuld an den Indochinakriegen den Opfernzuzuschieben. Wesen und moralischer Charakter der allgemeinenEmpörung lassen sich glasklar an der Reaktion derselben Kreiseauf die gleichzeitigen und durchaus vergleichbaren Greuel inTimor ablesen.

Man muß jedoch einige entscheidende Unterschiede zwischendiesen Fällen festhalten, von denen der wichtigste darin besteht,daß im Fall Kambodschas die Empörung zwar ideologisch nützlichund daher intensiv war, dafür aber so gut wie machtlos; niemandmachte einen gangbaren Vorschlag, wie man die Greuel beendenkönnte, auch wenn es später eine Diskussion über die Legitimitäteiner Intervention zum Schutz der Opfer gab. Das Schweigen imFall Timors war dagegen von entscheidender Bedeutung. Für dieManager der US-Politik war es äußerst wichtig, dafür zu sorgen,daß die Öffentlichkeit nicht erfuhr, was vor sich ging, damit derFortsetzung der Schlächterei keine Hindernisse im Weg stünden.Um den Greueln ein Ende zu bereiten, war keine Interventionnötig; es hätte genügt, die Hunde zurückzupfeifen. Dieses Beispielgibt einen tiefen Einblick in das Gewissen und das moralischeEngagement des Westens, ebenso wie die Tatsache, daß dieindonesischen Greuel bis heute weitergehen, ohne im WestenInteresse auszulösen, wo man sich lieber mit farcenhaften Debattenbefaßt, was in Kambodscha hätte getan werden sollen.

Als die Wahrheit über Timor schließlich während einer kur-zen Zeitspanne im Jahr 1980 in sehr kleinen Bruchstücken be-

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kannt wurde, um dann wieder dem ihr angemessenen Vergessenüberantwortet zu werden, wurden in etablierten Kreisen dieselbenVergleiche zu Kambodscha gezogen, die man zuvor in den mar-ginalen Kreisen angestellt hatte, die gegen die Timorinvasionprotestiert hatten. Das Wall Street Journal war über den Vergleicheinigermaßen beunruhigt, legte ihn aber dann mit Begründungen,die uns hier nicht zu interessieren brauchen, ad ac-ta. Heutejedenfalls müssen das Wall Street Journal und andere sich keineSorgen mehr über den „Widerspruch" zwischen unserer Oppositiongegen die Massaker der Roten Khmer und unserer Unterstützungvergleichbarer Massaker des indonesischen Militärregimesmachen. Der „Widersprach" hat sich nunmehr aufgelöst, da dieUSA inzwischen sowohl Pol Pot als auch die indonesischenMörder unterstützen. Die Vereinigten Staaten unterstützen offendie Koalition des Demokratischen Kampuchea, die zum größtenTeil aus den Roten Khmer besteht, die ihrerseits direkt von denUS-Verbündeten China und Thailand unterstützt werden. DieGründe dafür wurden im September 1982 im Verlauf vonKongreßanhörungen vom Vertreter des Außenministeriums JohnHoldridge erläutert. Gefragt, ob „die Opposition in Kambodscha[nämlich die hauptsächlich aus den Roten Khmer bestehendeKoalition des Demokratischen Kampuchea] repräsentativer für daskambodschanische Volk sei als die FRETILIN für das timoresischeVolk", antwortete Holdridge: „Ganz ohne Frage, weil es hier vonAnfang an eine Kontinuität gegeben hat", nämlich die Kontinuitätzum Pol-Pot-Regime.

Diejenigen, denen der Mangel an Ordnung in unserer WeltUnbehagen bereitet, können nunmehr beruhigt sein, da die „Wi-dersprüche" inzwischen gelöst sind.

Aber es gibt auch einen Lichtblick in dieser schmutzigen Ge-schichte. Dank der Anstrengungen einer Handvoll junger Men-schen drangen die Tatsachen - ausschnittsweise - wenigstens zueinem Teil der Bevölkerung, zu Mitgliedern des Kongresses undsogar - für kurze Zeit - zur Presse vor. Als Resultat dieser An-strengungen wurde dem Internationalen Roten Kreuz zumindestsporadisch der Zugang zu Timor gewährt, und es gelangte einwenig Hilfe ins Land, wodurch möglicherweise Zehntausende ge-rettet wurden. Auch das kann uns etwas lehren: Wenn wir denWillen haben, uns von der Umklammerung der Kommissare frei-zumachen und uns aufrichtig anzusehen, was in der Welt ge-schieht, können wir viel zur Minderung und schließlichen Über-windung staatlichen Terrors tun. Auch wenn die Wahrschein-

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lichkeit mit jedem Jahr abnimmt, bleibt die Möglichkeit bestehen,daß die indonesische Aggression schließlich durch öffentlichenDruck auf die US-Regierung, die diese Aggression mit derentscheidend wichtigen Unterstützung versorgt, beendet wird; unddaß die Menschen Osttimors, diejenigen, die den Angriff überlebthaben, am Ende doch das Recht auf Selbstbestimmung, das dieVereinigten Staaten zu verfechten behaupten, genießen können -vielleicht sogar schon früher als in tausend Jahren.

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6. Die Schwachen erben nichts*

Eine simple Wahrheit über die Neue Weltordnung besagt, daß sieökonomisch dreipolig und militärisch einpolig ist. Die zurücklie-genden Ereignisse helfen dabei, das Zusammenspiel dieser Fak-toren zu verstehen.

Als das glorreiche „Truthahnschießen" in der Wüste begann,veröffentlichte die New York Times einen Auszug aus einem Be-richt über die nationale Sicherheit aus den frühen Tagen der Bush-Administration, der sich mit „Bedrohungen aus der Dritten Welt"beschäftigte. In dem Auszug heißt es: „In Fällen, wo die USAwesentlich schwächeren Feinden gegenüberstehen, wird dieHerausforderung für uns nicht sein, sie lediglich zu schlagen,sondern sie entscheidend und schnell zu schlagen." Jeder andereAusgang sei „peinlich" und könne „den politischen Rückhaltuntergraben".

„Wesentlich schwächere Feinde" stellen für-die USA nur ineiner Hinsicht eine Bedrohung dar: die zu jeder Zeit unerträglicheGefahr nationaler Unabhängigkeit. Die USA werden noch denmörderischsten Tyrannen unterstützen, solange er ihr Spiel spielt,und sich alle Mühe geben, Demokraten in der Dritten Welt zustürzen, wenn diese von ihrer Dienstleistungsfunktion abweichen.Die Dokumente und die historischen Tatsachen sprechen in dieserHinsicht eine klare Sprache.

Das durchgesickerte Dokument nimmt keinen Bezug auffriedliche Mittel. Wie allen Beteiligten klar ist, sind die USA inihren Konfrontationen mit Bedrohungen aus der Dritten Welt„politisch schwach"; es ist unwahrscheinlich, daß ihre Forderungenöffentliche Unterstützung erhalten, und daher ist Diplomatie eingefährlicher Weg. Und ein „wesentlich schwächerer" Gegner mußnicht nur geschlagen, sondern pulverisiert werden, wenn diezentrale Lektion der Neuen Weltordnung gelernt werden soll: wirsind die Herren, und ihr seid die Schuhputzer.

Es gibt noch weitere nützliche Lehren. Die heimische Bevöl-kerung muß „die feste und klare prinzipielle Haltung" zu schät-

* Dieser Artikel erschien nach dem Ende des Golfkriegs im April 1991 als Debatten-beitrag in der englischen Tageszeitung Guardian; aus: Manchester Guardian Weekly, 7.April 1991. Der Golfkrieg Anfang 1991 forderte 100.000 - 200.000 irakische Opfer,während auf der Seite der „Alliierten" etwa 350 Soldatinnen und Soldaten fielen. Daseingangs zitierte Wort vom „Truthahnschießen" spielt auf zahlreiche ähnlicheÄußerungen amerikanischer Soldaten an, die in der Presse zitiert wurden und anMenschenverachtung kaum zu überbieten sind.

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zen wissen, „die George Bush während seiner Jahre in Andoverund Yale eingebrannt wurde: daß Ehre und Pflicht dazu zwingen,dem Rowdy ins Gesicht zu schlagen". Das sind die bewunderndenWorte des Reporters, der die Teile des oben erwähnten Berichtsveröffentlichte, um sodann den Helden selbst zu zitieren: „Gott seiDank haben wir dem Vietnamsyndrom ein für alle Mal den Trittgegeben." Zum großen Frohlocken des Präsidenten werden unsjetzt keine - so die Formulierung des ReaganintellektuellenNorman Podhoretz - „krankhaften Hemmungen, militärischeMacht zu gebrauchen" mehr behindern.

Der Boden für die Überwindung dieser schweren Krankheitwar gut vorbereitet worden, unter anderem durch engagierte An-strengungen, für ein richtiges Verständnis des Vietnamkriegs zusorgen - nämlich als „ehrenvolle Sache", nicht als ein gewalttätigerAngriff auf Südvietnam und dann ganz Indochina. Wie einekürzlich durchgeführte wissenschaftliche Studie zeigt, schätzenAmerikaner die Zahl der vietnamesischen Toten im allgemeinenauf etwa 100.000. Die Autoren der Studie fragen, welche Schluß-folgerungen wir ziehen würden, wenn die deutsche Bevölkerungdie Toten des Holocaust auf 300.000 schätzen und dabei daraivfbestehen würde, im Zweiten Weltkrieg im Recht gewesen zu sein.Eine Frage, über die wir nachdenken könnten.

Das Prinzip, daß man den Rowdy ins Gesicht schlägt - wennman sicher ist, daß er an Händen und Füßen gefesselt ist und manihn zu Brei schlagen kann -, ist für Verfechter der Herrschaft derGewalt nur normal. Durch billige Siege kann man außerdem eineverängstigte heimische Bevölkerung mobilisieren und so vielleichtdie Aufmerksamkeit von den Desastern ablenken, die die Reagan-Bush-Jahre in den USA selbst angerichtet haben, keine unwichtigeSache zu einer Zeit, in der das Land weiter in Richtung einerZweiklassengesellschaft mit auffälligen Merkmalen der DrittenWelt driftet.

George Bushs Karriere als „Diener der Öffentlichkeit" birgtebenfalls ihre Lehren hinsichtlich der Neuen Weltordnung. Er istdas bisher einzige Staatsoberhaupt, das vom Weltgerichtshof für„den ungesetzlichen Gebrauch von Gewalt" verurteilt wurde.Während er die Aufforderung des Gerichts an die USA, für diesebesonderen Verbrechen (andere liegen sowieso weit außerhalb desZugriffs) Reparationen an Nicaragua [vgl. S. 156, d.Ü.] zu leisten,verächtlich abtut, verlangen er und seine Speichellecker feierlichReparationen vom Irak.

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Bush eröffnete die Ära nach dem Kalten Krieg mit der mör-derischen Invasion Panamas, womit er die Herrschaft der - geradeeinmal 10 Prozent der Bevölkerung ausmachenden - weißenMinderheit durchsetzte und die US-Kontrolle über den Panama-kanal und die Militärstützpunkte sicherstellte, die seit langem zurAusbildung der Verbrecher genutzt werden, die ganz Latein-amerika terrorisieren. Seit der Zeit, als er 1971 UN-Botschafterwurde, liegen die USA bei den Vetos gegen Resolutionen des Si-cherheitsrats und bei der Blockierung der friedenssicherndenFunktion der UN weit in Führung, gefolgt von Großbritannien.1975 wurde Bush an die Spitze der CIA berufen, gerade recht-zeitig, um die völkermörderischen Aktionen Indonesiens in Ost-timor zu unterstützen. In der Folge lieh er seine Begabungen demKrieg gegen die Kirche und andere Ketzer, die sich in Mittel-amerika - das inzwischen von gefolterten und verstümmeltenLeichen übersät und vielleicht auf irreparable Weise verwüstet ist -„dem Vorrang der Arbeit für die Armen" verschrieben haben.

Im Nahen Osten unterstützte Bush Israels brutale Besat-zungspolitik, seine grausame Invasion des Libanon und seineWeigerung, die Sicherheitsratsresolution 425 zu beachten, die densofortigen Abzug Israels aus dem Libanon verlangte (verab-schiedet im März 1978 und gefolgt von mehreren weiteren Re-solutionen). Die Forderung nach dem Abzug Israels wurde von derRegierung des Libanon im Febniar dieses Jahres erneut vor-gebracht und wie üblich ignoriert, während der US-Klientenstaatdie von ihm besetzte Region terrorisiert und nach Belieben bom-bardiert, während der Rest des Libanon von Bushs neuem FreundHafez el-Assad, einer praktisch originalgetreuen Kopie SaddamHusseins, einkassiert wird. Den türkischen „Friedensstiftern"wurde als Teilzahlung für ihre Dienste im Golfkrieg ebenfallserlaubt, ihre Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung zu in-tensivieren.

Ganz offensichtlich haben wir es hier mit einem Mann zutun, der zu Recht seltener Prinzipienfestigkeit gepriesen wird,während er uns einer Neuen Weltordnung entgegenführt. DiePrinzipien des Berichts über die nationale Sicherheit wurdenwährend der gesamten Golfkrise eingehalten. Im Juli 1990 ließBush gegenüber dem Irak durchblicken, er habe keine Einwändegegen eine gewaltsame Bereinigung der irakischen Grenzstrei-tigkeiten mit Kuwait durch den Irak oder gegen die Einschüchte-rungsmanöver, die der Irak gegen seine Nachbarn unternahm,um den Ölpreis anzuheben. Aber Saddam mißverstand die Si-

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gnale und nahm sich ganz Kuwait, womit er demonstrierte, daß ernicht nur ein mörderischer Bandit ist, was nach den Standards derUSA und Großbritanniens ganz in Ordnung ist, sondern auch einunabhängiger Nationalist, was auf keinen Fall geduldet werdenkann. Danach ging man dann zu den üblichen politischenAntworten über.

Die USA und Großbritannien machten sich sofort daran, dieWirkung von Sanktionen und diplomatischen Bemühungen zuunterminieren, die in diesem Fall ungewöhnlich hohe Aussichtenauf Erfolg hatten. Seit August legte der Irak Lösungsangebote vor,die von Beamten des US-Außenministeriums als „ernsthaft" und„verhandelbar" betrachtet wurden; darunter befanden sich auchAngebote für einen vollständigen Abzug aus Kuwait zu Be-dingungen, denen jeder, der wirklich an Frieden interessiert war,nachgegangen wäre. Bemühungen, durch einen vollständigenRückzug des Irak aus Kuwait den Bodenkrieg zu vermeiden und sozehntausende Leben zu retten, wurden verächtlich beiseitegewischt. Diplomatische Lösungen sind ausgeschlossen, und dadieses Land der Dritten Welt mit seiner Bauernarmee ganz klar ein„viel schwächerer Feind" ist, muß es zerschmettert werden, um dierichtigen Lektionen einzuhämmern.

Auch die Gemeinde der Intellektuellen trat in Aktion undporträtierte Saddam als neuen Hitler, der entschlossen sei, die Weltzu erobern. Als Bush ankündigte, es werde keine Verhandlungengeben, wurde er in den Leitartikeln hundertfach für seineaußerordentlichen diplomatischen Anstrengungen gelobt. Als erkundtat, daß „Aggressoren nicht belohnt werden dürfen", be-staunten verantwortungsbewußte Kommentatoren ehrfürchtig seinePrinzipientreue, statt in lautes Gelächter auszubrechen.

Manche gaben durchaus zu, daß die USA und Großbritannienin der Vergangenheit „inkonsequent" gewesen seien (in Wirk-lichkeit hatten sie einfach konsequent ihre Interessen verfolgt).Aber inzwischen, so wurde uns versichert, sei alles ganz anders;sie hätten gelernt, daß die richtige Antwort auf Aggression imraschen Rückgriff auf Gewalt besteht. Wir können demnach er-warten, daß demnächst die britische Luftwaffe ausgeschickt wird,um Damaskus, Tel Aviv, Jakarta (sobald British Aerospace auf-hört, die dortigen Mörder zu bewaffnen), Washington und nocheine Reihe anderer Hauptstädte zu bombardieren.

Merkwürdigerweise wurden diese neuen Einsichten nicht vonLobhudeleien für Saddam begleitet, der mit ähnlichen Begrün-dungen Israel angriff, obwohl seine schmutzigen Argumente sich

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neben denen seines Mitverbrechers und langjährigen Freundes inWashington gut genug ausmachen.

So wurde der gnadenlosen Schlächterei, die eine führendeZeitschrift der Dritten Welt als „den feigsten Krieg", der je aufdiesem Planeten geführt wurde", beschrieb, der Boden bereitet. DieToten sind schnell aus dem Blickfeld verschwunden und gesellensich einer endlosen Reihe weiterer Leichenberge hinzu, die denFrieden der Zivilisierten nicht stören.

Es scheint auch niemand über die schreiend offensichtlicheTatsache betroffen zu sein, daß nie ein offizieller Grund genanntwurde, der einen Krieg gerechtfertigt hätte - das heißt, kein Grund,der nicht auf der Stelle von einem des Lesens und Schreibenskundigen Teenager zurückgewiesen werden könnte. Das wiederumist das Kennzeichen einer totalitären Kultur und ein weitererFingerzeig auf die Neue Weltordnung.

Die wenigen inoffiziellen Versuche, die Ablehnung friedlicherMittel zu rechtfertigen, sind ebenso enthüllend. So lesen wir, daßdieser Fall aufgrund der Annexion Kuwaits durch den Irak anderswar. Aber die spezifische Reaktion der USA kam weit vor derEinverleibung Kuwaits in den Irak und änderte sich auch nach denirakischen Vorschlägen, die sie wieder rückgängig gemacht hätten,um kein Jota - um vom Verhalten der USA und Großbritanniensgegenüber anderen, nicht weniger entsetzlichen Annexionen garnicht erst zu reden. Die sonstigen Argumente sind ähnlichgewichtig.

In einer der seltenen Bemühungen, die wesentliche Frage an-zusprechen, erklärt Timothy Garton Ash in der New York Re-view, im Umgang mit Südafrika oder dem kommunistischen Ost-europa seien Sanktionen möglich gewesen, der Fall SaddamHusseins liege jedoch anders. Das ist das ganze Argument. Wirverstehen jetzt, warum es angebracht war, „stille Diplomatie" zubetreiben, als die Aktionen unserer südafrikanischen Freunde von1980 bis 1988 in den Nachbarstaaten Südafrikas Schäden vonmehr als 60 Milliarden Dollar sowie eineinhalb Millionen Toteverursachten - wobei damit über Südafrika selbst, Namibia und dasvorausgegangene Jahrzehnt noch gar nichts gesagt ist. Das sind imGrunde genommen ganz annehmbare Leute, so wie wir und diekommunistischen Tyrannen. Warum? Auf eine mögliche Antworthat Nelson Mandela hingewiesen, der die Heuchelei und dieVoreingenommenheit der hochgradig selektiven Antwort auf dieVerbrechen der „braunhäutigen" Irakis verurteilt. Das gleichegilt, wenn die New York Times versichert, „die Welt" sei gegen

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Saddam Hussein, den meistgehaßten Mann „der Welt", vereint -die Welt, das heißt, abzüglich derer, die eine dunklere Hautfarbehaben.

Es nimmt kaum wunder, daß der westliche Rassismus geradenach dem Kalten Krieg mit solch niederschmetternder Klarheit andie Oberfläche tritt. Es war jetzt siebzig Jahre lang möglich,traditionelle Praktiken hinter dem Schleier der „Verteidigunggegen die Sowjets" zu verbergen, was immer ein Betrag war undnunmehr als Vorwand für das eigene Vorgehen in der Dritten Weltverloren ist. So kehren wir zu den Tagen zurück, als die NewYorker Presse erläuterte, daß „wir weiterhin die Eingeborenen aufdie englische Art abschlachten und akzeptieren müssen, was anschmutzigem Ruhm in dem massenhaften Morden liegt, bis siegelernt haben, unsere Waffen zu respektieren. Die schwierigereAufgabe, sie dazu zu bringen, unsere Absichten zu respektieren,wird später gelöst werden." In Wirklichkeit verstanden sie unsereAbsichten nur zu gut.

Für die Völker des Nahen Ostens sieht die Neue Weltordnungschlimm aus. Gesiegt hat ein äußerst gewalttätiger Staat, der seitlangem jedes ernsthafte diplomatische Herangehen an die regio-nalen Abrüstungs- und Sicherheitsprobleme abgelehnt hat, oftbeinahe als einziger. Die strategische Konzeption der USA hatimmer darin bestanden, die örtlichen Verwalter der Ölreichtümerder Golfregion durch regionale Zwingherrn beschützen zu lassen,vorzugsweise durch nichtarabische, obwohl blutigen Tyrannen vonder Sorte Hafez el-Assads und vielleicht sogar, falls es sich dafürkaufen läßt, Ägypten, der Zutritt zum Club gestattet werden kann.Die USA werden eine Übereinkunft unter diesen Klientenstaatenanstreben und könnten schließlich sogar eine internationaleKonferenz in Betracht ziehen, falls diese unter ihrer Federführungsteht. Wie Kissinger betonte, müssen Europa und Japan aus derDiplomatie herausgehalten werden, aber die UdSSR könnte jetzt,wo sie angesichts ihrer gegenwärtigen Schwierigkeiten vermutlichgehorsam sein wird, toleriert werden, ebenso vielleichtGroßbritannien.

Was die Palästinenser betrifft, können sich die USA nun auf dieLösung zubewegen, die James Baker schon eine Weile vor derGolfkrise umrissen hat: Jordanien ist der palästinensische Staat; diebesetzten Gebiete sollen in Übereinstimmung mit dengrundlegenden Richtlinien der israelischen Regierung beherrschtwerden, wobei Palästinensern erlaubt wird, in Nablus Steuerneinzutreiben; ihre politischen Repräsentanten werden für sie aus-

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gewählt, unter Ausschluß der PLO; und es wird „freie Wahlen"unter israelischer Militärkontrolle geben, während die palästi-nensische Führung sich in Gefängnislagern befindet. Neue Aus-reden werden für die alte Politik gefunden werden, die man alsgroßzügig und entgegenkommend preisen wird.

Den Palästinensern waren wirtschaftliche Entwicklungsmög-lichkeiten immer verwehrt, während ihnen Land und Wasserweggenommen wurden. Bis jetzt war es ihnen erlaubt, der israe-lischen Wirtschaft praktisch als eine Art Sklavenarbeiter zu dienen,aber dieses Zwischenspiel geht zu Ende. Die kürzlich verhängteAusgangssperre hat der palästinensischen Wirtschaft einenweiteren Schlag versetzt.

Die Sieger können jetzt mit der Politik fortfahren, die im Fe-bruar 1989 vom damaligen Verteidigungsminister Itzhak Rabinvon der Arbeiterpartei skizziert wurde, als er einige Führer vonPeace Now mitteilte, wie befriedigt er über den Dialog zwischenden USA und der PLO sei - das seien bedeutungslose Diskussio-nen, um die Aufmerksamkeit abzulenken, während Israel denAufstand der Palästinenser, die Intifada, mit Gewalt unterdrückt.

Die Palästinenser „werden gebrochen werden", versprach Ra-bin, indem er die bereits vierzig Jahre zuvor gemachte Voraussageisraelischer Arabisten wiederholte, derzufolge den Palästinenserndas Schicksal bevorstand, „zertrümmert zu werden", zu sterbenoder „sich in menschlichen Staub und den Abfall der Gesellschaftzu verwandeln, und sich den verarmtesten Klassen in denarabischen Ländern zuzugesellen". Oder sie werden weggehen,während russische Juden, die zumeist lieber in die USAeinwandern würden, aufgrund einer Politik, die ihnen eine freieWahl verweigert, in ein erweitertes Israel strömen, was die di-plomatischen Fragen auf akademische reduziert, genau wie esschon der Baker-Shamir-Peres-Plan vorsah.

Die politischen Führungen in Washington und London habenökonomische und soziale Katastrophen in ihren eigenen Länderngeschaffen und wissen keine andere Art, damit umzugehen alsdurch Anwendung ihrer militärischen Macht. Vielleicht werden siedem Rat der Wirtschaftspresse folgen und ihre Länder inSöldnerstaaten umwandeln, die als Mafia im Weltmaßstab dienen,den Reichen „Schutz" verkaufen, sie gegen „Bedrohungen aus derDritten Welt" verteidigen und für diesen Dienst ange-messene Bezahlung verlangen. Die aus den ölproduzierendenStaaten des Golfs gepumpten Reichtümer würden dann die nie-dergehende Wirtschaft der beiden Länder stützen. Das von

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Deutschland geführte Europa und später Japan werden die Aufgabeeiner „Lateinamerikanisierung" des größten Teils derMachtbereiche der zusammenbrechenden sowjetischen Tyranneiübernehmen, wobei die ehemalige kommunistische Bürokratiewahrscheinlich die Zweigstellen ausländischer Gesellschaftenbetreiben wird. Der Rest der Welt wird durch ökonomischen Druckkontrolliert werden, wann immer das möglich ist, aber wennerforderlich auch durch Gewalt.

Das sind einige der Konturen der geplanten Neuen Weltord-nung, die ins Auge fallen, wenn man den Schleier der betrügeri-schen Rhetorik lüftet.

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IV. Staatskapitalismus und Staats-„Sozialismus"

7. Das Gegenteil von Sozialismus*

Wenn die beiden großen Propagandasysteme der Welt sich übereine Doktrin einig sind, erfordert es eine gewisse Anstrengung,sich von ihren Fesseln freizumachen. Ein Beispiel für eine der-artige Doktrin ist die Behauptung, die von Lenin und Trotzki ge-schaffene und des weiteren von Stalin und seinen Nachfolgerngeformte Gesellschaft habe in einem irgendwie bedeutsamen oderhistorisch zutreffenden Sinn dieses Begriffs eine Beziehung zumSozialismus. Wenn hier jedoch überhaupt eine Beziehung besteht,dann ist es die Beziehung des Gegensatzes.

Es ist nur allzu leicht zu erkennen, weshalb die Vertreter allerbeider Propagandasysteme auf dieser abwegigen Vorstellung be-harren. Seit seinen Ursprüngen hat der sowjetische Staat im Dienstder Männer, die den Volksaufruhr in Rußland 1917 ausnutzten, umdie Staatsmacht zu ergreifen, versucht, die Energien dersowjetischen Bevölkerung und unterdrückter Menschen anderswovor ihren Karren zu spannen. Eine der wichtigsten zu diesemZweck gebrauchten ideologischen Waffen war immer dieBehauptung, die Staatsmanager führten die von ihnen regierteGesellschaft und überhaupt die ganze Welt dem sozialistischenIdeal entgegen. Wie jeder Sozialist und ganz bestimmt jederernsthafte Marxist sofort hätte sehen müssen, und viele von ihnenauch schnell erkannten, war das vollkommen absurd, und die ge-samte Geschichte des bolschewistischen Regimes seit seinenAnfangen hat diese Behauptung als gigantische Lüge entlarvt.Während sie in Wirklichkeit jede Spur von Sozialismus aus-löschten, haben die Zuchtmeister der sowjetischen Gesellschaft

* Dieser Artikel erschien unter dem Titel „The Soviet Union versus Socialism" in derZeitschrift Our Generation (vol. 17, Nr. 2, Frühling/Sommer 1986), nachdem er von dermarxistischen Zeitung, die ihn bestellt hatte, abgelehnt worden war. Aufgrund seinerWeigerung, sich an der Denunziation der offiziellen Feinde der westlichen Demokratienzu beteiligen, ist Chomsky oft als Apologet des Kommunismus oder sogar als Stalinistbezeichnet worden. In einem Ende 1979 geführten Interview über dieNachkriegsregimes in Indochina sagte Chomsky dazu: „Ich ziehe es aber vor, einStalinist genannt zu werden, statt der reaktionären Kampagne gegen die VölkerIndochinas Nahrung zu geben." Zugleich hat Chomsky seine anarchistische Positionseit Beginn seiner politischen Tätigkeit Anfang der sechziger Jahre immer wieder klargemacht. Chomsky besteht aber darauf, daß die Kritik an den realsozialistischenStaaten möglichst in einem Kontext stehen sollte, der es den ideologischen Kräften deswestlichen Imperialismus erschwert, sie für ihre eigenen Zwecke zu nutzen.

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versucht, durch Ausbeutung des Nimbus der sozialistischen Idealeund der Achtung, die diesen zurecht entgegengebracht wird,Legitimität und Unterstützung für ihre eigenen, immer wieder-kehrenden repressiven Praktiken zu gewinnen.

Was das zweite große Propagandasystem der Welt betrifft, sodient die Verknüpfung der sozialistischen Idee mit der Sowjet-union und ihrer Klientel als eine mächtige ideologische Waffe, umKonformität und Gehorsam gegenüber den ideologischen In-stitutionen durchzusetzen und so dafür zu sorgen, daß die Not-wendigkeit, sich an die Eigentümer und Manager dieser Institu-tionen zu vermieten, als eine Art Naturgesetz, als einzige Alter-native zum „sozialistischen" Kerker angesehen wird.

Die sowjetische Führung stellt sich demnach als sozialistischdar, um ihr Recht auf die Handhabung des staatlichen Knüppels zuschützen, und die westlichen Ideologen machen sich die gleicheVorspiegelung zu eigen, um der Gefahr einer freieren undgerechteren Gesellschaft zuvorzukommen. Dieser gemeinschaft-liche Angriff auf den Sozialismus hat in der modernen Ära enormzur Schwächung der sozialistischen Idee beigetragen.

Es gibt noch eine weitere Methode, den Sozialismus zu dis-kreditieren, die von den Ideologen des Staatskapitalismus dennauch wirkungsvoll zur Verteidigung von Macht und Privilegverwendet wird. Die rituelle Verurteilung der sogenannten „so-zialistischen" Staaten ist voller Verzerrungen und oftmals auchglatter Lügen. Nichts ist leichter, als den offiziellen Feind zubrandmarken und ihm jedes Verbrechen zuzuschreiben: es bestehtkeine Notwendigkeit, sich mit der Anführung von Beweismaterialoder logischer Argumentation zu belasten, während man in Reihund Glied marschiert. Kritiker der Gewalttätigkeit und derGreueltaten des Westens versuchen oft, das Bild ins Gleichgewichtzu bringen, indem sie die tatsächlich existierende Unterdrückungund die mit ihr verbundenen abscheulichen Verbrechenanerkennen, dabei aber gleichzeitig die Lügen, die zur Rechtfer-tigung der Gewalttätigkeit des Westens zusammengebraut wordensind, entlarven. Dieses Vorgehen wird dann mit vorhersehbarerRegelmäßigkeit sofort als Verteidigung des Reichs des Bösen undseiner Büttel gedeutet. So kann das entscheidende Recht zur Lügeim Dienst des Staates gewahrt und Kritik an der Gewalttätigkeitund den Verbrechen des eigenen Staates unterminiert werden.

Ebenfalls bemerkenswert ist die große Anziehungskraft, diedie leninistische Doktrin in Zeiten der Krise und der Umwälzung

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auf die moderne Intelligenz ausübt. Nach der vor einem Jahr-hundert in der sozialistischen Bewegung populären Analyse Ba-kunins gesteht diese Doktrin den „radikalen Intellektuellen" dasRecht zu, die Staatsmacht zu übernehmen und das harte Regimentder „roten Bürokratie", der „neuen Klasse" durchzusetzen. Genauwie in dem von Marx angeprangerten bonapartistischen Staatverwandeln sie sich in „Staatspriester", einen schmarotzerischenAuswuchs an der zivilen Gesellschaft, der diese mit eiserner Handbeherrscht.

In Zeiten, in denen die staatskapitalistischen Institutionen nurwenig bedroht sind, bringen dieselben grundlegenden Bestrebun-gen die „neue Klasse" dazu, als Staatsmanager und Ideologen derbestehenden Macht zu dienen, die, in Bakunins Worten, „das Volkmit des Volkes Stock schlagen". Es ist kein Wunder, daß vieleIntellektuelle den Übergang vom „revolutionären Kommunismus"zur „Feierung des Westens" derart leicht finden. Dabei spielen sieein Drehbuch nach, das sich im Verlauf unseres Jahrhunderts vonder Tragödie zur Farce entwickelt hat. Geändert hat sich nur dieEinschätzung darüber, wo die Macht liegt. Lenins geflügeltesWort, daß „Sozialismus nichts anderes ist als staatskapitalistischesMonopol, angewandt zum Nutzen des ganzen Volkes", wobeiletzteres natürlich auf die Wohltätigkeit seiner Führer vertrauenmuß, bringt die Pervertierung des „Sozialismus" zugunsten derBedürfnisse der Staatspriester zum Ausdruck und erlaubt uns, denjähen Übergang zwischen Standpunkten zu verstehen, dieoberflächlich gesehen als diametrale Gegensätze erscheinen, aberin Wirklichkeit sehr nahe beieinander liegen.

Die Begrifflichkeit politischer und sozialer Debatten ist vageund ungenau und wird ständig durch die Beiträge von Ideologiender einen oder anderen Sorte verwässert. Dennoch haben dieseBegriffe zumindest noch einen Rest von Bedeutung. Seit seinenUrsprüngen war mit Sozialismus die Befreiung arbeitender Men-schen von Ausbeutung gemeint. Wie der marxistische TheoretikerAnton Pannekoek bemerkt, „kann und wird dieses Ziel nichtvon einer neuen leitenden und regierenden Klasse, die sich an dieStelle der Bourgeoisie setzt, erreicht werden", sondern ist nur„von den Arbeitern selbst, die dann die Herren über die Produk-tion sind, zu verwirklichen". Herrschaft über die Produktion durchdie Produzenten ist das Wesen des Sozialismus, und in re-volutionären Perioden sind regelmäßig Wege zur Erreichung die-ses Ziels ausgearbeitet worden - gegen den unerbittlichen Wider-stand der traditionell herrschenden Klassen und der „revolutionä-

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ren Intellektuellen", die sich von den gemeinsamen, jeweils deneigenen Umständen angepaßten Prinzipien des Leninismus und deswestlichen Managertums leiten ließen. Aber das Wesenselementdes sozialistischen Ideals bleibt bestehen: die Umwandlung derProduktionsmittel in das Eigentum frei assoziierter Produzentenund demnach in das gesellschaftliche Eigentum von Menschen, diesich von der Ausbeutung durch ihre Herren befreit haben, womitein grundlegender Schritt zur Erweiterung des Bereichs dermenschlichen Freiheit getan ist.

Die leninistische Intelligenz dagegen hat ganz andere Pläne. Sieentspricht Marxens Beschreibung der „Verschwörer", die „den sichentfaltenden revolutionären Prozeß vorwegnehmen" und ihn fürihre Herrschaftsziele entstellen: „Daher ihre tiefe Geringschätzungfür die mehr theoretische Aufklärung der Arbeiter über ihreKlasseninteressen", Klasseninteressen, zu denen auch Sturz derroten Bourgeoisie und die Schaffung von Mechanismendemokratischer Kontrolle über die Produktion und das gesell-schaftliche Leben gehört. Für die Leninisten müssen die Massenstreng diszipliniert werden, während ein Sozialist darum kämpfenwird, eine gesellschaftliche Ordnung aufzubauen, in der Disziplin„überflüssig werden wird", da die frei assoziierten Produzenten„auf eigene Rechnung arbeiten" (Marx). Außerdem beschränkt derlibertäre Sozialist seine Ziele nicht auf die demokratischeKontrolle der Produzenten über die Produktion, sondern strebtdanach, alle Formen von Herrschaft und Hierarchie in jedemAspekt des sozialen und persönlichen Lebens abzuschaffen. Dabeihandelt es sich um einen Kampf, der nie zu Ende ist, daFortschritte in Richtung auf eine gerechtere Gesellschaft zu neuenEinsichten und zum Verständnis von Formen der Unterdrückungführen werden, deren Vorhandensein im traditionellen Handelnund Denken bisher vielleicht noch nicht aufgefallen war.

Die leninistische Feindschaft gegenüber den wesentlichenMerkmalen des Sozialismus war ganz von Anfang an offenkundig.Im revolutionären Rußland entwickelten sich neue Instrumente desKampfes und der Befreiung, nämlich die Sowjets undFabrikkomitees, die viele Schwachpunkte, aber auch ein reichesPotential besaßen. Aber nachdem Lenin und Trotzki sich dieMacht angeeignet hatten, widmeten sich beide unverzüglich derVernichtung des befreienden Potentials dieser Instrumente underrichteten die Herrschaft der Partei, in der Praxis ihres Zen-tralkomitees und seines Großen Führers - eine Entwicklung, die

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Trotzki selbst Jahre zuvor vorhergesagt hatte, vor der Rosa Lu-xemburg und andere linke Marxisten zur Zeit der russischen Re-volution warnten, und die von den Anarchisten immer prophezeitworden war. Trotzki, der gerade den manchmal kurzen Schritt vomrevolutionären Intellektuellen zum Staatspriester hinter sich hatte,vertrat damals die Ansicht, nicht nur die Massen, sondern sogar diePartei selbst müsse Gegenstand „wachsender Kontrolle von oben"sein. Bevor sie die Staatsmacht ergriff, übernahm diebolschewistische Führung viel von der Rhetorik von Leuten, die imrevolutionären Kampf von unten engagiert waren, aber ihre wahrenBestrebungen waren völlig andere. Das war schon vorheroffensichtlich und wurde vollends klar, als sie im Oktober 1917 dieStaatsmacht übernahm.

Ein den Bolschewiki freundlich gesonnener Historiker, E. H.Carr, schreibt, daß „die spontane Neigung der Arbeiter, Fabrik-komitees zu organisieren und in die Betriebsführung der Fabrikeneinzugreifen, von einer Revolution nur ermutigt werden konnte,die die Arbeiter glauben ließ, daß die produktive Maschinerie desLandes jetzt ihnen gehörte und von ihnen nach eigenemGutdünken und zu ihrem eigenen Vorteil betrieben werdenkonnte". Wie ein anarchistischer Delegierter sagte, waren dieFabrikkomitees für die Arbeiter „Zellen der Zukunft. Sie, nicht derStaat, sollten nun verwalten."

Aber die Staatspriester wußten es besser und gingen sofort dazuüber, die Fabrikkomitees zu zerstören und die Sowjets zu Organenihrer eigenen Herrschaft zu reduzieren. Am 8. November 1917kündigte Lenin in einem „Dekretentwurf über die Ar-beiterkontrolle" an, daß die zur Ausübung demokratischer Kon-trolle gewählten Delegierten „dem Staat gegenüber für die Auf-rechterhaltung der striktesten Ordnung und Disziplin und für denSchutz des Eigentums" verantwortlich seien. Als das Jahr zu Endeging, stellte Lenin fest, daß „wir von der Arbeiterkontrolle zurSchaffung des Obersten Volkswirtschartsrates übergingen", der„die Maschinerie der Arbeiterkontrolle ersetzen, absorbieren undüberflüssig machen sollte" (Carr). „Man sieht jetzt im Gedankender Arbeiterkontrolle die Idee des Sozialismus selbst", klagte einmenschewistischer Gewerkschafeführer; die bolschewistische Füh-rung verschaffte derselben Klage aktiven Ausdruck, indem sie die„Idee des Sozialismus selbst" zerstörte.

Bald sollte Lenin dekretieren, die Führung müsse „dik-tatorische Vollmachten" über die Arbeiter erhalten, und letzterehätten „die widerspruchslose Unterordnung unter einen einzigen

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Willen" hinzunehmen und „im Interesse des Sozialismus" „wi-derspruchslos dem alleinigen Willen des Leiters des Produkti-onsprozesses zu gehorchen". Während Lenin und Trotzki dieMilitarisierung der Arbeit, die Umgestaltung der Gesellschaft ineine ihrem alleinigen Willen unterworfene Arbeitsarmee in Angriffnahmen, erklärte Lenin, die Unterordnung des Arbeiters unter die„individuelle Autorität" sei „das System, das mehr als jedes anderedie beste Nutzung der menschlichen Ressourcen sicherstellt" - oderwie Robert McNamara dieselbe Idee ausdrückt: „VitaleEntscheidungsprozesse ... müssen an der Spitze verbleiben ... diewirkliche Bedrohung der Demokratie kommt nicht durchÜbermanagement zustande, sondern durch Untermanagement";„Wenn es nicht die Vernunft ist, die den Menschen regiert, dannbleibt der Mensch hinter seinem Potential zurück", undManagement ist McNamara zufolge natürlich nichts anderes als dieHerrschaft der Vernunft, eine Herrschaft, die unsere Freiheitgarantiert. Gleichzeitig mit diesen repressiven Maßnahmen wurdedie „Fraktionsmacherei" - das heißt, jeder kleine Rest an freierAusdrucksmöglichkeit und Organisationstätigkeit - ausgemerzt, alldas „im Interesse des Sozialismus", so wie der Begriff von Leninund Trotzki umdefiniert wurde. So machten diese beiden Führersich daran, die grundlegenden protofaschistischen Strukturen zuschaffen, die von Stalin in einen der Schrecken der modernen Zeitverwandelt wurden.1

Im Westen - und nicht nur dort - hat die Unfähigkeit, dieheftige Feindschaft der leninistischen Intelligenz gegenüber demSozialismus (für die sich zweifellos auch bei Marx schon Wurzelnfinden lassen) zu verstehen, in Verbindung mit dem ent-sprechenden Mißverständnis des leninistischen Modells einenverheerenden Einfluß für den Kampf für eine menschenwürdigeGesellschaft und eine lebenswerte Welt gehabt. Wir stehen vor derAufgabe, einen Weg zu finden, das sozialistische Ideal vor seinenFeinden in den beiden großen Machtzentren der Welt zu retten -vor denen, die immer danach streben werden, die Rolle vonStaatspriestern und sozialen Managern zu spielen und die Freiheitim Namen der Befreiung zu zerstören.

1 Über die Zerstörung des Sozialismus durch Lenin und Trotzki schon in derAnfangsperiode der russischen Revolution siehe Maurice Brinton, The Bolsheviks andWorkers' Control, Montreal, Black Rose Books, 1978 und Peter Rachleff, RadicalAmerica, November 1974, unter vielen anderen Arbeiten.

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8. Die Bilanz der neunziger Jahre*

Für Churchills reiche und zufriedene Nationen, die kraft natürli-chen Rechts herrschen, waren die Resultate der Planung und derPolitik nach dem Krieg im allgemeinen befriedigend, wenn nichtsogar spektakulär. Mit dem Wachstum der einheimischen Wirt-schaft und der rapiden Expansion der Investitionen in Überseefuhren die US-Investoren enorme Gewinne ein. Der Marshallplan„bereitete die Szenerie für hohe private US -Direktinvestitionen inEuropa", stellte man in Reagans Handelsministerium 1984 fest,wodurch der Grundstein für die Transnationalen Konzerne (TNCs)gelegt wurde, die in wachsendem Maß die Weltwirtschaftbeherrschen. Die TNCs waren „der wirtschaftliche Ausdruck" des„politischen Rahmens", der von den Nachkriegsplanern geschaffenwurde, hieß es 1975 in einem Artikel in Business Week, der imselben Atemzug den scheinbaren Niedergang des goldenenZeitalters der Staatsintervention beklagte, in dem „dieamerikanische Wirtschaft prosperierte und auf der Basis vonAufträgen aus Übersee expandierte, ... die ursprünglich durch dieDollars des Marshallplans angeschoben" und dann durch „denSchutzschirm der amerikanischen Macht" vor „negativen Ent-wicklungen" geschützt worden waren.

Selbst im Rückblick kann man sich schwerlich vorstellen, wiedie Nachkriegsplaner Maßnahmen hätten ergreifen können, diefür die Konzentrationen privater und staatlicher Macht in denUSA noch vorteilhafter gewesen wären. Die Rede von US-„Irr-tümern" bei der Förderung letztendlicher Konkurrenten oderKlagen über die Undankbaren, die sich weigern, „die erwieseneGroßzügigkeit zu erwidern", indem sie sich auf die Bedürfnisseder USA einstellen,1 könnten nur dann ernst genommen werden,

* Dieser Beitrag erschien unter dem Titel „The Balance Sheet" als Teil des zweitenKapitels von Chomskys Buch World Orders, Old and New (Pluto Press, 1994). DiesesBuch basiert auf drei Vorträgen, die Chomsky im Mai 1993 an der Universität vonKairo gehalten und später durch zusätzliches Material ergänzt und aktualisiert hat. Mit„Churchills reichen und zufriedenen Nationen" spielt Chomsky auf folgende BemerkungChurchills in seinen Memoiren über den Zweiten Weltkrieg an: „Die Regierung derWelt mußte den zufriedenen Nationen anvertraut werden, die nicht mehr für sich selbstwollten, als sie schon hatten. Befände sich die Weltregierung in den Händen hungrigerNationen, würden daraus beständig Gefahren erwachsen. Aber von uns hatte niemandeinen Grund, noch mehr zu verlangen. ... Unsere Macht stellte uns über die anderen.Wir waren wie reiche Männer, die zufrieden in ihren Behausungen leben."1 Siehe z. B. Stuart Auerbach, Asienspezialist der Washington Post, WP Weekly, 26. Juli1993. Für faktische und logische Irrtümer in der akademischen Wissenschaft siehe ForReasons of State, Kapitel l, Abschnitt 5; abgedruckt in The Chomsky Reader. Analyse

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wenn sie von irgend einem Hinweis darauf begleitet wären, wieden von den Globalplaner repräsentierten Interessen denn nochbesser hätte gedient werden können.

Die traditionellen Opfer

Die Auswirkungen auf die Dritte Welt entsprachen im großen undganzen dem, was man erwarten konnte und sind in den letztenJahren noch härter geworden. In einer im Rahmen des Ent-wicklungsprogramms der Vereinten Nationen UNDP durchge-führten Untersuchung wird berichtet, daß sich der Abstand zwi-schen den reichen und armen Nationen zwischen 1960 und 1989verdoppelt hat. Dieses Resultat ist zu einem Großteil der von denherrschenden Reichen betriebenen zweigleisigen Politik zuzu-schreiben: den Armen werden auf dem Weg über vom IWF undder Weltbank (die, wie Susan George treffend kommentiert, „alsGeldeintreiber für die kreditgebenden Länder" agieren) diktierteStrukturanpassungsprogramme die Prinzipien des „freien Marktes"aufgezwungen; währenddessen schützen die reichen Länder ihreeigenen Firmen vor den Stürmen des Marktes und verursachendadurch der Dritten Welt beträchtliche Kosten.

Laut Bericht der Weltbank reduzieren protektionistische Maß-nahmen der Industrieländer das Nationaleinkommen der Länderdes Südens um das Doppelte des Betrags der offiziell vom Nordengeleisteten Hilfe - von der wiederum ein Großteil strategischenZielen dient und deren übriger Teil weitgehend eine Form derExportförderung darstellt, weshalb er in erster Linie an diereicheren Sektoren der „Entwicklungsländer" geht, die zwar we-niger bedürftig, dafür aber bessere Konsumenten sind. In denachtziger Jahren verschärften zwanzig der vierandzwanzig OECD-Länder ihre protektionistischen Maßnahmen, wobei die Reagan-anhänger oft die Speerspitze des Kampfes gegen die Prinzipiendes ökonomischen Liberalismus bildeten. In Lateinamerika sankder reale Mindestlohn unter dem Einfluß neoliberaler Struktur-anpassungsprogramme von 1985 bis 1992 dramatisch, währenddie Anzahl der als arm Registrierten zwischen 1986 und 1990um fast 50 Prozent stieg. In der gängigen ideologischen Termi-nologie sind das „Wirtschaftswunder", weil das reale Bruttosozi-

des Handelsministeriums, Howard Wachtel, The Money Mandarins (M.E. Sharpe,1990), S. 44f. Business Week, 7. April 1975.

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alprodukt (allerdings parallel zu den Auslandsschulden) stieg unddie Begüterten und die ausländischen Investoren sich bereicherten.Wie Manuel Pator schreibt, zeigen Studien des IWF, wie sich unterdem Einfluß seiner „Stabilisierungsprogramme" in Lateinamerika„ein festes und beständiges Muster sinkender Anteile derArbeitnehmer am Einkommen" herausbildet. Eine Studie derDeutschen Presseagentur DPA über siebzehn lateinamerikanischeLänder enthüllte neben weiteren niederschmetternden statistischenDaten, daß die lateinamerikanischen Auslandsschulden zwischenDezember 1991 und Juni 1993 um über 45 Milliarden Dollar aufeine Gesamtsumme von 463 Mrd. Dollar stiegen; all das imVerlauf einer vielumjubelten wirtschaftlichen Erholung mit großenZukunftsaussichten - für einige wenige.

In einer Analyse von Weltbankdaten über die sechsundsiebzigLänder der Dritten Welt und Osteuropas, die während der achtzigerJahre Strukturanpassungsprogrammen ausgesetzt waren, zeigtRehman Sobhan, daß die große Mehrzahl dieser Länder imVergleich zu „den schlechten alten Tagen der sechziger undsiebziger Jahre, als es hieß, Regierungskontrollen und Marktver-zerrungen behinderten die ökonomische Leistung", bei wichtigenEntwicklungsindikatoren einen starken Niedergang verzeichnete:beim Wachstum in den Fixinvestitionen (d.h. der Produktionska-pazität), bei den Exporten, in der allgemeinen Wirtschaftssituation.Selbst im Bereich der Inflation, der Gegenstand besondererBemühungen der internationalen Bürokratie war, waren die Re-sultate keineswegs eindeutig. Die wenigen „Erfolgsgeschichten"sind alles andere als eindeutig und basieren auf Auslandshilfe oderdem Export von Primärgütern; Chile, das gefeiertste Beispiel, ist inseinen Exporteinkünften zu mehr als 30 Prozent von Kupfer undansonsten zum größten Teil vom Agroexport abhängig unddemzufolge in hohem Maß den „Schockentwicklungen in denTerms of Trade" ausgesetzt, die aus der Politik der reichen Mächteresultieren können. Die Philippinen, die unter größerem Einflußder USA stehen als der Rest Asiens, waren von allen LändernAsiens im stärksten Maß Strukturanpassungsprogram-men ausgesetzt. Während sie sich streng an die Auflagen hielten,versanken sie in eine anhaltende Rezession, wobei ihr Zusam-menbruch angesichts ihrer geographischen Lage im Wachs-tumszentrum der Weltwirtschaft noch bemerkenswerter ist. Dar-über hinaus werden die langfristigen Kosten der Privatisierung,bei der häufig profitable und sozial wichtige Unternehmen zu-gunsten kurzfristiger Erlöse verkauft wurden, laut Warnung einer

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Reihe von Ökonomen erst in Zukunft spürbar werden. Die Bilanzder Sorte von Wirtschaftsmanagement, die von den „ideologischinspirierten Regimes" - den Vereinigten Staaten, Großbritannienund einigen anderen Ländern - und den „getreulich jedem politi-schen Richtungswechsel der USA folgenden" internationalen Fi-nanzinstitutionen erzwungen wurde, ist Sobhans Meinung nachziemlich entmutigend.

Nach Schätzung von Susan George beläuft sich der Ressour-centransfer vom Süden in den Norden zwischen 1982 und 1990 auf„noch sehr niedrig geschätzte 418 Milliarden Dollar", was inheutigen Dollars das Äquivalent von „sechs Marshallplänen für dieReichen allein durch die Schuldenrückzahlung" darstellt. Dennochwuchs in denselben Jahren die Schuldenlast um 61 Prozent, imFalle der „am wenigsten entwickelten" Länder um 110 Prozent.Unterdessen sind die kommerziellen Banken durch dieÜbertragung als „faul" abgeschriebener Schulden auf den öffent-lichen Sektor geschützt, wodurch dafür gesorgt ist, daß sowohl inden Geber- als auch in den Schuldnerländern die Armen denLöwenanteil der Kosten bezahlen. 1991 lagen allein die von denSchuldnerländern abgeführten Zinsen um 24 Milliarden Dollarhöher als die Summe sämtlicher neuer Kredite plus Auslandshilfe.Wie zum Beispiel die Nord-Süd-Kommission feststellte, sind sogarder IWF und die Weltbank „mittlerweile Nettoempfänger vonMitteln aus den Entwicklungsländern".

Unter den „Entwicklungsländern", aus denen den ReichenGelder zufließen, befinden sich auch die Länder südlich der Sa-hara, in denen Hunger und Elend grassieren, nicht zuletzt wegender vielbewunderten US-Politik des „konstruktiven Engagements",die dem Apartheidregime Südafrikas dabei half, in denNachbarländern 1,5 Millionen Menschen zu töten, dabei einenmateriellen Schaden von 60 Milliarden Dollar anzurichten undgleichzeitig seine illegale Besatzung Namibias aufrechtzuerhalten.Zu diesen Zahlen könnten wir die halbe Million Kinder hin-zufügen, die laut UNICEF jedes Jahr als direktes Resultat der vonden reichen Ländern unnachgiebig eingeforderten Schuldenrück-zahlungen sterben, ebenso die elf Millionen Kinder, die jedesJahr an leicht zu behandelnden Krankheiten zugrunde gehen.Wie der Direktor der Weltgesundheitsorganisation Hiroshi Na-kajima feststellt, handelt es sich hier um einen „stillen Völker-mord", „eine vermeidbare Tragödie, da die entwickelte Welt dieRessourcen und die Technologie besitzt, um derartigen Krank-heiten weltweit ein Ende zu machen", aber nicht „den Willen

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hat, den Entwicklungsländern zu helfen" - letzteres ein Euphe-mismus für die vom Westen kolonisierten und immer noch kon-trollierten Länder.2

Wir würden nicht zögern, eine solche Politik als völkermör-derisch zu bezeichnen, wenn sie von einem offiziellen Feinddurchgeführt würde.

Besonders dramatisch sind die Auswirkungen auf die Kinder.Da sie die verletzlichsten Mitglieder der Gesellschaft sind, ist ihrWohlergehen, wie Madhura Swaminathan und V. K. Ramachan-dran unterstreichen, „ein Indikator für den Zustand einer Gesell-schaft". Die grausame Behandlung von Kindern in Bereichenwestlicher Herrschaft ist schon seit langem ein schockierenderSkandal, über den gelegentlich als menschlich ergreifende Ge-schichte berichtet wird - die von ihnen handelt, nicht von uns', imGegensatz dazu werden Greueltaten im sowjetischen Herr-schaftsbereich immer bis zur Quelle der Macht zurückverfolgt.Dabei ist die Bilanz der Länder, die sich die Reformen zurStrukturanpassung seit Anfang der achtziger Jahre zu eigen ge-macht haben, besonders schrecklich. Eine von Swaminathan undRamachandran besprochene UNICEF-Studie von 1992 „unter-streicht ganz besonders einen Punkt: die Strukturanpassungspro-gramme und die auf sie folgende anhaltende Rezession fügten inden achtziger Jahren dem Wohlergehen der Kinder großen Scha-den zu". Ein scharfer Rückschlag bei den Fortschritten in denBereichen Kindersterblichkeit, Ernährung, Erziehung und anderenIndikatoren stand in enger Korrelation zum Beginn dieserProgramme, die außerdem zu einem Wachsen so „abscheulicher

2 Susan George, The Debt Boomerang (Pluto, 1992), S. XVf., Kapitel 3; Michael BarrattBrown und Pauline Tiffen, Vorwort, Short Changed (Pluto, 1992) (UNICEF). MichaelMeacher (britisches Parlamentsmitglied), Observer, 16. Mai 1993. Überblick über denBericht der Südkommission in South Centre, Facing the Challenge (Zed, 1993), S. 4.Lateinamerika, UN-Kommission zu Lateinamerika, Report on the Americas (NACLA),Februar 1993; Excelsior (Mexiko), 21. November 1992; Excelsior, 26. August 1993;Pastor, „The Effects of IMF Programs in the Third World", World Development vol.15.2, 1987. Afrika, Barratt Brown und Tiffen; IWF, S. 12. Überblick über die Daten derWeltbank, Sobhan, „Rethinking the Market Reform Paradigm", Economic and PoliticalWeekly (Indien), 25. Juli 1992; Chile, David Pilling, „Latin America's dragon runningout of puff', Financial Times, 19. August 1993. Für eine sorgfältige Analyse des FallesChile, siehe Collins und Lear, Chile 's Free Market Revolution, A Second Look(Institute for Food and Development Policy, 1994). WHO, Deterring Democracy,Kapitel 7; Politik Reagans in Afrika, „Inter-Agency Task Force, Africa RecoveryProgram/Economic Commission, South African Destabilization: the Economic Cost ofFrontline Resistance to Apartheid (UN, New York, 1989), S. 13, zitiert von MerleBrown, Fletcher Forum, Winter 1991. Siehe The Year 501, Kapitel 3-4, für Quellen, diehier nicht zitiert sind.

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Merkmale der heutigen kapitalistischen Gesellschaft" wie Kin-derarbeit und Kinderprostitution führten. Eine bemerkenswerteAusnahme bildete Chile, wo der Druck der Bevölkerung der US-unterstützten Diktatur und den von ihr gewaltsam durchgesetztenReformen gewisse Beschränkungen auferlegte, so daß auch dasRegime Pinochets und der Chicago Boys die Einmischung derÖffentlichkeit nicht eliminieren konnte.3

In Lateinamerika zeigte in den achtziger Jahren nur ein Landeinen „unzweideutigen Rückgang in der Rate der Kindersterb-lichkeit", berichten Swaminathan und Ramachandran, nämlichKuba, eine Abweichung vom rechten Pfad, die gegenwärtig geradekorrigiert wird, während westliche Moralapostel über diesenweiteren Triumph ihrer Ideale feixen. Ein zweites Beispiel war zuAnfang der achtziger Jahre Nicaragua, „das mittlerweile Haiti dieunerwünschte Auszeichnung als Verarmtestes Land der westlichenHemisphäre streitig macht", so der erfahrene Lateiname-rikakorrespondent Hugh O'Shaugnessy in einem Überblick überden Erfolg der wichtigsten außenpolitischen Initiative der USA inden achtziger Jahren. Die Kindersterblichkeit, die seinerzeit rapidezurückgegangen war, ist nun „die höchste des ganzen Kontinents,und laut Quellen der UN ist ein Viertel der nicara-guanischenKinder unterernährt", während Krankheiten, die zur Zeit dersandinistischen Gesundheitsreformen unter Kontrolle gebrachtworden waren, jetzt „epidemisch sind". An den Straßenecken siehtman Frauen, die Suppenküchen betreiben, „um Zehntausende vonKindern vorm Hunger zu retten", während „an jederVerkehrsampel Pulks von schmächtigen, hungrigen Kindernwarten, um dort Autoscheiben zu reinigen oder ganz einfach zubetteln", wenn sie sich nicht gleich der Prostitution oder demDiebstahl zuwenden. Der Finanzminister „prahlt, Nicaragua habedie niedrigste Inflationsrate der westlichen Hemisphäre -was machtes da schon, daß die vier Millionen Bürger des Landes hungern".Die sandinistischen „Gesundheits-, Ernährungs-, Al-phabetisierungs- und Agrarprogramme sind von einer Regierung,die vom Internationalen Währungsfond und Washington dazu

3 Swaminathan und Ramachandran, „Structural Adjustment Programmes and ChildWelfare", Manuskript, Bombay, Referat auf dem Seminar über Neue Wirtschaftspolitik,19.-21. August 1993, Indian Institute of Management, Kalkutta. Chile, siehe Jean Drezeund Amartya Sen, Hunger and Public Action (Oxford, 1989), S. 229 ff; über den ernstenNiedergang des Systems der Gesundheitsfürsorge und dessen scharfe Polarisierung,siehe Collins und Lear, op. dt. Über die grausame Behandlung von Kindern, sieheDeterring Democracy, Kapitel 7; The Year 501, Kapitel 7.

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gedrängt wird, zu privatisieren und die staatlichen Ausgaben zubeschneiden, einkassiert worden". Die Rechte ist noch nicht zu-frieden: „Sie möchte die Sandinisten vernichten, selbst, wenn dasKrieg bedeutet", und sie „weiß, daß sie die Unterstützung der US-Regierung hat". Sie weigert sich daher, an Friedensverhandlungenteilzunehmen, wie sie von den Außenministern Mittelamerikas undVertretern der Organisation Amerikanischer Staaten OAS geplantwaren, „die nach Nicaragua kamen, um zu vermitteln", aber nachder Ablehnung durch die Klienten Washingtons „verzweifeltwieder abfuhren". Trotz seines Erfolgs bei der Herbeiführung einesHaiti vergleichbaren Elends mittels der rigorosen Anwendung derRegeln ökonomischer Rationalität ist Washington noch nichtzufrieden. „'Die Vereinigten Staaten verspüren einenunauslöschlichen Drang, die Sandinisten ein für allemalauszulöschen', sagte ein außenpolitischer Experte."4

Die Privatisierung und die Beschneidung der öffentlichenAusgaben, wie sie von der internationalen Bürokratie gefordertwurden, haben noch weitere Auswirkungen auf die nicaraguani-sche Wirtschaft oder das, was von ihr übrig ist. „Die Privatbankiersund die mit ihnen verbundenen großen Geschäftsinteressengenießen den Schutz des staatlichen Banksystems und ziehen ihrenVorteil aus den hohen Zinsraten, um sich in spekulativenAktivitäten zu engagieren", stellt eine Gruppe nicaraguanischerÖkonomen fest und schätzt, daß allein 1992 60 Millionen Dollardurch neue Privatbanken das Land verließen; „während die - inGeld gemessene - Liquidität der Wirtschaft um 14 % gesunken ist,wuchsen die Mittel in den Händen von Privatbanken in der erstenHälfte des Jahres 1993 um 28 %, was die gegenwärtige Knappheitan zirkulierendem Geld auslöste, die die Bevölkerung jetzt so harttrifft". Investitionen gibt es so gut wie gar nicht. Unterdessenverlangt der US-Senat, nachdem er zuvor einen mörderischenterroristischen Krieg gegen Nicaragua finanziert hatte, jetzt vondessen Regierung Beweise dafür, daß Nicaragua keineninternationalen Terrorismus betreibt, all das als Vorbedingungfür den Erhalt eines Rinnsals von Hilfe - die einen win-zigen Bruchteil der Reparationen ausmacht, auf die Nicaragua lautBeschluß des Weltgerichtshofs, der seinerseits nur einen winzigenBruchteil der US-Verbrechen gegen Nicaragua verhandelte,ein Anrecht hat. Nicht zufrieden mit diesen Niederungenmoralischer Feigheit verlangt der Senat darüber hinaus, Nicara-

4 O'Shaughnessy, Observer, 12. September 1993.

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gua müsse dem FBI Zutritt gewähren, um seine angebliche Ver-wicklung in den internationalen Terrorismus untersuchen zu lassen- und wie wir gleich sehen werden, sollte es bald noch schlimmerkommen. Das ist keine wirkliche Überraschung in einer Welt, inder die Bombardierung Libyens durch Washington, mit derGhaddafi ermordet werden sollte, als schlagender Präze-denzfallfür die Notwendigkeit einer Bombardierung Bagdads offeriertwird, um ein angebliches Komplott zur Ermordung vonExpräsident Bush zu rächen, und in der Vietnam immer noch zuweiterem Leiden verurteilt wird, weil es nach Ansicht seiner Pei-niger noch längst nicht genügend zu Kreuz gekrochen ist.

Trotz ihres Sieges sind die maßgebenden US-Politiker nochnicht zufrieden. Die Bevölkerung Nicaraguas muß noch mehr lei-den, um die Verbrechen wiedergutzumachen, mit denen sie sichgegen uns versündigt hat. Im Oktober 1993 schoben der IWF unddie Weltbank, über die die USA praktisch allein bestimmen, neue,ungewöhnlich harte Forderungen nach. Anders als vielen anderensoll Nicaragua keine Erleichterung seiner niederdrük-kendenSchulden gewährt werden. Es muß die Kredite seiner Industrie-und Handelsbank (BANIC), einer der verbliebenen Staatsbanken,zurückzahlen und staatliche Unternehmen und Dienstleistungenwie die Post sowie die Energie- und Wasserversorgungprivatisieren, um dafür zu sorgen, daß die Armen den Schmerzwirklich spüren - so daß sie zum Beispiel ihren Kindern keinTrinkwasser geben können, wenn sie, bei einer Arbeitslosigkeitvon über 60 Prozent, nicht dafür bezahlen können. Es muß seineöffentlichen Ausgaben um 60 Millionen Dollar kürzen und einenGroßteil dessen, was vom Gesundheits- und Wohlfahrtswesennoch geblieben ist, eliminieren - wobei diese Zahl ja vielleichtaufgrund ihres symbolischen Wertes gewählt wurde; wie bereitsbemerkt, ist das genau die Summe, die von den bereitsprivatisierten Banken im Jahr zuvor ins Ausland transferiertworden war.

Die Privatisierung sorgt dafür, daß die Banken gesundenökonomischen Prinzipien folgen und an die New Yorker Aktien-börse gehen, statt armen Bauern Kredite zu geben, was natürlicheine ineffiziente Art der Ressourcenverwendung wäre. Aufgrunddes Kreditmangels ging 1993 trotz einer guten Regensaison dieBohnenernte verloren, was für die Bevölkerung eine Katastrophedarstellte. In den wichtigsten baumwollproduzierenden Gebietenwurde 1993 wegen der fehlenden Kredite kein einziger Hektarausgesät - obwohl, wie Barricada International berichtet, die

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mächtigsten Hersteller, darunter der Minister für Landwirtschaftund Viehzucht und der Präsident des Obersten Rats für PrivatesUnternehmertum, Ramiro Guardian, 1993 Kredite über mehr als 40Millionen Dollar erhielten. Der Mittelamerikaspezialist DouglasPorpora schreibt, daß 70 Prozent der begrenzten Kredite, die esüberhaupt gibt, an „eine kleine Zahl großer Hersteller für denExport" gehen, ganz in Übereinstimmung mit der Standard-US-Politik, die im Agroexport tätigen reichen Sektoren noch reicher zumachen. Schon von dem früheren Diktator Somoza, der das Landfür den Baumwollexport übernommen hatte, waren zahlreicheBauern aus diesen Gebieten vertrieben worden; das war Teil des inden Vereinigten Staaten gefeierten „Wirtschaftswunders", bei demin Befolgung der allseits bewunderten neoJiberalen Prinzipien dieWirtschaft wuchs, während die Bevölkerung hungerte. NachJahren der intensiven Verwendung von Pestiziden hat ein Großteildes Bodens seine Fruchtbarkeit verloren. Der Export von Bananenund ein Teil der weiteren landwirtschaftlichen Produktion sindebenfalls zusammengebrochen. Vermutlich als Bestandteil einerKampagne der jetzt wieder in ihre Rechte eingesetzten früherenEigentümer zur Zerstörung der Gewerkschaften und zurRücknahme der in den letzen Jahren neu gewonnenenArbeiterrechte werden ferner viele Zuckermühlen, auch die, dieunter Regierungskontrolle profitabel geworden waren, jetzt ge-schlossen.

Kirchlichen Quellen zufolge litten an der Atlantikküste Nica-raguas Ende 1993 100.000 Menschen Hunger; Hilfe für sie gab esnur aus Europa und Kanada. Die meisten von ihnen sind Mis-kitoindianer. In den achtziger Jahren gab es kein erhebenderesSchauspiel als die Wehklagen über das Schicksal der Miskitos,nachdem im Verlauf des terroristischen Kriegs der USA gegenNicaragua einige Dutzend von ihnen von den Sandinistas getötetund viele zwangsweise umgesiedelt worden waren: laut Reaganwar dieses Vorgehen eine „Kampagne regelrechten Völkermords",und die UN-Botschafterin der USA Jeane Kirkpatrick bezeichnetees als die „schwerste" Menschenrechtsverletzung in Mittelamerika.Laut Reagan, Kirkpatrick und Co. handelte es sich hier um eineUntat, die die Abschlachtung, Folterung und Verstümmelung vonZehntausenden von Menschen durch die zu genau derselben Zeitvon den USA geführten, bewaffneten und als vorbildlicheDemokraten gepriesenen neonazistischen Verbrecher bei weitem inden Schatten stellte. Was ist jetzt, wo Zehntausende hungern, ausdiesen Wehklagen geworden?

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Die Antwort könnte einfacher nicht sein. Die Menschenrechte sindin unserer politischen Kultur nur von instrumentellem Wert; siestellen ein nützliches Propagandawerkzeug dar, mehr nicht. Vorzehn Jahren waren die Miskitos, um die treffende Terminologie zuverwenden, die Edward Herman für solche Fälle entwickelt hat,„wertvolle Opfer", da man offiziellen Feinden die Schuld an ihremLeiden geben konnte; jetzt indes gehören auch sie zu der riesigenKategorie „wertloser Opfer", deren weitaus schlimmeres Leidenunsere glänzende Bilanz in keiner Weise stört. Was gibt es dazunoch mehr zu sagen?

Der Fairneß halber sollte jedoch erwähnt werden, daß dieWunder des freien Marktes neue Alternativen eröffnet haben, undzwar nicht nur für reiche Grundbesitzer, Spekulanten, Konzerneund andere privilegierte Sektoren, sondern sogar für hungerndeKinder, die jetzt nachts an den Straßenecken ihre Gesichter an dieAutoscheiben drücken, um für ein paar Pfennige zum Überleben zubetteln. In einer Beschreibung des entsetzlichen Elends derStraßenkinder Managuas schreibt David Werner, der Autor vonWhere There is No Doctor und anderen Büchern über soziale undmedizinische Probleme, daß „der Verkauf von Schuhleim anKinder zu einem lukrativen Geschäft geworden ist", wodurch dieImportziffern multinationaler Lieferanten in erfreulicher Weiseansteigen, die „Ladenbesitzer in wirtschaftlich kranken Gemeindenmit der wöchentlichen Auffüllung der kleinen Flaschen der Kinderein reichliches Geschäft machen" und die Kinder den Leimschnüffeln können, von dem es heißt, es „nehme den Hunger weg".Wieder einmal ist das Wunder des freien Marktes am Werk,obwohl die Nicaraguaner immer noch viel zu lernen haben.

Wie weit dieses Wunder getrieben werden kann, wurde in ei-nem Dokumentarfilm der Canadian Broadcasting Company, TheBody Parts Business, enthüllt, „einer schauerlichen Litanei derPlünderung", die über den Mord an Kindern und Armen zwecksOrganentnahme, „die Entfernung von Augäpfeln aus den Körpernlebender Menschen durch nur mit Teelöffeln bewaffnetemedizinische Piraten" und ähnliche unternehmerische Leistungenberichtet. Eine der US-Kreationen in Mittelamerika, auf die wir ammeisten stolz sind, nämlich die Regierung, die in El Salvador„unsere Werte und Bestrebungen" hochhält, hat kürzlichverkünden lassen, daß solche Praktiken, die aus Lateinamerikaschon seit langem berichtet werden und sich jetzt möglicherweiseauch nach Rußland ausbreiten, auch in ihrem Land üblich sind.

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Der Kinderschutzbeauftragte der Regierung berichtete, daß es beidem „im großen Maßstab praktizierten Kinderhandel in El Sal-vador" nicht nur um die Entführung von Kindern zwecks „Export"ins Ausland geht, sondern auch darum, sie „für pornographischeVideos, für Organtransplantationen, zum Verkauf an Adop-üveltern und zur Prostitution" zu benutzen. Wie Hugh O'Shaug-nessy bemerkt, ist das nicht gerade eine Neuigkeit; so berichtet erzum Beispiel von einer im Juni 1982 durchgeführten Operation dersalvadorianischen Armee in der Nähe des Lempaflusses, wo die -in den USA ausgebildeten - Truppen „einen sehr erfolgreichen Tagder Babyjagd hatten" und ihren Hubschrauber mit fünfzigKleinkindern beluden, deren „Eltern sie seither nie wieder gesehenhaben". O'Shaugnessys Bericht über „Babys auf Abruf, die aufAnfrage gezüchtet werden" im Londoner Observer erschien amselben Tag, an dem die New York Times über die erhebenden undvielbewunderten Bemerkungen des Nationalen SicherheitsberatersAnthony Lake über die „Erweiterung" unserer traditionellenMission der Barmherzigkeit und des guten Willens berichtete.5

Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, daß der Handel mitKörperteilen gelegentlich durchaus getadelt wird. Wie das WallStreet Journal unter der Schlagzeile „USA werden Taiwan fürHandel mit Tierteilen bestrafen" berichtete, stimmte PräsidentClinton einer Forderung des Nationalen Sicherheitsrats zu, be-schränkte Sanktionen gegen Exporte aus Taiwan zu verhängen, umTaiwan „für seine angebliche Weigerung, in angemessener Weisegegen den Schmuggel mit Rhinozeroshörnern und Tigerteilenvorzugehen", zu bestrafen. Taiwan beklagte sich, es werde„unfairerweise zum Sündenbock gemacht, um Umweltschützer

5 Cries/Nitplán Team, Envio, Mittelamerikanische Universität der Jesuiten (UCA),Managua, September 1993. Senatsabstimmung, 29. Juli 1993. CEP AD Report, Juli-August (Evangelische Kirchen Nicaraguas); Barricada International, 9. und 10.Oktober; Nicaragua News Service, Nicaragua Network Education Fund, Washington,2.-9. Oktober; Central America Report (Guatemala), 22. Oktober; Guillermo FemandezA., BI, September; Porpora, Christian Science Monitor, 20. Oktober; Werner,„Children pay price in Nicaragua's New Order", Third World Resurgence (Malaysia)Nr. 35, 1993. John Haslett Cuff, Globe & Mail (Toronto), 20. November;O'Shaughnessy, Observer (London), 26. September 1993. Über ähnliche Praktiken inLateinamerika und anderen Regionen unter westlichem Einfluß, siehe Turning the Tide,Kapitel 3.8; The Year 501, Kapitel 7.7. Über das monetaristische Modell So-mozas,siehe die Studie des führenden konservativen Ökonomen Nicaraguas, FranciscoMayorga, The Nicaraguan Economic Experience, 1950-1984: Development andexhaustion of an agroindustrial model, Doktorarbeit an der Yale University, 1986; zurDiskussion, siehe Deterring Democracy, S. 232 f.

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und deren Unterstützer im Kongreß zufriedenzustellen". Es werdeauf ungerechte Art „an den Pranger gestellt", denn China undSüdkorea hätten eine genau so schlechte Bilanz in Bezug auf denSchmuggel von Körperteilen. Aber der Direktor einer Umwert-gruppe erklärte dazu, die entsprechenden Ziele seien in Taiwaneben „einfacher und leichter zu realisieren". In Bezug auf Brasi-lien, El Salvador, Mexiko, Guatemala und andere in den Handelmit Körperteilen verwickelte Länder sind bisher noch keine Fragenaufgeworfen worden.6

Die amerikanischen Liberalen, die während der gesamten Pe-riode der US-dirigierten Greuel in den achtziger Jahren zur Wie-derherstellung der „regionalen Standards" und zur gewaltsamenWiederanpassung Nicaraguas an das „mittelamerikanische Muster"aufriefen und dann, als die Eingeborenen schließlich dem Terrornicht mehr standhalten konnten und das Handtuch warfen, den„Sieg für das Fairplay der USA" priesen, sollten über ihreErrungenschaften in dem von ihnen gepriesenen neuen „ro-mantischen Zeitalter" entzückt sein.

Auch hier können wir die untrennbaren Begleiterscheinungenund charakteristischen Kennzeichen der Macht beobachten: dieFähigkeit der Mächtigen, den Rahmen der Diskussion zu be-stimmen, und die Wut, die jede Herausforderung ihres Rechts zuherrschen hervorruft. Dieses Vorrecht der Macht bestimmt letztlichdarüber, wer „Opfer" und wer „Unterdrücker" ist, wodurch diewirklichen Opfer sich im ideologischen System regelmäßig in diebarbarischen Quäler ihrer unschuldigen Folterknechte verwandeln.So müssen die Vietnamesen sich für ihre Verbrechen gegenüberuns entschuldigen, und Nicaragua muß uns gegenüber beweisen,daß es nicht in terroristische Tätigkeit verwickelt ist. Desgleichenhaben wir ein endloses Register an Klagen über die Armen, die esdarauf abgesehen haben, die Reichen zu plündern (Dulles), überden kubanischen Führer, den wir, weil er darauf bestand, „dieVereinigten Staaten auf die heftigste und unfairste undunglaublichste Art zu kritisieren", ermorden müssen (McCo-ne), über die Palästinenser, die „terroristische Akte gegen denStaat Israel" verüben (so die offizielle Stellungnahme der US-Regierung zur Intifada), wenn sie nach Jahrzehnten eines „insEnorme gewachsenen Bergs endloser Demütigungen und straflosan ihnen begangenen Brutalitäten", die laut dem israelischenJournalisten Danny Rubinstein überhaupt erst der „entscheidende

6 Jeremy Mark, Wall Street Journal, 4. April 1994.

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Auslöser" ihres Widerstands waren, immer noch nicht still ihreKöpfe beugen, und über sämtliche Terroristen und Schurkenüberhaupt, die sich erheben, um uns anzugreifen - wenn sie sichfür einen Augenblick von dem schweren Stiefel freimachen kön-nen, den wir ihnen auf den Nacken setzen.

An der Heimatfront

Was momentan wirklich passiert, ergibt sich aus einer eingehen-deren Analyse der erwähnten UNDP-Zahlen über die rasch an-wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Der kanadische Wirt-schaftswissenschaftler lan Robinson stellt fest, daß das Ausmaßder Kluft „noch bemerkenswerter ist, wenn wir uns nicht nur dieKluft zwischen reichen und armen Nationen, sondern die zwischenreichen und armen Menschen ansehen". 1960 war dasBruttosozialprodukt (BSP) der Länder mit den reichsten 20 Prozentder Weltbevölkerung dreißigmal so groß wie das der Länder mitden ärmsten 20 Prozent; 1989 hatte sich die Kluft auf 60 zu einserweitert. Aber dieselben UNDP-Zahlen zeigen, daß „dasVerhältnis der Einkommen der reichsten und der ärmsten 20Prozent [der Menschen] 140 zu eins betrug", nicht lediglich 60 zueins. Wie Robinson beobachtet, zeigen diese Daten, daß „mehr alsdie Hälfte der Ungleichheit zwischen den reichsten und denärmsten 20 Prozent der Menschen der Welt... keine Funktion derEinkommensungleichheiten zwischen den Nationen ist, sondernvon Einkommensungleichheiten innerhalb der Nationen". EinBeispiel dafür ist der Befund des regierungsamtlichen NationalenZentrums für Gesundheitsstatistik, nach dem sich einer der Fak-toren, die am meisten über Ungleichheit aussagen, nämlich „dieUngleichheit in den Sterblichkeitsziffern", von 1960 bis 1986 mehrals verdoppelt hat, was eine „immer größer werdende Klas-senkluft" signalisiere.7

Kurz, wir dürfen nicht die entscheidende Fußnote zur er-wähnten Churchillschen Maxime übersehen: die „Klassenanaly-se" der Politik, auf der Adam Smith bestand, während sie von

7 UNDP Human Development Report, 1992, S. 34-35, zitiert von lan Robinson, TheNAFTA, Democracy, and Economic Development, Canadian Centre for PolicyAlternatives, 1993, Fn. 64; North American Trade as if Democracy Mattered (CCPAand International Labor Rights Eciucation and Research Fund, 1993), Appendix 2. DerDirektor der Gesundheitsstudie Dr. Gregory Pappas wird zitiert von Robert Pear, „BigHealth Gap, Tied to Income, Is Found in U.S.", New York Times, 8. Juli 1993.

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seinen Nachfolgern im allgemeinen ausgespart wird. Sie führt zuder ganz natürlichen Erwartung, daß das, was als „unsere" Politikausgegeben wird, sich für uns als sehr schädlich erweisen kann,während sie für jene, die sie ausarbeiten und praktizieren, in derTat sehr nützlich ist. Wir könnten ferner anmerken, daß das Wort„Ungleichheit" einen etwas aseptischen Klang hat, derberuhigender ist als die eigentliche Bedeutung: hungernde Kinder,zerbrochene Familien, Kriminalität und Gewalt und all die Formengesellschaftlicher Pathologie, die Ergebnis der Zerstörung allerHoffnungen sind.

Diese Veränderungen innerhalb der Nationen gelten für alle„drei Welten": die staatskapitalistischen Industriemächte, die „Ent-wicklungsländer" des Südens und die ehemaligen kommunisti-schen Staaten, die jetzt weitgehend in ihren ursprünglichen Dritte-Welt-Status zurücksinken. In all diesen Fällen gehen die jeweiligenErgebnisse in nicht geringem Maß auf die selektive Anwendungder neoliberalen Wirtschaftsdogmen zurück: letztere rangieren alsFesseln für die Armen und Schwachen, während sie von denReichen und Mächtigen beiseite geschoben werden, wenn ihreKonsequenzen ihnen nicht gefallen.

Innerhalb der reichen Nationen liefert diese selektive Praxiseine Art Mikrokosmos des internationalen Bildes. Aufgrund desDrucks auf die Konzernprofite haben die Regierangen die Sozial-ausgaben beschnitten, während sie den Wohlfahrtsstaat für dieReichen beibehielten oder sogar erweiterten. Diese Prozesse sindin den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Australien und Neu-seeland klar zu sehen, den Staaten also, die - wenn auch nur inbegrenztem Maß, da sie mächtig genug sind, die Regeln gegebe-nenfalls zu verletzen - „mit den Dogmen tanzten", die sonst denschwachen Ländern aufgezwungen werden, und dafür den ent-sprechenden Preis zahlen mußten; die zitierte Formulierung ent-stammt übrigens der schneidenden Kritik des britischen konser-vativen Parlamentsabgeordneten lan Gilmour an der „Thatcher-Revolution".8 Aber aus strukturenen Gründen, die untrennbar mitder Neuen Weltordnung verbunden sind, nähern sich auch dieanderen Industrieländer Schritt für Schritt demselben Kurs an.

Im Amerika Reagans verwandelte eine Kombination von mi-litärkeynesianischen Exzessen zugunsten der Profite der Reichenund einer Steuerpolitik, die dasselbe Ziel verfolgte, das Landaus dem wichtigsten Gläubigerland der Welt in die Nation mit den

8 Gilmour, Dancing with Dogma (Simon & Schuster, 1992).

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höchsten Schulden. Während die Schulden bei Reagans Amtsan-tritt weniger als eine Billion Dollar betrugen, wuchsen sie durchregressive Steuersenkungen und erhöhte Ausgaben des Pentagonbis 1986 mit 2,1 Billionen auf mehr als das Doppelte und lagen1992, als Reagan und Bush ihren Nachfolgern ihre Erbschaftüberantworteten, bei mehr als 4,4 Billionen. Der Vorsitzende desFinanzkomitees des Senats Daniel Patrick Moynihan vertritt alseiner der qualifiziertesten Steuerexperten des Senats die Auffas-sung, die „strategischen Defizite" der Reaganjahre seien von einer„geheimen Agenda" inspiriert gewesen, nämlich der Errichtungeiner Barriere gegen spätere Sozialausgaben und sonstigestaatliche Initiativen, die für das Amerika der Konzerne nichtakzeptabel sind. Die Kürzungen der Bundesausgaben haben un-erträgliche Lasten auf die Einzelstaaten und Gemeinden abgewälztund hatten auf breiter Front äußerst schädliche Konsequenzen zurFolge. Stark verschärft wurden die Probleme noch durch einehöchst erfolgreiche von der Geschäftsgemeinde organisierte PR-Kampagne, die die „Abschüttelung der Regierung von unseremRücken" und die Senkung der Steuern propagierte, wobei dieUnternehmer aber gleichzeitig dafür sorgten, daß ihre eigenenBedürfnisse durch einen mächtigen und interventionistischen Staatbestmöglich zufriedengestellt wurden. Die Verschuldung derKonzerne und der Haushalte stieg ebenfalls rapide an.

Die regressive Steuerpolitik führte zur Anheizung des Luxus-konsums und einer Vielzahl von Finanzmachenschaften, währendder Anteil der Investitionen am BSP auf das niedrigste Niveauunter den sieben führenden Industriemächten (G-7) sank; selbstdieses niedrige Niveau beruhte mehr und mehr auf Kapi-talimporten. Das Resultat waren riesige Handelsdefizite. Das realeBSP pro Kopf fiel gegenüber den Carterjahren, die persönlichenErsparnisse sanken, der Anteil der Ausgaben für Infrastruktur fielauf die Hälfte des Niveaus der sechziger Jahre, obwohl diestaatlichen Ausgaben nicht zurückgingen. Der einzige Bereich, indem die Statistik bessere Ergebnisse zeigte, war die Inflation, unddas war zum größten Teil auf den gefallenen Ölpreiszurückzuführen. Die Aufnahme von Krediten ermöglichte weitenTeilen der Bevölkerung eine Scheinprosperität, wobei dieseaußerhalb der reichsten Sektoren, die aus all dem große Vorteilezogen, nicht lange aufrechterhalten werden konnte.

Die Ökonomen des Economic Policy Institute Lawrence Mis-hel und Jared Bernstein kamen in einer Untersuchung auf „mehrals 17 Millionen Arbeiter, d. h. 13,2 Prozent der Arbeitskräfte, ...

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die im Juli 1992 unbeschäftigt oder unterbeschäftigt waren", einAnstieg von 8 Millionen während der Jahre unter Bush, in denendie unter Reagan ergriffenen Maßnahmen ihre Auswirkungenzeitigten. Darüber hinaus gingen drei Viertel dieser Arbeitsplätzefür immer verloren. Die Stagnation der Reallöhne im Verlauf dergesamten siebziger Jahre ging während der Reaganjahre in einenscharfen Rückgang über. 1987 erreichte der Rückgang der Löhneauch die Arbeitnehmer mit Collegeabschluß, die sich bald daraufauch mit wachsender Arbeitslosigkeit konfrontiert sahen; dieseAuswirkung ist vermutlich großenteils auf die Entwicklung desPentagonbudgets zurückzuführen, da die Regierungssubventionenfür die an der Miltärproduktion beteiligten Hightech-Industrien1985-86 ihren Höhepunkt erreichten und dann auf ein Niveauabsanken, daß eher dem Durchschnittsniveau der Zeit des KaltenKrieges entsprach. Für die unteren sechzig Prozent deramerikanischen Männer sanken die Reallöhne, während sie (vonanderen Einkommensarten ganz zu schweigen) für die oberen 20Prozent stiegen. Der Wirtschaftswissenschaftler Rüdiger Dorn-busch vom MIT weist darauf hin, daß vom Zuwachs des Pro-Kopf-Einkommens während der Reagan/Bushjahre „70 % dem oberstenl % der Verdiener zukamen, während die unteren Ein-kommensgruppen absolut gesehen weniger hatten", so daß „diemeisten jungen Amerikaner heute nicht mehr darauf rechnenkönnen, wirtschaftlich besser gestellt zu sein als ihre Eltern" -einbedeutsamer Wendepunkt in der Geschichte der Industriege-sellschaft. Umfragen von Mitte 1992 zeigen, daß 75 % der Be-völkerung nicht erwarten, daß sich das Leben für die nächste Ge-neration verbessert.

Die Reaganjahre beschleunigten einen Prozeß, der schon längstbegonnen hatte. Bis 1968 hatte die Ungleichheit der Einkommenständig abgenommen; danach war sie kontinuierlich gestiegen undwar bereits 1986 größer als während der großenWeltwirtschaftskrise. Wie lan Robinson schreibt, sank das durch-schnittliche Einkommen des unteren Fünftels der amerikanischenFamilien im Lauf dieser 18 Jahre um 18 Prozent, während es fürdas oberste Fünftel um 8 Prozent stieg, Tendenzen, die sich seit-dem fortgesetzt haben. Während dieser Jahre „gab es in den USAunter allen Industrienationen den größten Zuwachs der Un-gleichheit, der zudem mit dem größten Rückgang der Einkommender niedriger bezahlten Arbeiter verbunden war", berichtet derWirtschaftsjournalist Richard Rothstein. Eine OECD-Studiefand, daß während der achtziger Jahre in den meisten reicheren

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Ländern die Ungleichheit wuchs, wobei der höchste Anstieg imGroßbritannien Thatchers zu verzeichnen war, der zweithöchste inden Vereinigten Staaten, wo die Ungleichheit von Anfang an amgrößten war und es auch bis zum Ende des Jahrzehnts blieb.Besonders schlecht sah es in den USA für die verletzlicherenSektoren der Bevölkerung aus: die Alten, die Kinder und dieFamilien mit alleinerziehenden Müttern (von denen die meistenbezahlte Arbeit leisteten, da die Vereinigten Staaten im Hinblickauf die Erwerbstätigkeit solcher Mütter im Gegensatz zu einer Flutrechtsgerichteter Propaganda den dritten Rang einnahmen). Die1993 erschienene UNICEF-Studie The Progress of Nations fand,daß es amerikanischen und britischen Kindern wesentlichschlechter ging als 1970. Der Anteil der amerikanischen Kinder,die unterhalb der Armutsgrenze leben, liegt mittlerweile mehr alsdoppelt so hoch wie bei der zweitschlimmsten Industrienation,Großbritannien, und etwa viermal so hoch wie bei den meistenanderen Ländern. Er ist seit 1970 um 21 Prozent gestiegen - in derHauptsache als Resultat staatlicher Leistungskürzungen, wie derUNICEF-Direktor James Grant kommentiert.

„Der wichtigste institutionelle Faktor, der die US-Lohnstrukturbeeinflußte, war der Niedergang der Gewerkschaften", bemerkt derChefökonom des US-Arbeitsministeriums Lawrence Katz.Tatsächlich bildete der intensivierte Angriff auf die Ge-werkschaften einen der großen Erfolge der Reaganjahre. DieserAngriff ebnete den Weg für die Entlassung von Arbeitern wegender Unterstützung von Gewerkschaftsarbeit, die Zerschlagung vonStreiks durch Einstellung „permanenter Ersatzkräfte" und weitereMechanismen, durch die es gelang, eine führende Kraft im Kampffür Demokratisierung und soziale Gerechtigkeit zu schwächen. DieResultate dieser Politik sind für die privilegierten Sektoren höchstermutigend. Eine Titelgeschichte im Wall Street Journalberichtet über „eine willkommene Entwicklung von blei-bender Bedeutung": „den immer wettbewerbsgerechteren Preisder Arbeit in den USA", der auf den mittels einer Kombinationstaatlicher Macht und verbesserter Bedingungen für die Verlage-rung der Produktion ins Ausland geführten Angriff auf die Ge-werkschaften zurückgeht. Die US-Stücklohnkosten fielen 1992um 1,5 Prozent, während die Kosten in Japan und Europa ebensowie in Taiwan und Korea anstiegen. Noch 1985 war der Stun-denlohn in den Vereinigten Staaten höher als in den anderenLändern der G7. 1992 war er unter den seiner reichen Wettbe-werber gefallen, mit Ausnahme Großbritanniens, wo Thatcher

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sich sogar noch mehr in der Unterwerfung der arbeitenden Men-schen hervorgetan hatte. In Deutschland waren die Stundenlöhne60 Prozent, in Italien 20 Prozent höher als in den VereinigtenStaaten. Noch sind die Vereinigten Staaten nicht auf dem Niveauvon Taiwan oder Südkorea gelandet, aber Fortschritte in dieseRichtung gibt es zweifellos.

Mit der fortschreitenden Krise der städtischen Gesellschaftstieg die Gefängnisbevölkerung in rasendem Maß auf das beiweitem höchste Niveau der industriellen Welt und überholte nochdie von Rußland und Südafrika. In den verkommenden Städten undin den ländlichen Gebieten erreichte die Armut neue Rekorde,während die Infrastruktur vielerorts zusammenbrach. Die Ob-dachlosigkeit wurde zu einer nationalen Schande. In der letztenHälfte der achtziger Jahre wuchs die Zahl der Hungernden um 50Prozent auf etwa 30 Millionen Menschen. Anfang 1991, noch vorden Auswirkungen der Rezession der Bushjahre, fanden Forscher,daß im reichsten Land der Welt mit seinen beispiellosennatürlichen und historischen Vorteilen 12 Millionen Kinder nichtgenügend Nahrung haben, um normale Gesundheits-, Wachstums-und Entwicklungsstandards zu garantieren. In Boston, einerreichen Stadt und einem der führenden medizinischen Zentren derWelt, war das Städtische Krankenhaus, das für dieGesamtbevölkerung zuständig ist, gezwungen, eine eigene Klinikfür unterernährte Kinder einzurichten, in der die Kinder wegen derbegrenzten Kapazität schichtweise versorgt werden, besonders imWinter, wenn die Eltern die quälende Entscheidung treffenmüssen, ob sie heizen oder etwas zu essen kaufen sollen.9

Wie im Wall Street Journal nachzulesen, berichtete das Zen-susbüro im Oktober 1993, daß „die Zahl der in Armut lebendenAmerikaner letztes Jahr um 1,2 Millionen auf 36,9 Millionenangeschwollen ist, während die Brieftaschen der Reichsten nochdicker wurden". Die mittleren Familieneinkommen befandensich 13 Prozent unter dem Niveau von 1989, und das Ausmaß

9 Thomas Edsall, Washington Post Weekly, 1. August; Lester Thurow, GuardianWeekly, 22. August 1993. Mishel und Bernstein, Challenge, September-Oktober 1992.Allen Sinai, „What's Wrong with the Economy", Challenge, November-Dezember 1992.Dombusch, Economist, 24. Oktober 1992. Robinson, op. dt. Rothstein, AmericanProspect, Sommer 1993. OECD und weitere Studien über Un-gleichheit, Left BusinessObserver, 14. September 1993. UNICEF, K?, Boston Glo-be, 23. September 1993.Alfred Malabre, Wall Street Journal, 13. September; Judy Rakowsky, „Tufts study finds12 million children in US go hungry", Boston Globe, 16. Juni 1993. Für weitereDiskussion, siehe Deterring Democracy, Kapitel 2; The rear5W, Kapitel 2, 4, 11.

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der Armut war dasselbe wie „während der tiefsten Tiefen derheftigen Rezession Anfang der achtziger Jahre" vor den lauthalsgefeierten „Jahren des Booms". Analytiker gehen davon aus, daßder Anteil der Armen auf lange Sicht „weiterhin steigen wird",begleitet von „sinkenden Löhnen, schrumpfender staatlicher Hilfefür die Armen und einer steigenden Zahl von Familien mit nureinem Elternteil". Letzteres ist eine Konsequenz der sich auflö-senden sozialen Bindungen. „Die Anfang der achtziger Jahre raschgewachsenen Einkommensungleichheiten blieben auch 1992bestehen, wobei das oberste Fünftel der amerikanischen Haushalteseinen ohnehin gewaltigen Anteil am Einkommen" auf 47 Prozentdes Gesamteinkommens erhöhte. „Die Reichen wurden ganzoffensichtlich reicher", stellte ein Autor des Zensusbüros fest,während die durchschnittlichen Einkommen des untersten Fünftelsder Familien mit 7.328 Dollar, also kaum dem nacktenExistenzminimum, konstant blieben. Eine Studie desHandelsministeriums von 1994 fand, daß der Prozentsatz vonVollzeitarbeitern mit Armutslöhnen (bis 13.000 Dollar im Jahr)sich während der Reaganjahre um die Hälfte vergrößert hatte, von12 Prozent 1979 auf 18 Prozent 1992. Der Nettobesitz ame-rikanischer Haushalte fiel nach Berichten des Zensusbüros von1988 bis 1991 durchschnittlich um 12 Prozent, nachdem er wäh-rend der „Boomjahre in den achtziger" nur wenig gestiegen und fürviele gefallen war. Die Kinderarmut nahm von 1973 bis 1992 um47 Prozent zu und betraf nunmehr 20 Prozent aller Kinder, einAnstieg von 12 auf 14 Millionen seit der letzten Zählung ein Jahrzuvor. Die Armutsgrenze wird als ein jährliches Einkommen von11.186 $ für eine dreiköpfige Familie definiert. „Sie lernen dieHoffnungslosigkeit sehr schnell", sagte der Leiter einer Studie derTufts Universiry, da sie erkennen, „daß sie ihre Umgebung nichtbeeinflussen können. In einer hoffnungslosen Situation tunMenschen Dinge, die sie ansonsten nicht einmal in Betracht ziehenwürden", darunter zum Beispiel Gewaltverbrechen, eine Epidemie,die nun der vorherrschenden Doktrin zufolge durch drakonischeStrafen, nicht etwa durch Hinwendung zu ihren Ursachen unterKontrolle gebracht werden soll.10

Während der ersten beiden Jahre der ökonomischen Erholungseit 1991 fielen die Löhne sowohl für Arbeiter als auch für Ange-

10 Paulette Thomas, Wall Street Journal, 5, Oktober 1993. Robert Rosenthal, LosAngeles Times, 31. März; AP, Chicago Tribüne, 26. Januar; David Holstrora,Christian Science Monitor, 27. Januar 1994.

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stellte weiterhin, während der Abstand zwischen beiden Gruppie-rungen weiter zunahm. Nur bei den obersten 10 Prozent sind dieLöhne über das Niveau von 1989 gestiegen. Darüber hinaus kames auch nach achtundzwanzig Monaten der wirtschaftlichen Er-holung zu keinem Rückgang der Arbeitslosigkeit, eine Erschei-nung, die es seit Kriegsende noch nie gegeben hat. Ferner ist auchdie Zahl der Teilzeitstellen und befristeten Anstellungengewachsen, aber nicht, weil die Nachfrage danach so groß wäre,sondern weil damit die „Flexibilität" des Arbeitsmarkts erhöhtwird, die laut geltender Doktrin für die wirtschaftliche Gesundheithöchst vorteilhaft ist; „Flexibilität" ist ein technischer Terminus,der bedeutet, daß man, wenn man abends zu Bett geht, nicht weiß,ob man am nächsten Morgen noch Arbeit hat. 1992 waren 28Prozent aller neugeschaffenen Arbeitsplätze zeitlich befristet;weitere 26 Prozent lagen im Staatssektor, vorwiegend auf derEbene der Einzelstaaten und der Gemeinden. 1993 waren 15Prozent der neuen Arbeitsplätze Zeitstellen, wodurch es insgesamt24,4 Millionen Teilzeit- oder Zeitarbeiter gab, was 22 Prozent allerArbeitnehmer ausmacht und die höchste je erreichte Zahl darstellt.Der größte private Arbeitgeber ist Manpower, die größte derZeitarbeitsfirmen, die 600.000 Arbeitnehmer und damit 200.000Menschen mehr als General Motors beschäftigt.

Mit Fortgang der wirtschaftlichen Erholung wurden neue Ar-beitsplätze geschaffen. Der März 1994 übertraf alle Erwartungen,was die New York Times (ebenso wie andere Zeitungen) zu einerenthusiastischen Titelgeschichte über die gute Nachricht veran-laßte, war es doch der höchste Zuwachs seit sechs Jahren. Nur imletzten Abschnitt der Fortsetzung des Artikels im Innenteil findenwir etwas zwiespältigere Zahlen. Laut Financial Times geht ausihnen hervor, daß „in Wirklichkeit im März 349.000 der 456.000neuen Arbeitsplätze Teilzeitjobs waren. Die Beschäftigung in derverarbeitenden Industrie stieg nur um 12.000.“11

In England schuf die Thatcher-Regierung in beeindruckendemTempo die schlimmste Krise der verarbeitenden Industrie seit derindustriellen Revolution. Durch die blinde Verfolgung derLehrsätze Milton Friedmans und anderer Laissez-faire-Doktrinen wurde innerhalb weniger Jahre beinah ein Drittelder verarbeitenden Industrie vernichtet. Das Resultat war laut Gil-

11 Die Wirtschaftswissenschaftler Lawrence Mishel und Jared Bernstein, „The JoylessRecovery", Dissent, Winter 1994; Tamar Lewin, New York Times, 10. März; Fortune(Titelgeschichte), 24. Januar 1994. Robert Hershey, New York Times, 1. April; JurekMartin, Financial Times, 2. April 1994.

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mour eine „miserable Leistung" der Wirtschaft mit sinkendenWachstumsraten und rasch zunehmender Armut, während dieThatcher-Ideologen „ausschließlich für die Wohlhabenden denguten Samariter" spielten. London nahm allmählich das Erschei-nungsbild „einer Hauptstadt der Dritten Weif' an. Wie Gilmourhinzufügt, konnten nicht einmal die starke Stimulierung derWirtschaft durch das Nordseeöl und der scharfe Rückgang derExportpreise der Dritten Welt diese Entwicklungen verhindern.Der Ökonom Wynne Godley bemerkt, die Thatcherperiode seidurch verlangsamtes Wachstum, verringerte Wettbewerbsfähigkeitauf dem Weltmarkt, scharfes Anwachsen der Staats- undHaushaltsschulden und der Arbeitslosigkeit, „ein hysterisches aufund ab" in einer verblüffend instabilen Wirtschaft und einen Ka-pazitätsverlust in der verarbeitenden Industrie gekennzeichnetgewesen.

Laut Presseberichten im Juli 1993 lebt ein Viertel der Bevöl-kerung, darunter 30 Prozent der Kinder unter sechzehn, vonEinkommen, die weniger als die Hälfte des Durchschnittsein-kommens („was am ehestens als offizielle Armutsgrenze geltenkönnte") betragen. So hat die Thatchersche Disziplin seit 1979 einscharfes Anwachsen der Armut zustande gebracht, bei dem selbstdas Einkommen der ärmsten Familien noch um 14 Prozentgesunken ist. Die Ungleichheit vergrößerte sich gewaltig undwuchs noch schneller als im Amerika Reagans, auch wenn sie bisjetzt noch nicht amerikanische Ausmaße erreichte. (Unter denreichen Ländern bestand in den Jahren 1984-87, der letzten Peri-ode, für die verläßliche Daten vorliegen, folgende Reihenfolge imGrad sozialer Ungleichheit: Vereinigte Staaten, Australien, Israel,Großbritannien, Kanada...) Die Britische Kommission für SozialeGerechtigkeit berichtet, daß heute in England mehr Ungleichheitherrscht als zu irgend einer Zeit während der letzten hundert Jahre.Während des Jahrzehnts unter Thatcher fiel der Einkommensanteilder unteren Hälfte der Bevölkerung von einem Drittel auf einViertel, während sich die Zahl der in Haushalten mit niedrigemEinkommen lebenden Kinder verdreifachte. Die Einzelheitensind regelmäßig in den entsprechenden Berichten nachzulesen.Die Regierung plant, Landstreicherei zum kriminellen Vergehenzu erklären, was die marginalen Lebensmöglichkeitenfür Obdachlose, die diese in verlassenen Gebäuden undU-Bahn-Stationen noch haben, beseitigen würde. Eine wach-sende Zahl von Menschen verliert ihre Wasserversorgung, dadie Privatindustrie Haushalte, die nicht bezahlen können, von der

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Wasserversorgung abschneidet - eine Form der „bakteriologischenKriegführung", wie der Mikrobiologe John Pirt kommentiert. Eszeichnet sich immer klarer ab, welche Zukunft für die Bevölkerungins Auge gefaßt ist.12

„Die Kluft zwischen Reichtum und Armut, die in den achtzigerJahren immer ausgeprägter wurde, wird noch mindestens fünfJahre lang weiterwachsen", berichtet die Marktforschungs-organisation Mintel und weist auf die „wachsende Nachfrage nachLuxusgütern und -dienstleistungen" hin, während „das Einkommeneines wachsenden Teils der Haushalte gerade für Standardprodukteund -guter ausreicht", was „wichtige Folgen für den Handel undden Markt" habe. Dieser Studie zufolge wuchs derEinkommensanteil der oberen 20 Prozent der Haushalte von 35Prozent im Jahr 1979 auf 40 Prozent 1992, während der Anteil derunteren 20 Prozent von 10 Prozent auf 5 Prozent fiel. Dabei istdiese Kluft in den letzten Jahren, als die Thatcher-Politik sicheinen festen Platz erobert hatte, immer schneller gewachsen. DieWohlfahrtsorganisation Aktion für Kinder, die 1869 unterSchirmherrschaft der Königin gegründet wurde, kam in einerjüngst durchgeführten Studie zu dem Ergebnis, daß „die Kluftzwischen reich und arm heute wieder so groß ist wie zur viktori-anischen Zeit", in mancher Hinsicht sogar größer. EineinhalbMillionen Familien können es sich nicht leisten, ihre Kinder mit„der Art Nahrung" zu versorgen, „die ein vergleichbares Kind1876 in einem Arbeitshaus in Bethnal Green bekam", ein „trau-riger Spiegel der britischen Gesellschaft". Zahlen der EuropäischenKommission (EC) zeigen, daß in Großbritannien proportionalmehr Kinder in Armut leben als in jedem anderen europäi-schen Land mit Ausnahme von Portugal und Irland, und daß die-ser Anteil schneller als in jedem anderen Land Europas wächst.Die EC berichtet weiter, daß Großbritannien während der achtzi-ger Jahre zu einem der ärmsten Länder Europas geworden istund dabei hinter Italien und einige Regionen Spaniens zurück-fiel. Schon ein Jahr zuvor war Großbritannien laut Bericht derFinancial Times dem „Armenhaus Europas" zugerechnet wor-

12 Gilmour, op. dt. Godley, London Review of Books, 8. April 1994; Steven Webb undRichard Thomas, New Statesman and Society, 30. Juli 1994; David Brindle, GuardianWeekly, 11. Juli 1993. Angelia Johnson, Guardian, 6. Juli 1994; David Nicholson-Lord,Independent, 12. Mai 1994; Pirt, Leserbrief, Independent, 18. Mai 1993. Rangliste derUngleichheit gemessen nach dem „Gini-Index", berechnet aus der Datensammlung vonLuxembourg Income Study; Left Business Observer, 14. September 1993.

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den, „technisch gesehen arm genug, um" ebenso wie Spanien,Irland, Portugal und Griechenland „auf zusätzliche Gelder derEuropäischen Gemeinschaft Anspruch zu erheben".13

Wie im Reaganschen Amerika finden wir auch in Englandinmitten sozialen und wirtschaftlichen Niedergangs eine dünneSchicht von Prosperität, die großenteils auf Kredite und die Um-verteilung von unten nach oben zurückgeht. Und in einigen Krei-sen sind die Ergebnisse dieser Politik in der Tat höchst populär.„Am Ende zahlt sich Thatchers Revolution aus" lautet eineSchlagzeile in Business Week, unter der dann begeistert berichtetwird, daß „Großbritanniens Wiedererstarken einige Lektionen fürden Kontinent bereithält", insbesondere „sinkende Kosten fürArbeit", die inzwischen um ein Drittel niedriger sind als imwesteuropäischen Durchschnitt, niedrigere Unternehmenssteuernund, ganz nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten, größere„Flexibilität der Arbeitskräfte". „Das ist sehr weitgehend dasVerdienst Margaret Thatchers, deren Reformen jetzt Früchte tra-gen." Dieser „neue Arbeitsmarkt hat sich als mächtiger Anreiz fürausländische Investoren erwiesen", die nur zu froh sind, ThatchersErrungenschaften zu nutzen, um ihre Profite in die Höhe zu treibenund das Lebensniveau der Arbeitskräfte in ihren eigenen Ländernauf ein ähnliches Niveau wie in den USA herunterzudrücken.„Wenn die [Arbeiter] sehen, wie Arbeitsplätze verschwinden, hatdas einen heilsamen Effekt auf die Haltung der Leute", zitiert dasWall Street Journal einen britischen Unternehmensdirektor, derebenfalls von den „positiven Ergebnissen der RevolutionThatchers" beeindruckt ist, die Großbritannien „eine niedrigbezahlte, schlecht ausgebildete Arbeiterschaft" beschert hat. Dankder verbesserten Ausbeutungsbedingungen und der dadurcherzeugten erfreulichen Haltung der Arbeiter werden neueArbeitsplätze geschaffen, aber „praktisch alle der unter dem Strichentstandenen neuen Arbeitsplätze waren Teilzeitjobs, von denendie meisten an Frauen gehen und schlechter alsVollzeitarbeitsplätze bezahlt sind"; außerdem ist dank der neuen„Arbeitsflexibilität" ^und der Schwächung der Gewerkschaftenund der Arbeiterrechte „die Zahl der vollzeitbeschäftig-ten britischen Arbeitskräfte mit einem Wochenlohn unterhalb der

13 David Nicholson-Lord, Independent, 1. Februar 1994; Presseerklärung, Action forChildren, 31. Januar 1994; Jeremy Laurance, „Workhouse gruel 'too costly for poortoday'", Times, I. Februar 1994; John Palmer, „UK joins poor of Europe", 30. Januar1994. David Gardner, Financial Times, 16. Oktober 1992.

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'Minimalgrenze' des Europäischen Rats von 28,3 % 1979 auf 37 %gestiegen".14

Australien „tanzte" mit denselben Dogmen, in diesem Fall untereiner Labourregierung. Das Resultat war eine „schlimmeGeschichte wirtschaftlichen Niedergangs", schreibt der Konser-vative Robert Manne in der Geschäftspresse, wo er auch einenÜberblick über das „Desaster" gibt. „Die Ära nach der Deregulie-rung war so ähnlich wie ein Großexperiment in einem chemischenLabor, in dem Elemente kombiniert werden, die nie zuvormiteinander gemischt worden waren", kommentierte ein führenderpolitischer Analytiker. Es folgten ähnliche Konsequenzen wie inden Vereinigten Staaten und Großbritannien und in den weitausverletzlicheren und um so grausamer betroffenen Ländern derDritten Welt: eine massive Umverteilung von Mitteln von denArmen an die Reichen, Arbeitslosigkeit, Angriffe auf die Arbeiterund die Gewerkschaften, Abnahme der produktiven Investitionen,steigende Familien- und Kinderarmut, Anwachsen desausländischen Besitzes und sogar ein Rückgang des Natio-naleinkommens. „Im Schlepptau der Vereinigten Staaten undGroßbritanniens gab sich die Plutokratie Australiens einer Orgieder Gier und Habsucht hin, wie man sie hier noch nie zuvor ge-sehen hatte", schreibt der Politikwissenschaftler Scott Burchilldazu.15

Diese Erfahrungen sollten „wenigstens einige Zweifel gesäthaben", kommentiert Manne. Aber derartige Zweifel wurden inallen drei Gesellschaften mittels einer „Kombination von Verlo-genheit und blanker Inkompetenz" beschwichtigt, so der MIT-Ökonom Paul Krugman, der sich damit insbesondere auf Versuche„des Wall Street Journal, des US-Schatzministeriums und einerReihe angeblicher ökonomischer Experten" bezieht, die wahrenVerhältnisse zu vernebeln, Bemühungen, die ihm zufolge „dasAusmaß des moralischen und intellektuellen Niedergangs desamerikanischen Konservatismus" demonstrieren.16

14 Business Week, 21. Februar 1994; Dana Milbank, Wall Street Journal, 28. März1994.15 Manne, „Wrong Way, Go Back", ABM, November 1992; Burchill, „Scenes fronMarket Life: Neoliberalism in Australia", Manuskript, University of Tasmania, 1993(mit P. Kelly, End ofCertainty, 1992, als Quelle). Für einen informativen Überblickund eine vergleichende Analyse, siehe Tom Fitzgerald, Between Life and Economics(1990 Boyer-Vorlesungen der Australian Broadcasting Company ABC, 1990); JohnCarroll und Robert Manne, eds., Shutdown: The Failure of Economic Rationalism(Melbourne: Text, 1992).16 Krugman, „The Right, the Rieh, and the Facts", American Prospect, Herbst 1992.

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Noch mehr Energie und Enthusiasmus beim Tanz mit den Dogmendes Marktmonetarismus legte Neuseeland an den Tag, das lautEinschätzung der OECD-Wirtschaftswissenschaftler Joumard undHelmut Reisen „das vollständigste Wirtschaftsreformprogramm"durchführte, „das je in den letzten Jahren von einem OECD-Landunternommen wurde". Ihnen zufolge war das Experiment inbeinahe jeder Hinsicht ein Desaster. Das neue Rezept wurdeoffiziell seit 1984 praktiziert. In einem Vergleich der Jahre 1977-84 und 1984-89 finden die OECD-Ökonomen einen scharfenNiedergang im Beitrag der Produktion von Handelsgütern(verarbeitende Industrie, Bergbau, Landwirtschaft) zum BSP,ebenso im Exportanteil an verarbeiteten Gütern im Rahmen derOECD. Die Reformen riefen schwere strukturelle Verwüstungenhervor; ohne sie hätte der Export an verarbeiteten Gütern nach denBerechnungen der beiden Ökonomen um 20 Prozent höhergelegen.

Der neuseeländische Ökonom und Spezialist für internationalenHandel Tom Hazeldine führt die Bilanz des „Putsches" der„Marktradikalen" bis 1993 weiter. Die vorher praktisch bei Nullliegende registrierte Arbeitslosigkeit erreichte 14,5 Prozent, nachSpanien das höchste Niveau in der OECD. Ebenso entstanden sehrschnell hohe Schulden von 11 Milliarden Dollar. Es gab praktischkein wirtschaftliches Wachstum, und das schwache Wachstum derProduktivität resultierte hauptsächlich aus Rationalisierungen. Esgab eine Zunahme von Geschäftsgründungen, die Pleiten nahmenallerdings noch schneller zu, so daß der Anteil der erfolgreichenGeschäftsgründungen dank der Magie des Marktes sank. DieStaatsausgaben verzeichneten einen scharfen Anstieg von 30 % auf49 % des BSP. Dementsprechend kommentiert Hazeldine, dievorherige sozialdemokratische Regierung habe dem Staat vielweniger Gewicht eingeräumt und sei „viel billiger - undeffizienter" gewesen, während gleichzeitig „alle Arbeit hatten".Der Markt ist eben nicht nur für große Irrtümer anfällig, son-dern auch sehr teuer im Unterhalt. „Der Anteil am BSP, dervon den 'marktschaffenden' Wirtschaftszweigen - Finanz-und Geschäftsdienstleistungen - gehalten wird, verdoppelte sichvon etwas mehr als 5 % auf knapp 10 %", berichtet Hazeldine,während „die Beschäftigung in den 'marktschützenden' Sektoren -Polizei, Recht, Versicherungen, Sicherheitsdienste - ebenfallsüberproportional gewachsen ist". Abgesehen von den üb-lichen Gewinnen für die Reichen im In- und Ausland warkein ausgleichender Nutzen dieser Politik erkennbar.

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Hazeldine weicht von der in seinem Beruf vorherrschendenprofessionellen Nüchternheit ab, um auf einen weiteren Punkthinzuweisen, der langfristig gesehen vielleicht noch wichtiger ist.Die Experimente mit dem Marktmonetarismus bewirkten nicht nureine scharfe Verschlechterung der wirtschaftlichen Bedingungenim engeren Sinn, sondern hatten auch sehr negative Auswirkungenauf „die Dinge, die im Leben wirklich zählen": „Liebe undFreundschaft, Arbeit und Spiel, Sicherheit und Autonomie", das„Mitgefühl" und das „Gefühl des gegenseitigen Verpflichtetseins"und der Sympathie, die „die Neuseeländer miteinander verbinden"und eine lebenswerte Gesellschaft ausmachen. Hazeldine zieht denSchluß, daß die Resultate des großen Experiments durch die Bank„fürchterlich" waren. Genau dieselben Konsequenzen sind auch inden Vereinigten Staaten und Großbritannien in dramatischer Weiseoffensichtlich und stellen eine natürliche Begleiterscheinung vonWerten dar, die den Markt über alles stellen.17

Dabei ließen die bisherigen Erfahrungen eigentlich gar keineandere Erwartung zu. Die Ära nach dem Zweiten Weltkrieg bildethierzu lediglich eine weitere Illustration. Sämtliche erfolgreichenIndustriegesellschaften haben sich auf ihrem Weg nach oben einerMischung staatskapitalistischer Entwicklungsprogramme bedient,die den Bedürfnissen der Mächtigen in diesen Ländern entsprach.Japan zum Beispiel arbeitete unter Mißachtung der üblichenneoklassischen wirtschaftlichen Ratschläge eine Form derIndustriepolitik aus, die dem Staat eine vorherrschende Rollezuwies. Dadurch wurde ein System geschaffen, das „derOrganisation der industriellen Bürokratie in den sozialistischenLändern sehr ähnlich [war] und in den anderen fortgeschrittenenwestlichen Ländern kein Gegenstück zu haben scheint", so derÖkonom Ryaturo Komiya von der Universität Tokio in seinerEinführung zu einer Studie über die japanische Wirtschaftspolitiknach dem Krieg, die von einer Gruppe prominenter japanischerWirtschaftswissenschaftler durchgeführt wurde. Die Autoren derStudie besprechen eine Reihe von Maßnahmen, die einge-führt wurden, um „Produktion, Investitionen, Forschung,Entwicklung, Modernisierung oder Umstrukturierung" ineinigen Industrien zu stimulieren und sie gleichzeitig in ande-

17 Gordon Campbell, Listener (Neuseeland), 30. Januar 1993. Hazeldine, „Taking NewZealand Seriously", Antrittsvorlesung an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft derUniversity of Auckland, 10. August 1993.

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ren zu dämpfen, um so die marktdeterminierte Ressourcenallo-kation und Wirtschaftsaktivität zu modifizieren. „Die 'Ideologie'der Industriepolitik während dieser Periode basierte nicht auf derneoklassischen Wirtschaftslehre oder keynesianischem Denken,sondern war eher neomerkantilistischer Herkunft" und „außerdemdirekt vom Marxismus beeinflußt", merkt einer der Autoren an.Ein berühmter konservativer Japanwissenschaftler, ChalmersJohnson, beschreibt Japan als „das einzige kommunistische Land,das funktioniert". Ausgeprägter Protektionismus, Subventionenund Steuerkonzessionen, Finanzkontrollen und eine Reihe andererMechanismen wurden ins Spiel gebracht, um die Mängel desMarktes zu überwinden, ohne sich um die Doktrinen des kompa-rativen Vorteils und der internationalen Arbeitsteilung zu scheren,die Japans industriellen Fortschritt verzögert und geschwächthätten. Statt dessen führten die staatliche Bürokratie und dieIndustrie- und Finanzkonglomerate die Marktmechanismenlangsam, schrittweise und immer mit Blick auf die kommerziellenErfolgsaussichten ein. Die an der Studie beteiligten Ökonomenziehen den Schluß, daß es die radikale Abkehr von den orthodoxenWirtschaftsrezepten war, die den Boden für das japanischeWirtschaftswunder vorbereitet hat.

Die Schwellenländer an Japans Peripherie führten nur diewirtschaftliche Entwicklung weiter, die bereits unter dem japani-schen Kolonialismus begonnen hatte, und verwendeten dabei einähnliches Modell. Es gibt zahlreiche weitere Beispiele, die „diepositive Korrelation zwischen staatlicher Intervention und be-schleunigtem wirtschaftlichen Wachstums" illustrieren, eineKorrelation, „deren Gültigkeit für alle Fälle wirtschaftlicher Ent-wicklung der Dritten Welt inzwischen allgemein akzeptiert ist"(Alice Amsden) und wie sie ja auch für den gesamten Verlauf derGeschichte der wichtigen Industriegesellschaften galt.18

Angesichts seiner eigenen historischen Erfahrung und seinerMittelposition in der neokolonialen Ordnung ist es nicht überra-schend, daß Japan die Strukturanpassungsprogramme der Welt-bank und des IWF heftig kritisiert hat. Eine offizielle Kritik derjapanischen Regierung gibt einen Überblick über die Gründe, ausdenen es einen „wahrhaft beklagenswerten" „Mangel an Weit-sicht" beweise, sich in Fragen der Entwicklungspolitik auf den

18 Ryutaro Komiya, Yutaka Kosai und andere in Komiya, Industriell Policy of Ja-pan (Tokio, 1984; Academic Press, 1988); siehe Fitzgerald, op. cit., für weitereDiskussion. Johnson, National Interest, Herbst 1989. Amsden, in Peter Evans etal., Bringing the State Back In (Cambridge, 1985).

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komparativen Vorteil, Liberalisierung und Marktmechanismen,Privatisierung, „Effizienz" ohne Sorge um „Fairneß und sozialeGerechtigkeit", längst diskreditierte Annahmen über den „Durch-sickereffekt" und weitere derzeit verbreitete Platitüden zu verlas-sen. Von der Kritik wurde so gut wie keine Notiz genommen.19

Wie immer in der Geschichte sind solche Experimente mitLaissez-faire-Dogmen für die, die sie planen, keine Fehlschläge,ganz gleich, wie es anderen dabei geht. Von der Bevölkerung derbetroffenen Länder werden sie jedenfalls nicht unterstützt. ImWesten gibt man gerne vor, „demokratisch gewählte Regierungenim Süden" folgten begierig den Ratschlägen ihrer Ratgeber aus denreichen Ländern, aber schon ein sehr flüchtiger Blick aufGeschichte und soziale Realität der letzten Zeit genügt, um diesezynischen Behauptungen zu widerlegen.

Meinungen aus der Dritten Welt zu solchen Themen sind beiuns meist nur in Form willkürlicher Behauptungen über sie be-kannt, aber wer einmal genauer hinsieht, wird finden, daß man dortüber die „Welle der Zukunft" nicht gerade begeistert ist. Diebereits zitierte Süd-Kommission ist nur ein Beispiel, das ebensowie andere abweichende Stimmen ignoriert wurde. Auch von denlateinamerikanischen Bischöfen hört man so gut wie nichts, weilsie falsche Prioritäten setzen. Im Dezember 1992 hielten sie inSanto Domingo ihre Vierte Allgemeine Konferenz ab, die auchvom Papst besucht wurde. Der Vatikan hatte die Tagesordnungsorgfältig manipuliert, da man befürchtete, die Bischöfe könntenden von den historischen Konferenzen von Medellin und Pueblaeröffneten Weg „des Vorrangs der Arbeit für die Armen" weiter-verfolgen, der seinerzeit prompt die mörderischen Terrorkampag-nen Reagans und Bushs zur Vernichtung dieser Ketzerei ausgelösthatte, drohte diese Häresie doch, armen Menschen dabei zu helfen,eine gewisse Kontrolle über ihre Lebensbedingungen zu gewinnenund sich mit dem furchtbaren Erbe von Ausbeutung und Elend inWashingtons „Hinterhof auseinanderzusetzen. Unter Mißachtungdieser Manipulationen warnten die Bischöfe vor „dervorherrschenden neoliberalen Politik" der Neuen WeltordnungGeorge Bushs, die häufig zu einem Niedergang des de-mokratischen Lebens geführt und die große Mehrheit zunoch größerem Leiden verurteilt habe. Ferner bezeichneten sie die

19 Overseas Economic Cooperation Fund, „Implications of the World Bank's Focus onStructural Adjustment: A Japanese Government Critique", Third World Economics(Malaysia), 31. März 1993.

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„Stärkung der sozialen Verantwortlichkeit des Staates [als] höchstwichtige Form der Hirtenarbeit". Die grausame Armut der Region„ist nicht von selbst zustande gekommen", fugte die bolivianischeBischofskonferenz hinzu, „sondern ist das Produkt desgegenwärtigen völlig unkontrollierten Systems des freien Marktesund der Wirtschaftsreformen, die als Teil der neoliberalen Politikdie soziale Dimension außer Acht lassen". Dabei können diebolivianischen Bischöfe auf höchst bedeutsame Erfahrungen auserster Hand verweisen, auf die ich gleich (S. 184) noch zu-rückkomme.20

Auch die Stimmen der Bischöfe blieben ungehört und konntenden Triumphalismus des Westens nicht stören.

Selbst in den demokratischen Gesellschaften des Westens istdie Meinung der Bevölkerung bestenfalls ein marginaler Faktor.Dementsprechend weist Scott Burchill darauf hin, daß „dieSchlüsselentscheidungen [über die neoliberalen Reformen]" inAustralien „ohne jede Konsultation der Öffentlichkeit getroffenwurden, während man gleichzeitig über die voraussichtlichenAuswirkungen auf Gesellschaft und Gemeinwesen Australienswenig oder nichts wußte". Während der gesamten Reaganzeit fa-vorisierte die US-Bevölkerung insgesamt Maßnahmen im Stil desNew Deal, in deren Rahmen sie Ausgaben für soziale ZweckeMilitärausgaben bei weitem vorzog und sich sogar für neue Steu-ern aussprach, falls diese zu sozial konstruktiven Zwecken ver-wendet würden. Der Fall der Gesundheitsreform ist nur ein Bei-spiel für ein allgemeineres Muster. Innerhalb des höchst redu-zierten Spektrums des politischen Systems wurden keine Alter-nativen angeboten, während regelrechte Propagandafluten fürPassivität und Verwirrung in der Bevölkerung sorgten. Das PR-System zog alle Register, um breite Unterstützung für eine von derBevölkerung abgelehnte Politik und den Führer der „konservativenRevolution" zu suggerieren, dessen Popularität indes weitgehendein von den Medien erschaffener Mythos war und der mittlerweilezu den unbeliebtesten Personen des öffentlichen Lebens gehört.Wie der Londoner Guardian berichtete, ergab das Gesell-schaftliche Meinungsbild für 1992 in Großbritannien, daß „die

20 Patricia Corda, Excelsior (Mexiko), 4. Dezember 1992. Fernando Montes, S. l,Sprecher der chilenischen Delegation (Mensaje, Dezember 1992); Weihnachtsbotschaftder Bolivianischen Bischofskonferenz; beides in LADOC (Latin AmericanDocumentation), Lima, März/April 1993. lan Linden, Direktor, Catholic Institute ofInternational Relations, „Reflections on Santo Domingo", TheMonth (Januar 1993).

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Befragten sich mit größeren Mehrheiten als je zuvor für staatlicheAusgaben aussprechen"; 65 Prozent befürworteten höhere Steuernin Kombination mit höheren Ausgaben. Die Politik der Regierungsieht natürlich ganz anders aus. Ähnlich negativ sind dieEinstellungen gegenüber dem privaten Unternehmertum. Auf dieFrage, wie Profite verwendet werden sollten, sprachen sich 42Prozent für Investitionen, 39 Prozent für Leistungen für die Ar-beitnehmer, 14 Prozent für die Weitergabe an die Konsumentenund 3 Prozent für Gratifikationen für die Anteilseigner und Ma-nager aus. Aber auf die Frage, wie Profite ihrer Ansicht nachverwendet werden würden, nannten 28 Prozent Investitionen, 8Prozent Verbesserungen für die Arbeitnehmer, 4 Prozent dieWeitergabe an die Konsumenten und 54 Prozent Gratifikationenfür die Anteilseigner und Manager. Ganz wie in den VereinigtenStaaten ist die Überzeugung, das Wirtschaftssystem sei „sowiesoungerecht", weit verbreitet, spielt aber praktisch keine Rolle ineinem politischen System, das die große Masse der Bevölkerungweitgehend auf eine Zuschauerrolle reduziert, wie es führendeDemokratietheoretiker schon vor langer Zeit gefordert haben.21

Die Rückkehr zur Herde

In den Ruinen des sowjetischen Imperiums sieht es nichtwesentlich anders aus. Die erste große Hoffnung auf einenneoliberalen Erfolg war Ungarn. 1993 sank die Wahlbeteiligungdort auf unter 30 Prozent, während 53 Prozent der Bevölkerungmeinten, vor dem Zusammenbruch des alten Systems sei „es bessergewesen". Auf der Suche nach neuen Erfolgen stießen diewestlichen Kommentatoren schließlich auf Polen, wo der enormewirtschaftliche Niedergang in der gesamten Region seit 1989 vierJahre später schließlich zum Stillstand gekommen zu sein schien.„Den meisten Polen geht es heute in sozialer, politischer undwirtschaftlicher Hinsicht besser als unter dem verhaßten kom-munistischen System", schreibt Anthony Robinson begeistert ineiner Beilage zur Financial Times. Nach all den Jahren harterDiktatur sollten die Trauben der Freiheit in der Tat süß schmek-ken, aber der frohlockende Bericht sagt uns wenig darüber, in-wieweit die Bevölkerung einen Anteil an Polens „wachsender

21 Siehe Turning the Tide, Kapitel 4.2.2, wo ich Untersuchungen von Vicente Navarrozusammenfasse; Thomas Ferguson & Joel Rogers, Right Turn (Hill & Wang, 1986).Ferner auch Deterring Democracy, Kapitel 2; The Year 501, Kapitel 11. British SocialAttitudes Survey zitiert in Guardian, 18. November 1992.

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Prosperität" hat oder wie sie darüber denkt, während Seite umSeite Gründe dafür dargelegt werden, weshalb die Entwicklungenfür Investoren begeisternd sind, darunter niedrige Löhne, Steuer-befreiungen für Profite, der Niedergang der Gewerkschaft Soli-darnosc, deren „Machtbasis durch die wachsende Arbeitslosigkeituntergraben wird", und der Fehlschlag der „in letzter Minute" vonden Gewerkschaften unternommenen Versuche, die Form vonPrivatisierung zu „sabotieren", die das übliche Vorspiel zurÜbernahme der Unternehmen durch Ausländer oder die einhei-mische Kleptokratie ist.

Wir erfahren ferner auch, daß die Einkommen der Bauern (die30 Prozent der Bevölkerung stellen) sich seit 1988 halbiert haben,und daß „als Reaktion auf die geschrumpfte Nachfrage" in denStädten weniger Fleisch produziert wird; es wird ein weiteresSinken der Produktion erwartet, und zwar auf „ein Niveau •. nochunter dem von 1980, als die Fleischknappheit den Hintergrund fürdie Arbeiterstreiks bildete, die schließlich den Kommunismus zuFall brachten". 1992-93, das heißt, in dem Zensusjahr „wachsenderProsperität", von dem behauptet wird, ab da sei es nach demZusammenbrach nach 1989 wieder aufwärts gegangen, fielen dieReallöhne - für die, die noch einen Arbeitsplatz hatten - nochweiter und „blieben sehr niedrig, während die Preise aufWeltniveau hochschössen".22

An anderer Stelle entdecken wir, daß das „rosige Bild von derpolnischen Wirtschaft", die in den westlichen Medien als „wirt-schaftliche Erfolgsgeschichte" und „Bestätigung der Wirtschafts-politik" der von westlichen Beratern verfochtenen „'Schockthera-pie'" dargestellt wird, an Ort und Stelle „weniger heiter" aussieht.„Die Schocktherapie hat Polen gespalten, der Mehrheit derBevölkerung geschadet und den politischen Prozeß des Landesparalysiert", berichtet ein führender polnischer Journalist. Kürz-liche Umfragen zeigen, daß „mehr als 50 % der Befragten finden,das vorherige politische System - der Kommunismus - sei bessergewesen". Darüber hinaus, so Alice Amsden, übersieht „dasgenerell rosige Bild", wie es dem Westen vermittelt wird, die„peinliche Tatsache", daß es immer noch Subventionen fürHaushalte und Industrie gibt. „Ohne solche Unterstützungen wäredas menschliche Elend noch größer als es ohnehin schon ist",und die „nationale Not" ist noch um vieles schlimmer, als es ein

22 Jean-Yves Potel, „La Hongrie n'est plus une 'ile heureuse'", Le Monde diplomatique,Mai 1993. Financial Times, 17. Juni, 16. September 1993.

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nur auf die Hauptstädte Osteuropas beschränkter Blick vermutenläßt.23

Die Verblüffung über die Reaktionen des polnischen Volkesauf sein „Wirtschaftswunder" wuchs in den Vereinigten Staatennoch weiter, als die Wahlen vom September 1993 näher rückten.Polen „ist weithin als ein Modell für die osteuropäischen Wirt-schaften gelobt worden, die mit ihrer kommunistischen Vergan-genheit gebrochen haben", berichtete die Los Angeles Times amWahltag, als Meinungsumfragen „einen gewaltigen Sieg" für die„neuverpackten ehemaligen Kommunisten" voraussagten. DieQuelle des „weitverbreiteten Lobs" wird nicht genannt, obwohl derSatz, der dann folgt, eine dunkle Andeutung gibt: „Aber in Polenselbst ist das Wirtschaftswunder weitaus schwerer zu verkaufengewesen", wo die Menschen es merkwürdigerweise kaum zuschätzen wissen, obwohl „die Fortschritte des Kapitalismus imÜberfluß vorhanden sind: extravagante Importwagen rasen durchWarschaus zunehmend aufgeputzte Straßen, und neue Flitterlädenbieten die feinsten Waren aus dem Ausland feil." Die ge-wöhnlichen Leute nehmen das „Wunder" wohl zur Kenntnis, aberihr Kommentar dazu ist: „Wir sind verzweifelt." Das Wall StreetJournal sorgt sich, das „Aufblühen des Kapitalismus" habe„Ungleichheiten" mit sich gebracht, die auch „wahrgenommen"würden. Diese „Wahrnehmung" berge eine Gefahr für die Demo-kratie, vielleicht sogar eine „schwere Gefahr", da „Polen geradedenselben Meinungsumschwung durchmacht, der die Linke let-zesJahr in Litauen wieder nach oben gespült hat" und „nächstes Jahrin Ungarn, und in Rußland sogar noch vorher dasselbe tun könnte".Das Konzept „Demokratie" wird als gleichbedeutend mit derHinnahme der von westlichen Investoren favorisierten Variante derMarktdisziplin verstanden; dementsprechend ist die „Demokratie"in Gefahr, wenn die Menschen sich um „grandlegendemenschliche Bedürfnisse" wie Erziehung, Ausbildung, Gesundheit,Arbeitsplätze und Essen für ihre Kinder sorgen und nicht nur um„wirtschaftliche Rationalität", die die Schaufenster mitKonsumgütern füllt, die sie nicht kaufen können, Profite anwestliche Investoren fließen läßt und zur Etablierung einer neuenkapitalistischen Nomenklatura führt. In einem Kommentar zuden „supereleganten neuen Läden", die der früheren Industrie-

23 Konstanty Gebert, Kolumnist der größten Tageszeitung Polens, der in den achtzigerJahren als „Journalist im Untergrund" tätig war, WP Weekly, 10. Mai 1993. Amsden,„After the Fall",American Prospect, Frühling 1993.

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stadt Lodz „eine Patina von Prosperität verleihen", bebt eine ge-bildete junge Frau, die „theoretisch ... eine der Gewinnerinnen derpolnischen Wirtschaftsrezession sein sollte, ... vor Zorn", berichtetJane Perlez. „Gewiß gibt es ein paar Sachen in den Läden, aber wirkönnen sie uns nicht leisten", kommentiert die Frau. „Sehen Siesich die Leute an, sie sind seelisch so niedergeschmettert, daß manes ihnen am Gesicht ansehen kann." Solange dies so bleibt, ist die„Demokratie" in Sicherheit, aber es besteht immer die Gefahr, daßdie Menschen aus ihrer Apathie erwachen.24

Ganz wie prophezeit zeigte sich, daß das „Wirtschaftswunder"„in Polen selbst schwer zu verkaufen" war. „Die auf Reformeneingestimmte Partei des freien Marktes, die Polen durch dessenjüngste wirtschaftliche 'Schocktherapie' geführt und sich dafür guteNoten im Westen verdient hat", landete bei den Wahlen mit etwaeinem Zehntel der Stimmen auf dem dritten Platz. Obwohl dieParteien mit einer sozialdemokratischen Aura sowie die linkeBauernpartei die Wahlen gewannen, war die Beteiligung geringund lag unter 50 Prozent. Das sei „ein weiterer Hinweis auf dasDesinteresse" an dem, was die Menschen als ein gescheitertespolitisches System ansehen, kommentierte das Wall Street Journal- das seinen Lesern nichtsdestoweniger versicherte, daß dieReformen weitergehen werden, ganz gleich, was die Bevölkerungwill. Was sie will, zeigten Umfragen, aus denen hervorging, daß 57Prozent die Marktreformen ablehnen, was an ihrer Durchführungjedoch nichts ändern wird. „Die westlichen Investoren und dieinternationalen Banker versuchten", dem Wahlausgang „diebestmögliche Interpretation zu geben", „indem sie argumentierten,eine Rückkehr zur Kommandowirtschaft sei nicht möglich",berichtete die New York Times, nachdem die Wahlresultatebekanntgegeben wurden; angesichts der Kontrolle durch denWesten sind vernünftigere Alternativen als die doppelte Absurditätder Wahl zwischen Kommandowirtschaft oder dem Flirt mitneoliberalen Dogmen auch kaum realistisch.25

„Der Widerstand der Bevölkerung, besonders unter den Ar-beitern, hat sich in der postkommunistischen Periode schonfrüh gezeigt", schreibt der Leiter für russische und osteuropäische

24 Dean Murphy, Los Angeles Times, 19. September 1993; Barry Newman, WallStreet Journal, 16. September 1993; Jane Perlez, New York Times, IS. September1993.25 Jonathan Kaufman, Boston Globe; Barry Newman, Wall Street Journal; JanePerlez, New York Times; alle 20. September 1993.

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Studien an der George Washington University. „So fand einÜberblick im Jahr 1990, daß nur 13 Prozent der Arbeiter, dafüraber 37 Prozent der Direktoren für die Privatisierung ihrer Un-ternehmen waren", während über ein Drittel sowohl der Arbeiterals auch der Direktoren staatliches Eigentum oder Kollektivei-gentum der Arbeiter befürwortete. Aber die Einstellungen derBevölkerung sind in den „neuen Demokratien" ohne Bedeutung -was vielleicht einer der Gründe dafür ist, weshalb „die kommuni-stische Ära" für die Polen „besser und besser" aussieht, wie einanderer wissenschaftlicher Experte hinzufügt.26

In Rußland zeigt die Bevölkerung ebenfalls wenig Enthusi-asmus für die raschen kapitalistischen Reformen, die von demautokratischen früheren kommunistischen Parteichef Boris Jelzinverfochten werden, der in den Augen des Westens ein führenderDemokrat ist, weil er eine Politik durchsetzt, die den westlichenInvestoren nützt. Innerhalb Rußlands sank die Unterstützung fürihn ungeachtet der rasch wachsenden Popularität des Konzeptseines „starken Führers" von 1991 bis Anfang 1993 von 60 Prozentauf 36 Prozent. Eine Umfrage der EG vom Februar 1993 ergab,daß die Mehrheit der Russen, Belorussen und Ukrainern gegen denWechsel zu einem freien Markt ist und die Ansicht vertritt, daß„das Leben unter dem alten kommunistischen System besser war";„die Russen sehnen sich auch nach dem alten politischen Systemzurück" (Financial Times). Eine Gallup-Umfrage in zehn Länderndes Ostblocks zur selben Zeit fand, daß 63 Prozent der Befragtengegen die „Demokratie" waren, 10 Prozent mehr als 1991. „Imallgemeinen war der Enthusiasmus für den Wandel um so größer,je weniger Zeit im betreffenden Land seit dem Sturz desKommunismus verstrichen war" - die Begeisterung verflog also,sobald die Auswirkungen des „Wandels" einsetzten (AP). Eineweitere US-Umfrage im Jahr 1993 (Times Mirror Center) ergab,daß die Russen mit 51 Prozent zu 31 Prozent, „beinahe umgekehrt"wie im Mai 1991, einen „starken Führer" gegenüber einer„demokratischen Regierungsform" vorziehen; die lauwarmeUnterstützung für Boris Jelzin bei dem Referendum, das er imApril 1993 abhielt, spiegelt sehr wahrscheinlich diese Stimmun-gen wider. „Weniger als ein Drittel der Befragten sprach sichfür den Kapitalismus als zukünftiges Modell für dierussische Gesellschaft aus, während es 17 Monate zuvor noch40 Prozent waren", hieß es in derselben Umfrage. Im Au-

26 Sharon Wolchik, Jane Leftwich Curry, Current History, November 1992.

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gust 1993, so berichtete die New York Times, „zeigten relativverläßliche Umfragen, daß die Zahl der Russen, die glauben, ihrLeben werde unter dem Kapitalismus besser sein, von 24 % auf18 % gefallen ist". „Die Umfragen zeigen in fast allen Länderneine Rückkehr zu sozialistischen Werten, wobei 70 % der Bevöl-kerung der Meinung waren, der Staat solle für Arbeitsplätze füralle, für einen nationalen Gesundheitsdienst, Wohnungen, Erzie-hung und Ausbildung sowie andere Dienstleistungen sorgen"(Economist).27

Zu denen, deren Meinung in die „rosigen" Berichte, die denEliten des Westens so gut gefallen, nicht aufgenommen wird, ge-hören auch die Frauen, die in den Rotlichtbezirken westlicherStädte „in Schaufenstern ausgestellt" werden, nachdem sie vonVerbrecherorganisationen aus dem ehemaligen Sowjetblock „in diegefräßige Sexindustrie Westeuropas" eingeschleust wurden, wo siewenigstens überleben können. Oder viele Westeuropäer, darunteretwa die, die möglicherweise nicht so entzückt sind über die durchden Transfer von Arbeitsplätzen in die neue Dritte Welt im Ostengeschaffenen Profitmöglichkeiten, oder über den verstärktenDrogenfluß in den Westen, während die „Schocktherapie" ihrenüblichen Verlauf nimmt. Der Wirtschaftswissenschaftler derHarvard University Jeffrey Sachs, der das polnische Experimentleitete, bevor er weiterwanderte, um in Rußland sein Handwerk zubetreiben, verdiente sich seine Sporen in Bolivien, wo er ein vielbestauntes „Wirtschaftswunder" zustandebrachte, das einmakroökonomischer Erfolg und ein menschliches Desaster war.Der Westen applaudiert den Statistiken, und die Bolivianerdurchleiden die soziale Realität, während besorgte Stimmen wiezum Beispiel die der bolivianischen Bischöfe nicht bis in dieGemächer der Privilegierten vordringen. Die statistischen Erfolgebasieren zum großen Teil auf dem starken Anstieg der Herstellungillegaler Drogen, die inzwischen nach Einschätzung mehrererSpezialisten möglicherweise der wichtigste Exportartikel sind. Esist verständlich, daß Bauern, die durch die Regierungspolitik zumAgroexport getrieben werden, nach dem maximalen Gewinnstreben und ebenso wie viele internationale Banken undChemiekonzerne Teil des Kokainrackets werden. Die-selben Prozesse operieren im früheren Sowjetblock, der sich all-

27 Abraham Brumberg, Gastkommentar, New York Times, 22. März; Andrew Hill,Financial Times, 25. Februar; AP, Boston Globe, 25. Februar; Times-Mirror, NewYork Times Nachrichtendienst, 26. Januar; Steven Erlanger, New York Times, 20.August; Economist, 13. März 1993.

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mählich zu einem Hauptlieferanten des Westens entwickelt, be-sonders Polen, das gegenwärtig die besten illegalen Drogen inEuropa herstellt. 20 Prozent der 1991 beschlagnahmten Amphe-tamine kommen von dort, während es Ende der achtziger Jahrenoch 6 Prozent waren. Der Drogenkonsum in der Region steigtebenfalls rapide an, und die kolumbianischen Kartelle heuern in-zwischen polnische Kuriere zum Schmuggel von Kokain in denWesten an. Es wird erwartet, daß auch die früheren sowjetischenRegionen Zentralasiens im Lauf der nächsten Jahre zu wichtigenDrogenproduzenten werden.28

Insoweit gibt es bis jetzt nur wenig Überraschungen.Besonders die in der gesamten Region in Umfragen zum

Ausdruck gebrachten Haltungen sollten kaum überraschend sein.„Die IWF-Jelzin-Reformen bilden ein Instrument der 'Drittwelti-sierung'", schreibt der kanadische Ökonom Michael Chossu-dovsky ganz zutreffend. Als „exakte Kopie der Strukturanpas-sungsprogramme, die den Schuldnerländern [in der Dritten Welt]aufgezwungen werden", verfolgen sie das Ziel einer „Stabilisie-rung" der Wirtschaft, aber in Rußland resultierten sie in Preis-steigerungen für Konsumgüter um das Hundertfache innerhalbeines Jahres, der Verringerung der Realeinkommen um 80 Prozentund der Auslöschung von lebenslänglichen Ersparnissen vonvielen Milliarden Rubeln. Genau wie anderswo bildet das „imNamen der Demokratie beschlossene" Vorgehen „ein kohärentesProgramm zur Verarmung großer Sektoren der Bevölkerung".„Während sie ausschließlich die Interessen von RußlandsKaufleuten und Wirtschaftskapitänen fördert, tötet die 'wirt-schaftliche Medizin' den Patienten, zerstört die nationale Wirt-schaft und treibt das System der staatlichen Unternehmen in denBankrott"; insbesondere blockiert sie einen Übergang zu einem„nationalen Kapitalismus", der für die ausländischen Herrenebenso inakzeptabel ist wie er es im Fall des „Kolosses im Süden"- Brasiliens - fünfzig Jahre zuvor gewesen war. Die offiziellenZahlen berichten über einen Rückgang von 27 Prozent in derIndustrieproduktion, aber der tatsächliche Rückgang wird inunterschiedlichen Analysen auf bis zu 50 Prozent geschätzt. DieProduktion von Konsumgütern ist laut offiziellen Zahlen zumeistum 20 bis 40 Prozent zurückgegangen. Die gegenwärtigen Pläne

28 Marlise Simons, „In Europe's Brothels, Women from the East", New York Times, 9.Juni 1993. Über Bolivien und weitere „Erfolge des freien Marktes", siehe The Year501, Kapitel 3 und 7. Rensselaer Lee und Scott MacDonald, „Drugs in the East",Foreign Policy, Frühling 1993.

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zur „Privatisierung" werden wohl bis zur Hälfte der Fabriken inden Bankrott treiben und dabei den Rest weitgehend ausländischenEigentümern überantworten. Gesundheitsfürsorge, staatlichesSozialsystem und Erziehungswesen stehen vor dem Zu-sammenbruch. Auf der anderen Seite finden wir ein raschesWachstum von Kapitalflucht, Geldwäsche und des Marktes fürLuxusimporte, „die durch die Plünderung von Rußlands Primär-ressourcen finanziert werden". Dem Modell der Dritten Welt ent-sprechend wird ein kleiner Sektor immer reicher, und zwar zumgrößten Teil die mit dem ausländischen Kapital verbundenen„Kompradoreneliten", unter denen wir viele der alten Namen undGesichter an der Spitze wiederfinden. Das System behält vieleseiner früheren totalitären Züge bei, indem „Stalinismus und 'freierMarkt' sorgfältig miteinander verschmolzen werden''. „DerZusammenbrach des Lebensstandards und die Zerstörung derZivilgesellschaft, die durch eine Reihe makroökonomischerMaßnahmen hervorgerufen wurden, ist in der russischen Ge-schichte ohne Beispiel", schließt Chossudovsky, der den skiz-zierten Vorgang mit zahlreichen Beispielen belegt.29

Der herausragende israelische Journalist Amnon Kapelioukbeschreibt in seinen Berichten aus Rußland verzweifeltes Elendund Verarmung, durch die sich nunmehr 87 Prozent der Bevöl-kerung unter der Armutsgrenze befinden, einen scharfen Rückgangim Nahrungskonsum seit 1989 (mit Ausnahme von Brot undKartoffeln, der Nahrang der extrem Armen), wobei Ausgaben fürNahrang mehr als 80 Prozent der Familieneinkommen aufzehren,den Zusammenbrach der sowjetischen Wissenschaft, desAusbildungs- und Erziehungswesens, des Krankenhausbetriebsund des sozialen Netzes, während Tuberkulose, Diphtherie undandere längst vergessen geglaubte Krankheiten sich erneutausbreiten, Massengräber, weil die Menschen die Beerdigungennicht mehr zahlen können, hohe Inflationsraten und die Zerstörungder sozialen Werte, da in einer Gesellschaft, in der „jeder nur aufsich gestellt ist", das Konzept der „'Solidarität' aus dem Vokabularverschwunden ist".30

In Osteuropa ebenso wie in der ganzen Dritten Welt befür-worten die Eliten die „Reformen", von denen sie schließlich pro-fitieren, während der wirkliche Machthaber, nämlich der Westen,

29 „The 'Thirdworldisation' of Russia under IMF rule", Third World Quarterly, 16.-30. Juni 1993.30 „La grande détresse de la société russe", Le Monde diplomatique, September1993.

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ohnehin auf ihnen besteht. Dementsprechend werden sie im Na-men der korrekt verstandenen „Demokratie" durchgepeitschtwerden.

Die Hauptautznießer sind natürlich bestimmte Machtsektorenim Westen. Die materiellen und menschlichen Ressourcen bietenwunderbare Profitmöglichkeiten. Die Investoren bereichern sich,während die Nomenklaturakapitalisten der neuen Dritten Welt dieRessourcen ihrer Länder zu Dumpingpreisen verschleudern. Dasneue Reservoir an Arbeitskräften bietet den westlichen Investoreneinen doppelten Vorteil: profitable Direktinvestitionen, mittelsderer sie gut ausgebildete und fähige Arbeiter zu sehr niedrigenLöhnen und Sozialleistungen ausbeuten können, und ein Mittel, dieArbeitskosten bei sich zu Hause zu reduzieren, indem sie mit derVerlagerung der Produktion um ein paar Kilometer nach Ostendrohen. Kurz, die üblichen Annehmlichkeiten der Dritten Welt.

Weitere Nutznießer sind die westlichen „Experten" und Be-rater, die hier um Subventionen der westlichen Steuerzahler kon-kurrieren, die rein theoretisch gesehen für den Osten gedacht sind.„Als der Westen nach dem Kalten Krieg eine Armee rekrutierte,um aufzuräumen", heißt es im Wall Street Journal, „waren keineHilfsorganisationen gefragt. Der Westen wollte einen ausunternehmerischen Rollenmodellen - Beratern, Bankiers, Unter-nehmern - zusammengesetzten Kampftrapp, um eine freundlicheÜbernahme zustande zu bringen." Die ausländische „Hilfe" warauf diesen Zweck zugeschnitten, wobei das wichtigste Empfän-gerland Polen war, das als am leichtesten zu bewältigende Ziel-scheibe und als am ehesten zur Befolgung der neoliberalen Regelngewillt galt. Von den 25 Milliarden Dollar, die der Westen fürPolen lockermachte, erreichten weniger als 10 Prozent, was etwader Hälfte der Kosten für eine einzige Autobahn entspricht, Polenals „reine Geschenke". Ein großes Kuchenstück der Hilfe wurde„auf westliche Berater aufgeteilt", die Polen überfluteten, um sichihren Anteil an dem zur Durchführung der „freundlichenÜbernahme" ins Land geschickten Kapital zu sichern. „Die fürBeratung aus dem Westen ausgegebene Hilfe nützte am meistenden westlichen Beratern selbst", bemerkt das Wall Street Journal,und „von den westlichen Privatkrediten hat die westlicheWirtschaft am meisten profitiert". Westliche Berater können bis zu1200 Dollar am Tag verdienen, zweihundertmal soviel wie nichtweniger kompetente polnische Berater. Auf diese Weisemachen westliche Beraterfirmen fabelhafte Geschäfte, wobei die

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Einnahmen großenteils (zu 80 Prozent, wie einer ihrer Reprä-sentanten in London schätzt) aus den Mitteln von Institutionenstammen, die eigentlich Polen helfen sollen. Hier haben wir alsoeine weitere Form des „Anspruchs" der Reichen auf staatlicheWohlfahrt. Der Polnisch-Amerikanische Unternehmensfond derBush-Administration, „der eingerichtet wurde, um Kleinunter-nehmen zu finanzieren und dabei gleichzeitig seine eigenen Ge-winne sowie die seiner Manager zu maximieren", war in der Er-füllung letzterer Aufgabe weitgehend erfolgreich und behieltdennoch seinen Ruf als „größter Erfolg der Bemühungen in Polen"- vielleicht nicht einmal zu unrecht. Die Manager des Fonds habenzahlreiche und phantasievolle Formen ersonnen, sich zubereichern, indem sie den Strom von Hilfe und Investitionen an-zapfen. Was Kredite angeht, so verlangen die Geber, daß mehr alsdie Hälfte „für westliche Exporte ausgegeben werden muß -vonGetreide bis hin zum Salär von Wirtschaftswissenschaftlern". DieWirtschaft und die Experten des Westens machen gute Geschäfte,während viele Polen dem Treiben mit wachsendem Ärger zusehen.

In Rußland verlief das Ganze sehr ähnlich. Die US-Hilfe warein „Glücksfall", schlußfolgert das Wall Street Journal, allerdings„für US-Berater". Sie hat regelrechte „Freudentänze ausgelöst -wenn auch nicht gerade in Rußland". „Am meisten feiern" die„Horden von US-Beratern, die einen Großteil des Kuchens der US-Hilfe verschlingen", „bei den Hilfsverträgen zwischen 50 % und90 % des Gelds einstecken" und ferner alles tun, um dafür zusorgen, daß das wenige, was ab und zu für die eigentlichenProjekte übrigbleibt, für Ausrüstungen aus den USA ausgegebenwird. Die neu gebildeten Handelsgrappen wie zum Beispiel dieGreen-Giant-Abteilung von Pillsbury, die eine Schenkung derAgency for International Development (AID) über 3 MillionenDollar zur Erweiterung ihrer Präsenz auf dem „potentiell riesigenrussischen Markt an Dosengütern" benutzt, „verwenden [US-]Steuergelder, um der amerikanischen Wirtschaft dabei zu helfen,in Rußland zu expandieren". Die größte dieser Handelsgruppen,KPMG Peat Markwick, hat einen „Pool aller Großen"zusammengebracht, zu dem J.P. Morgan, Bechtel, Land O'Lakes,Young and Rubicam und andere gehören, die darauf aus sind,Geschenke der US-Steuerzahler als Basis für neue Profite zuverwenden. Aber wie die Manager der Gruppe erklären,werden „die Russen von dem AID-Geld, das durch diese Firma

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fließt, nicht viel sehen". „Das AID-Geld ist fast ausschließlich fürein- und wieder ausreisende Berater bestimmt."

„Nirgends ist die Enttäuschung [in Rußland] größer als auf demGebiet der Hilfe, die für die nukleare Abrüstung bestimmt ist -einem Bereich, in dem die Russen über beträchtliche brachliegendeExpertise verfügen", berichtet das Wall Street Journal. Von den1,2 Milliarden Dollar des US-Programms zur Realisierung diesesProjekts sind bis jetzt 754 Millionen Dollar an das Pentagongegangen, das sie aber für Güter und Experten aus den USAausgibt. Ein Hauptziel des Programms, so erklärte ein US-Unterstaatssekretär für Atomenergie „einer Gruppe jubelnderPentagon-Vertragspartner", bestehe darin, den Russen „den Geistdes freien Unternehmertums" zu zeigen. Falls sie gute Schülersind, wird ihnen bald klar werden, daß „freies Unternehmertum" inIdealfall ein System ist, in dem öffentliche Gelder auf dem Wegüber die Staatsmaschinerie in Profite verwandelt werden und derSteuerzahler US-Investoren und hochbezahlte Expertensubventioniert. Wer sich mit der Geschichte der Hilfsprogrammefür die Dritte Welt ein wenig auskennt, wir hier kaumÜberraschendes finden.

Darüber hinaus verlangen die westlichen Investoren, daß derSteuerzahler die Entwicklung der Infrastruktur finanziert, um dieProfitmöglichkeiten zu verbessern. Der schlimme Zustand derInfrastruktur „hat die westlichen Unternehmen hier behindert undes ihnen erschwert, Verteilernetze für ihre Produkte zu orga-nisieren", erklärt die New York Times. Daher haben die westlichenBanken sich darauf geeinigt, 40 Prozent der Schulden abzu-schreiben, die Polen nach dem Zusammenbrach seiner Wirtschaft1989 angehäuft hat. Dieses Angebot an Polen „wird wahrschein-lich dessen wirtschaftliche Aussichten verbessern", erklärt die NewYork Times - das heißt, die wirtschaftlichen Aussichten westlicherInvestoren und Banken, die von der „freundlichen Übernahme"profitieren werden. Wie die New York Times richtig beobachtet,war die Situation ganz ähnlich wie in Lateinamerika. Auch dortwar eine Reduzierung der Schulden „an Schritte zu Öffnung derMärkte gekoppelt" und „half, das Wachstum zu fördern undausländische Investitionen anzuziehen", wobei das Wachstumwiederum von der Art war, die den Reichen des In-und Auslandsnützt, während die Bevölkerung, wenn sie Glück hat, wenigstennicht noch tiefer nach unten gedrückt wird.31

31 Barry Newman, „Disappearing Act: West Pledged Billions of Aid to Poland -WhereDid It All Go?", Wall Street Journal, 23. Februar; John Fialka, „Helping Ourselves: USAid to Russia Is Qirite a Windfall! - For US Consultants", Wall Street Journal, 24.Februar; Jane Perlez, 12. März 1994. Über das allgemeine Phänomen von

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In seiner Abschiedsadresse als Vorsitzender der Gruppe 77 (dieüber hundert der weniger entwickelten Länder repräsentiert),sprach der kolumbianische Vertreter Luis Fernando Jaramillo sichscharf gegen die Praktiken des Westens aus, wobei er besondershervorhob, daß es den Ländern des Südens „unverständlich ist,weshalb die internationale Gemeinschaft weder angemesseneMaßnahmen ergreift noch die notwendigen Mittel zu Verfügungstellt, um den afrikanischen Ländern aus der akuten Krise her-auszuhelfen, der sie gegenüberstehen", einer Krise, für die derWesten „zum großen Teil verantwortlich" sei und die in Afrika, wo„das menschliche Leiden Dimensionen angenommen hat, die inanderen Teilen der Welt unbekannt sind", „besorgniserregende"und „alarmierende" Ausmaße erreicht habe. Auch hier ist dieAntwort nicht schwer zu finden. Die Schuldenentlastung für Polennützt den Churchillschen reichen Männern des Westens; eineSchuldenentlastung für Afrika tut dies nicht. Dieselben Prinzipiengelten für die Entwicklungshilfe. Die für solche Zwecke be-stimmten Steuergelder werden in erster Linie für die Bedürfnissereicher Unternehmer und Investoren sowie für Fachleute aus denwestlichen Geberländern verwendet; die Bedürfnisse hungernderKinder sind definitiv zweitrangig. Das ist der „Geist des freienUnternehmertums", den US-Regierungsbeamte vor „jubelndenVertragspartnern" erläutern, die indes kaum einer Belehrung ausdieser Quelle bedürfen.32

Die Ökonomen J. A. Kregel (Italien) und Egon Matzner (Öster-reich) beschreiben die Resultate „gut zweier Jahre des Experi-mentierens" mit „dem Marktschock" in Osteuropa als „äußerst ent-täuschend". Diese Herangehensweise, schreiben sie, „ignoriertnicht nur die Lehren der Geschichte", sondern „bringt auch nichtdie sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen hervor, die not-wendig sind, um eine Marktwirtschaft zu schaffen". Ihre eigenenLänder, Italien und Österreich, sind tatsächlich gute Beispiele für

Hilfsprogrammen „als Geldesel für privilegierte Dienstleistungsindustrien" in denVereinigten Staaten unter spezifischer Bezugnahme auf Ägypten, siehe Robert Vitalis,„The Democratization Industry and the Limits of the New Interventionism", Middle EastReport, März-Juni 1994. Der grundlegende Inhalt der „Demokratisierung", so bemerktVitalis, wird in der Zusammenfassung eines Berichts des Nahostbüros des DemocraticInstitutions Support Projects von USAID erläutert: das Demokratieprojekt zielt auf diepraktische Realisierung einer Strategie zur „Unterstützung von Prozessendemokratischer institutioneller Reform, die das Ziel einer wirtschaftlichenLiberalisierung fördern".32 Jaramillo, Third World Resurgence, Nr. 42/43, 1994.

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die Lektionen einer staatlich gelenkten Entwicklung, die jetztignoriert werden. Neben den Ökonomien Europas nach dem Kriegzitieren sie als Fälle aus jüngerer Zeit Japan und die „kleinenTiger" Südostasiens. Ferner erläutern sie, daß auch der Mar-shallplan „auf der Ausarbeitung einer nationalen Rechnungsfüh-rung und Wirtschaftsplanung basierte", genau wie ja auch „in jederkapitalistischen Firma der Erfolg auf strategischer Planunginnerhalb des Marktsystems beruht".33

Eine vollständigere Diskussion müßte noch die Tatsache miteinbeziehen, daß staatliche Initiativen und Protektion nicht nur dievon Kregel und Matzner besprochenen „Nachzügler"-Ökonomienin „der Geschichte kapitalistischer Entwicklung" kennzeichnen,sondern auch die Frühstarter, darunter sämtliche heutigenIndustriegesellschaften; daß das „Marktsystem" weitgehend einMythos ist; und daß es sich bei den strategische Planung be-treibenden „kapitalistischen Firmen" häufig um transnationaleKonzerne handelt, neben denen sich das Wirtschaftsleben vielerLänder kümmerlich ausnimmt. Darüber hinaus sind „Experimente"wie die heute in Osteuropa angestellten über hunderte von Jahrenhinweg wieder und wieder fehlgeschlagen - mit einementscheidenden Vorbehalt, der für das Bengalen des achtzehntenJahrhunderts ebenso gilt wie für das Brasilien und das Rußland vonheute, nämlich Adam Smiths Beobachtung, daß die„Hauptarchitekten" der Politik aus diesen Maßnahmen in allerRegel tatsächlich große Vorteile ziehen.

Die Auswirkungen der Reformen wurden in einer UNICEF-Studie analysiert, die diese Politik als „unvermeidlich, wün-schenswert und unentbehrlich" betrachtet, obwohl sie „weitaushöhere wirtschaftliche, soziale und politische Kosten mit sichbrachte als vorhergesehen". Die von ebenso arroganten wie igno-ranten Experten siegesgewiß ausgearbeitete „Schock-Therapie"„hat offenkundig in der Praxis nicht funktioniert" und ist nachAnsicht der Analytiker der UNICEF die Ursache für die „stärkstenJahreswachstumsraten der Armut" und weitere verderbliche sozialeKonsequenzen. Die sozialen Folgen waren in der Tat au-ßergewöhnlich. „So ist Schätzungen zufolge die jährliche Zahlvon Sterbefällen in Rußland zwischen 1989 und 1993 um eine

33 Kregel und Matzner, Challenge, September-Oktober 1992. Zu Italien, siehe Ger-schenkron, Economic Backwardness in Hixtorical Perspective (Harvard. 1962); zuÖsterreich, siehe Lars Mjeset, The Irish Economy in a Comparative InstitutionalPerspective (National Economic an Social Council, Government Publications, Dublin,Dezember 1992).

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halbe Million gestiegen, eine Zahl, die auf mehr als krasse Weisedemonstriert, wie tief die gegenwärtige Krise ist". Gleichzeitigkönnte sie als grimmige Fußnote zu dem ungefähr zur selben Zeitgeäußerten Urteil des früheren hochrangigen WeltbankökonomenHerman Daly gelesen werden, daß „die Präferenz unserer Disziplinfür logisch elegante Resultate über eine Politik, die in den Faktenverankert ist, derart fanatische Ausmaße erreicht hat, daß wirWirtschaftswissenschaftler mittlerweile für die Erde und ihreBewohner eine Gefahr darstellen", auch wenn er dabei anderemenschliche Kosten im Auge hatte. Von 1989 bis 1993 „stieg dieZahl der Sterbefälle in Rumänien um 17 Prozent, in Bulgarien um12 Prozent, in Albanien und der Ukraine um einen ähnlichen Satzund in Rußland um 32 Prozent". Bis 1992 war die Le-benserwartung für Männer in Rußland um zwei Jahre gesunken;die Anzahl der Selbstmorde in Polen war um ein Drittel, in Ru-mänien um ein Viertel gestiegen. In den ersten sechs Monaten desJahres 1993 stieg die Zahl der Selbstmorde in Rußland um einDrittel. Auch Polen „erlebte einen beträchtlichen Anstieg derArmut, der Sterbefälle und einen Absturz weiterer demographi-scher und sozialstaatlicher Indikatoren", von der weiter anwach-senden Arbeitslosigkeit ganz zu schweigen. Nur die tschechischeRepublik, die traditionell Teil des Westens war, „kehrt mögli-cherweise allmählich zu normalen Bedingungen zurück".

Vor den „Wirtschaftsreformen'' hatte Osteuropa funktionie-rende, wenn auch stagnierende Ökonomien, und es herrschte „einewesentlich geringere wirtschaftliche Ungleichheit und relativeArmut als in der Mehrheit der entwickelten Länder und der Ländermit mittleren Einkommen, ... selbst wenn man die Privilegien derNomenklatura in die Rechnung mit einbezieht". Von letzterergehört ein Großteil jetzt zu den „Nomenklaturakapitalisten", diesich im üblichen Stil der Kollaborateure mit den Reichen undPrivilegierten des Westens in der Dritten Welt eines fabelhaftenReichtums erfreuen. Ferner gab es damals ein breites Spektrumstaatlicher Vorsorge und sozialer Dienstleistungen. All das istzusammengebrochen, und so ist der Anteil der Armen „in der ge-samten Region massiv gestiegen". In Polen hat er sich allein von1989 bis 1990 verdoppelt, und in den anderen Ländern sieht esähnlich aus. In der Tschechischen Republik, der es immerhin nochbesser geht, stieg der Prozentsatz der in Armut lebendenBevölkerung von 5,7 Prozent 1989 auf 18,2 1992; in Polen von20,5 auf 42,5 Prozent (bei leicht voneinander abweichendenKriterien). „Besonders drastisch war das Sinken der realen Net-

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tohaushaltseinkommen „in Bulgarien, Polen, Rumänien, Rußlandund der Ukraine (1993)"; das Durchschnittseinkommen lag etwa30-40 Prozent niedriger als vor der Reform, während die Un-gleichheit dramatisch gewachsen ist, Der Nahrungskonsum hat„bedeutend abgenommen", dazu kam ein Rückgang der Tages-fürsorge für Kinder und der Vorschulplätze, womit die „bemer-kenswerten in der Vergangenheit erreichten Resultate" in Mittel-und Osteuropa mit ihren wissenschaftlich etablierten „kognitiven,entwicklungspsychologischen und psychosozialen Vorteilen"zunichte gemacht wurden. Die Verbrechenszahlen sind „enorm"gestiegen und wuchsen in Ungarn von 1989 bis 1992 auf dasDoppelte; dabei ist ein besonders hohes Wachstum beim Anteil derjugendlichen Gesetzesbrecher zu verzeichnen.

Weitere Forscher kommen zu ähnlichen Schlußfolgerungen undsehen „eine 'psychosoziale Krise'" voraus, „in der die starkwachsende Unsicherheit und Besorgnis über Kriminalität, Not undsoziale Erschütterungen eine große Rolle spielen" (Judith Shapiro,eine britische Wissenschaftlerin, die mit dem russischenFinanzministerium zusammenarbeitet).34

Bis jetzt sind die Reaktionen der westlichen Wirtschaft auf dieEntwicklungen in Osteuropa gemischt. Die Profite sind hinter denErwartungen zurückgeblieben. „Tatsache ist, daß die Reformen [inOsteuropa] eine Pleite sind", berichtet das führende, monatlicherscheinende US-Geschäftsmagazin Forbes und zitiert einen„vernichtenden Bericht" der Europäischen Kommission, der,,'Schocktherapeuten' wie Harvards Jeffrey Sachs" als die„Schurken im Stück" bezeichnet, die auf mechanische Weise ab-strakte, empirisch nicht belegte Wirtschaftsprinzipien anwenden,ohne sich um die sozialen Realitäten zu kümmern. Dem Berichtzufolge bedeutet das „Qual", nicht „Leben" für die Ökonomien desOstens, die „rigide, starr und bürokratisch" bleiben - und daher fürAuslandsinvestoren nicht profitabel genug sind.35

34 UNICEF, Public Policy and Social Conditions: Central and Rastern Europe inTransition, Florenz (Italien), November 1993. Francis Williams, Financial Times, 27.Januar 1994. Shapiro und andere Forscher, John Lloyd, Financial Times, 14. Februar1994. Daly, „The Perils of Free Trade", Scientific American, November 1993. Die NewYork Times berichtete einige Wochen nach der ausländischen Presse über diewachsende Zahl der Sterbefälle in Rußland und diskutierte eine Reihe möglicherGründe, wobei allerdings einer dieser Gründe merkwürdigerweise nicht vorkam,nämlich die wirtschaftlichen „Reformen", für die diese Zeitung so engagiert eingetretenist; Michael Specter, New York Times, 6. März 1994.35 Steve Hanke und Sir Alan Walters, „The high cost of Jeffrey Sachs", Forbes, 21. Juni1993.

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Die reichen Männer der reichen Nationen erwarten sich bessereGewinne aus dem „menschlichen Elend".

Das Europäische Institut für Regionale und Lokale Entwick-lung erstellte später noch einen weiteren Bericht für die Europäi-sche Gemeinschaft, der zu dem Schluß kam, die Mehrheit derBevölkerung der vier behandelten Länder Osteuropas habe „Angstum ihre Zukunft". Aus dem Bericht ging hervor, daß 40 Prozentder Ungarn die gegenwärtige Regierung „schlechter" oder „vielschlechter" finden als die vorige. Der Leiter des Instituts „sagte,die Reaktion der Menschen auf die 'Schocktherapie' sei vermutlichfür Experten wie Sachs eine Überraschung", berichtete LinnetMyers in der Chicago Tribüne. Andere finden sie nur natürlich,wie etwa der Nobelpreisträger für Wirtschaft Jan Tinbergen, derein schrittweises, sozialdemokratisches Herangehen an die Reformbefürwortet. Der holländische Ökonom Jan Berkouwer, einMitforscher Tinbergens, sagt, Sachs liege vollkommen daneben,wenn er glaube, es gebe „keine Armen" in Polen und es gehe jetzt„dort jedem besser". „Über 90 Prozent haben ein geringeresEinkommen und einige Prozent ein höheres - manchmal ein vielhöheres. Einen kapitalistisch orientierten Mann wie Sachskümmert das nicht. Ich bin da allerdings anderer Ansicht." Auchdie Studie des Instituts kam zu dem Ergebnis, daß die Menschenüber die wachsende Kluft zwischen arm und reich beunruhigt sind.

In einem Telefoninterview zu all dem befragt, sagte Sachs: „Ichweiß wirklich nicht, was die Polen haben." Und weiter: „In Polensind sie nicht reich, aber sie müssen auch keine Not leiden", wozuallerdings die meisten Menschen in Polen ganz anderer Ansichtsind, wo es laut Myers ausreicht, den Namen Sachs auch „nur zuerwähnen, um Bitterkeit auszulösen". „Die Menschen lehnen sich[gegen die Schocktherapie] auf, und sie haben recht damit", glaubtBerkouwer. „Sie haben recht", und sie leiden sehr wohl unter denReformen von Leuten wie Sachs.36

In einem 1994 verfaßten Überblick kommt der Staatswissen-schaftler Richard Parker von der Harvard Universiry zu dem Er-gebnis, die „Schocktherapie" sei ein Fehlschlag gewesen. Nachden vielgepriesenen Reformen liefern „die großen staatlichen Fir-men - die von den Therapeuten so sehr als Dinosaurier verachtetwerden - mindestens 60 Prozent der Exporte Polens". Die Markt-reformen haben „große Einkommensungleichheiten in individu-

36 Myers, Chicago Tribune, 28. Januar 1994.

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eller und regionaler Hinsicht" hervorgerufen, und „für jeweils zweineue Arbeitsplätze - bei oft erbärmlich niedrigen Löhnen undniedrigen Sozialleisttmgen - wird ein Arbeiter in die Arbeits-losigkeit entlassen". Er zitiert eine neuere Weltbankstudie, dievorhersagt, daß Polen mindestens bis zum Jahr 2010 brauchenwird, um den Lebensstandard der kommunistischen Ära wieder zuerreichen, und daß von einem Einholen des Westens keine Redesein kann, während der Rest der Region möglicherweise nochlänger brauchen wird, um wieder auf das Niveau von 1989 zukommen. Ferner weist er wie schon viele andere vor ihm auchdarauf hin, daß „die stärksten Leistungsträger während der letztenzwanzig Jahre gerade diejenigen Ökonomien Asiens sind, die denakademischen marktwirtschaftlichen Modellen der Schock-therapeuten am wenigsten ähneln", und daß die westlichen Indu-strieländer nicht einmal daran denken, „den Rat, den wir denehemaligen Kommunisten geben", auf sich selbst anzuwenden.Dabei handelt es sich indes um genau den Rat, den wir der ge-samten Dritten Welt geben, und in Anbetracht des Machtgefällesund der Waffen, über die der Westen verfügt, wäre ein durchausstärkeres Wort als „Rat" angebracht.37

37 Parker, „Clintonomics for the East", Foreign Policy, Frühling 1994.

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V. Wege der Freiheit: Autokratie oder Anarchie?

9. Einige Aufgaben für die Linke*

Unheilschwangere Warnungen hinsichtlich des Zustands deramerikanischen Gesellschaft werden gegenwärtig keineswegs nurauf Seiten der Linken geäußert. So hat Senator Fulbright jüngstbemerkt, die Vereinigten Staaten hätten „bereits ein gutes Stückauf dem Weg zu einer Wahldiktator zurückgelegt". Wenn wir aufunserem gegenwärtigen Kurs beharrten, so Fulbright „kann uns dieZukunft nichts bringen als endlose außenpolitische Abenteuer,ständigen Krieg, anschwellende Ausgaben und die Wucherungeines ohnehin schon riesigen militärisch-industriell-gewerk-schaftlich-akademischen Machtkomplexes. ... Kurz gesagt, wennAmerika zum Imperium werden sollte, besteht nur eine geringeChance, daß es nicht zugleich auch zu einem Staat wird, der sichkaum von einer Diktatur unterscheidet."1

Senator Fulbright kommentierte mit seinen Bemerkungen einenVersuch, die Aushöhlung des verfassungsmäßigen Systems zubekämpfen, eine Aushöhlung, die für alle westlichen parla-mentarischen Systeme typisch ist, da die staatliche Macht sichimmer mehr in der Exekutive konzentriert. Bei dem von Fulbrightkommentierten Versuch handelt es sich um eine vom Se-natskomitee für Auswärtige Beziehungen vorgeschlagene Reso-lution über den „Zweck des Senats". Der Bericht des Komiteesvom 16. April 1969 stellt fest, daß der Präsident als obersterAmtsträger der Exekutive „heute über eine beinahe absolute Machtüber Leben und Tod jedes Amerikaners - ganz zu schweigen vonMillionen von Menschen überall auf der Welt - gebietet". Fernerwarnt der Bericht, als Ergebnis dieser Entwicklung drohe demamerikanischen Volk „Tyrannei oder eine Katastrophe".

Möglichkeiten der „internen Aggression"

Der Komiteebericht läßt an die Befürchtungen denken, die Abra-ham Lincoln äußerte, als Präsident Polk 1846 „den Zusammen-

* Erschienen in der Zeitschrift Liberation, Nr. 14:5-6 (August-September 1969) und eineder ersten und bekanntesten Stellungnahmen Chomskys zu Fragen der Entwicklungeiner libertär-sozialistischen Bewegung (aus: Radical Prioritien, S. 219 - 231).1 Boston Globe, 20. Juli 1969

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stoß auslöste, mit dem der Krieg gegen Mexiko begann": „Schonimmer hatten Könige ihre Völker in Kriege verwickelt und da-durch ins Elend gestürzt, wobei sie meist, wenn nicht immervorgaben, das Wohl des Volkes im Auge zu haben. Unsere ver-fassunggebende Versammlung verstand gerade dies als die schwer-wiegendste Unterdrückung durch das Königtum; ihre Mitgliederwaren daher entschlossen, die Verfassung so zu gestalten, daß keineinzelner Mann uns seiner Unterdrückung unterwerfen kann." DerBericht bemerkt weiter, daß sich allein in Thailand 50.000amerikanische Soldaten befinden, von denen „viele anMilitäroperationen zur Niederschlagung von Aufständen beteiligtsind". Ferner wird ein Geheimmemorandum zitiert, in dem esheißt, „daß die Präsenz amerikanischer Streitkräfte in Spanien fürSpanien eine wichtigere Sicherheitsgarantie bildet als einschriftliches Abkommen es könnte". Da der einzige Angriff, derSpanien zur Zeit drohen könnte, das ist, was heutzutage „interneAggression" genannt wird, ist klar, welche Form von „Sicherheit"durch dieses Geheimabkommen garantiert wird.

Der Bericht des Senatskomitees bemerkt gewiß zu Recht, daßdie Bemühungen des „königlichen Unterdrückers", so herrlicheRegimes wie die Spaniens und Thailands (und Saigons, undGriechenlands, und Brasiliens...) vor „interner Aggression" zuschützen, mit nur allzu großer Wahrscheinlichkeit auch zur Ty-rannei in unserem eigenen Land führen. Wir können mit einigerSicherheit davon ausgehen, daß jede aus dem Innern der USAselbst kommende ernsthafte Bedrohung des amerikanischen glo-balen Managements oder seiner ideologischen Grundlagen dierepressiven Kräfte und schließlich auch gewaltsamen Reaktionendes Staates auf den Plan rufen wird. Demnach kann man für dieZukunft erwarten, daß sich die Bevölkerung entweder der auto-ritären Ideologie der Fax Americana und ihren repressiven Prak-tiken unterwirft oder daß offene Gewalt angewendet wird, um denfehlenden Gehorsam zu erzwingen; beides läuft auf eine Form derinnenpolitischen Tyrannei hinaus.

Der Versuch, eine vom amerikanischen Kapital beherrschteintegrierte Weltwirtschaft zu etablieren, bildet eines der großenMotive der gesamten Nachkriegsgeschichte. Obwohl es, was dasbetrifft, auch Rückschläge gegeben hat, wird dieses Projekt aufvielerlei Wegen mit erhöhter Intensität weiterbetrieben, und bisjetzt kann niemand sagen, inwieweit es erfolgreich sein wird. Esliegt auf der Hand, daß nur ganz bestimmte Formen nationalerEntwicklung der Dritten Welt mit diesem Ziel vereinbar sind,

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und tatsächlich war die amerikanische Außenpolitik immer daraufausgerichtet, alle anderen Möglichkeiten zu blockieren. Wie JoanRobinson schreibt, bedeutete und bedeutet das in der Praxis oft,daß „der Kreuzzug der Vereinigten Staaten gegen den Kom-munismus in Wirklichkeit eine Kampagne gegen die Entwicklungist. Durch diesen Kreuzzug konnte man das amerikanische Volkdazu verleiten, der Aufrechterhaltung einer gewaltigenKriegsmaschinerie zuzustimmen und zuzulassen, daß diese überdie Androhung oder tatsächliche Anwendung von Gewalt zurUnterdrückung jeder Volksbewegung benutzt wird, die sich denSturz alter wie moderner Tyranneien und den Versuch zum Zielsetzt, einen Weg zur Überwindung der Armut und zur Schaffungnationaler Selbstachtung zu finden."2

Wirtschaft und nationale Verteidigung

Die Aufrechterhaltung dieser gewaltigen Kriegsmaschine hattiefere soziale Wurzeln als die Notwendigkeit, die Regimes Grie-chenlands, Spaniens und Brasiliens vor interner Aggression zubeschützen. Selbst wenn zur Erhaltung dieser Bastionen derFreiheit keine amerikanische Unterstützung nötig wäre, würde dieMilitarisierung der amerikanischen Gesellschaft wohl kaumnachlassen. Die besondere Form des staatlich subventioniertenKapitalismus, die sich in den Vereinigten Staaten entfaltet, er-fordert eine enorme staatliche Unterstützung technologisch fort-geschrittener Sektoren der amerikanischen Industrie. Unter dengegenwärtig bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen, unterdenen die staatliche Politik weitgehend von privaten Imperienbestimmt wird, ist es ganz natürlich, daß diese öffentlichen Sub-ventionen zur Kriegsvorbereitung verwendet werden. Es ist selbstbeim besten Willen nicht leicht, andere Formen der staatlichenIntervention in die Wirtschaft zu entwickeln, die nicht nur nichtmit den Interessen dieser privaten Imperien in Konflikt geraten,sondern sie statt dessen fördern. Darüber hinaus müssen öffentli-che Subventionen für die Gesamtbevölkerung akzeptabel sein.Selbst ein totalitärer Staat muß sich um ein gewisses Maß anMassenunterstützung für seine Politik und seine Ausgaben be-mühen, und die „Verteidigung der Heimat" ist dann immer wie-der der letzte Rettungsanker. Es ist kaum wahrscheinlich, daß ei-

2 „Contrasts in economic development: China and India", in Neal Houghton, ed.,Struggle Against History, New York, 1968.

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ne Infragestellung dieses Systems der Kriegsvorbereitung toleriertwerden wird.

Dennoch hat sich in den Vereinigten Staaten in den letztenJahren eine solche Herausforderung entwickelt, zum großen Teilaus der Studentenbewegung und den schwarzen Befreiungsbewe-gungen. Die derzeit wachsende Welle der Unterdrückung ist daheralles andere als überraschend. Die Herausgeber der MonthlyReview haben sehr zurecht auf die Parallele zu der Unterdrük-kunghingewiesen, die auf den Zweiten Weltkrieg folgte und half, denengstirnigen Konservatismus durchzusetzen, der das amerikanischeLeben während der letzten zwanzig Jahre dominiert hat. Es isttypisch für die repressiven Regimes auf der ganzen Welt, daß siedie Kontrolle über das Kriegs- und das Innenministerium denfanatischsten und reaktionärsten Figuren anvertrauen. Auch dieNixon-Administration hat diese geläufige Praxis (in Gestalt derMinister Laird und Mitchell) übernommen. Ein Gesetz, das derzeitdem Kongreß zur Beratung vorliegt, sieht die Einführung einesVerbrechens des Verrats zu Friedenszeiten sowie schwere Strafenfür jene vor, die „irgend einer fremden Nation oder bewaffnetenGruppe, die in offene Feindseligkeiten" gegen die amerikanischenStreitkräfte verwickelt ist, „Hilfe und Unterstützung" zukommenlassen. Was das bedeutet, ist klar. Aber selbst ohne eine solche„legale" Absicherung gibt es viele warnende Anzeichnungen füreine Entwicklung, die schließlich zu einem Polizeistaat führenkönnte, der vielleicht sogar breite Unterstützung der Bevölkerunggenießen würde: koordinierte Aufstandsbekämpfungsoperationenwie in Berkeley, kriminelle Polizeigewalt gegen die BlackPanthers, Schikanierung durch pseudolegale Mittel, hoheHaftstrafen für geringfügige Rechtsverletzungen, Untersuchungder Universitäten durch den Kongreß und ähnliches mehr.

Schon vor zwanzig Jahren leistete der amerikanische Libera-lismus einen keineswegs geringen Beitrag zur Repression. Eine derersten Handlungen der Americans for Democratic Action bestand„in der Verwendung der Taktik der Kontaktschuld, indem sie inden großen städtischen Zeitungen die Namen der wichtigstenSpender der Progressive Party abdrucken und sodann die auf derbundesanwaltschaftlichen Liste der subversiven Gruppenaufgeführten Organisationen hinzufügen ließen, zu denen diese

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Spender gehörten - oder gehört hatten",3 all das lange, bevorMcCarthy die Führung des Kreuzzugs der Unterdrückung über-nahm. Die hysterische Reaktion, die das Wiederaufleben politi-scher Betätigung in den sechziger Jahren in einigen Kreisen aus-gelöst hat, deutet darauf hin, daß die Geschichte sich wiederholenkönnte. Unter solchen Umständen wird schon die simpleVerteidigung der bürgerlichen Freiheiten zu einem radikalen An-liegen.

Eine genuin revolutionäre Bewegung

Der beste Weg zur Verteidigung der bürgerlichen Freiheiten ist derAufbau einer Bewegung für soziale Veränderung mit einempositiven Programm, das breite Schichten anspricht, freie undoffene Diskussion ermutigt und eine große Bandbreite an Mög-lichkeiten zur Mitarbeit und zum Handeln bietet. Das Potential füreine solche Bewegung ist mit Sicherheit vorhanden. Ob es auchrealisiert werden wird, bleibt eine offene Frage. Repression vonaußen stellt eine durchaus ernste Bedrohung dar. Die wesentlichgrößere Gefahr liegt wahrscheinlich in Fraktionsstreitereien und inDogmatismus, haltlosen Phantasien und auf Manipulationbasierenden Taktiken.

Eine Bewegung der Linken sollte einen klaren Unterschiedzwischen ihren langfristigen revolutionären Zielen und bestimmtenunmittelbaren Wirkungen machen, die sie schon jetzt erreichenkann. Insbesondere gibt es heute für uns keine höhere Priorität, alsden Krieg in Vietnam durch einen Abzug sämtlicheramerikanischer Streitkräfte möglichst rasch zu Ende zu bringen.Das könnte eines der erreichbaren Ziele sein. Es würde den Bruchmit einer Politik erfordern, die zwanzig Jahre lang als Teil einerallgemeineren Strategie zur Etablierung eines integrierten, mit denbewußten Bedürfnissen der Vertreter des amerikanischen Kapitalsübereinstimmenden und in Konformität mit den vorherr-schenden Prinzipien der amerikanischen Ideologie organisiertenweltweiten Imperiums verfolgt wurde. Nichtsdestoweniger könntedieses spezielle Unternehmen zweifellos ohne einenallzu schweren Schlag für das System „liquidiert" werden- zum Glück für die Völker in Vietnam und Laos, denn wenn dem

3 Walter LaFeber, America, Russia and the Cold War, S. 73. Siehe Christopher Lasch,TheAgony of the American Left, für eine hellsichtige Diskussion des „kulturellenKalten Krieges" der fünfziger Jahre.

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nicht so wäre, sähe ihre Zukunft wirklich düster aus. Ich bin auchweiterhin der Ansicht, daß gewaltfreier Widerstand die besteMöglichkeit darstellt, dieses Ziel zu erreichen.

Aber auf lange Sicht hat eine Bewegung der Linken keineAussicht auf Erfolg und verdient auch keinen, wenn sie keinVerständnis der gegenwärtigen Gesellschaft und keine Vision einerzukünftigen gesellschaftlichen Ordnung entwickelt, die für einegroße Mehrheit der Bevölkerung überzeugend wären. Ihre Zieleund organisatorischen Formen müssen durch ihre aktive Teilnahmeam politischen Kampf und an der Erneuerung gesellschaftlicherStrukturen Gestalt annehmen. Eine genuin radikale Kultur kannnur durch die geistige Transformation einer riesigen Anzahl vonMenschen erreicht werden. Das ist das wesentlichste Kennzeichenjeder sozialen Revolution, die sich wirklich das Ziel einerErweiterung der Möglichkeiten menschlicher Kreativität undFreiheit gesetzt hat. Dabei können wir zweifellos aus denLeistungen und Fehlschlägen revolutionärer Kämpfe in den we-niger entwickelten Ländern lernen, und es wäre ebenso dumm, diesnicht zu tun, wie es ein Verbrechen wäre, nicht überall, wo wirdazu in der Lage sind, unsere Hilfe anzubieten. Es liegt jedoch aufder Hand, daß die angesprochenen Erfahrungen nicht mechanischauf eine Gesellschaft wie die unsere übertragen werden können. Ineiner fortgeschrittenen Gesellschaft stimmt es ganz offensichtlichkeineswegs, daß die Masse der Bevölkerung nichts zu verlieren hatals ihre Ketten, und es ist sinnlos, so zu tun, als verhielte es sichanders. Sie hat im Gegenteil ein ganz beträchtliches Interesse ander Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung.Dementsprechend wird, wie unter anderem Andre Gorz richtighervorgehoben hat, das kulturelle und intellektuelle Niveau jederernsthaften radikalen Bewegung weitaus höher sein müssen alsfrüher. Eine solche Bewegung wird sich nicht mit einer Litanei vonFormen der Unterdrückung und Ungerechtigkeit zufriedengebenkönnen. Sie wird zwingende Antworten auf die Frage liefernmüssen, wie diese Mißstände durch Revolution oder weitgehendeReformen überwunden werden können. Um dieses Ziel zuerreichen, wird die Linke eine Haltung der Aufrichtigkeit und desEngagements für libertäre Werte einnehmen und beibehaltenmüssen. Sie darf sich nicht der Illusion hingeben, daß eine„Vorhutpartei", die sich selbst zum Hort von Wahrheit und Tugenderklärt, die Staatsmacht ergreifen und auf wundersame Weiseeine Revolution zustandebringen kann, durch die rationaleWerte und wahrhaft demokratische Strukturen als Grundlagen

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des sozialen Lebens etabliert würden. Wenn die einzigen von derLinken klar zum Ausdruck gebrachten Ziele in Gewalt und Zer-störung bestehen, wird es ihr höchstens gelingen, sich selbst zuunterminieren und zu zerstören. Darüber hinaus wird eine radikaleBewegung, wenn sie in der Lage sein will, den Imperialismus oderdie Arten von Unterdrückung, sozialer Manipulation und sozialenZwangs, die Ergebnis der sich entwickelnden internationalenWirtschaftsinstitutionen sein werden, zu bekämpfen, sowohl inihren organisatorischen Formen als auch in dem von ihrangestrebten kulturellen Niveau ebenfalls international seinmüssen. Eine solche Bewegung aufzubauen wird keine geringeAufgabe sein. Es könnte allerdings tatsächlich sein, daß der Erfolgeines solchen Unternehmens die einzige Alternative zur Tyranneiund großen Katastrophen darstellt.

Libertärer Sozialismus

Die Gefahr von Tyrannei und Desaster und selbst ihre sich bereitsabzeichnenden Manifestationen liefern von sich aus noch keineausreichende Basis für die Schaffung einer bedeutenden radikalenMassenbewegung. Diese Gefahr könnte sogar eine konservativeAbwehrreaktion auslösen. Damit sich ein Mensch angesichts allder Ungewißheit und all der Risiken, die dies mit sich bringt, ineiner Bewegung für radikale soziale Veränderung engagiert, mußer starke Gründe für den Glauben haben, daß der Versuch, eineneue Gesellschaftsordnung zu schaffen, eine gewisse Aussicht aufErfolg hat. Dabei geht es nicht lediglich um die Befriedigungpersönlicher materieller Bedürfnisse, des eng begrenztenEigeninteresses in dem Sinn, wie er von der kapitalistischenIdeologie kultiviert wird. Allerdings gibt es durchaus auch imRahmen des Eigeninteresses in diesem engen Sinn eineRechtfertigung für radikale Politik. Die enorme Verschwendungvon Ressourcen, die keineswegs unbegrenzt sind, und der von denbeiden Supermächten betriebene Wettlauf in die gegenseitigeVernichtung liefern einem rational denkenden Mensch Grundgenug, aktiv nach einer weitreichenden Veränderung zu suchen.Davon abgesehen wird jetzt in weiten Kreisen realisiert, daß die„externen Kosten", von denen die Ökonomen immer sprechen,nicht länger in den Bereich einiger Fußnoten verbannt werdenkönnen. Niemand, der auch nur einen Augenblick lang überdie Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft nachdenkt, kann um-hin, die sozialen Kosten von Produktion und Konsum zu sehen,

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die fortschreitende Zerstörung der Umwelt, die extreme Irratio-nalität der Verwendung der heutigen Technologie, die Unfähigkeiteines auf Profit und Wachstumsmaximierung basierenden Systemszur Befriedigung von Bedürfnissen, die nur auf kollektive Weisezum Ausdruck gebracht werden können, und die enormeVerzerrung, die dieses System zugunsten der Maximierung vonGütern zum persönlichen Gebrauch statt zur allgemeinenVerbesserung der Lebensqualität erzwingt. All das sind Faktorendes modernen Lebens, die zum Wachstum einer starken Linkenführen sollten, die danach strebt, die vorherrschende Barbareidurch eine Form des libertären Sozialismus zu ersetzen. Aber esliegt etwas unerträglich Arrogantes in dem Glauben, „wir" seienradikal, weil ach so menschlich, und „sie" würden sich uns an-schließen, sobald sie erst einmal sehen, daß dies in ihrem eigenenInteresse liegt. Mitgefühl, Solidarität und Freundschaft sindebenfalls menschliche Bedürfnisse, und zwar nicht weniger vitaleBedürfnisse als der Wunsch, den eigenen Anteil an den produ-zierten Gütern zu erhöhen oder seine Arbeitsbedingungen zuverbessern. Außerdem zweifele ich nicht daran, daß es ein fun-damentales menschliches Bedürfnis ist, aktiv an der demokrati-schen Kontrolle gesellschaftlicher Institutionen teilzunehmen.Wenn das stimmt, dann sollte die Forderung nach industriellerDemokratie zu einem zentralen Ziel jeder sich auf die Arbeiter-schaft stützenden wiederbelebten Linken werden.

Technologie und Selbstverwaltung

Tatsächlich hat sich in Frankreich und England nach langen Jahrendes Schweigens wieder neues Interesse an industrieller Demokratieund Arbeiterkontrolle entwickelt.4 Das ist eine höchstbegrüßenswerte Entwicklung. Es wird oft argumentiert, die Bil-dung riesiger Planungsinstitutionen - der zentralisierten Staats-bürokratie, gigantischer Konzerne, oder beider in konzertierterZusammenarbeit - sei ein technologischer Imperativ, ein Erfor-dernis der wirtschaftlichen Gesundheit und der angemessenenVerwendung von Ressourcen in einer fortgeschrittenen Indu-striegesellschaft. Mir ist bis heute keinerlei Argument dafürbekannt, daß fortgeschrittene Technologie eine zentralisierte auto-

4 Siehe zum Beispiel die neue französische Zeitschrift Autogestion [„Selbstverwaltung",A.d.Ü.] und die Publikationen des Institute for Workers' Control, 91 Goldsmith Street,Nottingham, England.

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ritäre Verwaltung erfordert. Dieselbe Technologie, die die Auto-rität einer kleinen Elite von Eigentümern, Managern oderTechnokraten stärken kann, könnte auch dazu verwendet werden,die industrielle Demokratie zu erweitern. In seinen frühen Stadienerforderte das Industriesystem die Art von spezialisierter Arbeit,die, wie Adam Smith bemerkte, die Menschen in Stumpfsinnige, inbloße Werkzeuge der Produktion verwandelt. Heute gilt das schonlange nicht mehr. Im Rahmen der modernen Technologie könnenWerkzeuge Werkzeuge und Menschen Menschen sein. DieNotwendigkeit von Managern ist eine Begleiterscheinung derSpezialisierung der Arbeitskräfte. Sie verringert sich in dem Maß,wie sich für sämtliche Teilnehmer am Produktionsprozeß dieMöglichkeiten erweitern, relevante, zur qualifiziertenEntscheidungsfindung erforderliche Informationen zu erhalten unddas kulturelle Niveau zu erreichen, das sie in die Lage versetzt,sich an den alle betreffenden Entscheidungen zu beteiligen. DieTechnik der Simulation ermöglicht es, bestimmte Experimentedurchzuführen, ohne die Kosten von Fehlschlägen tragen zumüssen. Die Automation könnte die Möglichkeit liefern, sichgeisttötender Schinderei zu entledigen. Diese Möglichkeiten ineiner konkreten und detaillierten Form zu entwickeln, ist einewichtige Aufgabe für die Linke. Es ist eine Aufgabe, die nur durchdie direkte Teilnahme von Handarbeitern wie Arbeitern imintellektuellen Bereich durchgeführt werden kann; das sollte zueiner Verwischung, vielleicht sogar zum Verschwinden diesersozialen Kategorien fuhren.

Es gibt allerdings plausible Argumente dafür, daß Planung ineiner fortgeschrittenen Industriegesellschaft eine Notwendigkeitist. Man sollte jedoch eine Beobachtung im Gedächtnis behalten,die kürzlich sehr gut von Ken Coates in seiner Eröffnungsan-sprache anläßlich eines Symposiums über die Arbeiterkontrollezum Ausdruck gebracht wurde:

Wenn Planung zu einem entscheidenden Bedürfnis gewordenist, dann ist es aber ebenfalls glasklar geworden, daß keiner dergrundlegendsten und elementarsten liberalen Werte einePlanung auf einem solchen Maßstab überleben kann, wenndiese nicht auf der Basis von Grundsätzen organisiert wird, diezuinnerst und zutiefst demokratisch sind.5

5 Can the Workers Run Industry, Ken Coates, ed., Sphere Books and the Institute forWorkers' Control, 1968.

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Das Problem, wie man Planung mit Demokratie kombinieren undauf diese Weise die liberalen Werte bewahren und bedeutend er-weitern und bereichern kann, kann nicht am grünen Tisch, sondernnur durch eine Kombination von praktischer Erfahrung undintellektueller Analyse gelöst werden. Dies ist fast per defmitio-nem eine Aufgabe für eine erneuerte Bewegung der Linken, eineBewegung, die das höchste Niveau an Wissenschaft und Tech-nologie mit einer ernsthaften Erforschung der Quellen und sozialenBedingungen von Kreativität und Freiheit verbinden wird.

Von der Autokratie zur freien Gesellschaft

Fragen dieser Art werden in der bestehenden akademischen So-zialwissenschaft so gut wie überhaupt nicht gestellt. So beschreibtzum Beispiel das fuhrende Lehrbuch der modernen Wirtschafts-theorie die Bandbreite der möglichen ökonomischen Systeme in-nerhalb eines Spektrums, in dem vollständiges Laissez-faire ameinen und eine „totalitäre Diktatur über die Produktion" am an-deren Pol angesiedelt sind:

Die relevante Option für die Politik von heute kann keineEntscheidung zwischen diesen Extremen sein, sondern nurdie Entscheidung über das geringere oder größere Maß, indem die staatliche Politik zur Modifikation des Wirkens be-stimmter privater Wirtschaftsaktivitäten eingreifen soll.6

Es ist offensichtlich, daß durch die Charakterisierung des Spek-trums möglicher Systeme auf diese Art einige grundsätzlicheFragen ganz einfach umgangen werden. Man könnte sich genausogut ein ganz anderes Spektrum vorstellen, bei dem demokratischebeziehungsweise autokratische Kontrolle des Produktionssystemsdie jeweiligen Pole bilden. Gemessen an dieser Richtschnur fallendie beiden polaren Gegensätze Samuelsons in dieselbe extremeKategorie; sowohl der „ideale" Privatkapitalismus als auch die„totalitäre Diktatur über die Produktion" bilden Formen derautokratischen Kontrolle, Formen, die der demokratischenBasiskontrolle der Wirtschaft durch Arbeiterräte, Ge-meindeversammlungen und andere denkbare Formen der Orga-nisation von unten entgegengesetzt sind. Ähnlich wurde kürzlichauf einem Symposium der American Academy of Arts and Sci-

6 Paul Samuelson, Economics, sechste Ausgabe, 1964.

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ences über „Perspektiven der Wirtschaft"7 viel über die Fragediskutiert, ob es eher die Manager oder eher die Eigentümer sind,die die Kontrolle über die Wirtschaft ausüben (und inwiefern sichtechnologische Entwicklungen auf diese relative Machtverteilungauswirken), während die Möglichkeit, daß das ökonomische Sy-stem auch unter die demokratische Kontrolle der Bevölkerunggebracht werden könnte, gar nicht erst erwähnt wurde.

Die Annahmen, von denen sich der Großteil der Wissenschaftleiten läßt, unterscheiden sich kaum von denen, die in vielen Ma-nifesten der herrschenden Elite Amerikas geäußert werden, wiezum Beispiel im Bericht der Studiengruppe zur Politischen Öko-nomie der amerikanischen Außenpolitik, die die westliche Zivili-sation umstandslos (und im Gegensatz zur kollektivistischenAblehnung von Freiheit, Initiative und Fortschritt) mit kapitali-stischen Formen in eins setzt und „das Ziel der wirtschaftlichenAktivität im Westen (als) die Maximierung der ein oder anderenForm von individuellem Geldeinkommen durch die Investition vonKapital oder von Arbeit auf eigene Rechnung oder für andere bzw.unter deren Leitung" definiert.8 Das Dokument fährt dann in derüblichen Manier fort, diese spezielle Abart gesellschaftlicherOrganisation als das universell gültige Ideal zu beschreiben. Wirkönnen nicht lediglich die Rolle eines „unparteiischenSchiedsrichters... bei der Aufrechterhaltung der Weltordnung"

7 Daedalus, Winter 1969.8 Woodrow Wilson Foundation and National Planning Association, Holt, 1955. Die beiuns herrschenden menschlichen Werte werden in diesem wichtigen Dokument noch invielerlei anderer Hinsicht illustriert. So „brauchen wir ganz offensichtlich einekonstruktive Politik im Hinblick auf die Löhne und auf sozialstaatliche Maßnahmen".Und warum?; „Um industrieller Unruhe vorzubeugen." Gleichzeitig ist es notwendig,die von linken und sozialistischen Regierungen verübten Exzesse egalitärer undsozialstaatlicher Gesetzgebung zu bekämpfen. Die kapitalistische Elite wäre sicherlichmit Stalins Meinung einverstanden, daß Egalitarismus „eine reaktionärekleinbürgerliche Absurdität" ist, „die einer Sekte von Asketen würdig wäre" (Rede aufdem 17. Parteitag der KPdSU). Das Dokument besteht dann weiter darauf, daß wir unsin der Dritten Welt, sofern dort noch nicht verantwortliche Elemente der Mittelklassedie Vorherrschaft erlangt haben, das Recht vorbehalten müssen, zur Unterstützung„traditionell herrschender Gruppen" zu intervenieren, die einsehen, „daß ihrezukünftige Unabhängigkeit im Bündnis mit dem Westen legt". Wir müssen auchweiterhin dafür sorgen, daß sich Westeuropa und Japan nicht dem „Neutralismus undPazifismus" hingeben - im Falle Japans, indem wir „eine größere Beteiligung Japansan der Entwicklung Südasiens ermöglichen" - was nebenbei bemerkt ein nicht zu ver-nachlässigender Faktor für den Vietnamkrieg war. Wir müssen irrationale, kommuni-stisch inspirierte Landumverteilungen bekämpfen, wie in Guatemala, wo es (ebenso wieim Iran) „nationalistisch-totalitären oder kryptokommunistischen Regimes beinahegelungen wäre, ihre Herrschaft zu festigen" (das bezieht sich auf die Regierung Arbenzin Guatemala und die Regierung Mossadegli im Iran). Und so weiter und so weiter undso weiter.

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spielen, sondern müssen als aktiver Führer im Kampf zur Rettungder Zivilisation und der „universalen Ideale der menschlichenFreiheit, der individuellen Entfaltung und der wirtschaftlichenGerechtigkeit" auftreten, die („wie unvollkommen auch immer") inden kapitalistischen Institutionen des Westens ihren Ausdruckfinden.

Gewiß ist dieses Konzept des homo ökonomicus eine psy-chologische Absurdität, und die, die versuchen, sich in diesesMuster einzupassen, müssen dafür unermeßliches Leid in Kaufnehmen. Das gilt natürlich erst recht für ihre Opfer. Die Devise„Kämpfe, um zur Nummer eins zu werden" ist ein Rezept, das zuDemoralisierung, Korrumpierung und schließlich in die Kata-strophe für alle fuhrt, ganz unabhängig davon, welchen Wert sie inden frühen Stadien der Industrialisierung einmal gehabt habenmag. Wenn die von der kapitalistischen Gesellschaft hervorge-triebene Barbarei überwunden werden soll, muß die gemeinsameArbeit für das gemeinsame Wohl und die Sorge für die Rechte undBedürfnisse anderer an die Stelle der trostlosen Jagd nachMaximierang persönlicher Macht und persönlichen Konsumstreten.

Der Vorteil der Linken

Die Linke hat den unschätzbaren Vorteil, daß sie hoffen kann, imGegensatz zur barbarischen Irrationalität auf Konkurrenz ge-gründeter Gesellschaften und der autokratischen Herrschaft pri-vater Wirtschaftsimperien, Staatsbürokratien, Vorhutparteien,technokratisch-meritokratischer Eliten oder was die Zukunft sonstnoch an Monstrositäten bereithalten mag, für menschliche Wertezu sprechen. Genau diesen Vorteil wird sie nutzen müssen, wennes in den entwickelten Gesellschaften irgend eine Hoffnung aufeine ernsthafte, antiimperialistische, antimilitaristische Bewegungauf breiter Basis geben soll. Kommen wir noch einmal auf dasoben zitierte Manifest zurück. Es definiert den wesentlichenAspekt der kommunistischen Gefahr folgendermaßen:

Der Kommunismus hat bedeutet: (1) Eine ernste Reduzierungdes westlichen Zugangs zu Ressourcen und Märkten, die aufden Verlust der kommunistischen Gebiete für die internatio-nale Wirtschaft und eine Form der wirtschaftlichen Trans-formation zurückgeht, die ihre Bereitschaft und Fähigkeit, die

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industriellen Ökonomien des Westens zu ergänzen, redu-ziert.9

Diese Interpretation der kommunistischen Gefahr (aus der sichzum großen Teil Joan Robinsons oben zitiertes Urteil erklärt, deramerikanische Kreuzzug gegen den Kommunismus sei in Wirk-lichkeit eine Kampagne gegen die Entwicklung) wird natürlicheinen ziemlich zwingenden Eindruck auf die Reichen machen, dieleicht verstehen werden, weshalb es unser Ziel sein muß, „denMühlenarbeitern Kalkuttas, den Bauern Ägyptens und denIndianern Guatemalas" zu helfen, „politisch verläßlichere undwirtschaftlich kooperativere Mitglieder der Gemeinschaft derfreien Welt zu werden" und dadurch erst „die Fähigkeit zurSelbstkontrolle, zu rationalen und moralisch richtigen Entschei-dungen und zum verantwortlichen Handeln" zu erwerben. Dieamerikanische Vorherrschaft in der Welt erfordert nun einmal einesolche politische Verläßlichkeit, Kooperationsbereitschaft undmoralische Verantwortlichkeit. Für die Reichen und Privilegiertenist es leicht, die amerikanische Beherrschung der Ressourcen derWelt „mit dem dauerhaften Bestand menschlicher Freiheit undeiner humanen Gesellschaft überall" gleichzusetzen. Formennationaler Unabhängigkeit oder internationaler Kooperation, diedie Ressourcenverwendung zugunsten jener umlenken, die heute„die industriellen Ökonomien des Westens ergänzen", könnennicht umhin, diese Vorherrschaft zu bedrohen. Diese Art von„Bedrohung" sollte, ebenso wie das Gegenstück dieser Bedrohungin unserem eigenen Land, von der Linken begrüßt und ermutigtwerden. Es ist klar, daß eine internationale Linke auchinternationale Gerechtigkeit anstreben sollte. Aber das heißtzugleich, daß die Teilnehmer an einer solchen Bewegung in denfortgeschrittenen Ländern eher durch Mitgefühl und Brüderlichkeitals durch die Verfolgung des unmittelbaren Eigennutzes motiviertsein müssen. Wenn eine gerechte Verteilung der Ressourcender Erde mit der Beendigung der für die entwik-kelten Industriegesellschaften charakteristischen irrationalenZerstörung und Verschwendung dieser Ressourcen verbunden

9 Es gibt noch drei weitere Aspekte dieser Bedrohung: „Eine geplante Zerrüttung derWirtschaften der freien Welt", die höhere Wachstumsrate der sowjetischen Schwerin-dustrie (man vergesse nicht, daß dies 1955 geschrieben wurde) und ferner „die Tatsa-che, daß der sowjetische Kommunismus nicht nur die politischen und wirtschaftlichenInstitutionen des Westens, sondern den Fortbestand der menschlichen Freiheit und ei-ner humanen Gesellschaft überall auf der Welt bedroht".

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wird, gibt es außerdem langfristig gesehen keinen Grund, weshalbeine gerechte Verteilung zu einem Absinken des Lebensstandardsin den fortgeschrittenen Ländern führen müßte. Auch hier ist einetiefgreifende „Kulturrevolution" eine Vorbedingung für dieEntwicklung einer fest in den technologisch entwickeltenGesellschaften verankerten Bewegung der Linken - oder bessergesagt, ihre unverzichtbare Begleiterscheinung.

Eine Aufgabe für Radikale

Dieselben Überlegungen gelten, wenn wir an die dringliche Auf-gabe denken, den Rüstungswettlauf zu beenden. Es wird zu An-fang zweifellos außerordentlich schwierig sein, eine Kampagnegegen den Militarismus zu organisieren, die auch die Unterstüt-zung von Arbeitern, Technikern, Ingenieuren und Wissenschaftlerngenießt, die schließlich in hohem Maß auf das Budget fürMilitärausgaben angewiesen sind, um Arbeit zu haben. Als esradikalen Studenten am MIT gelang, die militärische Forschung ander Universität in ernste Schwierigkeiten zu bringen, bestand dieerste Reaktion der Arbeitergewerkschaft der Universitätslabors ineiner Klage vor dem Bundesgericht, die das MIT zurWeiterfuhrung der Militärforschung verpflichten sollte. DieseReaktion war nicht einmal unvernünftig, da die Wirtschaft Neu-englands solchen Leuten keine Alternative bietet. Ähnliche Fak-toren machen es auch für Ingenieure und viele Wissenschaftlerziemlich schwierig, die Arbeit an Projekten aufzugeben, derenBegleiterscheinung und Resultat Krieg und Verschwendung sind.Wenn eine radikale Bewegung wirklich Fortschritte unter Fach-arbeitern, Ingenieuren und Wissenschaftlern erzielen will, wird siediese Menschen davon überzeugen müssen, daß ihre kurzfristigenInteressen durch andere Faktoren aufgewogen werden. So muß jazum Beispiel jeder vernünftige Mensch ein persönliches Interessedaran haben, daß die intellektuellen und materiellen Ressourcender Gesellschaft sinnvollen Zwecken zugeleitet werden, und daßdie gegenwärtigen Kriegsvorbereitungen, die leicht in dieendgültige Katastrophe führen können, endlich beendet werden.Die Aufgabe für Radikale besteht in diesem Fall darin, konkreteAlternativen zu entwickeln und zu zeigen, wie sie unterveränderten soziale» Bedingungen realisiert werden könnten.Darüber hinaus müssen sie die psychotische Weltsicht bekämpfen,die eigens entwickelt worden ist, um dem Wettlauf in dieZerstörung einen rationalen Anschein zu geben. Sie müssen ver-

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suchen, einen grundlegenden Wandel der Werte zu erreichen undein Engagement für weitreichende Ziele zu verankern, die, sobaldsie einmal erreicht sind, ein Ende von imperialistischer Herrschaft,Militarismus und Unterdrückung bedeuten werden.

Noch vor zehn Jahren wäre nur ein Visionär imstande gewesen,diese Fragen auch nur theoretisch ins Auge zu fassen. Heute sinddas sehr aktuelle und aufregende Themen. Die Illusionen, die dieWissenschaft nach dem Krieg beherrschten, sind von denrevisionistischen Historikern erfolgreich erschüttert worden.Gruppen wie die North American Conference on Latin America(NACLA), das Committee of Concerned Asian Scholars (CCAS),die Union for Radical Political Economics (URPE) und viele an-dere haben das Potential, ihren Berufssparten neues Leben ein-zuhauchen und eine radikale intellektuelle Kultur mit einer breitenBasis an den Universitäten zu schaffen, deren Auswirkungen sichüber die konventionellen - oder vielleicht eigens zu diesem Zweckgeschaffene - Medien, die Schulen sowie vielerlei verschiedeneGemeinschaften und aktivistische Organisationen weiter verbreitenkönnten. Natürlich waren diese Berufsgruppen nur die Speerspitzeeiner ganzen Welle von politischer Aktivität. Eine von denBeschränkungen, die durch die vorherrschenden gesellschaftlichenInstitutionen auferlegt werden, freie Forschungstätigkeit wirdkaum möglich und überdies leicht abzutun sein, solange dasallgemeine politische Klima Herausforderungen und Neuerungennicht begünstigt. Ohne eine lebendige und gesunde radikalepolitische Bewegung fallen die „Geisteswissenschaften" leicht derVersuchung zum Opfer, sich gesellschaftlichen und institutionellenPressionen zu beugen, wie das in der Vergangenheit oft der Fallwar. Gleichzeitig verurteilt eine Bewegung der Linken sich zurNiederlage und zur Bedeutungslosigkeit, wenn sie nicht eineintellektuelle Kultur schafft, die durch ihre herausragendenLeistungen die Vorherrschaft erringt und auch der Masse derBevölkerung etwas zu sagen hat, die im übrigen in einerfortgeschrittenen Industriegesellschaft an ihrer Schaffung undVertiefung teilnehmen kann.

Die Universität und die Linke

Meines Erachtens bestehen gute Aussichten, daß die kleinenGruppen, die jetzt bereits bestehen, weiter wachsen werden unduntereinander sowie mit einer politischen Bewegung der Linken

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zusammenarbeiten können, die ihre Wurzeln in vielen Schichtender amerikanischen Gesellschaft hat. Ich denke, daß die Univer-sitäten derzeit einen naheliegenden und relativ begünstigten Ort fürein solches Wachstum und eine derartige Zusammenarbeitdarstellen. Dabei ist mit Sicherheit mit Widerstand gegen eineWissenschaft und Lehrtätigkeit zu rechnen, die sich den Be-schränkungen der vorherrschenden konservativen Ideologie nichtbeugt. Es wird zweifellos Bemühungen zur Unterdrückung despolitischen Aktivismus geben, der ein natürliches Resultat ernst-hafter Forschung ist. Die Universitäten sind durch den Einfluß dervorherrschenden gesellschaftlichen Institutionen, nämlich desBundesstaates und der großen Konzerne, mit denen er engverflochten ist, hochgradig politisiert worden. Der natürlicheKonservatismus des Lehrkörpers wird sich mit dem durch äußerenDruck erzeugten politischen Konservatismus verbinden, um freierForschung Barrieren in den Weg zu stellen. Beispiele für derartigeUnterdrückung gibt es leider nur zu viele. Dennoch sollte dieseTendenz nicht hochgespielt werden. Wir sollten klar erkennen, daßes auf jedem Gebiet auf Seiten derer, die einen gewissen Statusund ein gewisses Prestige erreicht haben, Widerstand gegenNeuerungen gibt. Dieser natürliche Widerstand, der leicht zubelegen ist, bildet eine Art Maß Stab, anhand dessen manausmachen kann, wie groß der Anteil der politischen Unter-drückung im eigentlichen Sinn an den Universitäten tatsächlich ist.Wenn man diesen sicherlich vernünftigen Maßstab anlegt, findenwir meines Erachtens an den Universitäten keine sehr umfassendepolitische Unterdrückung. So ist es jedenfalls bis jetzt. Sie mag inZukunft zunehmen, aber das heißt noch lange nicht, daß sie auchErfolg haben wird. Im Augenblick gibt es in dieser Hinsicht keinenbesonderen Grund zum Pessimismus.

Meiner Ansicht nach sind einige der Aktionen, die letztes Jahrunter Wissenschaftlern und Ingenieuren unternommen wurden,von ganz besonderer Bedeutung. So ist es zum Beispiel einerHandvoll von Magisterstudenten am MIT innerhalb wenigerMonate gelungen, einen eintägigen Forschungsstreik zu organi-sieren, der sich auf etwa 50 Colleges ausdehnte und zur Bildungaktiver und permanenter Organisationen der Studenten, Dozentenund Professoren führte. Diese Initiative entstand aus dem Asyl, dasdem fahnenflüchtigen Soldaten Mike O'Connor letzten Herbst amMIT gewährt wurde, einer Aktion, die das politische Klima aufdem Campus dramatisch verändert hat.

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Radikale Kultur und soziale Veränderung

Die Schaffung einer radikalen Bewegung von Wissenschaftlernund Ingenieuren weist in mancher Hinsicht Analogien zur Orga-nisierung des Widerstands der amerikanischen GIs auf. Die im-periale Vorherrschaft Amerikas basiert schließlich ebenso sehr aufder Technik wie auf dem massenhaften Einsatz von Streitkräften.Wie Franz Schurman zu Recht festgestellt hat, „ist es außer im Falleiner wirklichen Notlage unwahrscheinlich, daß die VereinigtenStaaten noch einmal in der Lage sein werden, eine massive Armeeins Feld zu schicken", und er stellt ferner fest, daß „sich außereinigen Marionettenstaaten wie Südkorea kein Land bereit gezeigthat, die US-Militaristen mit dem Menschenmaterial zu versorgen,das nötig ist, um fern der Küsten Amerikas 'begrenzte Kriege'auszufechten. ... So müssen (die USA) sich auf die Technologiestützen, um ihre Kriege zu führen."10 Darüber hinaus sind sichviele Wissenschaftler und Ingenieure durchaus der Korrumpierungder Intelligenz bewußt, die durch ein System aufgenötigt wird, dasderart irrational ist, daß die Mehrheit der Ingenieure dazugezwungen ist, bei der NASA, bei der AEC (die im wesentlicheneine Institution zur Waffenproduktion ist) oder für dasVerteidigungsministerium zu arbeiten. So gesehen ist die Tatsache,daß sich eine erfolgreiche Bewegung von Wissenschaftlern undIngenieuren nicht zuletzt aus einer Demonstration der Solidaritätmit einem GI-Wehrdienstverweigerer entwickelt hat, vonsymbolischer Bedeutung. Durch eine derartigeOrganisationstätigkeit von Wissenschaftlern und Ingenieuren kannein System, das auf der Subventionierung technologischfortgeschrittener Industriezweige und der Verfolgung des Ziels derglobalen Vorherrschaft mittels einer politisch mißbrauchtenTechnologie beruht, an seinem schwächsten Punkt -denausführenden Menschen - getroffen werden. Wissenschaftler undIngenieure können zu einer radikalen Kultur und schließlich zueiner erfolgreichen Bewegung für einen tiefgreifenden sozialenWandel einen ebenso großen Beitrag beisteuern, wie sie ihn jetztfür Militarismus und Repression leisten.

Wie bereits erwähnt, ist ein Erfolg der Linken in einer fortge-schrittenen Industriegesellschaft gänzlich undenkbar, wenn dieLinke nicht die intellektuellen Ressourcen entwickelt, um plausi-

10 „The Nixon administration and the Vietnam War", Referat für die Vietnam-Konferenzin Stockholm im Mai 1969.

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ble, konkrete Lösungen für die Probleme unserer Gesellschaft zuliefern. Diejenigen, die der Meinung sind, daß besagte Problemenur angegangen werden können, wenn die Institutionen der Ge-sellschaft nach demokratischen Grundsätzen umstrukturiert wer-den, stehen vor der Aufgabe, zu zeigen, daß das tatsächlich stimmt.Wenn die Lösungen für solche Probleme nur in Formspezialisierter Fachliteratur vorgelegt werden, sind sie nur vonbegrenztem Interesse (obwohl schon das allein eine keineswegs zuvernachlässigende Leistung wäre). Sie müssen Bestandteil desBewußtseins derer werden, die diese Lösungen in die Tat umsetzenund unter den Bedingungen leben werden, die dadurch geschaffenwerden. Für eine vitale Bewegung der Linken ist eine vielfältigeZusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern, Ingenieuren,Technikern und Facharbeitern, ungelernten Arbeitern,Freiberuflichen und anderen „höhergestellt" Arbeitenden, Schrift-stellern, Künstlern und vielen anderen unentbehrlich. Einige diesernotwendigen Querverbindungen habe ich bereits erwähnt; so bildetinsbesondere die Anwendung der modernen Technologie zurSchaffung der Bedingungen für industrielle Demokratie und denvernünftigen und humanen Gebrauch von Ressourcen einewichtige Aufgabe, der wir uns schon jetzt stellen müssen. An einerernsthaften Massenbewegung der Linken sollten sämtliche dererwähnten Schichten der amerikanischen Gesellschaft beteiligtsein. Politik und Selbstverständnis dieser Bewegung können sichnur aus den vereinten Anstrengungen all dieser Schichten zurSchaffung einer neuen Welt entwickeln.

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10. Die heutige Relevanz des Anarchosyndikalismus*

Professor Chomsky, vielleicht sollten wir mit dem Versuch begin-nen, einmal zu sagen, was mit Anarchismus nicht gemeint ist -dasWort Anarchie stammt ja aus dem Griechischen und bedeutetwörtlich ,,keine Herrschaft". Nun meinen vermutlich Leute, die vonAnarchie oder Anarchismus als politischer Philosophie sprechen,nicht einfach, daß beispielsweise zum ersten Januar des nächstenJahres die Regierung, so wie wir sie kennen, einfach abgeschafftwird: daß es dann keine Polizei, keine Straßenverkehrsregeln,keine Gesetze, keine Finanzämter, keine Post und so weiter mehrgibt. Ich nehme an, die Sache ist doch ein wenig komplizierter.

Nun, hier würde ich auf einige Ihrer Fragen mit ja, auf andere mitnein antworten. Es kann durchaus so sein, daß es keine Polizeimehr gibt, aber ich denke nicht, daß damit auch die Straßen-verkehrsregeln abgeschafft sind. Zunächst einmal sollte ich sagen,daß der Begriff Anarchismus zur Bezeichnung einer ganzenBandbreite politischer Ideen verwendet wird, aber ich persönlichwürde ihn am liebsten als Sammelbegriff für die libertäre Linkebenutzen, und von diesem Standpunkt aus kann man den Anar-chismus als eine Form des freiwilligen Sozialismus ansehen, dasheißt, als libertär-sozialistische oder anarchosyndikalistische oderkommunistisch-anarchistische Richtung, in der Tradition etwa vonBakunin, Kropotkin und anderen. Ihnen schwebte einehochorganisierte Form der Gesellschaft vor, aber eine Gesellschaft,die auf der Basis organischer Institutionen, organischerGemeinschaften organisiert sein sollte. Damit meinten sie im all-gemeinen den Arbeitsplatz und das jeweilige Wohngebiet, und aufdiesen beiden grundlegenden Formen aufbauend, könnte durchföderale Vereinbarungen eine hochintegrierte Art der ge-sellschaftlichen Organisation entstehen, die nationale oder sogarinternationale Dimensionen haben könnte. Die Entscheidungen,um die es dabei geht, könnten sich jeweils auf einen weiten Be-reich beziehen, würden aber immer von Delegierten getroffen,

* Das folgende Interview wurde von Peter Jay geführt und am 25. Juli 1976 im briti-schen Fernsehen gesendet. Es ist abgedruckt in dem von Carlos Otero zusammenge-stellten Sammelband Radical Priorities (Black Rose Books, 1981/87, S. 245 - 261). Eserschien zuerst auf Deutsch in dem Band Arbeit - Sprache - Freiheit (herausgegebenund übersetzt von Peter Peterson) der vier weitere Texte zu diesem Thema enthält(Trafik Verlag, Mühlheim, 1987).

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die Teil der organischen Gemeinschaft bleiben, aus der sie ent-sendet wurden und in die sie dann wieder zurückkehren, und diesie in Wirklichkeit gar nicht verlassen.

Demnach bedeutet der Begriff nicht so sehr eine Gesellschaft, inder es überhaupt keine Regierung mehr gibt, als vielmehr eineGesellschaft, in der die gesellschaftliche Macht im -wesentlichenvon unten nach oben und nicht von oben nach unten organisiert ist.Während die repräsentative Demokratie, -wie -wir sie in denVereinigten Staaten und Großbritannien haben, als eine Form derAutorität von oben nach unten betrachtet würde, obwohl jaletztlich die Wähler entscheiden.

Ein Anarchist der erwähnten Strömung würde die repräsentativeDemokratie, wie wir sie etwa in den Vereinigten Staaten oderGroßbritannien haben, aus zweierlei Gründen kritisieren. Zunächsteinmal deshalb, weil hier ein im Staat zentralisiertesMachtmonopol besteht, und zweitens - und das ist am wichtigsten -, weil die repräsentative Demokratie auf die politische Sphärebeschränkt ist und sich nicht ernstlich auf den Bereich derWirtschaft erstreckt. Die Anarchisten dieser Tradition habenimmer die Auffassung vertreten, daß demokratische Kontrolle imBereich der Produktion der Kern jedes ernstzunehmenden Projektsmenschlicher Befreiung und überhaupt aller sinnvoller de-mokratischer Bestrebungen sein muß. Das heißt, solange Men-schen dazu gezwungen sind, sich auf dem Markt an jene zu ver-mieten, die bereit sind, sie einzustellen, solange sich ihre Rolle inder Produktion auf die letztlich entbehrlicher Werkzeuge be-schränkt, haben wir drückende Elemente von Zwang und Unter-drückung, angesichts derer von Demokratie nur sehr begrenzt,wenn überhaupt die Rede sein kann.

Hat es in der Geschichte je in größerem Maßstab dauerhafteBeispiele von Gesellschaften gegeben, die dem anarchistischenIdeal entsprechen?

Es gab und gibt einige kleinere Gemeinschaften, die meines Er-achtens in der Verwirklichung dieser Ideale sehr erfolgreich wa-ren, und es hat einige wenige Beispiele großer libertärer Revolu-tionen gegeben, die weitgehend auf anarchistischen Strukturenberuhten. Was die kleineren Gemeinschaften betrifft, die teilwei-se über eine lange Zeit hinweg bestanden haben, bin ich persön-

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lich der Ansicht, daß das vielleicht beeindruckendste Beispiel dieisraelischen Kibbuzim sind, die lange wirklich nach anarchisti-schen Prinzipien aufgebaut waren, das heißt: Selbstverwaltung,direkte Arbeiterkontrolle, Integration von Landwirtschaft, Industrieund Dienstleistungen, Teilnahme jedes Einzelnen an derSelbstverwaltung. Und so weit ich sehen kann, waren sie in fastjeder nur denkbaren Hinsicht ein wirklicher Erfolg.

Aber sie operierten und operieren ja wohl im Rahmen eines kon-ventionellen Staates, der gewisse grundlegende Bedingungen derStabilität garantiert.

Nun, das war nicht immer so. Ihre Geschichte ist wirklich ziemlichinteressant. Seit 1948 befanden sie sich im Rahmen des kon-ventionellen Staates. Davor wurden sie im Rahmen der jüdischenkolonialen Enklave betrieben, in der tatsächlich eine unterirdische,weitgehend auf kooperativen Prinzipien aufgebaute Gesellschaftbestand, die nicht wirklich Teil des- britischen Mandatssystemswar, sondern außerhalb dieses Systems funktionierte. Und dieseGesellschaft hat in gewissem Ausmaß die Gründung des Staatesüberdauert, obwohl sie natürlich in den Staat integriert wurde unddurch diesen Prozeß und durch andere Prozesse, die mit derGeschichte dieser Region zu tun haben und auf die wir hier nichteinzugehen brauchen, meiner Ansicht nach viele Aspekte ihreslibertär-sozialistischen Charakters verloren hat.

Ich meine jedoch, daß die Kibbuzim ein interessantes Modellfunktionierender libertär-sozialistischer Institutionen darstellen,das für fortgeschrittene Industriegesellschaften von viel größeremInteresse ist als einige der anderen Beispiele, die es in der Ver-gangenheit gegeben hat. Ein gutes Beispiel für eine anarchistischeRevolution im wirklich großen Maßstab - meines Wissens sogardas beste Beispiel - ist die spanische Revolution von 1936,während der im größten Teil des republikanischen Spanien einesehr aufregende anarchistische Revolution stattfand, die die In-dustrie und Landwirtschaft weiter Gebiete erfaßte und sich auf eineArt entwickelte, die auf den ersten Blick einen spontanen Eindruckmacht. Aber wenn man sich die Wurzeln dieser Revolution einmalgenauer ansieht, entdeckt man, daß sie auf den Experimenten, denGedanken und der organisatorischen Arbeit dreier Generationenvon Spaniern beruhte, durch die die anarchistischen Ideen in weiten Teilen der Bevölkerung dieser weitgehend,wenn auch nicht vollständig vorindustriellen Gesellschaft

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verbreitet worden waren. Und auch diese Revolution war sowohlim Hinblick auf ihre menschlichen Resultate als auch nach allengeläufigen wirtschaftlichen Maßstäben sehr erfolgreich. Das heißt,die Produktion lief effizient weiter; die Arbeiter in derLandwirtschaft und in den Fabriken erwiesen sich als durchausfähig, ihre Angelegenheiten ohne Zwang von oben zu verwalten,ganz im Gegensatz zu dem, was viele Sozialisten, Kommunisten,Liberale und andere gerne glauben wollten. Es ist heute leiderunmöglich zu sagen, wie sich all das weiterentwickelt hätte. Dieanarchistische Revolution wurde gewaltsam zerschlagen, aberbevor sie vernichtet wurde, war sie meines Erachtens äußerst er-folgreich und legte in vielerlei Hinsicht Zeugnis von der Fähigkeitarmer, arbeitender Menschen ab, ihre Angelegenheiten selbst zuorganisieren und zu verwalten, und zwar mit großem Erfolg undohne Zwang und Kontrolle. Wie relevant die spanische Revolutionfür eine fortgeschrittene Gesellschaft ist, müßte man anhandeinzelner Fragen diskutieren.

Die grundlegende Idee des Anarchismus ist ja wohl die Forderungnach dem Vorrang des Individuums - nicht notwendigenveise fürsich allein genommen, sondern in Verbindung mit anderenIndividuen - und der Befriedigung seines Freiheitsbedürfnisses. Ingewisser Hinsicht ähnelt das sehr stark den Gründungsideen, dieam Anfang der Vereinigten Staaten von Amerika standen. WelcherAspekt der amerikanischen Tradition ist es, der die Freiheit, so wiesie in dieser Tradition verstanden wird, in der Vorstellung vonAnarchisten und libertär-sozialistischen Denkern wie Ihnen zueiner verdächtigen und sogar besudelten Phrase gemacht hat?

Dazu möchte ich zunächst einmal sagen, daß ich mich nicht alseinen „anarchistischen Denker" betrachte, Ich bin nichts weiter alseiner der Anhänger dieser Idee. Eine Reihe von anarchistischenDenkern hat sich immer sehr, sehr wohlwollend auf dieamerikanische Erfahrung und das Jeffersonsche Ideal der Demo-kratie bezogen. So wurde zum Beispiel Jeffersons Konzept, nachdem die beste Regierung diejenige ist, die am wenigsten regiertoder Thoreaus Zusatz, die beste Regierung sei diejenige, dieüberhaupt nicht regiert, von anarchistischen Denkern im Verlaufder modernen Zeit häufig wiederaufgegriffen.

Abgesehen von der Tatsache, daß die damalige Gesellschafteine Sklavenhaltergesellschaft war, entwickelte sich das Ideal der

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Jeffersonschen Demokratie jedoch innerhalb eines Systems, das imwesentlichen vorkapitalistisch war, das heißt, in einer Gesellschaft,in der es keine monopolistische Kontrolle, keine bedeutendenZentren privater Macht gab. Es ist in der Tat hochinteressant,einmal zurückzugehen und heute einige der klassischen libertärenTexte wiederzulesen. Wenn man zum Beispiel Wilhelm vonHumboldts Kritik des Staates von 1792 liest, einen bedeutendenklassisch libertären Text, der unter anderem auch John Smart Millinspirierte, sieht man, daß er überhaupt nicht von derNotwendigkeit spricht, privaten Machtkonzentrationen etwasentgegen zu setzen: statt dessen spricht er von der Notwendigkeit,sich der Ausbreitung unterdrückender staatlicher Macht zuwidersetzen. Und das ist genau das, was man auch in der frühenamerikanischen Tradition findet. Aber das liegt daran, daß dasdamals praktisch die einzige Art von Macht war, die es gab.Humboldt setzt einfach voraus, daß die Einzelnen hinsichtlich derprivaten Macht, die sie ausüben können, im wesentlichen gleichsind, und daß das einzig wirklich gefährliche Machtgefalle durchdie Macht des zentralisierten autoritären Staats zustandekommt,vor dessen Eingriffen die individuelle Freiheit geschützt werdenmuß - vor dem Staat oder der Kirche. Ihren Eingriffen muß manseiner Ansicht nach Widerstand leisten.

Wenn er also zum Beispiel von der Notwendigkeit der Kon-trolle über das eigene schöpferische Leben spricht, wenn er dieEntfremdung der Arbeit beklagt, die aus Zwang oder selbst Be-lehrungen oder Anleitung bei der Arbeit resultiert, an deren Stelledie Selbstbestimmung über die eigene Arbeit stehen sollte, bringter damit eine antistaatliche und antitheokratische Ideologie zumAusdruck. Aber dieselben Prinzipien lassen sich ebenso gut auf diekapitalistische Industriegesellschaft anwenden, die erst späterentstand. Und ich würde davon ausgehen, daß Humboldt, wenn erseinen Ansichten treu geblieben wäre, schließlich zum libertärenSozialisten geworden wäre.

Läßt sich aus Vorläufern wie diesen nicht schließen, daß die li-bertären Ideen sich ausschließlich auf vorindustrielle Gesellschaftenanwenden lassen - daß sie nur in einer weitgehend ländlichenGesellschaft mit einer ziemlich einfachen Technologie und Produktionfunktionieren können, deren wirtschaftliche Organisation auf kleinen,örtlich beschränkten Einheiten beruht?

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Dazu würde ich gern zweierlei Bemerkungen machen: erstensdarüber, was Anarchisten im Lauf der Geschichte dazu gesagthaben, und zweitens dazu, wie ich die Sache sehe. Was die anar-chistischen Reaktionen betrifft, so gibt es deren zwei. Es hat einebestimmte Tradition (als deren Repräsentanten man, sagen wireinmal, Kropotkin sehen könnte) gegeben, die größtenteils soaussah, wie Sie es beschrieben haben. Aber es gibt außerdem nocheine weitere anarchistische Tradition, die sich später zum Anar-chosyndikalismus entwickelte und die die anarchistischen Ideenganz einfach als Anleitung zur angemessenen Organisation einerhochkomplexen fortgeschrittenen Industriegesellschaft betrachtete.Und diese Tendenz im Anarchismus ist fast identisch, oder hatzumindest sehr starke Ähnlichkeiten, mit einer Variante desLinksmarxismus, der Art von Marxismus, die man etwa bei denaus der Luxemburgschen Tradition kommenden Rätekommunistenfindet und die später von marxistischen Theoretikern wie AntonPannekoek repräsentiert wurde, der eine ganze Theorie derArbeiterräte in der Industrie entwickelte und als Wissenschaftlerund Astronom selbst unmittelbar Teil der industriellen Welt war.

Welche dieser beiden Ansichten ist richtig? Gehören anarchi-stische Konzepte notwendigerweise der vorindustriellen Phase dermenschlichen Gesellschaften an, oder ist der Anarchismus dierationale Form der Organisation für eine hochgradig fortge-schrittene Industriegesellschaft? Nun, ich persönlich glaubeletzteres, das heißt, ich denke, daß die Industrialisierung und derFortschritt der Technologie Möglichkeiten für die Selbstverwal-tung in einem sehr breiten Rahmen eröffnen, die zu früherenZeiten ganz einfach nicht existierten. Und daß der Anarchismustatsächlich die vernünftige Organisationsform für eine fortge-schrittene und komplexe Industriegesellschaft ist, in der die Ar-beiter sehr gut die Herren ihrer eigenen unmittelbaren Angele-genheiten werden, das heißt, ihren Betrieb selbst leiten und kon-trollieren können. Und genauso gut können sie es sein, die diewichtigen Grundsatzentscheidungen in Bezug auf die Struktur derWirtschaft, die sozialen Institutionen, die regionale und über-regionale Planung treffen. Die heutigen Institutionen erlaubenihnen weder den Zugang zu der Information, die dafür notwendigist, noch zu der Art von Ausbildung, die ihnen ein Verständnisdieser Dinge ermöglichen würde. Sehr viele Aufgaben könntenautomatisiert werden. Ein Großteil der Arbeit, die notwendigist, um der Gesellschaft einen vernünftigen Lebensstandard zu er-

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möglichen, kann - zumindest im Prinzip - Maschinen übertragenwerden, was bedeuten würde, daß die Menschen die Freiheit ha-ben, sich weitgehend mit schöpferischer Arbeit zu beschäftigen,was vielleicht während der frühen Phasen der industriellen Re-volution objektiv noch nicht möglich war.

Ich möchte auf die Frage der wirtschaftlichen Organisation eineranarchistischen Gesellschaft gleich noch einmal zurückkommen.Könnten Sie vielleicht zunächst einmal die politische Verfassungeiner anarchistischen Gesellschaft, wie Sie sie unter modernenBedingungen anvisieren würden, etwas detaillierter skizzieren?Würde es zum Beispiel politische Parteien geben? Was für sonstigeFormen der Regierung würden in ihr übrigbleiben?

Lassen Sie mich einige Auffassungen darlegen, von denen ichglaube, daß die allermeisten Anarchisten ihnen zustimmen würden,Auffassungen, denen auch ich mich im wesentlichen anschließenwürde. Wenn wir mit den beiden Formen unmittelbarerOrganisation und Kontrolle, nämlich der Organisation und Kon-trolle am Arbeitsplatz und auf kommunaler Ebene beginnen,könnte man sich auf der einen Seite ein Netz von Arbeiterrätenvorstellen, dem sich auf einer höheren Ebene Vertretungen an-schließen, die die Grenzen von Betrieb, Branche oder Beruf über-schreiten. Das könnte dann weiter bis hin zu Generalversamm-lungen der Arbeiterräte auf regionalem, nationalem und interna-tionalem Niveau gehen. Vom kommunalen Gesichtspunkt her kannman sich ein Regierungssystem vorstellen, das auf örtlichenVersammlungen basiert. Diese Versammlungen wären regionalföderiert und würden sich berufs-, Industrie- und branchenüber-greifend mit regionalen Fragen beschäftigen, was auch hier wiederüber föderative oder ähnliche Formen bis zur nationalen Ebeneoder darüber hinaus gehen könnte.

Wie diese Formen sich im einzelnen entwickeln und in welcheBeziehungen sie zueinander treten würden, und ob man beidebenötigen würde oder nur eine davon - das sind Fragen, über dieunter anarchistischen Theoretikern debattiert worden ist und zudenen es viele Vorschläge gibt, und ich fühle mich nicht berufen,hier eine bestimmte Position einzunehmen. Das sind Fragen, dieletztlich durch die Praxis entschieden werden müssen.

Aber es würde zum Beispiel keine direkten nationalen Wahlenoder landesweit organisierte politische Parteien geben? Denn

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wenn es das gäbe, würde das vermutlich eine Form zentralerAutorität schaffen, die sich mit der anarchistischen Idee nichtvereinbaren lassen würde.

Nein, der Idee des Anarchismus zufolge sollte die Delegation vonAutorität auf ein Minimum beschränkt werden, und die Mitgliederall dieser Regierungsebenen sollten direkt gegenüber der or-ganischen Gemeinschaft verantwortlich sein, in der sie leben. Dieoptimale Situation wäre, daß die Arbeit auf jeder dieser Ebenenzeitlich beschränkt und selbst während der Periode, wo sie geleistetwird, nicht die ganze Zeit des Delegierten in Anspruch nimmt; dasheißt, die Mitglieder eines Arbeiterrats, die für eine gewisse Zeitdie Funktion übernehmen, Entscheidungen zu treffen, an denenandere, die mit etwas anderem beschäftigt sind, nicht direktteilnehmen können, sollten daneben auch weiterhin ihre Arbeit anihrem Arbeitsplatz oder in dem Wohngebiet tun, in dem sie leben.

Was die politischen Parteien betrifft, denke ich, daß auch eineanarchistische Gesellschaft ihr Aufkommen vielleicht nicht ver-hindern kann. Aber an sich beruhte der Anarchismus immer aufdem Gedanken, daß jede Art von Prokrustesbett, jedes dem so-zialen Leben von außen aufgezwungene System dessen Energieund Vitalität beschränkt und unterschätzt, und daß sich auf diesemhöheren Niveau der materiellen und intellektuellen Kultur vielerleineue Möglichkeiten der freiwilligen Organisation entwickelnwerden. Von daher gesehen würde ich sagen, daß dieanarchistische Organisation an bestimmten Punkten versagt hat,wenn in der Gesellschaft die Auffassung bestehen würde, daßpolitische Parteien unbedingt nötig sind. Bei direkter Partizipationder Menschen an der Selbstverwaltung, an der Leitung derwirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten sollte es möglichsein, Gruppenmeinungen, Konflikte, unterschiedliche Interessen,Ideen und Ansichten, die man im übrigen begrüßen und fördernsollte, auf jeder einzelnen der durch die Selbstverwaltung der Ge-sellschaft geschaffenen Ebenen zum Ausdruck zu bringen. Ich sehekeinen Grund dafür, daß man sie zum Anlaß nehmen sollte, zwei,drei oder x verschiedene Parteien zu organisieren. Ich denke, daßdie Form der politischen Partei der Komplexität der menschlichenInteressen und des menschlichen Lebens einfach nicht entspricht.Parteien repräsentieren im wesentlichen Klasseninteressen, und dieKlassenspaltung sollte in einer solchen Gesellschaft eigentlichabgeschafft oder überwunden sein.

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Eine letzte Frage zur politischen Organisation: Besteht denn keineGefahr bei dieser Art der hierarchischen Schichtung vonVersammlungen und regierungsartigen Strukturen ohne direkteWahlen, daß die zentrale Körperschaft, die ja in gewisser Weise ander Spitze dieser Pyramide steht, sich sehr weit von den Menschenan der Basis entfernen würde? Wenn sie zum Beispiel ininternationalen Angelegenheiten handlungsfähig sein will, muß sieja über eine gewisse Macht verfügen und vielleicht sogar dieKontrolle über bewaffnete Streitkräfte und ähnliches ausüben -könnte sie denn da nicht einer demokratischen Kontrolle nochweniger zugänglich sein als das bestehende Regime?

Es ist ein sehr wichtiges Ziel jeder libertären Gesellschaft, eineEntwicklung in die Richtung, die Sie gerade beschrieben haben, zuverhindern; die Institutionen sollten von einer Art sein, die zurVerhinderung dieser Entwicklung beiträgt. Und meiner Ansichtnach ist das durchaus möglich. Ich persönlich bin in keiner Weisedavon überzeugt, daß die Beteiligung an der Regierungstätigkeitdie ganze Zeit des jeweiligen Delegierten in Ansprach nehmenmuß. Das mag in einer irrationalen Gesellschaft so sein, in der sichaus der irrationalen Natur der Institutionen alle möglichenProbleme ergeben. Aber ich denke, daß in einer wirklichfunktionierenden, nach anarchistischen Prinzipien organisiertenfortgeschrittenen Industriegesellschaft die Ausführung von Ent-scheidungen, die durch repräsentative Körperschaften getroffenwerden, eine Teilzeitarbeit ist, die umschichtig von Mitgliedern derGemeinschaft wahrgenommen werden sollte und darüber hinausvon Menschen durchgeführt werden sollte, die auch weiterhinihren eigenen Beruf ausüben.

Es könnte allerdings auch sein, daß die Regierungstätigkeit sichals gesellschaftliche Funktion nicht wesentlich von einer Funktionwie etwa der Stahlproduktion unterscheidet. Ich denke, das ist eineempirische Frage, die man auch empirisch lösen muß und die sichnicht aufgrund vorgefaßter Meinungen beantworten läßt. Wennsich herausstellt, daß es so ist, dann scheint mir das Naheliegendstezu sein, daß die Regierungstätigkeit nach dem Vorbild derrestlichen Wirtschaft organisiert wird, das heißt, einfach als eineder verschiedenen Wirtschaftsbranchen, die ihre eigenenArbeiterräte und ihrer eigene Selbstverwaltung hat und sich aufdieser Basis an den sonstigen demokratischen Organen beteiligt.

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Ich sollte hinzufügen, daß genau das bei den Rätebewegungen,die sich hier und da spontan entwickelt haben, auch passiert ist -zum Beispiel während der ungarischen Revolution von 1956. Ichweiß noch, daß es damals einen Arbeiterrat der Staatsangestelltengab, der ganz einfach nach industriellen Richtlinien organisiertwar, genau wie jeder andere Industriezweig. Das liegt vollkommenim Bereich des Möglichen und sollte oder könnte eine Barrieregegen die Schaffung einer abgehobenen, Zwang ausübendenBürokratie darstellen, wie sie natürlich gerade von den Anarchistenam meisten gefürchtet wird.

Wenn wir einmal annehmen, daß weiterhin die Notwendigkeit ei-ner technisch hoch entwickelten Selbstverteidigung bestehenwürde, kann ich mir anhand Ihrer Beschreibung schlecht vor-stellen, wie das von Ihnen skizzierte System zeitlich begrenzt ar-beitender, auf verschiedenen Ebenen von unten herauf fungie-render Vertretungsräte die Kontrolle über eine Organisationausüben könnte, die so mächtig und technisch komplex ist wie zumBeispiel das Pentagon.

Zuerst sollte man hier auf eine etwas klarere Terminologie achten.Sie bezeichnen das Pentagon ganz der üblichen Praxis ent-sprechend als ein Organ der Verteidigung. Als 1947 das Gesetz zurNationalen Verteidigung verabschiedet wurde, wurde das frühereKriegsministerium, das bis dahin aufrichtigerweise auch„Kriegsministerium" hieß, in „Verteidigungsministerium" um-benannt. Ich war damals noch Student und bildete mir durchausnicht viel auf meine politisch-analytischen Fähigkeiten ein, abermir und auch jedem sonst war sofort klar, daß es jetzt mit derVerteidigung vorbei war, ganz gleich, in welchem Maß sich dasamerikanische Militär einmal mit Verteidigung beschäftigt habenmochte (was es ja während des Zweiten Weltkriegs tatsächlichzum Teil getan hatte). Da man diesen Apparat nun Verteidi-gungsministerium nannte, würde es sich in Zukunft um ein Mi-nisterium für Aggression handeln und sonst nichts.

Entsprechend dem Prinzip, daß man nichts glauben sollte, bevor esnicht offiziell dementiert wurde.

Genau. Hierzu braucht man nur davon auszugehen, daß Orwelldie Natur des modernen Staates im wesentlichen richtig erfaßthatte. Ich denke, das tat er. Damit meine ich, daß das Pentagon

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in keiner Weise ein Verteidigungsministerium ist. Es hat nie dieVereinigten Staaten gegen irgendwen verteidigt: es hat aus-schließlich der Aggression gedient, und ich bin der Ansicht, daß esder amerikanischen Bevölkerung ohne das Pentagon wesentlichbesser gehen würde. Zur Verteidigung würde man bestimmt keinenApparat wie das Pentagon aufbauen. Das Pentagon hat nie ininternationale Angelegenheiten interveniert, um Freiheit oderBürgerrechte zu unterstützen oder Völker gegen Aggression zuverteidigen. Nie ist vielleicht ein starkes Wort, aber ich denke, manmüßte sich schon sehr anstrengen, um auch nur einen Fall zufinden. Sagen wir also, daß das gewiß nicht die charakteristischeMotivation des Pentagon gewesen ist. Das ist durchaus nicht dieRolle dieser massiven, vom Verteidigungsministerium kon-trollierten Militärorganisation. In Wirklichkeit dient das Pentagonzweierlei Aufgaben, die beide sehr antisozial sind.

Die erste besteht darin, ein internationales System zu schützen,in dem das, was gemeinhin die amerikanischen Interessen genanntwird, also in Wirklichkeit Geschäftsinteressen, florieren kann. Undzweites hat es eine wirtschaftliche Aufgabe im Inneren. Ich denke,das Pentagon war immer der wichtigste keynesia-nischeMechanismus, mittels dessen der Staat interveniert, um einenZustand aufrechtzuerhalten, der lächerlicherweise wirtschaftlicheGesundheit genannt wird. Das Pentagon schafft eine Nachfragenach Rüstungsgütern und stimuliert so die Produktion vonHochtechnologiemüll.

Beide Funktionen dienen bestimmten vorherrschenden Inter-essen, nämlich den Klasseninteressen, die die amerikanische Ge-sellschaft beherrschen. Aber ich bin keineswegs der Ansicht, daßsie in irgend einer Weise den Interessen der Bevölkerung nützen,und ich denke, daß dieses System der Produktion von Abfall undZerstörungswerkzeugen in einer libertären Gesellschaft beseitigtwerden würde. Auf der anderen Seite gibt es in dieser Hinsichtdurchaus Probleme. Wenn wir einmal einen vermutlich noch rechtlangen Zeitraum ins Auge fassen und uns eine soziale Revolutionin den Vereinigten Staaten vorstellen, würde es danach wohl kaumeinen Feind von außen geben, der diese soziale Revolutionirgendwie glaubwürdig bedrohen könnte. Wir müßten dann nichtmit einem Angriff von Seiten, sagen wir einmal, Mexikos oderKubas rechnen. Ich gehe davon aus, daß im Fall eineramerikanischen Revolution eine Verteidigung gegen Aggressionvon außen praktisch überflüssig wäre. Wenn allerdings in West-

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europa eine libertäre Revolution stattfände, wäre die Verteidigungein sehr wichtiges Problem.

Ich wollte eigentlich darauf hinaus, daß die Ablehnung der mi-litärischen Selbstverteidigimg sicherlich kein untrennbarer Be-standteil der anarchistischen Idee ist, zumal ja diejenigen anar-chistischen Experimente, die es gegeben hat, tatsächlich von außenzerstört worden sind.

Nun, ich denke, daß man auf diese Fragen keine allgemeingültigeAntwort geben kann; sie müssen je nach den spezifischen hi-storischen und objektiven Bedingungen Fall für Fall gesondertbetrachtet werden.

Ich finde es einfach ein wenig schwierig, ihrer Beschreibung derangemessenen demokratischen Kontrolle solcher Organisationenzu folgen, weil es mir schwerfällt, mir vorzustellen, wie die Gene-räle sich auf eine Art selbst kontrollieren sollen, die Ihre Zu-stimmung fände.

Gerade darum weise ich ja auf die Komplexität der Angelegen-heit hin. All das hängt immer davon ab, von welchem Land undvon welcher Gesellschaft wir sprechen. Die Vereinigten Staatenhabe ich ja schon erwähnt, aber wenn es einmal eine libertäreRevolution in Europa geben sollte, dann würden die Probleme, dieSie angesprochen haben, sehr dringlich werden, weil sich dannsehr ernsthaft die Frage der Verteidigung stellen würde. Das heißt,wenn in Westeuropa in größerem Maßstab libertärsozialistischeGesellschaften entstehen würden, wurde es eine direktemilitärische Bedrohung sowohl von Seiten der Sowjetunion alsauch der Vereinigten Staaten geben. Und es würde sich die Fragestellen, wie man dem entgegentreten soll. Das ist das Problem,dem die spanische Revolution gegenüberstand. Dort gab es direktemilitärische Interventionstätigkeit der Faschisten, derKommunisten und im Hintergrund auch der liberalen Demokraten,und unter solchen Bedingungen stellt die Frage, wie man sichgegen diese Angriffe verteidigen kann, ein schwerwiegendesProblem dar.

Wir müssen jedoch auch die Frage aufwerfen, ob die üblichenzentralisierten Armeen mit ihrer Hochtechnologierüstung die ef-fizienteste Art des Umgangs mit diesem Problem sind. Und dasist alles andere als offensichtlich. So glaube ich zum Beispiel

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nicht, daß eine zentralisierte westeuropäische Armee einen russi-schen oder amerikanischen Angriff zur Unterdrückung des li-bertären Sozialismus abschrecken könnte - wobei man ziemlichsicher sein kann, daß ein solcher Angriff in der ein oder anderenForm käme: vielleicht nicht militärisch, aber ganz bestimmtwirtschaftlich.

Aber auf der anderen Seite würde ein Haufen von Bauern mitMistgabeln und Schaufeln wohl kaum...

Wir sprechen hier ja nicht von Bauern; wir sprechen von einerhochentwickelten, weitgehend städtischen Gesellschaft. Und dascheint es mir so zu sein, daß die beste Verteidigung der libertärenGesellschaft ihre Anziehungskraft auf die Arbeiterklasse in denLändern wäre, aus denen der Angriff kommen würde. Aber ichmöchte das Problem durchaus nicht einfach abtun; es könntenPanzer nötig sein, man könnte Armeen brauchen. Und wenn dasder Fall wäre, können wir sicher sein, daß es zum möglichenScheitern oder zumindest zum Niedergang der revolutionärenKräfte beitragen würde - und zwar aus genau den Gründen, die Sieerwähnt haben. Das heißt, es ist äußerst schwierig, sich vor-zustellen, wie eine effektive zentralisierte Armee, mit Panzern,Flugzeugen, strategischen Waffen und so weiter, in einem solchenRahmen funktionieren könnte. Wenn es das ist, was nötig ist, umdie revolutionären Strukturen zu bewahren, können sie vielleichtüberhaupt nicht bewahrt werden.

Wenn die beste Verteidigung die politische Anziehungskraft, oderdie Anziehungskraft der politischen und ökonomischen Organi-sation ist, sollten wir uns diese Faktoren vielleicht einmal etwasnäher ansehen.Sie haben in einem Ihrer Essays geschrieben, daß „in einermenschenwürdigen Gesellschaft jeder die Möglichkeit habenwürde, interessante Arbeit zu finden, und jedem Menschen diemöglichst vollständige Entfaltung seiner Talente offenstünde". Undim weiteren haben Sie dann gefragt: „ Würden darüber hinausnoch äußere Belohnungen in Form von Reichtum und Machterforderlich sein? Nur wenn wir von der Annahme ausgehen, daßdie Entfaltung des eigenen Talents in interessanter und sozialnützlicher Arbeit nicht Belohnung genug in sich selbst ist. " Ichdenke, daß solche Überlegungen für viele Leute attraktiv sind.Aber ich meine dennoch, daß erst einmal geklärt werden muß, ob

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die Art von Arbeit, die die Menschen interessant und anziehendund erfüllend finden, denn überhaupt mit der Sorte von Arbeitzusammenfallen würde, die tatsächlich getan -werden muß, wennwir auch nur annähernd den Lebensstandard aufrechterhalten•wollen, den die Menschen sich wünschen und den sie gewohntsind.

Sicher gibt ein gewisses Maß an Arbeit, die einfach getan werdenmuß, wenn wir diesen Lebensstandard aufrechterhalten wollen.Unklar ist dagegen bisher, wie mühselig diese Arbeit sein muß.Wir müssen schließlich daran denken, daß die wissenschaftlichen,technologischen und intellektuellen Kapazitäten der Gesellschaftbisher nicht der Untersuchung dieser Frage oder der Überwindungdes mühseligen und selbstzerstörerischen Charakters dieser für dieGesellschaft notwendigen Arbeit gewidmet worden sind. Das liegtdaran, daß immer einfach davon ausgegangen worden ist, daß manauf eine enorme Menge von Lohnsklaven zurückgreifen kann, diediese Arbeit dann schon tun werden, weil sie ansonsten hungernmüssen. Wir können jedoch jetzt noch nicht sagen, wie dieAntwort aussehen wird, wenn wir unsere Intelligenz einmal auf dieFrage anwenden, wie man die notwendige Arbeit der Gesellschaftin sich selbst bedeutsam machen kann. Ich würde vermuten, daßein Großteil dieser Arbeit vollkommen erträglich gestaltet werdenkann. Selbst von harter körperlicher Knochenarbeit wäre es falsch,anzunehmen, sie müsse notwendigerweise widerwärtig sein. VieleMenschen -zu denen auch ich selbst gehöre - tun solche Arbeit zurEntspannung. So bin ich erst kürzlich auf die Idee verfallen, imRahmen des staatlichen Forstprogrammes vierunddreißig Bäumeauf dem Rasen hinter meinem Haus zu pflanzen. Das bedeutete,daß ich vierunddreißig Löcher in den Boden graben mußte.Angesichts dessen, womit ich sonst meistens meine Zeit verbringe,ist das für mich ziemlich harte Arbeit, aber ich kann nur sagen, daßich es genossen habe. Nicht gefallen hätte es mir natürlich, wennich dabei Arbeitsnormen und einen Aufseher gehabt hätte,und wenn man mir befohlen hätte, es zu einer bestimmten Zeitzu tun und so weiter. Aber wenn man so etwas aus ei-genem Antrieb tut, gibt es da überhaupt kein Problem. Undoft ist wie in diesem Fall keine Technologie, keinbesonderer Arbeitsplan und auch sonst nichts von dieser Art nötig.

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Dem möchte ich doch entgegenhalten, daß eine solche Sicht derDinge vielleicht nichts weiter ist als eine höchst romantischeTäuschung, der sich nur eine kleine Elite von Leuten hingebenkann, die sich zudem wie Professoren, vielleicht auch Journalistenund ähnliche Leute, in der sehr privilegierten Situation befinden,für das bezahlt zu werden, was sie sowieso gerne tun.

Genau darum habe ich vor all das ein großes „Wenn" gestellt. Ichsagte, daß wir zuerst danach fragen müssen, inwieweit die für dieGesellschaft notwendige Arbeit - die Arbeit, die erforderlich ist,um den Lebensstandard aufrechtzuerhalten, den wir uns wünschen- zwangsläufig widerwärtig und abstoßend sein muß. MeinesErachtens könnte dies in viel geringerem Maß der Fall sein alsheute; nehmen wir aber an, daß ein Teil davon einfach widerlichbleibt. Nun, in diesem Fall ist die Antwort auf unser Problem ganzeinfach: diese Arbeit muß dann unter all denen, die fähig sind, siezu verrichten, gleichmäßig aufgeteilt werden.

Und jeder verbringt dann eine gewisse Anzahl von Monaten imJahr am Fließband, um Autos herzustellen, und eine bestimmteAnzahl von Monaten bei der Müllabfuhr...

Wenn es sich herausstellt, daß es sich jeweils wirklich um Auf-gaben handelt, in denen niemand eine Erfüllung finden kann. Ichglaube das im übrigen gar nicht unbedingt. Wenn ich Leuten beider Arbeit zusehe, sagen wir einmal Handwerkern wie zum Bei-spiel Automechanikern, dann finde ich dort oft eine Menge Stolzauf die Arbeit, die sie tun. Ich denke, daß diese Art von Stolz aufkompetent erledigte Arbeit, auf komplizierte Arbeit, die gut getanist, die Arbeit in eine befriedigende und lohnende Tätigkeitverwandeln kann, weil viel an Gedankenreichtum und Intelligenzin sie einfließt, besonders, wenn man auch an der Verwaltung desUnternehmens und den planerischen Entscheidungen darüber, wiedie Arbeit organisiert werden soll, wozu sie getan werden soll, wasder Zweck der Arbeit ist, was mit den Produkten geschehen sollund so weiter beteiligt ist - daß das Arbeit ist, die tatsächlichKenntnisse und Fähigkeiten erfordert, Fähigkeiten, derenAnwendung die Menschen auch genießen. Das sind na-türlich zunächst einmal Hypothesen. Nehmen wir an, es stellt sichheraus, daß es noch einen Rest von Arbeit gibt, den wirklichniemand tun will, was immer das dann sein mag - nun,dann würde ich denken, daß dieser Rest gerecht aufgeteilt werden

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muß, und daß die Menschen von diesem Bereich abgesehen freisein werden, ihre Begabungen so zu verwenden, wie es ihnengefällt.

Wenn aber nun, wie einige Leute behaupten, dieser Rest sehr großwäre, wenn er neunzig Prozent der für die Konsumgüter, die wiralle haben wollen, notwendigen Arbeit ausmachen würde, nähmeja die Organisation der Aufteilung dieser Arbeit ein uferlosesAusmaß an, wenn jeder einen kleinen Teil all dieser häßlichenArbeiten verrichten würde. Denn schließlich muß man, selbst umdie häßliche Arbeit verrichten zu können, ausgebildet und geschultwerden, wodurch die Effizienz der ganzen Wirtschaft leiden würde.Aufgrund des ineffizienten Charakters der Produktion würde derLebensstandard dann sinken.

Nun, zum einen scheint mir das jetzt wirklich sehr hypothetisch,weil ich glaube, daß die tatsächlichen Zahlen doch ganz andersaussähen. Wenn die menschliche Intelligenz, wie ich vorhin bereitsvorgeschlagen habe, mehr der Frage danach gewidmet würde, wieman die Technologie so gestalten kann, daß sie den Bedürfnissender produzierenden Menschen entspricht statt umgekehrt - heutefragen wir ja in erster Linie danach, wie der Mensch mit seinenbesonderen Eigenschaften an ein technologisches System angepaßtwerden kann, das ganz anderen Zwecken, nämlich der Produktionfür den Profit dient -, dann würden wir meiner Ansicht nachfinden, daß es von der wirklich unerwünschten Arbeit viel wenigergibt, als Sie eben angedeutet haben. Aber wie hoch der Anteildieser Arbeit auch sein mag: Wir müssen feststellen, daß es imwesentlichen zwei Alternativen gibt. Die eine Alternative ist, sieauf alle gleich aufzuteilen, die andere, daß wir soziale Institutionenschaffen, durch die eine bestimmte Gruppe von Menschen einfachgezwungen sein wird, diese Arbeit zu tun, weil sie sonst nichtleben kann. Das sind die beiden Alternativen.

Sie müssen ja nicht unbedingt gez\vungen sein, sie zu tun. Viel-leicht wären sie freiwillig dazu bereit, wenn man ihnen dafür eineSumme zahlt, die es in ihren Augen lohnend machen würde.

Vielleicht. Ich gehe allerdings von der Annahme aus, daß jederim großen und ganzen die gleiche Entlohnung erhält. Sie dürfennicht vergessen, daß die Menschen, die die widerwärtige Arbeit

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tun, in der heutigen Gesellschaft keineswegs viel höher entlohntwerden als die Leute, die in einem Bereich arbeiten, den sie sichausgesucht haben - ganz im Gegenteil. Die Funktionsweise unsererGesellschaft und überhaupt jeder Klassengesellschaft sorgt jagerade dafür, daß die Leute, die die Arbeit tun, die sonst keinermachen will, zugleich die mit der niedrigsten Entlohnung sind.Diese Arbeit wird trotz allem erledigt, und so blenden wir sie ausunserem Bewußtsein aus, indem wir stillschweigend davon aus-gehen, daß es ja schließlich eine sehr große Klasse von Menschengibt, die nur einen einzigen Produktionsfaktor besitzen, nämlichihre Arbeit, und daß ihnen gar nichts anderes übrigbleibt, als sie zuverkaufen. Sie müssen die Arbeit machen, die die anderen nichtwollen, weil sie gar keine andere Möglichkeit haben, und siebekommen sehr wenig dafür. Aber ich akzeptiere Ihren Einwand.Stellen wir uns also drei verschiedene Gesellschaftsformen vor:erstens, die gegenwärtige Gesellschaft, in der die unerwünschteArbeit Lohnsklaven übertragen wird. Als zweite Möglichkeithätten wir ein System, in dem die unerwünschte Arbeit, nachdemman alle Anstrengungen unternommen hat, ihr einen sinnvollenCharakter zu verleihen, aufgeteilt wird, und drittens hätten wir eineGesellschaft, in der die unerwünschte Arbeit mit hohenExtrazahlungen entlohnt wird, so daß viele Leute sie freiwilligwählen werden. So, wie ich die Sache sehe, sind die beidenletztgenannten Systeme im großen und-ganzen mit anarchistischenPrinzipien vereinbar. Ich persönlich würde die zweite Variante derdritten vorziehen, aber beide stellen eine Art der sozialenOrganisation dar, die sich von sämtlichen gegenwärtigexistierenden Modellen und Tendenzen gesellschaftlicherOrganisation scharf unterscheidet.

Ich möchte es noch einmal anders ausdrücken. Unabhängig davon,wie man die Sache kaschiert, scheint mir hier doch einegrundlegende Wahl zu bestehen: entweder man organisiert dieArbeit so, daß sie für die Menschen, die sie tun, befriedigend ist,oder man organisiert sie so, daß sie für die Menschen, die dieProdukte gebrauchen oder konsumieren, einen maximalen Werthat. Mir scheint, daß eine Gesellschaft, die so organisiert ist, daßjeder die maximale Möglichkeit erhält, seine Hobbys auszuleben,was ja alles in allem heißt, daß die Arbeit um der Arbeit selbstwillen getan werden sollte - daß der logische Kulminationspunkteiner solchen Gesellschaft das Kloster ist. Die Art von Arbeit,die dort verrichtet wird, nämlich das Gebet, ist Arbeit zur see-

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lisch-geistigen Bereicherung des Arbeitenden, produziert aberauch nichts, was für irgend jemand von Nutzen ist, weshalb derLebensstandard sehr niedrig ist oder man sogar hungern muß.

Bei dem, was Sie da sagen, gehen sie von einigen Annahmen überdie Tatsachen aus, denen ich nicht zustimmen würde. MeinerAnsicht nach entsteht der sinnvolle Charakter einer Arbeitteilweise daraus, daß sie nützlich ist, daß ihre Produkte nützlichsind. Ein Handwerker mißt seiner Arbeit zum Teil deswegen Be-deutung zu, weil er seine Intelligenz und seine Fähigkeiten ihn ihranwenden kann, zum Teil aber auch deshalb, weil seine Arbeitnützlich ist, und ich möchte hinzufugen, daß dasselbe auch fürWissenschaftler gilt. Damit meine ich, daß die Tatsache, daß dieArbeit, mit der man beschäftigt ist, weiterführende Ergebnisse hat,auf denen andere aufbauen können, der Wissenschaft erst ihreeigentliche Bedeutung gibt und ganz abgesehen von der Eleganzund Schönheit der Theorien, die man vielleicht aufstellen kann, inder Tätigkeit des Wissenschaftlers einen großen Stellenwerteinnimmt. Und ich denke, daß das für den gesamten Bereichmenschlicher Tätigkeiten gilt. Und wenn wir uns die Geschichteeinmal genauer ansehen, werden wir meiner Ansicht nach finden,daß die Menschen sehr häufig tatsächlich eine gewisseBefriedigung, oft sogar große Befriedigung aus der produktivenund kreativen Arbeit gezogen haben, die sie verrichteten. Undmeines Erachtens sind die Möglichkeiten in dieser Hinsicht durchdie Industrialisierung enorm erweitert worden. Warum? Geradedeshalb, weil durch die Industrialisierung ein Großteil dersinnlosesten Fronarbeit von Maschinen übernommen werden kann,wodurch der Bereich wirklich kreativer menschlicher Arbeiterheblich erweitert werden kann.

Sie bezeichnen Arbeit, die aus freien Stücken getan wird, alsHobby. Das sehe ich nicht so. Ich bin der Meinung, daß Arbeit, dieaufgrund freier Entscheidung getan wird, zugleich nützliche,sinnvolle, gut getane Arbeit sein kann. Außerdem stellen Sie hierebenso wie viele andere ein Dilemma zwischen dem Bedürfnisnach befriedigender Arbeit und dem Erfordernis auf, Dinge zuproduzieren, die für die Gemeinschaft von Wert sind. Aber es stehtüberhaupt nicht fest, daß hier überhaupt ein Dilemma oderein Widersprach vorliegt. So ist es keineswegs klar, daß die Lustund Befriedigung, die man aus seiner Arbeit zieht, in umge-kehrter Beziehung zum Wert des Arbeitsergebnisses stehen müs-sen. Ich bin nicht der Ansicht, daß das der Fall ist.

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Vielleicht nicht in umgekehrter Beziehung, aber es könnte ja sein,daß da gar keine Beziehung besteht. Nehmen wir einmal so ehvasEinfaches wie einen Eisverkäufer, der an einem Feiertag amStrand Eis verkauft. Damit leistet er der Gesellschaft einen Dienst:vielleicht ist es heiß, und die Leute freuen sich, wenn es Eis gibt.Aber ich finde, es ist schwer zu erkennen, inwiefern es die Freudeeines Handwerkers an seiner Tätigkeit oder ein großes Gefühlsozialer Tugend oder von Edelmut vermitteln soll, wenn man dieseAufgabe erledigt. Warum sollte jemand so etwas machen, wenn ernicht dafür belohnt wird?

Ich muß aber sagen, daß ich schon einige Eisverkäufer gesehenhabe, die sehr fröhlich aussahen...

Natürlich, sie verdienen ja auch eine Menge Geld.

...oder denen einfach der Gedanke Freude bereitet, daß sie dafürsorgen, daß Kinder Eis bekommen. Und wenn ich das mit tausendanderen Beschäftigungsarten vergleiche, die ich mir vorstellenkann, scheint es mir eine vollkommen vernünftige Art zu sein,seine Zeit zu verbringen.

Mir scheint, daß die meisten Berufe, besonders sogenannteDienstleistungsberufe, bei denen es ja um Beziehungen zu Men-schen geht, schon in sich etwas Befriedigendes und Lohnendeshaben, nämlich durch den Umgang mit den Menschen, mit denenman dabei zu tun hat. Das gilt zum Beispiel für Lehrtätigkeiten,aber durchaus auch fürs Eisverkaufen. Ich gebe zu, daßEisverkaufen nicht das Engagement oder die Intelligenz erfordertwie die Tätigkeit als Lehrer, und es mag sein, daß dieser Berufdaher nicht so begehrt ist. Aber falls es so ist, dann sollte die Tä-tigkeit aufgeteilt werden. Ich möchte jedoch vor allem daraufhinweisen, daß die Ausgangsannahme, daß Freude an der Arbeitund der Stolz, den man aus der Arbeit zieht, entweder nichts mitdem Wert des Arbeitsresultats zu tun haben oder zu diesem innegativer Beziehung stehen, eng mit einer bestimmten Stufe derGeschichte verbunden ist, nämlich dem Kapitalismus, in dem dieMenschen als Werkzeuge der Produktion angesehen werden. Aberdiese Annahme stimmt nicht einmal unter dem Kapitalismusunbedingt. Wenn Sie sich zum Beispiel die vielen von Ar-beitspsychologen durchgeführten Interviews mit Fließbandarbei-tern ansehen, dann finden Sie als eine der Beschwerden, die vonden Arbeitern wieder und wieder vorgebracht wird, die Tatsache,

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daß es am Fließband unmöglich ist, gute Arbeit zu leisten, daß dasBand zu schnell läuft, um gute Arbeit liefern zu können. Erstkürzlich habe ich mir in einer gerontologischen Zeitschrift eineStudie angesehen, in der versucht wurde, die Faktoren zu be-stimmen, anhand derer man die voraussichtliche Lebenserwartungbestimmter Personengruppen prognostizieren kann. Dabei wurdedie Auswirkung von Faktoren wie Rauchen, Alkohol, genetischenUrsachen und ähnlichem untersucht. Es stellte sich heraus, daß derstärkste Indikator, der bedeutsamste Faktor für eine hoheLebenserwartung die Zufriedenheit am Arbeitsplatz war.

Leute, die gute Jobs haben, leben länger.

Leute, die mit ihrer Arbeit zufrieden sind. Und ich denke, daß dasziemlich einsichtig ist, denn der Arbeitsplatz ist der Ort, wo maneinen Großteil seines Lebens verbringt, wo man seine Kreativitätzur Geltung bringen kann. Und was führt zu Zufriedenheit bei derArbeit? Das sind gewiß viele verschiedene Dinge, und das Wissen,daß man dabei etwas Nützliches für die Gemeinschaft tut, gehörtals wichtiger Teil dazu. Viele Leute, die mit ihrer Arbeit zufriedensind, sind dies genau deshalb, weil sie das Gefühl haben, daß das,was sie tun, wichtig ist. Das können Lehrer sein, das können Ärztesein; es können Wissenschaftler sein, es können Handwerker sein,es können Bauern sein. Ich denke einfach, daß das Gefühl, daß dieeigene Tätigkeit wichtig ist, daß sie es wert ist, getan zu werden,und etwas zum Wohl derer beisteuert, denen man sich verbundenfühlt, ein sehr bedeutsamer Faktor für die persönlicheZufriedenheit ist.

Davon abgesehen gibt es natürlich noch den Stolz und dieErfüllung, die man aus einer Arbeit bezieht, die man gut gemachthat - daraus, daß man sich seine Fähigkeiten zunutze macht und sieanwendet. Ich sehe gar nicht ein, weshalb das den Wert desProdukts in irgend einer Weise beeinträchtigen sollte; eigentlichsollte genau das Gegenteil der Fall sein.

Aber gehen wir dennoch einmal davon aus, daß die Möglich-keit, bei der Arbeit Befriedigung zu finden, in irgend einer anderenHinsicht negative Konsequenzen hat. Nun, dann müßte dieGesellschaft, die Gemeinschaft darüber entscheiden, wie man ei-nen Kompromiß findet. Jeder Einzelne ist schließlich sowohlProduzent als auch Konsument, und das würde bedeuten, daß je-der Einzelne sich an diesen von der Gesellschaft beschlossenen

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Kompromissen beteiligen müßte - falls solche Kompromisseüberhaupt nötig sind. Und ich möchte noch einmal sagen, daß ichder Auffassung bin, daß die Schwierigkeit, hier einen Kompromißzu finden, oft stark übertrieben wird, weil sie durch dasverzerrende Prisma des von Zwang bestimmten, für die einzelnePerson zerstörerischen Systems gesehen wird, in dem wir leben.

Sie sagen also, daß die Gemeinschaft Entscheidungen überKompromisse treffen muß, und all das ist ja in der kommunisti-schen Theorie mit ihren Ideen über nationale Planung, Investiti-onsentscheidungen, die Lenkung von Investitionen und so weiterauch vorgesehen. Wie es scheint, wollen Sie aber in einer anar-chistischen Gesellschaft nicht die Art von staatlichem Überbauhaben, der notwendig wäre, um diese Pläne zu machen, um Ent-scheidungen über Investitionen zu fällen und um zu entscheiden, obman den Konsumwünschen der Bürger oder ihren Wünschenhinsichtlich der Arbeit, die sie tun wollen, Priorität einräumt.

Das sehe ich ganz anders. Soweit ich sehen kann, liefern anar-chistische oder auch linksmarxistisch inspirierte Strukturen, die aufSystemen von Arbeiterräten und -föderationen basieren, genau dieVielfalt von Entscheidungsebenen, auf denen Beschlüsse übereinen nationalen Plan gefällt werden können. Eine solcheEntscheidungsebene - wie zum Beispiel die Nation - zur Ausar-beitung nationaler Pläne finden wir tatsächlich auch in denstaatssozialistischen Gesellschaften; in dieser Hinsicht gibt eskeinen Unterschied. Der Unterschied zwischen Anarchismus undStaatssozialismus liegt in der Antwort auf die Frage, wer an diesenEntscheidungen teilnimmt und die Kontrolle über sie in der Handhat. Nach Auffassung der Anarchisten und der Linksmarxisten -ebenso wie der Vertreter der Arbeiterrätebewegung oder derRätekommunisten, die ja Linksmarxisten waren - sollten dieseEntscheidungen von einer wohlinformierten Arbeiterschaft überdie von ihr organisierten Versammlungen und die Repräsentanten,die in ihrer Mitte arbeiten und leben, getroffen werden. In denstaatssozialistischen Systemen wird der nationale Plan von einernationalen Bürokratie beschlossen, die sämtliche relevantenInformationen an sich zieht, Entscheidungen fällt, die sieerst danach veröffentlicht, und alle paar Jahre einmal vor dieÖffentlichkeit trifft und sagt: „Ihr könnt diesen oder jenen vonuns wählen, aber wir sind samt und sonders Teil dieser über al-

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lem stehenden Bürokratie." Das sind die Pole, das sind die polarenGegensätze innerhalb der sozialistischen Tradition.

Also gibt es in Wirklichkeit eine beträchtliche Rolle für den Staatund sogar für Staatsbeamte, für eine Bürokratie, nur daß dieKontrolle über all das auf eine andere Art ausgeübt wird.

Nein, denn ich glaube wirklich nicht, daß wir eine abgetrennteBürokratie brauchen, um Regierungsentscheidungen durchzufüh-ren.

Man braucht vielerlei Arten von Fachwissen.

Sicher doch, aber nehmen wir einmal das Fachwissen in Bezug aufdie ökonomische Planung, weil man in einer komplexen In-dustriegesellschaft natürlich Techniker brauchen wird, die dann dieAufgabe haben werden, Pläne auszuarbeiten und die Konse-quenzen der jeweiligen Entscheidungen offenzulegen - indem siebeispielsweise den Menschen, die die Entscheidungen zu treffenhaben, erklären, daß die wahrscheinlichen Konsequenzen einerbestimmten Entscheidung anhand dessen, was ihr programmiertesModell zeigt, so und so aussehen werden, und ähnliches mehr. DerPunkt dabei ist, daß diese Planungssysteme selbst ebenfalls nurWirtschaftszweige darstellen, die gleichfalls ihre Arbeiterräte ha-ben und Teil des gesamten Rätesystems sind; der Unterschied be-steht einfach darin, daß es nicht diese Planungssysteme sind, dieschließlich die Entscheidungen treffen. Sie produzieren in genaudemselben Sinn Pläne wie Autobauer Autos produzieren. Genauwie die Autos ein Produkt sind, das von den Konsumenten zumFahren benutzt wird, stehen die Pläne dann den Arbeiterräten undRäteversammlungen zur Verfügung. Dazu ist natürlich eine gutinformierte und gebildete Arbeiterklasse nötig. Aber gerade daskann in einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft leicht erreichtwerden.

Inwieweit hängt der Erfolg des libertären Sozialismus oder desAnarchismus letztlich von einer grundlegenden Veränderung dermenschlichen Natur im Hinblick auf allgemeine Motivation, Al-truismus, Wissen und Kulturniveau ab?

Ich meine nicht nur, daß der Erfolg dieses Projekts von all demabhängt, sondern sogar, daß der ganze Zweck des libertären So-

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zialismus gerade darin besteht, zu dieser Veränderung beizutragen.Er wird zu einer geistigen Transformation beitragen - zu genau derArt von Transformation in der Einstellung der Menschen zu sichselbst und ihrer Fähigkeit, zu handeln, Entscheidungen zu treffen,schöpferisch tätig zu sein, zu produzieren, zu forschen, derenBedeutung soziale Denker eines Spektrums, das von derlinksmarxistischen Tradition etwa Rosa Luxemburgs bis hin zumAnarchosyndikalismus reicht, immer unterstrichen haben. Also istes einerseits so, daß diese Form der sozialen Organisation einesolche Transformation voraussetzt. Auf der anderen Seite ist esgerade ihr eigentlicher Zweck, Institutionen zu schaffen, die zudieser Transformation im Wesen der Arbeit, im Wesen derkreativen Aktivität und in den sozialen Beziehungen zwischen denMenschen generell beitragen werden; durch diese Interaktionzwischen Bewußtsein und Institutionalisierung sollte es möglichsein, Institutionen zu schaffen, die es neuen Aspekten dermenschlichen Natur erlauben, sich frei zu entfalten. Aus dieserEntwicklung entstehen dann aufgrund der Beiträge freierer Men-schen weitere libertäre Institutionen: das ist die Evolution desSozialismus, wie ich ihn verstehe.

Eine letzte Frage, Professor Chomsky: Wie denken sie über dieChancen, daß in den großen Industrieländern des Westens imVerlauf, sagen wir einmal, der nächsten fünfundzwanzig JahreGesellschaften entstehen, die nach diesen Prinzipien organisiertsind?

Ich glaube nicht, daß ich klug oder informiert genug bin, umdarüber etwas sagen zu können, und ich denke, daß Vorhersagenüber Dinge, von denen wir so wenig verstehen, im allgemeineneher auf persönlichen Meinungen als auf Tatsachen beruhen. Aberich glaube, wir können zumindest so viel sagen: Im Indu-striekapitalismus sind ganz offensichtlich Tendenzen wirksam,durch die die Macht immer stärker in privaten Wirtschaftsimperienund einem immer totalitärer werdenden Staat konzentriert wird.Diese Tendenzen bestehen schon seit geraumer Zeit, und bishersehe ich nichts, was sie wirklich aufhalten könnte. Ich denke, siewerden auch in Zukunft anhalten; sie sind Teil der Stagnation unddes Niedergangs der kapitalistischen Institutionen.

Es steht aber auch zu vermuten, daß die - natürlich eng mit-einander verbundenen - Entwicklungen zum staatlichen Totalita-

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rismus und zur wirtschaftlichen Konzentration mehr und mehr zurAbwendung der Menschen von diesen Institutionen, zu Be-mühungen um persönliche Befreiung und organisatorischen An-strengungen zur Bewerkstelligung sozialer Befreiung führenwerden. Und dieser Prozeß wird alle möglichen Formen anneh-men. Es gibt heute in ganz Europa die Forderung nach sogenannterArbeiterbeteiligung oder Mitbestimmung, oder manchmal sogarauch nach Arbeiterkontrolle. Die Resultate dieser Bemühungensind zumeist minimal. Ich denke, daß sie leicht in eine falscheRichtung führen können und daß sie unter Umständen sogar dieBemühungen der Arbeiterklasse, sich zu befreien, unterminierenkönnen. Aber sie bilden zum Teil eine Reaktion auf ein starkesintuitives Verständnis, daß Zwang und Unterdrük-kung, ob nundurch private ökonomische Macht oder durch eineStaatsbürokratie, keineswegs notwendige Bestandteile desmenschlichen Lebens bilden. Und je stärker dieKonzentrationsprozesse von Macht und Autorität weitergehen,desto mehr werden wir Zeuge des Widerwillens gegen dieseProzesse sowie von Bemühungen sein, sich zu organisieren undihnen ein Ende zu machen - Bemühungen, die, wie ich hoffe,früher oder später erfolgreich sein werden.

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VI. Blick in die Zukunft

11. Die ungezähmte Meute*

Humes Paradox der Regierung entsteht nur, wenn wir davon aus-gehen, daß ein entscheidendes Element der menschlichen Naturdas ist, was Bakunin den „Freiheitsinstinkt" nannte. Es ist geradedie Tatsache, daß die Menschen nicht nach diesem Instinkt han-deln, die Hume überraschend fand. Genau davon war auch Rous-seaus klassische Klage inspiriert, wonach die Menschen frei ge-boren sind, aber - verführt von den durch die Reichen zur Siche-rung ihrer Pfründe geschaffenen Illusionen über die bürgerlicheGesellschaft - überall in Ketten liegen. Manche Menschen mögensich die Annahme eines Freiheitsinstinkts als eine der „natürlichenÜberzeugungen" zu eigen machen, von denen sie ihr Verhaltenund ihr Denken leiten lassen. Es hat Bemühungen gegeben, denFreiheitsinstinkt in einer begründeten Theorie der menschlichenNatur zu verankern. Sie sind nicht ohne Interesse, aber es gelingtihnen gewiß nicht im Entferntesten, ihr Anliegen zu beweisen. Wieandere Grundsätze des gesunden Menschenverstands bleibt dieseÜberzeugung ein regulatives Prinzip, das man auf Glaubensbasisakzeptiert oder ablehnt. Welche Wahl wir in dieser Hinsichttreffen, kann weitreichende Konsequenzen für uns selbst undandere haben.

Diejenigen, die das Prinzip des gesunden Menschenverstandsakzeptieren, demzufolge Freiheit ein unverzichtbares Bedürfnisund unser Recht ist, werden Bertrand Russell darin zustimmen, daßder Anarchismus „das eigentliche Ideal ist, an das die Gesellschaftsich annähern sollte". Strukturen, die auf Hierarchie undHerrschaft aufgebaut sind, sind ihrem Wesen nach illegitim. Siekönnen nur im Rahmen selten auftretender Notlagen vertei-digt werden, aber dieses Argument hält selten einer Analyse

* Diese Bemerkungen bilden den Schluß von Chomskys Buch Deterring Democracy(Verso, 1991). In seinen Ersten Prinzipien der Regierung fand der schottische PhilosophDavid Hume „nichts überraschender", als „die Leichtigkeit, mit der es den Wenigengelingt, die Vielen zu regieren", da doch „die Herrschenden" in jeder Gesellschaft„nichts zu ihrer Unterstützung haben als die Meinungen". Das Problem, das Volk - die„ungezähmte Meute", von der die Staatstheoretiker des siebzehnten und achtzehntenJahrhunderts sprachen - im Zaum zu halten, stellt sich nur dann, wenn diese Meute sichaufgrund ihrer innersten Instinkte von der Herrschaft „der Wenigen über die Vielen"vergewaltigt fühlt, was zur Zeit der neoliberalen Herrschaft am Ausgang desJahrtausends oft hingebungsvoll bestritten wird.

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stand. Wie Russell vor siebzig Jahren weiter feststellte, haben „diealten Bande der Autorität" nur wenig inneren Wert. Um Menschendazu zu bringen, auf ihre Rechte zu verzichten, muß man Gründeins Feld führen, „und die Gründe, die uns geboten werden, sindbetrügerische Gründe, die nur jene überzeugen, die einselbstsüchtiges Interesse daran haben, sich überzeugen zu lassen.... Die Voraussetzungen für eine Revolte", so fuhr er fort, „findensich bei den Frauen gegenüber den Männern, bei den unterdrücktenNationen gegenüber ihren Unterdrückern, und vor allem bei denArbeitern gegenüber dem Kapital. Wie die gesamte vergangeneGeschichte zeigt, ist das ein Zustand, der viele Gefahren,gleichzeitig aber auch viele Hoffnungen in sich birgt."1

Russell führte die Gewohnheit der Unterwerfung teilweise aufvon Zwang bestimmte erzieherische Praktiken zurück. Seine An-sichten erinnern an die Denker des siebzehnten und achtzehntenJahrhunderts, die die Auffassung vertraten, der Geist solle nicht„wie ein Gefäß von außen" mit Wissen gefüllt werden, sondern„angeregt und erweckt" werden. „Das Wachstum des Wissens[erinnert] an das Wachstum einer Frucht; wie sehr es auch stimmenmag, daß äußere Gründe in gewissem Maß mitwirken, so ist esdennoch die innere Kraft und Bestimmung des Baumes, die seineSäfte zur richtigen Reife bringen muß." Ähnliche Konzeptionenliegen dem aufklärerischen Denken über die politische undintellektuelle Freiheit sowie über die entfremdete Arbeit zugrunde,die aus dem Arbeiter ein Werkzeug für fremde Ziele macht stattein menschliches Wesen, das seine inneren Bedürfnisse erfüllt -letzteres ein fundamentales Prinzip des klassischen liberalenDenkens, das indes aufgrund seiner revolutionären Konsequenzenlängst vergessen ist. Diese Ideen und Werte behalten ihre Kraftund Bedeutung, obwohl sie überall auf der Welt weit von ihrerVerwirklichung entfernt sind. Solange das so ist, bleiben dielibertären Revolutionen des achtzehnten Jahrhunderts unvollendetund eine Vision für die Zukunft.2

In der Tatsache, daß die Meute trotz aller Bemühungen, siedavon abzuhalten, weiterhin für ihre fundamentalen Menschen-rechte kämpft, könnte man eine Bestätigung der erwähnten

1 Für eine ausführlichere Diskussion, siehe mein Buch Problems of Knowledge andFreedom, Vorlesungen zum Gedächtnis an Russell am Trinity College, Cam-bridge/England (Pantheon, 1971).2 James Harris, Ralph Cudworth. Siehe meine Studie Cartesian Linguistics (Harper &Row, 1966), und für weitere Diskussion meinen Essay „Language and Freedom",abgedruckt in For Reasons of State und The Chomsky Reader.

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spontanen Überzeugung sehen. Und im Lauf der Zeit sind einigelibertäre Werte teilweise verwirklicht oder sogar zum festen Be-standteil unseres Lebens geworden. So sehen zum Beispiel vieleder seinerzeit empörenden Ideen der radikalen Demokraten dessiebzehnten Jahrhunderts heute recht zahm aus, obwohl anderefrühe Einsichten jenseits unseres gegenwärtigen moralischen undintellektuellen Horizonts bleiben.

Der Kampf für die Meinungsfreiheit ist ein interessanter Fall -und ein sehr wichtiger, da er sich im Zentrum einer ganzen Reihevon Freiheiten und Rechten befindet. Ein zentrales Problem dermodernen Zeit ist die Frage, wann, wenn überhaupt jemals, derStaat auf den Plan treten darf, um in den Inhalt des freienMeinungsaustauschs einzugreifen. Selbst viele von denen, die alsführende Verfechter der Bürgerrechte gelten, haben sich restriktiveund von Vorbehalten bestimmte Ansichten zu dieser Frage zueigen gemacht.3 Ein kritisches Element ist der im traditionellenenglischen Recht verankerte Tatbestand der aufrührerischenVerleumdung, die Idee, daß der Staat durch bloße Mei-nungsäußerung in verbrecherischer Weise angegriffen werdenkann - „das typische Kennzeichen geschlossener Gesellschaftenauf der ganzen Welt", wie der Rechtshistoriker Harry Kalvenbemerkt. Eine Gesellschaft, die Gesetze gegen „aufrührerischeVerleumdung" toleriert, ist nicht frei, was immer sonst ihre Ver-dienste sein mögen. Im England des späten siebzehnten Jahrhun-derts wurden Menschen für dieses Verbrechen kastriert, aufge-schlitzt, gevierteilt und geköpft. Während des ganzen achtzehntenJahrhunderts bestand ein allgemeiner Konsens, die etablierteAutorität könne nur aufrechterhalten werden, indem subversiveDiskussionen erstickt werden und „jede Bedrohung, ob real odereingebildet, für den guten Ruf der Regierung" durch Gewalt ver-hindert wird (Leonard Levy). „Privatbürger sind nicht die Richterihrer Herren, ... denn dies würde jede Regierung umstürzen",schrieb damals ein Publizist. Die Wahrheit der in Frage stehendenBehauptungen galt dabei nicht als Verteidigungsgrund: wahreBeschuldigungen sind noch verbrecherischer als falsche, weil siein viel stärkerem Maß geeignet sind, die Autorität in ein schlechtesLicht zu rücken.4

3 Für weitere Diskussion und Quellen, siehe mein Buch Necessary Illusions, Ap-pendix V, Abschnitt 8.4 Levy,Emergence of a Free Press, S. XVII, 9, 102, 41, 130.

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Nebenbei bemerkt, folgt der Umgang mit abweichenden Mei-nungen in unserer freiheitlicheren Ära einem ähnlichen Modell.Falsche und lächerliche Beschuldigungen sind kein wirklichesProblem; es sind gerade die unverantwortlichen Kritiker, die un-erwünschte Wahrheiten enthüllen, vor denen die Gesellschaft ge-schützt werden muß.

Die Doktrin der aufrührerischen Verleumdung wurde auch inden amerikanischen Kolonien beibehalten. Die Intoleranz, diewährend der revolutionären Periode gegenüber abweichendenMeinungen herrschte, ist berüchtigt. Auch der führende ameri-kanische Libertäre Thomas Jefferson vertrat die Meinung, ein„Verräter in Gedanken, nicht in Taten" müsse bestraft werden, undgenehmigte dementsprechend die Internierung politischVerdächtiger. Er und die anderen Gründerväter waren der Mei-nung, daß „verräterische oder respektlose Worte" gegen die Au-torität des nationalen Staats oder seiner einzelnen Institutionenverbrecherisch seien. „Während der Revolution", schreibt LeonardLevy,

meinte Jefferson, ebenso wie Washington, die beidenAdams und Paine, es dürfe keine Tolerierung ernsthafterMeinungs-Verschiedenheiten in Bezug auf dieUnabhängigkeit, keine Alternative zur vollständigenUnterordnung unter die patriotische Sache geben. Es gaballenthalben die grenzenlose Freiheit, den Patriotismus zupreisen, aber keine Freiheit, ihn zu kritisieren.

Zu Beginn der Revolution verlangte der Kontinentalkongreß vonden Staaten, Gesetze zu verabschieden, die das Volk davon ab-halten sollten, „getäuscht und in Irrtümer hineingezogen" zuwerden. Erst als die Jeffersonanhänger Ende der neunziger Jahreselbst repressiven Maßnahmen ausgesetzt wurden, entwickelten siezu ihrem eigenen Schutz ein libertäreres Denken - wobei sie jedochden Kurs wieder wechselten, als sie selbst die Macht übernahmen.5

Bis zum ersten Weltkrieg gab es in den Vereinigten Staaten nureine schwache Basis für die Meinungsfreiheit, und erst 1964 wurdedas Gesetz über aufrührerische Verleumdung vom Ober-sten Gerichtshof für unrechtmäßig erklärt. 1969 schließlichstellte der Gerichtshof die freie Rede mit Ausnahme der „An-

5 Ebenda, S. 178-79, 297, 337 ff; Levy, Jefferson and CivilLiberties, S. 25 f.

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stiftung zu sofortigem ungesetzlichem Handeln" unter Schutz.Zwei Jahrhunderte nach der Revolution übernahm der Gerichtshofschließlich die Position, die schon 1776 von Jeremy Benthamvertreten wurde, der argumentierte, eine freie Regierung müsse„Unzufriedenen" erlauben, „ihre Gefühle zu artikulieren, ihrePläne zu verabreden und jede Art der Opposition diesseits direkterRevolte zu praktizieren, bevor die Exekutive das gesetzliche Rechthaben kann, sie zu stören". Die Entscheidung des OberstenGerichtshofs von 1969 formulierte einen libertären Standard, dermeiner Ansicht nach in der Welt einzig dasteht. In Kanada zumBeispiel werden immer noch Menschen für die Verbreitung „fal-scher Nachrichten" ins Gefängnis geworfen, ein Verbrechen, das1275 zum Schutz des Königs definiert wurde.6

In Europa ist die Situation noch primitiver. Dabei ist Frankreichaufgrund des dramatischen Kontrasts zwischen der Rhetorik derSelbstbeglückwünschung und einer repressiven Praxis, die sogebräuchlich ist, daß sie gar nicht mehr bemerkt wird, einbesonders verblüffender Fall. In England gibt es nur einen be-grenzten Schutz für die Meinungsfreiheit. Dort duldet man sogareine solche Schande wie das Blasphemiegesetz. Die Reaktion aufdie Rushdie-Affaire war besonders bemerkenswert, am drama-tischsten auf Seiten der selbsternannten „Konservativen". Rush-diewurde vor Gericht der aufrührerischen Verleumdung und derBlasphemie angeklagt, aber das Oberste Gericht beschloß, daß dasGesetz über Blasphemie nur für das Christentum gilt, nicht für denIslam, und daß nur ein verbaler Angriff „gegen Ihre Majestät oderdie Regierung Ihrer Majestät oder eine andere Institution desStaates" als aufrührerische Verleumdung gilt. So zementierte dasGericht eine fundamentale Doktrin von Gestalten wie AjatollahKhomeini, Stalin, Goebbels und anderen Gegnern der Freiheit,während es zugleich festlegte, daß das englische Gesetz nur dieeinheimische Macht vor Kritik schützt. Zweifellos würden vieleConor Cruise O'Brien zustimmen, der während seiner Zeit alsPost- und Telegraphenminister in Irland das Rund-funkgesetzdahingehend erweiterte, daß die Behörden die Ausstrahlungjeglicher Sendungen verweigern konnten, die im Urteil desMinisters „die Autorität des Staates tendenziell untergrabenwürden".7

6 Levy, Emergence, S. 6, 167.7 Für einige der vielen Fälle, die in Bezug auf Frankreich zitiert werden könnten,siehe Necessary Illusions, S. 344. Ober die Rushdie-Affaire, siehe ChristopherFrew, „Craven evasion on the threat to freedom", Scotsman, 3. August 1989, woer sich auf das beschämende Verhalten von Paul Johnson und Hugh Trevor-Roperbezieht, die darin nicht allein dastanden. Oberstes Gericht, New York Times, 10. April

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Wir sollten uns darüber im klaren sein, daß das Recht aufMeinungsfreiheit nicht durch den ersten Verfassungszusatz, sondernnur durch die langjährigen engagierten Bemühungen derArbeiterbewegung und der Bürgerrechts- und Antikriegsbewegungender sechziger Jahre und weiterer Volkskräfte etabliert wurde. JamesMadison wies darauf hin, daß eine „Barriere aus Papier" niemalsgenügen wird, um Tyrannei zu verhindern. Rechte werden nicht durchWorte etabliert, sondern durch Kampf gewonnen und aufrechterhalten.

Wir sollten uns ferner daran erinnern, daß Siege für die Mei-nungsfreiheit oft in Verteidigung der niederträchtigsten und ab-stoßendsten Meinungen errungen werden. Die Entscheidung desObersten Gerichtshofs von 1969 schützte den Ku Klux Klan vorVerfolgung, nachdem dieser ein Treffen mit vermummten Ge-stalten, Gewehren und einem brennenden Kreuz veranstaltet hatte,das dazu aufrief, „den Nigger zu begraben" und „die Juden nachIsrael zurückzuschicken". Was die Meinungsfreiheit betrifft, gibtes im wesentlichen zwei Positionen: man verteidigt sie energischfür Ansichten, die man selbst haßt, oder man weist sie zugunstenstalinistischer und faschistischer Standards zurück.8

Ob der Freiheitsinstinkt wirklich existiert oder nicht, wissen wirnicht. Wenn es ihn denn geben sollte, lehrt uns die Geschichte, daßer eingeschläfert werden kann, aber noch längst nicht tot ist. DerMut und das Engagement von Menschen, die für Freiheit kämpfen,ihre Bereitschaft, extremem Staatsterror und Gewalt standzuhalten,sind oft bemerkenswert. Im Verlauf langer Jahre ist dasBewußtsein gewachsen, und Ziele sind erreicht worden, die infrüheren Zeiten als utopisch betrachtet oder kaum auch nurins Auge gefaßt wurden. Ein unverbesserlicher Optimistkann auf diese Bilanz verweisen und der HoffnungAusdruck geben, daß mit einem neuen Jahrzehnt, und bald einemneuen Jahrhundert die Menschheit vielleicht in der Lage seinwird, einige ihrer sozialen Krankheiten zu überwinden; andere

1990. O'Brien zitiert in British Journalism Review, Vol. l, Nr. 2, Winter 1990.8 Levy, Emergence, S. 226-27; Henry Kalven,,4 Worthy Tradition (Harper & Row,1988), S. 63, 227 f., 121 f Ein so kurzer Kommentar zur Meinungsfreiheit kann natürlichnicht wirklich angemessen sein. Wie angedeutet, ergeben sich komplexers Fragen, wennwir von der Frage der Meinungsäußerung zu Äußerungen übergehen» die an Anstiftungzum Handeln grenzen (wie etwa der Befehl an einen bewaffneten Mörder, zu schießen),und wenn wir das Recht auf die Unverletzlichkeit der Privatsphäre und ähnliche Fragenin Betracht ziehen.

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mögen eine andere Lehre aus der Geschichte der letzten Zeit zie-hen. Es ist kaum möglich, rationale Gründe für das Einnehmen dereinen oder der anderen Perspektive anzugeben. Wie im Fall vielerspontaner Überzeugungen, die unser Leben leiten, ist das Beste,was wir tun können, in Einklang mit unseren Intuitionen undHoffnungen zu handeln.Die Konsequenzen der Entscheidung, die wir dabei treffen, sindleicht zu erkennen. Durch Negierung des Freiheitsinstinkts werdenwir nur beweisen, daß die Menschen eine tödliche Mutation, eineevolutionäre Sackgasse sind; indem wir ihn - falls es ihn gibt -nähren und unterstützen, können wir vielleicht Wege finden, unsmit furchtbaren menschlichen Tragödien und Problemen vongewaltigem Ausmaß erfolgreich auseinanderzusetzen.

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Nachwort

Noam Chomsky, der am 7. Dezember 1998 siebzig Jahre alt wird,ist seit vierzig Jahren der führende Sprachwissenschaftler der Welt.Angeblich ist er der meistzitierte lebende Autor imwissenschaftlichen Bereich, was wohl auf die Tatsache zurück-zuführen ist, daß die neue Art des Herangehens an Probleme derLinguistik, die er zwischen Ende der vierziger Jahre und Ende derfünfziger Jahre ausarbeitete, Implikationen hat, die weit überdieses doch etwas esoterische Gebiet hinausreichen

Die eng mit seinem Namen verbundene Theorie der generati-ven Grammatik, die zuerst in seinem 1957 erschienenen BuchStrukturen der Syntax öffentlich präsentiert wurde, war einwichtiger Baustein dessen, was heute oft die „kognitive Revoluti-on" in der Psychologie genannt wird. Diese Revolution war durcheine Abwendung von den im Behaviorismus populären Vorstel-lungen vom Menschen als einer „Blackbox" gekennzeichnet, dereninnere Zustände den Psychologen nicht zu interessieren haben undan der lediglich Input und Output - in der Sprache derVerhaltenswissenschaftler: Reiz und Reaktion - interessant sind.Dagegen setzte die kognitive Revolution eine letztlich sehr banaleFeststellung: Nicht nur die äußere Welt, in der der Mensch lebt, isthochkompliziert und folgt komplexen und verwickelten Gesetzen;dasselbe gilt auch für den Menschen selbst und insbesondere fürden menschlichen Geist. Chomsky hat in der Folge häufig seinErstaunen darüber geäußert, daß eine so evidente Tatsache in derim zwanzigsten Jahrhundert über weite Strecken vorherrschendenPsychologie so hartnäckig übersehen werden konnte.

Platos Problem

Was Chomsky als Wissenschaftler fasziniert, ist das, was er späterals „Platos Problem" bezeichnet hat: „Wie kommt es", schrieb derenglische Philosoph Bertand Russell, den Chomsky gern undhäufig als moralisches und intellektuelles Vorbild zitiert, „daß dieMenschen, deren Kontakt mit der Welt so kurz und persön-lich und begrenzt ist, dennoch so viel wissen können, wie sie estatsächlich tun?" Es handelt sich hier um dasselbe Problem wiedas, mit dem Plato sich in seinem Höhlengleichnis auseinander-gesetzt hat. Sobald die menschlichen Sprachen einmal einer sy-

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stematischen Erforschung unterzogen werden, stellt sich sehrschnell heraus, daß es sich dabei um Wissenssysteme von im-menser Komplexität handelt. Wie ist es möglich, daß ein fünfjäh-riges Kind ein solches Wissen ohne Mühe und explizite Belehrungmeistert? Das ist laut Chomsky die Hauptfrage, auf die dieSprachwissenschaft eine Antwort finden muß. In der Sprachwis-senschaft des zwanzigsten Jahrhunderts herrschte lange Zeit dieAuffassung vor, menschliche Sprachen könnten unendlich ver-schieden voneinander sein, und daß es ferner unmöglich sei, überdiese Unterschiede irgendwelche Vorhersagen zu treffen. DasRevolutionäre an Chomskys Ansatz besteht in der Aussage, daßKinder eine Sprache lernen können, weil sie das meiste schonwissen. Chomsky zufolge gibt es eine angeborene „Universal-grammatik"; die Funktion der sprachlichen Umgebung, in der einKind aufwächst, besteht lediglich darin, dieser eine konkrete Formzu geben. Und das Projekt der Chomskyschen generativenGrammatik besteht in nichts anderem als dem Versuch, heraus-zufinden, worin dieses angeborene Wissen genau besteht.

Von da aus ist es nur ein sehr kleiner Schritt zu der Annahme,daß sich angeborene Strukturen des menschlichen Geistes nicht aufdie Sprache allein beschränken, sondern unsere gesamteWahrnehmung von der Welt und uns selbst bestimmen. Genau wiewir nur Licht einer bestimmten Wellenlänge als Farben sehen undnur einen kleinen Ausschnitt der Schallwellen hören können,lokalisieren wir uns auf eine bestimmte Art in Raum und Zeit,bilden wir bestimmte Begriffe von der Welt und entwickeln wirmoralische Konzepte von gut und böse, gerecht und ungerecht, dienicht „in der Natur der Dinge" liegen, sondern in unserer eigenenNatur.

Mit dieser Konzeption wendet sich Chomsky explizit gegengerade auch unter linken politischen Kräften vorherrschendeDoktrinen, die die Existenz einer menschlichen Natur vehementbestreiten. Dabei unterstreicht er, daß es sich hier in erster Linieum eine Frage der Tatsachen handelt: gäbe es keine gemeinsame,von allen Menschen geteilte Natur, wäre es schlicht und einfachunmöglich zu erklären, wieso jeder einzelne von uns in der Lageist, ein so komplexes Verständnis von der Welt zu entwickeln, überdas er sich noch dazu weitgehend mit anderen Menschenverständigen kann. Und darüber, so Chomsky, sollten wir frohsein, denn stellte uns unsere Natur diese angeborenen Strukturennicht zur Verfügung, „wären die Menschen wirklich armselige,in ihren Fähigkeiten äußerst beschränkte Geschöpfe, ohne Ähn-

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lichkeit miteinander und bloße Widerspiegelungen zufälligerErfahrung".

All das hat nichts mit einer Verteidigung des gesellschaftlichenStatus Quo zu tun, für die ja oft angebliche Erkenntnisse über diemenschliche Natur ins Feld geführt werden. Die Menschenunterscheiden sich von anderen Tieren nicht nur durch ihresprachlichen und kognitiven Fähigkeiten, sondern auch dadurch,daß sie eine Geschichte haben. Worin denn nun eigentlich ihreNatur besteht, darüber gibt es außer auf einigen wenigen Gebieten,die einer systematischen Erforschung relativ leicht zugänglichsind, kaum gesicherte Erkenntnisse. Speziell im Bereich desgesellschaftlichen Zusammenlebens und in der Frage desmoralischen Urteils sind wir auf unseren Common Sense und aufIntuitionen darüber angewiesen, welche Gesellschaftsformen undwelche menschlichen Werte unser Wesen am besten zumAusdruck bringen. Wer sich wie Chomsky die These des russi-schen Anarchisten Bakunin über den menschlichen Freiheitsin-stinkt zu eigen macht, wird in sämtlichen Formen nicht zurechtfertigender Ausübung von Macht und Autorität das Haupt-hindernis erblicken, das sich der freien Entfaltung sämtlicherAspekte des menschlichen Wesens im Verlauf der Geschichteentgegenstellt und das es zu bekämpfen gilt.

Onvells Problem

So kommt es, daß Chomskys weltweite Bekanntheit sich nicht nuraus seinem Ruf als Sprach- und Kognitionswissenschaftler ableitet.Aufgewachsen im Philadelphia und im New York derZwischenkriegsjahre und der großen Depression, wandte er sichschon in seiner frühen Jugend dem Anarchismus zu. Nachdem erEnde der vierziger Jahre mit dem bekannten amerikanischenLinguisten Zelig Harris zusammengetroffen war, widmete er sichzunächst immer mehr der sprachwissenschaftlichen Forschung undwurde schließlich 1966 Lehrstuhlinhaber für moderne Sprachenund Linguistik am renommierten Massachusetts Institute ofTechnology (MIT). Aber 1964 entschloß sich Chomsky, aus seinenAnsichten über Politik und Gesellschaft die Konsequenzenzu ziehen. Unmittelbarer Anlaß war die Eskalation des US-Krieges in Vietnam, in dessen Verlauf 60.000 Amerikaner undvier Millionen Menschen in Vietnam, Laos und Kambodschagetötet wurden. Die Analyse der institutionellen Ursachen diesesKrieges, die Chomsky in seinem Buch Amerika und die neuen

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Mandarine und danach in zahllosen weiteren Büchern, Reden undArtikeln vornahm, machte jedoch klar, daß die Wurzeln diesesKrieges in den Klasseninteressen der reichen Elite zu suchenwaren, die die US-Gesellschaft beherrscht und weitgehend auchdie Politik der US-Regierung nach außen und nach innen be-stimmt. Die herrschende Elite der USA, so Chomsky, hatte (nichterst) seit dem Zweiten Weltkrieg ein weltumspannendes Systemder Ausbeutung und Profitmaximierung etabliert, das sich, wo im-mer nötig, brutaler Unterdrückung und Aggression bediente, umseine Ziele durchzusetzen. In diesem Rahmen fungieren die Elitender anderen kapitalistischen Industrieländer mehr oder weniger alsJuniorpartner, während die korrupten Cliquen, die weite Teile derDritten Welt beherrschen, die Hilfstruppen stellen.

Das vielleicht Beeindruckendste, oft aber auch Schwierigsteund Verwirrendste an den Analysen Chomskys ist der gewaltigeBerg an Tatsachenmaterial, das er zur Unterstützung seiner Thesenüber die imperiale und ausbeuterische Rolle der westlichenindustriellen Demokratien anführt. Hinzu kommt, daß er oftbruchlos zwischen einer Darstellung der Fakten und einer Polemikgegen ihre verfälschte Wiedergabe durch die Politiker und dieMedien hin- und herwechselt. Wir haben es hier mit dem zu tun,was Chomsky „Orwells Problem" nennt: Wie kommt es, daß wirangesichts der über die gesellschaftliche Welt von heute ver-fügbaren Tatsachen, die in den westlichen Gesellschaften kaumeiner Zensur unterliegen, so wenig über diese Tatsachen wissen?

So ist es eine „an sich" leicht zu belegende Tatsache, daß dieUSA seit dem Zweiten Weltkrieg der führende terroristische Staatder Welt gewesen sind. Die USA unterstützten grausameMilitärdiktaturen in Griechenland und Korea und finanzierten denfranzösischen Indochinakrieg, sie machten im Koreakrieg weiteTeile des Landes dem Erdboden gleich und stürzten demokratischeRegierungen im Iran und Guatemala, sie entsandtenAufstandsbekämpfungsspezialisten auf die Philippinen und nachMalaya und drängten - unter Kennedy - den lateinamerikanischenMilitärs die „Doktrin der Nationalen Sicherheit" auf, was zu einerSerie blutiger Militärdiktaturen führte; sie hielten dieTerrorregimes in Guatemala (150.000 Tote) und El Salvador(75.000 Tote) an der Macht. Sie hätschelten bekennende Terrori-sten in Angola und Mozambique (1,5 Millionen Tote), kultiviertendie auf Putsch sinnenden Militärs in Indonesien (700.000Tote nach dem Putsch von 1965), versorgten sie mit Todeslistenzu eliminierender politischer- und Gewerkschaftsführer und lie-

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ferten die Waffen für die Invasion Osttimors (200.000 Tote),destabilisierten demokratisch gewählte Regierungen in Chile,Australien, Jamaika und Nicaragua und unterstützten Diktatorenwie den Schah von Persien und Anastasio Somoza in Nicaragua biszum blutigen Ende. Bis 1990 war Saddam Hussein ihr Freund(ebenso wie der der Bundesrepublik); jetzt ist der Syrer Hafez al-Assad, der 1982 bei der Niederschlagung eines Aufstands 30.000Menschen liquidierte, an seine Stelle getreten.

Wie ist es möglich, daß ein Staat mit einer derartigen Bilanz alsFührer des weltweiten Kampfs für Demokratie und Men-schenrechte auftreten kann? Wie kann es sein, daß die anderenindustriellen Demokratien, die diese Politik entweder unkritischhinnehmen oder selbst für ähnliches verantwortlich oder mitver-antwortlich sind (wie die BRD in Indonesien und der Türkei) alsGaranten des internationalen Rechts auftreten?

Zum einen sind Not und Unterdrückung in diesen Gesell-schaften, obwohl es sie gibt, in keiner Weise mit dem vergleichbar,was die Bevölkerung der Dritten Welt erdulden muß. Es sind dieanderen, die leiden und sterben. Verglichen mit den Elends-gebieten der Welt genießt die Bevölkerung der westlichen Demo-kratien auch jetzt noch beträchtliche Freiheiten und einen an-sehnlichen Wohlstand. Was läge da näher als die Annahme, daßdie Länder der Dritten Welt nun einmal „noch nicht so weit sind",und daß unsere Regierungen eben ein weiteres Mal die „Bürde desweißen Mannes" schultern und diesen Völkern Frieden, Freiheitund Fortschritt bringen müssen? Daß es gerade die Politik derwestlichen Industrienationen und die diesen Ländern aufgenötigteungehemmte Konkurrenz auf dem kapitalistischen Weltmarkt sind,die ganze Regionen ins Elend stürzen, ist eine Tatsache, die demKonsumenten westlicher Medien in der überwältigenden Mehrzahlder Fälle verborgen bleibt. Ohne Kenntnis dieses Zusammenhangswird er logischerweise davon ausgehen, daß die traditionellenDienstleistungsregionen der Welt in „unserer" Außenpolitik nichtwesentlich anders behandelt werden als die Bevölkerung bei uns.Was läge da ferner, als der eigenen Regierung die Unterstützungvon Massakern und billigendes In-kaufnehmen von Millionen vonHungertoten zu unterstellen? Hinzu kommt, daß es immer leichterist, vor unangenehmen Tatsachen die Augen zu verschließen.

Entscheidend aber ist, daß die Tatsachen keineswegs so leichtverfügbar sind, wie es zunächst den Anschein hat. Zwar findenwir gerade heute in den entwickelten Gesellschaften eine gewal-

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tige Informationsflut, aber die gelieferten Informationen sindhochgradig selektiv und parteiisch. Die Informationsmittel befin-den sich in den Händen der Herrschenden, die ein dezidiertesInteresse daran haben, ihre Herrschaft als demokratisch und ge-recht zu präsentieren.

Ebenso wie alle anderen Wirtschaftsgüter unterliegen Infor-mationen in einer kapitalistischen Demokratie dem Markt. Dasweckt positive Assoziationen über den „Kunden als König", deraus einer Vielzahl von Gütern frei auswählen kann, und dement-sprechend bildet der Markt heute auch das Kernstück der kapita-listischen Ideologie, nach der es nichts Demokratischeres gebenkann als den freien Käufer und den freien Verkäufer, die sich aufdem Markt gleichberechtigt gegenübertreten. Chomsky, sein lang-jähriger Mitautor Edward S. Herman und andere Medienkritikermachen jedoch darauf aufmerksam, daß hier eine Kleinigkeitübersehen wird: Während der durchschnittliche Medienkonsumentden von den Medien gelieferten Informationen als atomisierterEinzelner gegenübertritt, handelt es sich bei den großen Medienzunehmend um gewaltige Zusammenballungen wirtschaftlicherMacht, auf deren Themenwahl und -behandlung er alsunorganisierter Einzelner praktisch keinerlei Einfluß hat. EinInformationssystem, das von privilegierten Eliten beherrscht wird,wird aller Wahrscheinlichkeit nach eben auch die Interessen dieserund anderer privilegierter Eliten widerspiegeln, und daß und wiesie dies tun, hat Chomsky seit dreißig Jahren immer wieder inumfangreichen Arbeiten zu diesem Thema demonstriert. Wie inallen anderen Bereichen undemokratisch ausgeübter Macht kannauch hier nur die Selbstorganisation der unterprivilegiert undvereinzelt gehaltenen Masse der Bevölkerung Abhilfe schaffen.

Charakteristisch für dieses System „demokratischer Propa-ganda" ist dabei, daß keine starke Hand des Staates erforderlichwar, um etwa die US-Medien dazu zu veranlassen, siebzehnmal soviele Berichte über die Greuel im Kambodscha Pol Pots zu bringenwie über die Massaker der indonesischen Armee in Osttimor oderzehnmal so viel über die Ermordung eines Priesters in Polen zuberichten wie über die Ermordung von 72 Geistlichen inLateinamerika (nach einer statistischen Untersuchung von Hermanund Chomsky in ihrem Buch Manufacturing Consent). DieMechanismen eines hochkonzentrierten kapitalistischen Markteserledigen solche Aufgaben viel eleganter, geschmeidiger und ef-fizienter als Medien, die von einem Zentralkomitee zensiert wer-den und von denen sowieso jeder weiß, daß sie lügen.

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Descartes' Problem

Wie sich nicht nur an Chomskys Behandlung von Orwells Problemzeigt, hält er von weiten Teilen der sogenannten Human-wissenschaften nicht viel. Entweder sie sagen uns angesichts dervielen in ihren Aussagen enthaltenen Unwägbarkeiten überhauptnichts Verständliches, wie zum Beispiel die Forschung über Rasseund IQ, oder sie sagen uns Dinge, die wir sowieso schon immergewußt haben. Wenn zum Beispiel die Verhaltenswissenschaft unslehrt, daß Menschen eher geneigt sind, etwas zu tun, wenn siedafür belohnt werden, als wenn man sie dafür bestraft, ist daskaum eine beeindruckende Entdeckung. Bei einem Großteil desmenschlichen Verhaltens haben wir es mit „Descartes' Problem" zutun, zu dessen Lösung weder Wissenschaft noch Philosophiebisher etwas Nennenswertes beitragen konnten: Warum sind wirnicht nur, in den Worten Descartes', „angeregt und geneigt", etwaszu tun, sondern haben die freie Wahl, eine Tatsache, derer wir uns„so bewußt sind, daß es nichts gibt, das wir vollkommener undklarer begreifen"?

Vor allem in Kapitel 8 des vorliegenden Bandes beschreibtChomsky in plastischer Weise die Verschlechterung der Lebens-bedingungen der Mehrheit der Bevölkerung in der Ersten, Zweitenund Dritten Welt von heute. Das Elend in der Dritten Welt istgeblieben und teilweise sogar schlimmer geworden, der Lebens-standard großer Teile der Bevölkerung im Westen, oft sogar, wiein den USA selbst, der Mehrheit, ist gesunken, und die Wirt-schaften der Länder des Ostens befinden sich im freien Fall. DieUngleichheit hat sich überall drastisch verschärft. Das kapitali-stische Weltwirtschaftssystem, von dem gefeierte Staatsmännerwie Henry Kissinger sagen, es habe „der Welt gute Dienste gelei-stet", bringt nach wie vor seine 100.000 Opfer pro Tag hervor, dieverhungern oder an leicht vermeidbaren Krankheiten sterben,während durch die Ausblutung der Dritten Welt aufgrund vonStrukturanpassungsprogrammen und Schuldenrückzahlungen, dielängst die ursprünglichen Schulden übersteigen, neue Opfer hin-zukommen. In Rußland, wo der Westen den Steigbügelhalter fürdie neue Klasse der Nomenklaturakapitalisten gespielt, denTschetschenienkrieg hingenommen und die Beschießung desParlaments durch Boris Jelzin im September 1993 bejubelt hat, istdie Lebenserwartung seit 1989 innerhalb von sieben Jahren umsechs Jahre gesunken. .

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Anhand all dieser Daten und Fakten wäre es ein leichtes, ein„Schwarzbuch des Kapitalismus" zu schreiben, und ebenso leichtwäre es, vor allem angesichts der anscheinend ausbleibendenGegenwehr, in Depression, Apathie und Resignation zu verfallenund es sich in dem Bewußtsein bequem zu machen, daß ja auch derWesten Dissidenten wie Chomsky hervorbringt, die die Rolle desWiderparts schon spielen werden.

Und in der Tat ist das die Reaktion, die wir in den reichenLändern des Westens hauptsächlich vorfinden. So stehen wir demParadox gegenüber, daß sich in Ländern, wo die Bedingungenkaum ungünstiger sein könnten, wie zum Beispiel in Haiti oderWestbengalen, analphabetische Bauern zum Widerstand zu-sammenschließen, während die Bevölkerung der Industrieländerdie Attacken auf ihre und die Rechte anderer fast klaglos hin-nimmt.

Warum das so ist, wissen wir nicht, und die Meinungsumfragenscheinen darauf hinzudeuten, daß es wenig mit einer Zufriedenheitmit den Verhältnissen zu tun hat. Eher scheint es so zu sein, daßdie meisten Menschen sich mit dem Unabänderlichen abgefundenhaben: Arbeit und die Gewährleistung eines anständigen Lebensfür alle, Erweiterung der politischen Demokratie und Rückholungdes Staates in die Gesellschaft, erst recht Kontrolle der arbeitendenMenschen über das Wirtschaftsleben oder auch nur„Mitbestimmung" sind utopischer Nonsens, das Realexistierendeist auch das Mögliche, anderes kann nicht einmal sinnvoll gedachtwerden.

Nach Ansicht Chomskys ist der Verweis auf die „normativeKraft des Faktischen", der Verweis darauf, bestimmte Dinge seieneben noch nie anders beziehungsweise noch nie dagewesen, einschwaches Argument: „Mit derselben Begründung hätte man imachtzehnten Jahrhundert 'demonstrieren' können, daß die ka-pitalistische Demokratie ein unmöglicher Traum ist" (siehe S. 62).Denjenigen, die „halsstarrig am Ziel der Freiheit" festhalten, unddas wären, wenn man von dem ausgeht, was die Menschen sichwünschen, nicht dem, was sie für realisierbar halten, nicht wenige,schlägt Chomsky eine „Pascalsche Wette" vor: „Wenn du vomSchlimmsten ausgehst, wird es mit Sicherheit eintreffen, wenn dudich im Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit engagierst, kannst duzu ihrem Zustandekommen beitragen."

Michael Schiffmann

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Ausgewählte Literatur

(Für die Literatur, die von Chomsky in den Texten erwähnt wird, werden englische und ggf.deutsche Ausgaben angegeben, ansonsten wird für im Original auf Englisch erschieneneTexte nur der jeweilige deutsche Titel aufgeführt.)

Bakunin, Michail: Gott und der Staat und andere Schriften,Reinbek, Rowohlt, 1969.Bowles, Samuel, Gintis, Herbert: Pädagogik und die Wider-sprüche der Ökonomie. Frankfurt, Suhrkamp, 1978.Carey, Alex: Taking the Risk out of Democracy. CorporatePropaganda Versus Freedom and Liberty. University of IllinoisPress, 1997.Chomsky, Noam: Amerika und die neuen Mandarine.Frankfurt, Suhrkamp, 1969.Chomsky, Noam: Arbeit - Sprache - Freiheit. Münster, TrafikVerlag, 1987.Chomsky, Noam: Cartesian Linguistics. A Chapter in the Historyof Rationalist Thought. New York, UPA, 1966/83. Deutsch:Cartesianische Linguistik. Ein Kapitel in der Geschichte desRationalismus. Tübingen, Niemeyer, 1971.Chomsky, Noam: The Chomsky Reader. New York, Pantheon,1987.Chomsky, Noam: Deterring Democracy. London, Verso,1991/92.Chomsky, Noam: The Fateful Triangle. The United States, Israeland the Palestinians. Boston, South End, 1983.Chomsky, Noam: For Reasons of State. New York, Pantheon,1973. Deutsch (unter Auslassung der ersten vier Kapitel) : AusStaatsraison. Frankfurt, Suhrkamp, 1974.Chomsky, Noam: Haben und Nichthaben. Bodenheim, PhiloVerlagsgesellschaft, 1998.Chomsky, Noam: Knowledge of Language. Its Nature, Ori-gin andUse. London, Praeger, 1986.Chomsky, Noam: Language and Politics. Montreal, BlackRoseBooks, 1988.Chomsky, Noam: Necessary Illusions. Thought Control inDemocratic Societies. Montreal, Black Rose Books, 1989.Chomsky, Noam: Peace in the Middle East. Reflections on Justiceand Nationhood. New York, Vintage, 1974.

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Chomsky, Noam: Die politische Ökonomie der Menschenrechte.Grafenau, Trotzdem Verlag, 1999.Chomsky, Noam: Powers and Prospects. Reflections on HumanNature and the Social Order. London, Pluto Press, 1996. Deutsch:Die Mächte und ihre Zukunft. Der Mensch in der globalenOrdnung. Klaus Boer Verlag, 1999.Chomsky, Noam: Probleme sprachlichen Wissens. Weinheim,Beltz-Athenäum, 1996.Chomsky, Noam: Problems of Knowledge and Freedom. TheRussell Lectures. New York, Pantheon, 1971. Deutsch: ÜberErkenntnis und Freiheit. Frankfurt, Suhrkamp, 1973. Chomsky,Noam: Radical Priorities. Montreal, Black Rose Books, 1981/87.Chomsky, Noam: Syntactic Structures. Den Haag, Mouton, 1957.Deutsch: Strukturen der Syntax. Den Haag, Mouton, 1973.Chomsky, Noam: Turning the Tide. US-Intervention in CentralAmerica and the Struggle for Peace. Boston, South End Press,1985. Deutsch: Vom politischen Gebrauch der Waffen. Zurpolitischen Kultur der USA und den Perspektiven des Friedens.Wien, Guthmann Peterson, 1987.Chomsky, Noam: World Orders, Old and New. London, PlutoPress, 1994.Chomsky, Noam, Herman, Edward S.: After the Cataclysm.Postwar Indochina and the Reconstruction oflmperial Ideo-logy.The Political Economy of Human Rights, vol. II. Boston, SouthEnd Press, 1979.Chomsky, Noam, Herman, Edward S.: The Washington ,Connection and Third World Fascism. The Political Economy ofHuman Rights, vol. I. Boston, South End Press, 1979.Cook, V. J., Newson Mark: Chomsky's Universal Grammar. AnIntroduction. 2nd edition, Oxford, Blackwell, 1996.Eigentum verpflichtet. Die Erfurter Erklärung. Hrsg. Dahn,Daniela u. a., Heilbronn, Distel Verlag, 1998.Eigentum verpflichtet - zu nichts. Hans J. Schulz, Stuttgart,Schmetterling Verlag, 1997.Farmer, Paul: The Uses of Haiti. Introduction by Noam Chomsky.Monroe, Maine, Common Courage Press, 1994.George, Alexander (ed.): Western State Terrorism. Cambridge,UK, Polity Press, 1991.

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