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Wir vom Neptunplatz Ein Vorabendroman von Patricia Eckermann und Stefan Müller LESEPROBE Auszug Seite 19-24 © Carlsen Verlag, Hamburg 2011

3. Auzug Neptunplatz

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3. Kapitel Vorabendleserunde

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Wir vom Neptunplatz

Ein Vorabendroman

von Patricia Eckermann und Stefan Müller

LESEPROBEAuszug Seite 19-24

© Carlsen Verlag, Hamburg 2011

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Lale stand auf dem Balkon und genoss das gigantische Morgen-

Panorama. Selbst jetzt, im tiefsten Winter, sah der Innenhof aus

wie ein verwunschener Park.

Backsteinwände mit entlaubten Weingirlanden. Zwei Birken,

zwei Weiden, eine Eberesche. Dazu ein Panoramablick auf die

verwinkelten Dächer des Neptunbads. Das war der Balkon, von

dem Lale immer geträumt hatte. Und die Wohnung passte per-

fekt zum Ausblick …

»Sie kommen allein zurecht, Frollein?«

Die Stimme des Vermieters, Herr Severin, ließ Lale zusam-

menzucken. Der alte Mann mit dem Zigarrengeruch hatte eine

extreme Ähnlichkeit mit Willy Millowitsch: Weiße, etwas wirr

zu Berge stehende Haare, ein weißgelblicher, von dicken

schwarzen Haaren durchzogener Schnäuzer, der ihm bis über

die Oberlippe hing, und dazu diese unglaublich altmodische

Hornbrille, die an einem Bügel tatsächlich mit Heftpflaster ver-

stärkt war.

»Entschuldigung«, stotterte Lale, »ich …«

»Da jibbet nix zum entschuldigen, Frollein. Ich muss nur

wieder in meinen Kiosk. Und in meinem Alter brauch isch für

drei Stockwerke bis zum Nachmittag.« Der alte Mann lächelte

freundlich und wandte sich zum Gehen. »Ziehen se die Tür ein-

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fach hinter sich zu, wenn se die Wohnung verlassen. Und ge-

ben se mir in den nächsten Tagen Bescheid, ob se hier einziehen

wollen.«

Rührend, wie das kölsche Original versuchte, sein eingeroste-

tes Hochdeutsch zu aktivieren. Was automatisch zur Folge hatte,

dass er in einer unfassbaren Lautstärke sprach. Nachdem sie

endlich mit sich und ihrer Traumwohnung allein war, inspi-

zierte Lale die Räume ein zweites Mal.

Der Wiederaufbau aus den 50er-Jahren hatte überraschend

hohe Decken, honigfarbene Dielen, doppelverglaste Holzfenster

und Gasheizung. Drei Zimmer, eine riesige Wohnküche, die

schon ohne Möbel gemütlich war, und das Wannenbad (yeah!)

mit Fenster (doppelyeah!).

Von den drei Zimmern lag das größte nach vorn zur Straße, die

beiden kleineren nach hinten raus zum Hof. Eines hatte einen

Balkon – das Tüpfelchen auf dem i. Es war … perfekt. Und un-

erreichbar. Die 75 Quadratmeter waren für sie allein definitiv

zu groß – und zu teuer. Obwohl die Miete für Kölner Verhält-

nisse relativ günstig war, lag sie für Lale immer noch weit jen-

seits der Grenze. Schweren Herzens zog sie die Tür hinter sich

zu. Sie hatte das Gefühl, ein anderes, besseres Leben zurückzu-

lassen.

»Lale! Was machst du denn hier?«, hallte plötzlich eine männ-

liche Stimme durchs Treppenhaus. Irgendwas daran kam Lale

bekannt vor. Sie starrte angestrengt in das Dunkel des Aufgangs.

Leider hatte sie auf dem Balkon so lange in die Wintersonne ge-

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blinzelt, dass jetzt im Zwielicht nur zwei flackernde gelbrote

Kreise vor ihren Augen tanzten.

»Äh, hi?«, lächelte sie ins Nirgendwo.

Der Mann sprang mehrere Stufen nach unten auf sie zu. Die

hölzerne Treppe knarrte und knarzte dabei unter der plötzlichen

Wucht.

Endlich schälte sich aus dem Dreivierteldunkel etwas Helles

heraus: Lucky, der seit der Eröffnung fast täglich in ihrem Café

Mampf aufkreuzte.

Er gähnte sie mit schlafgeschwollenen Augen an, die unter sei-

ner blauen Strickmütze und ein paar blonden Haarsträhnen her-

vorlugten.

»Lucky! Sag nicht, du …«

»Okay. Ich sag’s nicht.« Lucky hob abwehrend die Hände und

grinste so süß wie die erwachsene Version von Michel aus Lön-

neberga.

»Wohnst du hier?«

»Ich sag gar nichts … aus mir kriegst du kein Sterbenswört-

chen raus, ich …«

»Lu-cky …!«, unterbrach ihn Lale. Er besaß die einzigar-

tige Gabe, unglaublich lustig und gleichzeitig extrem nervig

zu sein.

»Oh Gott, nicht diese Stirnfalte, Frau Kommissarin. Ich ge-

stehe alles. Ja, ich wohne hier. Ja, das Haus ist ruhig. Nein, der

Vermieter ist nett. Zumindest der eine. Sein Zwillingsbruder ist

eher eine menschgewordene Plazenta: keine Seele im Leib. Den

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beiden gehört der Kiosk im Erdgeschoss. Aber kauf da nur Bier

und Chips. Alles andere ist noch aus den 80ern.«

»Stopp!« Lales Stimme hallte durch das düstere, gekachelte

Treppenhaus.

»Tut mir leid.« Lucky hob entschuldigend die Arme. »Das ist

die Uhrzeit. Ich muss morgens einfach reden.«

»Versuch’s doch mal ohne Witze, dann nervst du wenigstens

nicht.«

Schon während sie es sagte, wusste Lale, dass Lucky das in den

falschen Hals kriegen würde. Als Fernsehautor in Sachen Unter-

haltung bildete er sich sicher ziemlich viel auf seinen Humor

ein. Und richtig: Luckys Lächeln gefror für eine Millisekunde.

»Danke für deine Offenheit – eine ganz herausragende Qualität

unter Freunden.«

Er schien tatsächlich beleidigt. Lale seufzte innerlich. Männer

konnten so verdammte Zierprimeln sein.

»Jetzt komm, war nicht so gemeint. Es ist nur … keine Ah-

nung … Mein Magen, mein Konto und mein Karma sind im

Generalstreik. Ist einfach nicht mein … Jahr.« Sie lächelte ihn

entschuldigend an.

»Ist ja bald vorbei.« Luckys Ton war immer noch defensiv.

Lale gab ihm einen Stups. »Komm, ich lad dich auf ’n Cortado

ein.«

»Cortado?« Lucky rollte gespielt verzweifelt mit den Augen.

»Nur weil ich ein Medien-Sklave bin, trinke ich also Cortado?!

Gut, dass du keine Vorurteile hast.«

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»Wegen mir kriegst du auch einen frisch gebrühten Bohnen-

kaffee.«

»Das ist mein Mädchen.« Lucky grinste, hakte sich bei Lale un-

ter und schritt mit ihr die Treppenstufen hinunter.

Die beiden verließen das Haus Richtung Vogelsanger und

bogen kurz darauf in die Neptunstraße ein, die direkt auf den

Neptunplatz führte. Und damit zum Mampf.

»Sag mal«, Lucky musterte Lale ernst, »was ist jetzt eigentlich

mit der Wohnung? Werden wir Nachbarn?«

»Nein.« Lale zögerte. »Es sei denn, du schleppst deine Schicki-

micki-Medienmeute öfter in meinen Laden.«

Lucky sah sie entsetzt an. »Die wollen wir doch wohl beide

nicht im Mampf sehen, oder?«

»Hast ja Recht«, seufzte Lale. »Aber das heißt, dass ich mir die

Wohnung nicht leisten kann.«

»Schade. Wir zwei in einem Haus – das wär’ toll!« Lucky unter-

brach sich plötzlich. »Sag mal, wenn du Kohle brauchst: Warum

machst du deinen Laden nicht einfach früher auf ?«

War das wieder einer von Luckys schlechten Witzen?

»Nur weil du nie vor zehn aus dem Bett kommst, heißt das

nicht, dass wir erst mit deinem Frühstück aufmachen.«

»Dann ist das heute die große Ausnahme, oder was?« Lucky

formte mit seinen Lippen lautlos die Silben, die auf dem

»Geschlossen«-Schild über der Eingangstür des Ladens stan-

den.

Was war hier los? Warum hatte Adnan das Mampf nicht schon

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längst geöffnet? Lale riss ihr Handy aus der Tasche und wählte

die Nummer ihres Kochs. Es dauerte ewig, bis er endlich ab-

nahm.

»Adnan! Wo steckst du? Es ist schon fast halb elf !«