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- 77 - 3.1 Sprachentwicklungsauffälligkeiten: Sprachentwicklungsverzögerungen bzw. –störungen Chris SCHANER-WOLLES Was Sie in diesem Kapitel erfahren werden: Sprechauffälligkeiten werden von Sprachentwicklungsauffälligkeiten unterschieden. Eine Einteilung von Sprachentwicklungsauffälligkeiten nach zugrunde liegenden Ursachen und nach sprachlichen Kriterien wird vorgestellt. Sprachentwicklungsverzögerung und -störung werden unterschieden. Sie bekommen Hinweise darauf, wann die Sprachentwicklung als auffällig zu bezeichnen ist. Sie erfahren, wann die Sprachentwicklung eines Kindes genau beobachtet werden sollte - dabei wird speziell auf eine mehrsprachige Situation eingegangen. Sprachliche Charakteristika einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung und bei geistiger Retardierung werden eingehend erläutert. Besonders Interessierte erhalten weiterführende Literaturhinweise. In jüngerer Zeit werden sowohl in Österreich als auch in Deutschland vermehrt Stimmen laut, die von einer bedenklichen Zunahme von Sprachentwicklungsauffäl- ligkeiten berichten. 27 Neben benachbarten Disziplinen wie Psychologie, Heilpädago- gik, Logopädie und Medizin kommt hier auch der Sprachwissenschaft oder Linguistik eine wichtige Rolle zu. Keine andere Wissenschaft als die Sprachwissenschaft be- schäftigt sich mit der Beschreibung und Analyse von Sprache. Sie liefert grundle- gendes Wissen über Struktur, Funktion und Entwicklung der Sprache, welches bei der Beschäftigung mit Sprach(entwicklungs)störungen notwendig ist: Kindliche Sprachentwicklungsauffälligkeiten wie Verzögerungen oder Störungen lassen sich nur eindeutig bestimmen und bewerten, wenn sie mit Zielnormen und Zielverläufen der unauffälligen Entwicklung verglichen werden. Letztere sind in solchen Fällen selbstverständlich auch relevant für eine Sprachförderung oder –therapie. Nicht selten führt fehlendes Wissen über einzelne Bereiche der kindlichen Grammatikentwicklung in der sprachfördernden oder sprachtherapeutischen Praxis dazu, dass kindliche Sprechauffälligkeiten (z.B. Probleme der Artikulation oder des Redeflusses) überbetont werden, während Sprachentwicklungsauffälligkeiten, die die Grammatik betreffen, oft unbeachtet bleiben. 27 Auch wenn repräsentative Studien fehlen, gleichen sich die Zahlen in unterschiedlichen Quellen sehr: Wenn „Kinder mit schweren chronischen Behinderungen und Krankheiten, Kinder ausländischer Nationalität sowie Kinder aus Sonderschulen, wozu auch Sprachheilschulen zählten“ nicht einbezogen werden, liegen die angegebenen Zahlen für Sprechstörungen bei Grundschülern etwa um 10% und für Sprachentwicklungsauffälligkeiten bei 5-8% (vgl. dazu auch GRIMM 2003, 67f und 128-129.).

3.1 Sprachentwicklungsauffälligkeiten ... · Aussprachestörungen wie z.B. Stammeln, Näseln oder unverständliche Artikulation sowie auf Redeflussstörungen wie Stottern oder Poltern

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3.1 Sprachentwicklungsauffälligkeiten: Sprachentwicklungsverzögerungen bzw. –störungen

Chris SCHANER-WOLLES Was Sie in diesem Kapitel erfahren werden: • Sprechauffälligkeiten werden von Sprachentwicklungsauffälligkeiten

unterschieden. • Eine Einteilung von Sprachentwicklungsauffälligkeiten nach zugrunde

liegenden Ursachen und nach sprachlichen Kriterien wird vorgestellt. Sprachentwicklungsverzögerung und -störung werden unterschieden.

• Sie bekommen Hinweise darauf, wann die Sprachentwicklung als auffällig zu bezeichnen ist.

• Sie erfahren, wann die Sprachentwicklung eines Kindes genau beobachtet werden sollte - dabei wird speziell auf eine mehrsprachige Situation eingegangen.

• Sprachliche Charakteristika einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung und bei geistiger Retardierung werden eingehend erläutert.

• Besonders Interessierte erhalten weiterführende Literaturhinweise. In jüngerer Zeit werden sowohl in Österreich als auch in Deutschland vermehrt Stimmen laut, die von einer bedenklichen Zunahme von Sprachentwicklungsauffäl-ligkeiten berichten.27 Neben benachbarten Disziplinen wie Psychologie, Heilpädago-gik, Logopädie und Medizin kommt hier auch der Sprachwissenschaft oder Linguistik eine wichtige Rolle zu. Keine andere Wissenschaft als die Sprachwissenschaft be-schäftigt sich mit der Beschreibung und Analyse von Sprache. Sie liefert grundle-gendes Wissen über Struktur, Funktion und Entwicklung der Sprache, welches bei der Beschäftigung mit Sprach(entwicklungs)störungen notwendig ist: • Kindliche Sprachentwicklungsauffälligkeiten wie Verzögerungen oder Störungen

lassen sich nur eindeutig bestimmen und bewerten, wenn sie mit Zielnormen und Zielverläufen der unauffälligen Entwicklung verglichen werden.

• Letztere sind in solchen Fällen selbstverständlich auch relevant für eine Sprachförderung oder –therapie. Nicht selten führt fehlendes Wissen über einzelne Bereiche der kindlichen Grammatikentwicklung in der sprachfördernden oder sprachtherapeutischen Praxis dazu, dass kindliche Sprechauffälligkeiten (z.B. Probleme der Artikulation oder des Redeflusses) überbetont werden, während Sprachentwicklungsauffälligkeiten, die die Grammatik betreffen, oft unbeachtet bleiben.

27 Auch wenn repräsentative Studien fehlen, gleichen sich die Zahlen in unterschiedlichen Quellen

sehr: Wenn „Kinder mit schweren chronischen Behinderungen und Krankheiten, Kinder ausländischer Nationalität sowie Kinder aus Sonderschulen, wozu auch Sprachheilschulen zählten“ nicht einbezogen werden, liegen die angegebenen Zahlen für Sprechstörungen bei Grundschülern etwa um 10% und für Sprachentwicklungsauffälligkeiten bei 5-8% (vgl. dazu auch GRIMM 2003, 67f und 128-129.).

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Deswegen haben wir am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien28 in den vergangenen 20 Jahren die Sprachentwicklung von mehreren unauffälligen österreichischen Kindern über mehrere Jahre auf Tonträger aufgezeichnet. Diese enormen Datenmengen werden noch laufend ausgewertet.29 Speziell mit den Untersuchungen zum Grammatikerwerb des österreichischen Deutsch soll eine Vergleichsbasis für eine angemessene Diagnostik und Förderung/Therapie von Sprachentwicklungsauffälligkeiten geschaffen werden. Auch wenn Probleme mit dem Sprechen und mit der Sprache kombiniert auftreten können, sind sie grundsätzlich von einander zu unterscheiden. Zwar erfolgt der kindlichen Spracherwerb im Normalfall als gesprochene Sprache und demnach über das Sprechen. Spracherwerb ist allerdings nicht notwendigerweise nur über das Sprechen möglich. Denken Sie beispielsweise an Kinder, die eine Gebärdensprache als Erstsprache erwerben; auch Kinder mit einer Sprechlähmung erwerben Sprache, obwohl sie selber nicht sprechen können nur über das Zuhören.30 Im Folgenden werde ich mich vorwiegend auf Probleme der Sprache beschränken. Auf Aussprachestörungen wie z.B. Stammeln, Näseln oder unverständliche Artikulation sowie auf Redeflussstörungen wie Stottern oder Poltern werde ich hier nicht näher eingehen. Nicht weil sie nicht auch wichtig sind, sondern weil ihnen im Gegensatz zu den eigentlichen Sprachentwicklungsauffälligkeiten meistens bereits genügend Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Folgende Fragen sollen zentral behandelt werden:

• Wann ist die Sprachentwicklung als auffällig zu bezeichnen? • Wann sind Probleme mit der Sprachentwicklung eventuell zu erwarten? Bei

welchen Kindern treten solche Probleme auf? • Wie äußern sich solche Auffälligkeiten? • Gibt es unterschiedliche Typen von Sprachentwicklungsauffälligkeiten?

Klassifikation von Sprachentwicklungsauffälligkeiten Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung lassen sich nach unterschiedlichen Gesichtspunkten einteilen:

• Nach Ätiologie (Ursache) Häufig handelt es sich dabei um eine Folge- oder Begleiterscheinung von anderen zugrunde liegenden Problemen, Krankheiten, Störungen oder Schädigungen. In diesen Fällen handelt es sich um eine sekundäre Störung der Sprache und nicht um eine primäre.

28 In Kooperation mit der Kommission für Linguistik und Kommunikationsforschung der

österreichischen Akademie der Wissenschaften 29 Siehe zur unauffälligen Erstsprachentwicklung auch meinen Beitrag unter 2.1 in diesem Band. 30 Vgl. dazu das Fallbeispiel eines sprechgelähmten Buben, das die BUTZKAMM & BUTZKAMM

(1999, 163ff.) beschreiben.

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Auffälligkeiten der Sprachentwicklung als sekundäre Störung bei: • sensorischen Behinderungen: Kinder mit Hörstörungen, blinde Kinder, • mentaler Retardierung: z.B. bei Down-Syndrom, bei Williams-Beuren-

Syndrom, • neurologischer Schädigung: z.B. erworbene Aphasie im Kindesalter 31, • emotional-psychischen Störungen: z.B. frühkindlicher Autismus, • Deprivationssituationen: z.B. bei „Wolfskindern“, bei Heimkindern unter

ungünstigen Heimbedingungen.

Auffälligkeiten der Sprachentwicklung als primäre Störung: • Kinder mit einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung (SSES) oder

Entwicklungsdysphasie

Daneben treten Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung allerdings auch ohne nachweisbare Ursachen auf. Hier liegt eine primäre Störung vor, die man heute allgemein als spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES) oder Entwicklungsdysphasie bezeichnet.

• Nach sprachlichen Kriterien und Erscheinungsformen Da die zugrunde liegenden Ursachen einer Sprachentwicklungsauffälligkeit nur bedingt Rückschlüsse über Art und Ausmaß der zu erwartenden Auffälligkeiten zulassen, ist eine genaue und differenzierte Erhebung der sprachlichen Fähigkeiten eines Kindes notwendig. Dabei sollten die verschiedenen sprachlichen Bereiche32 untersucht werden: Nicht nur Wortschatz und Bedeutungsaspekte, sondern auch grammatische Merkmale des Lautsystems, der Satzstruktur, Konjugation und Deklination, der Text- und Diskursebene, usw. Diese sind in verschiedenen Modalitäten (Verständnis, Produktion, Nachsprechen, metalinguistische) zu prüfen, da sie eventuell unterschiedlich betroffen sein können. Erst nach dem Vergleich mit sprachlichen Daten und Erwerbsverläufen von unauffälligen Kindern kann das sprachliche Bild einer Sprachentwicklungsauffälligkeit genau bestimmt werden.

31 Aphasien sind Störungen der bereits erworbenen Sprachfähigkeit infolge von Hirnschädigungen in

der sprachdominanten Großhirnhälfte. Siehe dazu auch meinen Beitrag 1.1.2. In Abhängigkeit von Lokalisation, Schweregrad und Ursache der Hirnverletzung ergeben sich bei Erwachsenen mehrere Aphasiesyndrome mit unterschiedlichen Störungsbildern in der Sprache (z.B. eine primär spezifische Grammatikstörung bei der sog. Broca-Aphasie.; nur Wortfindungsstörungen bei der amnestischen Aphasie). Anders als bei Erwachsenen zeigt sich bei einer A. im frühen Kindesalter eine schnelle und spontane Wiederherstellung der Sprache, da eine Plastizität des Gehirns noch gegeben ist und andere Regionen die Funktionen der gestörten noch übernehmen können. Trotzdem ist eine völlige sprachliche Wiederherstellung meistens nicht gegeben Vielmehr manifestieren sich später in der Schule fast immer Probleme bei primär sprachlich vermittelten Fächern.

32 Siehe dazu die verschiedenen sprachlichen Bereichen, die im Abschnitt 2.1 für den unauffälligen Spracherwerb besprochen wurden.

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Auf Grund von sprachlichen Kriterien und Erscheinungsformen lassen sich grob folgende Typen von Sprachentwicklungsauffälligkeiten unterscheiden: • Allgemeine oder generelle Sprachentwicklungsverzögerung: Ein verspäteter

Beginn des Spracherwerbs und/oder eine verlangsamte Sprachentwicklung äußern sich in allen sprachlichen Bereichen mit einem ähnlichen Ausmaß. Die Sprache des Kindes ist demnach so wie bei einem jüngeren unauffälligen Kind. Eine solche Verzögerung kann eventuell wieder aufgeholt werden, wie es bei so genannten „late talkers“ der Fall ist (siehe dazu später). Andererseits kann es auch zu immer größeren Rückständen und zu Stillständen oder Plateaubildungen kommen.

• Disharmonische oder selektive Sprachentwicklungsverzögerung: Die Verzögerung beschränkt sich entweder auf einen sprachlichen Bereich bzw. auf einzelne Bereiche oder äußert sich auf manchen sprachlichen Ebenen expliziter als auf anderen. In diesem Fall lässt sich die Sprache des Kindes nicht mit der eines einzigen jüngeren, unauffälligen Kindes vergleichen. Es finden sich allerdings in keinem der sprachlichen Bereiche Fehler, Strukturen oder Entwicklungsverläufe, die von denen unauffälliger Kinder abweichen.

• Reine Sprachentwicklungsstörung: Die Sprachentwicklung ist an sich nicht verzögert. Das Kind entwickelt allerdings - in einem oder mehreren Bereichen - ein sprachliches System, das qualitativ abweicht vom unauffälligen System. In diesem Fall zeigen sich Fehler, Strukturen oder Entwicklungsverläufe, die bei unauffälligen Kindern nicht auftreten.

• Kombinationen von Verzögerung und Störung: Manche Bereiche sind bloß verzögert, andere (zusätzlich) gestört.

Wann ist die Sprachentwicklung auffällig? Manche zugrunde liegenden Krankheiten oder Schädigungen werden früh erkannt: bei der Geburt oder kurz danach, eventuell sogar schon vor der Geburt (dies ist z.B. beim Down-Syndrom der Fall). Dann kann von vorne herein mit einer Auffälligkeit in der Sprachentwicklung des betroffenen Kindes gerechnet werden. Leider passiert es in vielen Fällen, dass eine Auffälligkeit in der Sprachentwicklung erst sehr spät als solche festgestellt wird. Dies betrifft nicht nur Kinder mit einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung (SSES), die abgesehen von ihrer Sprache völlig unauffällig sind. Manchmal dauert es auch mehrere Jahre bis eine zugrunde liegende Krankheit, z.B. das Williams-Beuren-Syndrom (WBS) oder eine reine Hörstörung eindeutig diagnostiziert wird. Auch wenn Eltern oder Verwandte eventuell schon früh Verdacht schöpfen, dass sich bei einem Kind Sprachentwicklungsauffälligkeiten manifestieren, werden ihre Sorgen zu häufig nicht sofort Ernst genommen. Das Fallbeispiel von Sam, das Hannelore GRIMM (2003, 124-128) in ihrem Buch „Störungen der Sprachentwicklung. Grundlagen - Ursachen - Diagnose - Intervention - Prävention“ schildert und dessen spezifische Sprachentwicklungsstörung erst um seinen 4. Geburtstag endgültig festgestellt wurde, kann in diesem Zusammenhang als typisch bezeichnet werden:

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„Sam ist das dritte Kind gut situierter Eltern aus der oberen Mittelschicht. Die Mutter ist Hausfrau, die sich für ihn sehr viel Zeit nimmt. Der Vater und die beiden älteren Brüder Sams weisen Lese-Recht-Schreibschwächen auf, so dass vermutet werden kann, dass der Sprachstörung von Sam eine genetische Prädisposition zugrunde liegt. [...] Nach Auskunft der Mutter war Sams Sprachentwicklung stark verzögert. Als später Wortlerner hat er erst im Alter von 2;9 Jahren erste Wörter produziert, und ab dem dritten Lebensjahr konnten wiederum sehr verspätet einfache Zweiwortäußerungen beobachtet werden. Gemessen an der Sprachentwicklung normaler Kinder wies er demnach einen Rückstand von etwa 1½ Jahren auf. [...] Als Sam im Alter von vier Jahren einem Kinderarzt vorgestellt wurde, hatte dieser seinen [...] Sprachrückstand von immerhin 18 Monaten als nicht gravierend bezeichnet und gemeint, die Mutter mache sich viel unnötige Sorgen. Die ganze Geschichte werde sich schon noch ‚auswachsen‘. “

Zu diesem Zeitpunkt wurde bei Sam ein weit überdurchschnittlicher nicht-sprachlicher IQ von 145 festgestellt. Sein Sprachverständnis war zwar verhältnismäßig gut, in seinen Sprachproduktionen machte er allerdings die gleichen systematischen Fehler, wie sie bei unauffälligen Kindern in einem Alter von etwa 2 ½ Jahren auftreten. Beispielsweise hielt er sowohl in seinen spontanen Mehrwortäußerungen als auch beim unmittelbaren Nachsprechen von sehr einfachen Sätzen noch bevorzugt an einer Satzendstellung des Verbs fest. Dabei wurde das Verb noch nicht konjugiert und damit nicht mit dem Subjekt des Satzes übereingestimmt, sondern in der Nennform oder Stammform verwendet. Die nachfolgenden Beispiele aus einer Nachsprechaufgabe illustrieren dies und zeigen auch, dass Artikel oder Fallmarkierungen noch ausgelassen wurden, wie es typisch für jüngere Kinder ist:33 Sam (3;11) Der Hund sitzt auf dem Klotz ! Der Hund auf Klotz sitz. Die Ente sitzt neben dem Auto ! Die Ente neben die sitz. Auch im Alter von fünf Jahren wiesen über 30% von Sams Sätzen noch immer Verb- Endstellung auf und sogar im Alter von acht Jahren war diese Wortstellung nicht vollständig abgebaut. Zu Recht unterstreicht GRIMM (2003, 126) in diesem Zusammenhang, dass Fehl-einschätzungen wie in Sams Fall bedauerlicherweise nach wie vor häufig sind. „Dem Wohle des Kindes dienen sie ganz bestimmt nicht. Denn es wird nicht nur die Sprachentwicklung falsch eingeschätzt, sondern es wird auch nicht erkannt, welche negativen Auswirkungen auf die kognitive und psycho-soziale Entwicklung möglich sind.“. Darüber hinaus verstreicht eventuell kostbare Zeit, in der sich das Gehirn des Kleinkindes in einer sensiblen Periode oder kritischen Phase mit größtmöglichem Lernpotential befindet.34 Wird beispielsweise eine Gehörlosigkeit erst mit vier Jahren diagnostiziert, so konnte das Kind bis dahin vom sprachlichen Angebot aus seiner Umgebung nicht profitieren. Es ist noch immer sprachlos. Überdies war es unter diesen Umständen nicht in der Lage, sein angeborenes Programm zum Erwerb von Grammatik zu aktivieren. Dieses Programm verleiht dem Kleinkind besondere Antennen für Grammatik, die ihm ermöglichen, die Grammatikregeln jeder beliebigen Sprache, die mit ihm gesprochen wird, schnell, problemlos und ohne Instruktion zu erwerben. Nun steht dieses Programm dem Kind allerdings nur während eines 33 Vergleiche dazu § „Entwicklung der Grammatik“ in meinem Beitrag 2.1 in diesem Band über die

Sprachentwicklung bei unauffälligen Kindern. 34 Siehe dazu meinen Beitrag zu „Sprache und Gehirn“ unter 1.1.2 in diesem Band.

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bestimmten Zeitfensters, und zwar eben während dieser so genannten kritischen Phase zur Verfügung. Für den Erwerb des lautlichen Systems einer Sprache dürfte das Zeitfenster bereits früher - mit sechs, sieben Jahren - geschlossen sein. Für den Grammatikerwerb ist es eventuell noch bis etwa 10 Jahre geöffnet. Kommt während dieser Zeit kein oder ungenügendes Sprachangebot aus der Umgebung, so verkümmern diese Fähigkeiten.35 „Die Antennen werden abgebaut“, so umschreiben es BUTZKAMM & BUTZKAMM (1999, 289), und Grammatikerwerb ist nachher endgültig nicht mehr möglich. Natürlich können wir auch später noch die Grammatiken weiterer Sprachen erlernen. Aber dies ist nur möglich, wenn unser Grammatikprogramm in der sensiblen Zeitspanne beim Erwerb unserer Erstsprache/n aktiviert wurde und wir da bereits eine Grammatik erworben haben. Vergleichbare Zeitfenster gibt es übrigens auch für viele nicht-sprachliche Leistungen solche sind auch aus der Tierwelt bekannt. So können beispielsweise Zebrafinken ihren Artgesang nur zwischen dem 25. und dem 50. Lebenstag lernen. Weder vorher noch nachher sind sie für ihn empfänglich. Damit solche einmaligen Zeitfenster für den Erwerb des lautlichen Systems oder der Grammatik einer Sprache nicht einfach ungenutzt verstreichen, ist es wichtig, eventuelle Sprachentwicklungsauffälligkeiten so früh wie möglich zu diagnostizieren und entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Beispielsweise sollte eine Hörstörung möglichst früh von einem auf Kleinkinder spezialisierten HNO-Arzt oder einer HNO-Ärztin abgeklärt werden. Dabei soll festgestellt werden, wie groß der Hörverlust ist und welche Hörhilfen (Hörgerät, Cochlea Implantat) dem Kind eine Sprachwahrnehmung eventuell ermöglichen könnten. Solange dies nicht klar ist, sollten Gesten und Gebärden als Basiskommunikation eingesetzt werden. Wenn eine ausreichende Sprachwahrnehmung auch mit technischen Mitteln nicht möglich ist, soll der Erwerb einer Gebärdensprache36 als Erstsprache so früh wie möglich gesichert werden. Dafür ist natürlich für den notwendigen Input in der Gebärdensprache zu sorgen. Das Kind muss also mit Menschen zusammen sein, die Gebärdensprache „sprechen“. Dass diese dann auch von den Familienangehörigen erlernt werden muss, versteht sich. Auch vorübergehende Hörstörungen, wie sie etwa infolge akuter Mittelohrentzündungen entstehen können, können bei Kindern unter vier Jahren negative Einflüsse auf ihre Sprachentwicklung haben. Speziell wenn sie unerkannt und unbehandelt bleiben, können sie die Sprachentwicklung erheblich verzögern.

35 Hier soll nochmals auf die so genannten „wilden“ Kinder, Wolfskinder oder Käfigkinder, die

außerhalb der Gesellschaft ohne Sprache aufwachsen, hingewiesen werden. Einen umfassenden Überblick über solche Fälle gibt BLUMENTHAL (2003) in seinem Buch „Kaspar Hausers Geschwister“. Hier sei speziell der moderne Fall eines Mädchens namens Genie erwähnt, das um 1970 mit zwölf Jahren aus dem „Käfig“, in dem die Eltern es die ganze Zeit eingesperrt hatten, befreit wurde. Trotz intensiven Bemühungen eines Teams von Spezialistinnen und Spezialisten hat Genie Sprache nicht mehr richtig erworben. Speziell der Grammatikerwerb war in dem Alter unmöglich geworden. Siehe dazu für Details CURTISS (1977).

36 Eine Gebärdensprache ist eine vollwertige Sprache, die wie jede gesprochene Sprache eine eigene Grammatik besitzt. Sie unterscheidet sich nur insofern von einer gesprochenen Sprache, dass anstelle von artikulierten Lauten präzise Handzeichen und Gebärden eingesetzt werden.

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Wann sollte die Sprachentwicklung eines Kindes genau beobachtet werden? Kinder, die sich bis dahin unauffällig entwickelt haben, aber im Alter von zwei Jahren noch nicht über einen produktiven Wortschatz von mindestens 50 Wörtern verfügen, werden als Spätentwickler und späte Wortlerner - oder mit dem englischen Terminus als „late talkers“ - bezeichnet. Untersuchungen in mehreren Ländern zufolge betrifft dies zwischen 13 und 20% der bis dahin unauffälligen Zweijährigen. Etwa die Hälfte dieser Kinder kann den sprachlichen Rückstand im dritten Lebensjahr aufholen. Die anderen Kinder zeigen allerdings auch später noch sprachliche Defizite und sind demnach potentielle Risikokinder (vgl. dazu GRIMM: 2003, 38ff. und 128-129). Untersuchungen zeigen übereinstimmend, „dass das verspätete Wortlernen zu einem defizitären Grammatikerwerb führt, durch den dann sowohl das Diskursverhalten wie auch diejenigen Fähigkeiten nicht regelgerecht aufgebaut werden können, die das noch implizite sprachliche Wissen für das Bewusstsein zugänglich machen.“ (GRIMM: 2003, 46). Hiermit ist gemeint, dass das Kind Probleme damit bekommt, bewusst über Sprache zu reflektieren, d.h. jene Fähigkeiten ab etwa fünf Jahren zu entwickeln, die ich in meinem Beitrag unter 2.1 als metalinguistische Fähigkeiten besprochen habe. Nun ist dieses bewusste Reflektieren über Sprache eine wichtige Voraussetzung für den späteren Erwerb von schulischen Fähigkeiten wie Lesen und Schreiben oder z.B. Satzanalyse. Hannelore Grimm warnt dem zufolge in diesem Zusammenhang zu Recht davor, das Ausbleiben einer Wortschatzexplosion37 bei einem zweijährigen Kind auf die leichte Schulter zu nehmen. Damit der Wortschatzerwerb um den ersten Geburtstag einsetzen und ein halbes Jahr später dann ganz rasant zu wachsen beginnen kann, sind vorher im Säuglingsalter wichtige Meilensteine zu passieren. In der Einleitung zu meinem Beitrag 2.1 zur unauffälligen Sprachentwicklung habe ich darauf hingewiesen, dass der frühe „Mutter-Kind-Dialog“ bereits von ausschlaggebender Bedeutung für die weitere Entwicklung ist. Die schon frühe Herstellung von Blickkontakt, die spätere Herstellung eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus und die Aufmerksamkeitszentrierung, das Nachahmen und die Verwendung von Gesten (speziell auch Zeigegesten) sind wichtige Vorläuferfähigkeiten für den Spracherwerb.

Je häufiger Mütter gemeinsam mit ihren kleinen Kindern Episoden der geteilten Aufmerksamkeit des Typs „Sieh her - das ist!“ herstellen, desto größer ist der produktive Wortschatz der Kinder im Alter von 21 Monaten. Entsprechend konnte auch ein positiver Zusammenhang zwischen der Imitation von Sprachlauten im Alter von 14 Monaten und der Größe des produktiven und rezeptiven Wortschatzes sechs Monate später empirisch aufgezeigt werden.“ (GRIMM, 2003, 27).

Umgekehrt ist Vorsicht geboten, wenn sich diese Vorläuferfähigkeiten nicht einstellen bzw. sich aufgrund von primären Defiziten oder äußerlichen Umständen nicht ungehindert entwickeln können. Bei blinden Kindern oder auch bei sehenden Kindern von blinden Eltern sind diesbezüglich möglichst früh entsprechende Maßnahmen über den Tastsinn einzuleiten. Es konnte auch festgestellt werden, dass Kindern, die später als autistisch diagnostiziert werden, solche sozial-interaktive Vorläuferfähigkeiten im Alter von 18 Monaten bereits fehlen: Sie verwenden weder 37 Siehe dazu meinen Beitrag 2.1 in diesem Band unter Entwicklung des Wortschatzes und der

Wortbedeutung.

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Gesten noch zeigen sie eine Aufmerksamkeitszentrierung auf das Gesicht oder die Stimme der Mutter. Demnach zeigen sich hier bereits erste Anzeichen einer auffälligen Entwicklung.38

Ist eine mehrsprachige Situation problematisch für die kindliche Sprachentwicklung? Wie zum Thema „Zwei- und Mehrsprachigkeit im Kindesalter“ am Ende meines Beitrags in Kapitel 2.1 dieses Bandes angeführt, ist eine zwei- oder sogar mehrsprachige Erziehung unproblematisch. Wenn sich die Möglichkeit dazu ergibt, ist sie auf jeden Fall empfehlenswert, da Gewinn bringend. Sogar Menschen mit einer geistigen Behinderung können mehrsprachig sein (siehe dazu auch später in diesem Beitrag). Trotzdem wird bei Kindern, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, immer mehr sonderpädagogischer Förderbedarf im Bereich Sprache festgestellt.39 Äußerungen, die nicht den Normen einer einsprachigen Standardsprache entsprechen, werden häufig als Anzeichen einer mangelhaften Sprachkompetenz gewertet. Sprachmischungen, die bei zweisprachigen Kindern immer wieder beobachtet werden, entstehen in den seltensten Fällen auf Grund sprachlicher Inkompetenz, so DIRIM (2004). Sie gehören vielmehr zu den besonderen sprachlichen Fähigkeiten von zweisprachig aufwachsenden Kindern und erfüllen viele wichtige kommunikative Funktionen.

Halbsprachigkeit bei Migrantenkindern Zum echten Problemfall werden allerdings jene Migrantenkinder, deren Eltern glauben ihren Kindern etwas Gutes zu tun, wenn sie sie zu Hause nicht in ihrer Muttersprache erziehen, sondern z.B. auf Deutsch, obwohl sie selber ungenügend Deutsch beherrschen. Im schlimmsten Fall ist der Input, der solchen Kindern geboten wird, so mangelhaft und inkonsistent und eher eine Art „Unsprache“ oder „Nicht-Sprache“, dass er nicht ausreicht, um das angeborene Grammatikprogramm angemessen zu aktivieren. Solche Kinder sind dann gar nicht oder nur unzureichend imstande Grammatik zu entwickeln und erreichen höchstens eine „Halbsprachigkeit“. Da sie ohne zusätzliche Förderung keine vollständige Erstsprache erwerben, sind massive Probleme hier vorprogrammiert. Hier wäre Aufklärungsarbeit für Eltern sehr wichtig: Statt Deutsch sollten sie ihre Kinder zu Hause vielmehr in ihrer eigenen Erstsprache oder Familiensprache erziehen. Damit ihre Kinder auch Deutsch erwerben, sollten sie möglichst früh und regelmäßig Kontakte mit Muttersprachsprechern des Deutschen pflegen. Wie unkompliziert Kinder unter solchen Umständen auch gleichzeitig Deutsch lernen könnten, zeigen von GRIMM (2003, 63) zitierte Untersuchungen über den Spracherwerb hörender Kinder von

38 Aus Platzmangel kann hier nicht näher auf den frühkindlichen Autismus eingegangen werden. Als

Einstiegsliteratur zu diesem Thema können Interessierten z.B. die darin einführenden Kapitel in GRIMM (2003, ab S. 95) und in BUTZKAMM & BUTZKAMM (1999, ab 169) empfohlen werden.

39 Im Rahmen der „3. Interdisziplinären Tagung über Sprachentwicklungsstörungen - ISES 3“, für die ich Hauptorganisatorin war und die vom 1. bis 3. Juli 2004 in Wien statt fand, gab es aus diesem Anlass sogar ein eigenes Workshop zu diesem Thema „Mehrsprachigkeit: Wo besteht Förderbedarf?“. Details dazu sind z.Z. noch unter www.univie.ac.at/ises3 abrufbar.

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gehörlosen Eltern. Von den Eltern erwarben die Kinder die Gebärdensprache. Jene Elternpaare, die ihre jeweils hörenden Kinder vor den Fernsehapparat setzten, anstatt sie mit sprechenden Personen zusammenzubringen, mussten erkennen, dass die Kinder bis zu ihrem dritten Lebensjahr kein einziges Wort sprachen. Dies bestätigt, dass Kinder Sprache nur in der direkten Kommunikation mit anderen Sprechern oder Sprecherinnen erwerben können. Um neben einer Gebärdensprache auch eine normale gesprochene Sprache entwickeln zu können, brauchen hörende Kinder gehörloser Eltern allerdings nicht viel normale Sprache zu hören. Für die Entwicklung des syntaktischen Systems reicht es aus, wenn sie im Alter zwischen etwa zwei und zweieinhalb Jahren „mit hörenden Sprechern wenigstens fünf bis zehn Stunden wöchentlich Kontakt haben und etwas fernsehen.“. Diagnostik einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung bei mehrsprachigen Kindern Ein grundsätzliches Problem allerdings ist die Diagnostik einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung (SSES) bei mehrsprachigen Kindern. Um in diesen Fällen eindeutig unterscheiden zu können zwischen (a) einem Kind mit mangelhaften Deutschkenntnissen, aber einer unauffälligen anderen Erstsprache (z.B. Türkisch, Kroatisch, Polnisch, Koreanisch) und (b) einem Kind mit SSES, bedarf es genauer Untersuchungen. Da es sich bei einer SSES um eine primäre Störung des Grammatikerwerbs handelt, wie oberhalb unter „Klassifikation von Sprachentwicklungsauffälligkeiten“ und „Wann ist die Sprachentwicklung auffällig?“ besprochen, sollten alle Sprachen, die das Kind erwirbt davon betroffen sein. Für viele der Erstsprachen von Migrantenkindern gibt es allerdings keine Untersuchungen zu ihrer unauffälligen Entwicklung beim Kind. Noch weniger ist in diesen Sprachen etwas über die grammatischen Indikatoren bekannt, die zur Feststellung einer SSES relevant sind. Für diese Sprachen stehen hier normalerweise keine diagnostischen Instrumentarien zur Verfügung und es fehlen auch meistens Leute, die ausgebildet sind, in Sprachen wie z.B. Türkisch, Kroatisch, Polnisch, etc. eine SSES festzustellen. Hier zumindest für die gängigsten Erstsprachen von Migrantenkindern Abhilfe zu schaffen, wäre sehr wichtig, bevor Kinder zu Unrecht mit Verdacht auf SSES in Sprachheilschulen landen.

Kinder mit einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung (SSES) oder einer Entwicklungsdysphasie Die Bezeichnung SSES oder Entwicklungsdysphasie wird auf eine heterogene Gruppe von Kindern angewandt, bei denen die Sprachentwicklung verspätet einsetzt und mit einer Beeinträchtigung in der Entwicklung der Sprachproduktion und/oder des Sprachverständnisses einhergeht, ohne dass dafür nachweisbare Ursachen vorliegen.

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Merkmale einer SSES sind: • isoliert beeinträchtigter Spracherwerb und Sprachentwicklung, • verspäteter Sprachbeginn, • verlangsamte Sprachentwicklung mit möglicher Plateaubildung, • spezielle Probleme beim Erwerb der Grammatik, • keine anderen kognitiven oder intellektuellen Defizite (keine geistige

Retardierung; nicht- sprachliche Testintelligenz im Normalbereich), • keine manifesten neurologischen Defizite, • keine Missbildungen der Sprechwerkzeuge, • keine sensorischen Störungen (keine gravierenden Seh- oder

Hörprobleme), • keine sozialen, psychischen, emotionalen Probleme (demnach auch

nicht autistisch).

Nach ihrem Erscheinungsbild zeigen sich zwei Untergruppen: • eine Form mit beeinträchtigter Sprachproduktion und besserem Sprach-

verständnis und • eine Form mit Beeinträchtigungen in der Sprachproduktion und im

Sprachverständnis. Obwohl Kinder mit SSES in erster Linie Probleme mit der Grammatik haben, sind in manchen Fällen auch zusätzlich andere sprachliche Bereiche betroffen. Demnach lassen sich weitere Unterformen unterscheiden:

• eine reine Form mit ausschließlich morphologisch-syntaktischen Beeinträchtigungen: Diese sind das Hauptmerkmal einer SSES und äußern sich in ausgeprägten Problemen mit Konjugation, Deklination, mit grammatischen Funktionswörtern (das sind z.B. Artikel, Pronomina, Hilfszeitwörter, Bindewörter) und Kongruenzmarkierungen im Satz (z.B. Übereinstimmung zwischen Subjekt und konjugiertem Verb; zwischen Artikel und Nomen in Geschlecht, Zahl und Fall),

• eine Form mit morphologisch-syntaktischen Beeinträchtigungen und zusätzlichen Defiziten in der Artikulation und/oder im Lautsystem der Sprache,

• eine Form mit morphologisch-syntaktischen Beeinträchtigungen und mit zusätzlichen semantisch-pragmatischen Auffälligkeiten.

Bis heute ist ungeklärt, ob es sich bei diesen Erscheinungsformen um unterschiedliche Beeinträchtigungen mit unterschiedlichen noch ungeklärten Ursachen oder bloß um eine einzige Beeinträchtigung in ihren verschiedenen Gradausprägungen bzw. zu unterschiedlichen Entwicklungszeitpunkten handelt. Auch wenn die Ursache/n für eine SSES bis jetzt unbekannt ist bzw. sind, konnte zumindest in bestimmten Fällen eine erbliche Komponente nachgewiesen werden (z.B. bei Zwillingspaaren, wo beide Kinder betroffen waren; in Familien mit mehreren dysphasischen Generationen). Als mögliche zugrunde liegende Ursachen einer SSES werden einerseits unterschiedliche, spezifische Probleme beim Erwerb des grammatischen Systems angenommen, andererseits werden unterschiedliche mehr allgemeine Lern-

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und/oder Verarbeitungsdefizite als mögliche Ursache einer SSES vermutet (z.B. Defizite in der auditiv-perzeptuellen Verarbeitung, Speicherung und Wiederabrufbarkeit, beschränktes verbales Kurzzeitgedächtnis oder Schwierigkeiten in der prosodischen Verarbeitung). Hauptmerkmale einer SSES äußern sich in einem nicht-altersadäquaten, eingeschränkten Gebrauch von grammatischen Endungen und Funktionswörtern, die häufig nicht vollständig erworben werden. "Fehlertypen" und Erwerbsabfolgen sind allerdings in der Regel mit denen von jüngeren unauffälligen Kindern vergleichbar. Folgende Charakteristika der Sprache von dysphasischen Kindern lassen sich allgemein hervorheben:

• Auslassungen: z.B. von Artikeln, Hilfszeitwörtern und dergleichen, • Ersetzungen durch unmarkierte Formen: z.B. Nennform anstelle einer

konjugierten Verbform, Artikel in der Nennform (= 1.Fall) statt im 3. oder 4. Fall, • Übergeneralisierungsfehler, die durch eine Überanwendung einer

regelmäßigen Regel entstehen würden (weil Kindern mit SSES solche Regeln gar nicht zur Verfügung stehen, d.h. Fehler vom Typ „geschwimmt“ oder „laufte“ für „geschwommen“ oder „lief“, wie sie unauffällige Kinder machen, sind bei SSES nicht üblich),

• bessere Beherrschung häufig gebrauchter und unregelmäßiger Formen (z.B. Formen wie „gegangen“, „war“ oder „gewesen“ werden auswendig gelernt und als solche im Wortschatz gespeichert, weshalb sie von der beeinträchtigten Grammatik bei SSES nicht betroffen sind),

• extremes Betroffensein in Bereichen wie: Subjekt-Verb-Kongruenz, Artikel, sowie Fallmarkierungen und Übereinstimmungen zwischen Artikel, Adjektiv und Substantiv innerhalb der nominalen Gruppe (z.B. ein kleiner Hund vs. ein kleines Kind vs. der kleine Hund und das kleine Kind),

• vergleichsweise geringe Störungen in anderen Aspekten der Grammatik (die dem jeweiligen Sprachentwicklungsstand des Kindes zumindest angemessen sind) wie etwa die Pluralbildung von Nomina, die Vergangenheitsformen und Partizipbildung von unregelmäßigen Verben.

Geistige Retardierung Die undifferenziert gebrauchte Bezeichnung „geistige Retardierung” lässt keine Rückschlüsse über sprachliche Fähigkeiten zu. Weder sind die bei Menschen mit einer geistigen Retardierung auftretende Sprachentwicklungsauffälligkeiten einheitlich noch lassen sie sich aus den nicht-sprachlichen kognitiven Defiziten erklären. Geistige Retardierung bedingt nicht notwendigerweise eine Sprach-entwicklungverzögerung oder –störung. Zahlreiche Studien sprachunauffälliger Kinder und mental retardierter Personen liefern eindeutige empirische Evidenz für die Autonomiehypothese,40 d.h. für die Unabhängigkeit bzw. Dissoziation von grammatischen und allgemein-kognitiven Fähigkeiten.

40 Siehe dazu den Schluss meines Beitrags 1.1.2 in diesem Band.

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Für kognitive Autonomie sprechen jene Fallbeispiele, bei denen die allgemein kognitive Entwicklung und die sprachliche (speziell grammatische) Entwicklung stark auseinanderklaffen. Aus der Literatur sind Dissoziationsfälle bekannt, bei denen eine mittel- bis schwergradige geistige Retardierung vorliegt aber keine entsprechende Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung auftreten41. So sind etwa bei geistiger Retardierung auch so genannte Inselbegabungen bekannt. Es treten auch extreme Sprachbegabungen auf wie etwa bei Christopher, dem Neil SMITH und Ianthi TSIMPLI 1995 ein Buch gewidmet haben. Bereits als Kind erwarb der nunmehrige Mittvierziger Christopher neben seiner Erstsprache Englisch eine Vielzahl von anderen Sprachen mit der gleichen Leichtigkeit wie seine Erstsprache, seiner erheblichen geistigen Behinderung zum Trotz. Zum Zeitpunkt der Buchpublikation beherrschte er neben Englisch weitere achtzehn Sprachen, darunter etwa Griechisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Dänisch, Niederländisch, Russisch, aber auch Türkisch, Finnisch und Hindi. Häufig jedoch geht eine geistige Retardierung mit Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung einher. Rückschlüsse über die Art oder das Ausmaß der zu erwartenden Auffälligkeiten lässt die Diagnose „geistige Retardierung“ allerdings nicht zu. In den meisten Fällen zeigen sich in der sprachlichen Entwicklung von geistig behinderten Kindern spezifische Dissoziationen zwischen den einzelnen sprachlichen Bereichen (z.B. Wortschatz, Lautstruktur, Satzstruktur, Deklination, Konjugation, etc.) und/oder zwischen verschiedenen Modalitäten (Verständnis, Produktion, metalinguistische Fähigkeiten). Dadurch kommt es meistens zu unterschiedlichen Formen von disharmonischen, dyssynchronen oder selektiven Sprachentwicklungsverzögerungen, eventuell kombiniert mit qualitativ abweichenden Störungen in einzelnen Bereichen. Dies ist beispielsweise auch das typische Bild beim Down-Syndrom. Hier sind vor allem bestimmte Bereiche der Grammatikentwicklung betroffen. Entwicklungsverläufe und entwicklungsbedingte „Fehler“ sind allerdings wie bei unauffälligen Kindern: gleiche Fehlertypen, aber häufiger und länger anhaltend. Im Lichte der Autonomiehypothese sind vor allem solche Fälle besonders interessant, bei denen grammatische Komponenten gar nicht oder weniger beeinträchtigt sind. In diesem Zusammenhang wurde speziell dem Williams-Beuren-Syndrom (WBS) in den letzten Jahren vermehrt Interesse entgegengebracht. Einen einführenden Überblick über die diesbezügliche Literatur gibt SCHANER-WOLLES (2000). WBS ist eine eher seltene, angeborene Entwicklungsstörung, der eine strukturelle Abweichung auf Chromosom 7 zugrunde liegt. Trotz mittelgradiger geistiger Retardierung (durchschnittlicher Gesamt- IQ von 50-60) und Beeinträchtigungen in nicht- sprachlichen kognitiven Bereichen fallen ältere Kinder und Erwachsene mit WBS durch ihre überlegenen sprachlichen Leistungen auf. Bereits in den frühesten Charakterisierungen des Syndroms werden die Gesprächsfreude und Umgänglichkeit, die gute Artikulation und Flüssigkeit, die grammatische Komplexität, der ungewöhnlich reiche Wortschatz, aber auch die Gesprächigkeit und die exzessive Verwendung von sozialen Floskeln und

41 Unter anderen Françoise mit Down Syndrom (RONDAL, 1994.1995), Christopher (SMITH &

TSIMPLI, 1995) und Laura (YAMADA, 1990). Vergleiche dazu auch den Überblick in SCHANER-WOLLES (2000).

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Redewendungen betont. Es wird sogar unterstrichen, dass diese sprachlichen Leistungen ein höheres intellektuelles und soziales Niveau vortäuschen.

Literatur BLUMENTHAL P.J. (2003): Kaspar Hausers Geschwister. Auf der Suche nach dem wilden Menschen. Wien: Deuticke. (2005 als Taschenbuch erschienen bei Piper). BUTZKAMM Wolfgang & Jürgen (1999): Wie Kinder sprachen lernen. Kindliche Entwicklung und die Sprachlichkeit des Menschen. Tübingen: Francke CRYSTAL David (1995): Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache. Frankfurt am Main: Campus. CURTISS Susan (1977): Genie - A psycholinguistic study of a modern-day ‚wild child‘. New York: Academic Press. DIRIM Inci (2004): Sprachliche Norm = Normalsprache? Zu sprachlichen Mischformen unter Vor- und Grundschulkindern. Vortrag bei der ISES3 im Juli 2004 in Wien (siehe auch unter www.univie.ac.at/ises3 ). GRIMM Hannelore (20032): Störungen der Sprachentwicklung: Grundlagen – Ursachen – Diagnose – Intervention – Prävention. Göttingen: Hogrefe. SCHANER-WOLLES Chris (2000): Sprachentwicklung bei geistiger Retardierung: Williams-Beuren-Syndrom und Down-Syndrom. In: Hannelore Grimm (ed.) Enzyklo-pädie der Psychologie, Band 3: Sprachentwicklung. Göttingen: Hogrefe, 663-685. YAMADA J.E. (1990): Laura – a case for the modularity of language. Cambridge, MA.: MIT Press.

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3.2 Situation zwei- oder mehrsprachig aufwachsender Kinder Maria DIPPELREITER Was Sie in diesem Kapitel erfahren werden: • Welche sozioökonomischen und institutionellen Bedingungen zwei- oder

mehrsprachig aufwachsende Kinder rund um ihren Spracherwerbsprozess wahrnehmen,

• welche hemmenden oder förderlichen Bedingungen Kinder erfahren können,

• welches Selbstbild daraus resultieren kann und • welche pädagogischen Interventionen und Anregungen innerhalb des

Kindergartenbetriebes – zum Nutzen aller (auch der deutschsprachigen Kinder) – ohne viel Aufwand gesetzt werden können.

Im Kapitel 1.2 („Bedingungen des Zweitspracherwerbs“) wurde u.a. eine Prognose des Erwerbserfolgs (im Sinne von „förderlicher Gestaltung der Angebote“) versucht und dargestellt, dass nicht die Quantität der Sprachen das Problem ist, sondern dass der „Erwerbserfolg“ vielmehr davon abhängt, auf welche Art das Kind mit diesen Sprachen in Kontakt kommt. Die spezielle Situation des Kindes braucht besondere Akzeptanz und verlangt nach „maßgeschneiderten“ Anregungen. Die Ausgangssituation des zwei- oder mehrsprachig aufwachsenden Kindes wird daher in der Folge dargestellt: Erfahrungen rund um den Spracherwerb: Welche förderliche „Umgebung“ können wir arrangieren? Kinder erkennen sozioökonomische Bedingungen rund um den Spracherwerbsprozess Hier geht es um die Rolle der Erstsprache und –kultur im Vergleich zur Zweitsprache und –kultur: Beim Treffen im Familienkreis wird die eine, im Kindergarten die andere Sprache gesprochen – zu Hause wird das Zuckerfest gefeiert, im Kindergarten aber nicht, dafür feiert man dort z.B. das Martinsfest. Welche Sprache ist die hochwertigere, welches Fest das wichtigere? (Dazu siehe auch: Kapitel 1.1.1: Hinweise zu „subtraktiver Bilingualismus“). Welche Sprachen dominieren und welche werden dominiert? Der 1974 in Barcelona geborene Sohn einer deutschen Mutter und eines spanischen Vaters mit katalanischer Erstsprache bezeichnet sich selbst als einen dreisprachigen Menschen und stellt dies an seinem eigenen Beispiel in Bezug auf die Sprachen Spanisch und Katalanisch dar (BOFILL I BALL, 2003, 156):

„Wahrscheinlich hat auch diese Ausgewogenheit der Hauptsprachen (Deutsch in der Schule, Katalanisch auf der Straße, beide Sprachen zu Hause) dazu beigetragen, dass ich beide Sprachen als meine Muttersprache betrachte.“

In der Schule wurde dagegen (dies auch aus politischen und gesellschaftlichen Gründen) damals kaum Katalanisch, sondern mehr Spanisch gesprochen („auch auf dem Schulhof“).

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Welche Sprache spricht man in Ämtern, welche beim täglichen Einkauf? Sprechen beide Elternteile oder nur ein Elternteil die Sprache? Und schließlich sind Kinder, die erst einige Zeit nach ihrer Geburt in ein Land kommen, in dem nicht ihre und die Sprache ihrer Eltern die Landessprache ist, mit der Frage konfrontiert: Warum spricht der Vater oder die Mutter in der „neuen“ Sprache so „unsicher“? Dass Eltern, die ein Vorbild darstellen, plötzlich nicht mehr als „perfekt“, sondern selbst als Lernende zu erleben sind, ist eine neue Erfahrung für Kinder. Kinder erkennen die institutionellen Bedingungen in Bezug auf Erst- und Zweitsprache Das Kind, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist, kann (dargestellt von BUTTARONI, VIS, S 12) zum Beispiel in folgender Situation sein:

„ Zu Hause höre ich Serbisch, im Kindergarten aber fast immer nur Deutsch, manchmal auch andere Sprachen. Im Kindergarten kann ich mit Milica und Roman auch Serbisch sprechen. Die Erwachsenen dort haben mir aber gesagt, dass ich nicht Serbisch sprechen darf. Warum denn, wenn Milica und Roman mich dadurch sehr wohl verstehen?“

Hat die Erstsprache ebenfalls im Kindergarten Platz? Dies sollte der Fall sein, sogar dann, wenn das Kind das Einzige in der Gruppe ist, das diese Sprache spricht: Als Kindergartenpädagogin bzw. –pädagoge „Sibe ba"!“ (sprich: „sibe basch“) für „Guten Morgen!“ auf Kurdisch zu sagen bzw. „Hod# h#fez!“ (sprich: „hodaa haafes“) für „Auf Wiedersehen!“ auf Persisch ist ein Ausdruck der Wertschätzung. Für den Spracherwerbsprozess wäre es förderlich, wenn Kinder Bedeutung und Wertschätzung der Erstsprache erfahren könnten. Kinder erwerben die neue Sprache nicht im „luftleeren Raum“, sondern unter konkreten, förderlichen oder hemmenden, psychischen Bedingungen Der Spracherwerb sollte lustbetont, prozessorientiert (mit Blick auf Kontinuität und Fortschritt) und „kindgerecht“ erfolgen. Der Kontext wäre negativ, wenn „ergebnisorientiert“ (im Sinne von schnellen vorzeigbaren Erfolgen) unter Druck gearbeitet würde und es nur auf die „Produktion“ von möglichst viel „perfektem Output“ in möglichst kurzer Zeit ankäme. (Dazu siehe 1.2: Ausführungen zu „Kindgemäßheit und Authentizität“). Daraus folgt, dass das Kind sich selbst bei diesem Spracherwerbsprozess entweder als Objekt („fremdartiges Wesen, das möglichst bald sprachlich assimiliert sein soll“) oder als Individuum erlebt, das in seinem Erwerbsstand und –tempo angenommen wird und dem man Offenheit und Interesse entgegenbringt. Spracherwerb ist „Entfaltung“, die durch Sprachanregungen und lustvolle Beschäftigung (ja sogar, wie dargestellt, durch freudvolles „Üben“) begünstigt und durch den Erfolgsdruck ehrgeiziger Vermittler/innen gehemmt wird. Kinder erleben sich selbst u.U. reduziert auf ein „sprachliches Mängelwesen“ Kinder haben vielfältige Bedürfnisse; werden sie in eingeengter Sichtweise kategorisiert („Kann noch nicht Deutsch!“), so übersieht man leicht den ganzen Menschen und seine anderen Stärken, Schwächen, herausragenden Seiten oder zu fördernden Bereiche:

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„Man setzt voraus, dass ihnen etwas fehle. Der „Defizitblick“ kann dazu führen, dass man die individuellen Stärken und Fähigkeiten der Kinder nicht sieht und sie unterschätzt.“ (FREITAG & WAGNER, 2001, 17)

In der Psychologie spricht man vom Halo-Effekt42, wenn ein besonderes Merkmal (oder eine besondere Fähigkeit bzw. in diesem Sinne ein besonderes „Defizit“) alles andere überstrahlt und damit eine differenzierte Beurteilung einzelner Leistungsaspekte verunmöglicht. Ein solches Kind kann etwa in seiner (unerkannten) Begabung für Mathematik unterfordert sein. (Fatal ist aber auch der umgekehrte Fall, bei dem durch den auf „Sprache“ gelenkten Blick Bedürfnisse in anderen Bereichen - z.B. Störungen im motorischen Bereich - verborgen bleiben.)

Kinder brauchen Bindung, bevor Bildung wirken kann Kindergartenpädagoginnen und -pädagogen sind (meistens) die ersten Instanzen außerhalb der Familie; diese Begegnung sorgfältig und liebevoll zu gestalten, gehört zu ihren pädagogischen Grundhaltungen. Umso mehr muss das für das Kind gelten, das nicht oder kaum Deutsch sprechen kann:

„Am Anfang des Kindergartenjahres ist es kein Einzelfall, dass ein Kind in der Tür steht, das kein Wort Deutsch versteht. Und ebenso ergibt es sich, dass das pädagogische Personal die Erstsprache des Kindes nicht versteht. In diesen Fällen gewinnt die nonverbale Kommunikation eine wesentliche Rolle. Durch Gesten und Mimik soll das betreffende Kind jedenfalls das Gefühl erfahren, willkommen zu sein. Durch den Kontext bzw. Anschauungsmaterialien versteht das Kind, worum es in der betreffenden Situation geht.“ (VIS, 2002, 29)

BUTTARONI sagt, die Kindergartenpädagogin bzw. der –pädagoge müsse dem Kind vermitteln, dass sie/er für die Situation Verständnis hat und sich Zeit nimmt. Bindung braucht Zeit und Interesse, Bindung entsteht durch Einander- Erfahren und es bedarf daher des Zuhören Könnens und Geduld Habens: Konnte zu der Förderexpertin bzw. dem Förderexperten eine persönliche Bindung aufgebaut werden oder ist sie/er eine „fremde“ Person, die lediglich ein „Programm“ erfüllt und dann wieder aus dem Kindergartenalltag verschwindet? Der Idealfall wäre die vertraute Person, die über lange Zeit hinweg durch vielfältige Sprachanregungen Förderung bietet und die Eltern-Kind-Bindung ebenfalls berücksichtigt und die Eltern mit einbezieht. Kinder werden in ihrem Spracherwerbsprozess eine hoffentlich positive Bindung erfahren:

„Eine Sprachbiografie, die durch positive Erfahrungen und aufmerksame, wissende Erwachsene geprägt ist, ist bestimmt eine gute Voraussetzung für eine erfolgreiche Bildungsbiografie.“ (HAMMES, DI BERNARDO, 2004, 11)

Kinder „verstehen“ zwar (vielleicht) noch nicht, was man ihnen sagt, brauchen aber dennoch „Ansprache“ Sprachanregung geschieht durch Sprechen. Kindergartenpädagoginnen und –pädagogen fragen sich zu Recht „Was soll ich dem Kind denn sagen? Es versteht mich ja doch nicht“. Aus diesem Grund bekommen solche Kinder unter Umständen zu wenig sprachliche Inputs, und selbst die Forderung, „dann eben Deutsch“ mit ihm

42 „Halo“, englisch: „Hof des Mondes“, sprich: [´heil$u]

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zu reden, kann nicht immer durchgehalten werden, weil sie viel Energie seitens der Kindergartenpädagogin bzw. des Kindergartenpädagogen braucht, denn:

„…es erfordert, jede Handlung mit Worten oder einfachen Sätzen, jedes Schuhe-Zubinden mit einem „ich binde dir jetzt die Schuhe zu!“ zu begleiten“. (BORN, 2003, 43)

Es ist daher wichtig, dass sich Kinder, auch wenn sie noch nicht verstehen können, was gesagt wird, „angesprochen“ fühlen, d.h. wenn die Kindergartenpädagogin bzw. der –pädagoge auch an sie „das Wort richtet“ bzw. in ihre Blickrichtung nonverbale Signale (aufmunternde Blicke, Gesten) sendet, ohne sie unter Druck zu setzen, dass sie sofort „antworten“ oder auf alle Fälle richtig reagieren müssen. Kinder müssen sich wahrgenommen und „dazugehörig“ fühlen. Die Kinder sind zwar erst einmal „sprachlos“, möglicherweise ist das rezeptive43 Sprachverständnis aber schon sehr groß. In dieser Phase erleben Kinder, dass man ihnen Geduld entgegen bringt oder dass man sie zu früh zum Sprechen zwingt, zu viel von ihnen fordert und sie damit unter Druck setzt (und sie damit für längere Zeit verstummen lässt):

„Bevor ein Kind anfängt in der Zweitsprache zu sprechen, braucht es erst einmal ausreichend Gelegenheit, zu lauschen und zu beobachten, um herauszufinden, welche Beziehungen eigentlich zwischen dem bestehen, was im Kindergarten in den Mündern blubbert, und den Situationen und Handlungen, in denen das geschieht. Um einem Kind diesen Prozess zu erleichtern, sollte langsam, deutlich, mit entsprechender Mimik, Gestik und Stimmmodulation gesprochen werden.“ (BORN, 2003, 43)

Eine 1978 in Österreich geborene Frau, die als Kind eines französischen Vaters und einer rumänischen (französisch sprechenden) Mutter in Mödling aufwuchs, erinnert sich (VRIGNAUD, 2003, 151):

„Als ich im Kindergartenalter war, entschieden sich meine Eltern bewusst für einen deutschsprachigen… Zunächst war es schwer für mich… weil ich meinen Kommunikationsdrang und –wunsch nicht erfüllen konnte. Es ist so ein unangenehmes, verunsicherndes Gefühl, nicht zu verstehen, was die Gleichaltrigen sagen. Vor allem weil ich sonst ein gesprächiges Kind war.“

VRIGNAUD hat im Schulalter bereits ein so akzentfreies Deutsch gesprochen, dass jeder hätte schwören können, eine Österreicherin vor sich zu haben. Dennoch hat sie lang gebraucht, um mit der ihr ansonsten fremden Schüchternheit in der „Orientierungsphase“ zurecht zu kommen. Kinder erleben die eigene Person völlig neu und brauchen in dieser Phase besonders viel positives Feedback. Die Kinder sprechen zwar, erleben aber, dass sich ihr Sprachstand (noch) von einigen anderen in der Gruppe deutlich unterscheidet Wann ein Kind seine rezeptive und produktive Sprachverwendung „umwandelt“, ist von vielerlei Faktoren abhängig und hat nicht zuletzt mit der persönlichen Disposition des Kindes („zögerlich“ versus „mutig“ usw.) zu tun; wie andere darauf reagieren, ist 43 Der Begriff „rezeptives Sprachverständnis“ (in der Literatur auch „passives Sprachverständnis“

genannt) beschreibt die Möglichkeit des kognitiven „Entschlüsselns“ dessen, was das Kind als Zuhörer erfasst.

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nicht unerheblich für den weiteren Verlauf des Spracherwerbs und der Sozialisierung allgemein. In dieser Phase können Kindergartenpädagoginnen und –pädagogen die Chance nutzen, allen Kindern in der Gruppe zu zeigen, dass und wie man wertschätzend miteinander umgeht:

„Wenn das Kind dann spricht, kommt es erst einmal darauf an, dass es überhaupt redet. Jede Form von Kritik und Zurechtweisung, selbst die Aufforderung zum Nachsprechen oder die direkte Korrektur bremsen seine Neugier und seine Freude an weiteren Sprechversuchen. Hilfreicher ist die Form der „verbesserten Wiederholung“, die in bestätigender Weise zum richtigen Gebrauch von Wörtern und Sprachäußerungen anregt.“ (BORN, 2003, 43)

Kinder erwerben nicht nur Sprachwissen, sondern auch prozessuales Wissen („Vermittlungsstrategien“) und Wissen um erfolgreiche Kommunikation Kinder, die eine neue Sprache erwerben, erleben diese Situation mitunter als konstruiert (was kein Hindernis für sie darstellt, sie aber – da die dahinter liegenden Absichten nicht klar sind – erst einmal verunsichert):

„Warum wiederholen die Erwachsenen im Kindergarten immer wieder, was ich sage? Und warum verlangen sie manchmal von mir, dass ich wiederhole, was ich ohnehin schon ganz deutlich gesagt habe?“ (VIS; 2002, 12)

Das prozessuale Wissen, das vermittelt wird, steht der gesamten Kindergartengruppe offen: Der Erwachsene wird beobachtet und in seinem Verhalten imitiert; von Respekt getragenes Miteinander-Umgehen stellt somit ein Lernmodell für positiv gestaltete Kommunikationssituationen der Kinder untereinander dar. Kinder erfahren beim Spracherwerb Kontinuität oder Bruch Sie können (hoffentlich) in der neu erworbenen Sprache auf Spracherfahrungen in der Erstsprache aufbauen (dazu siehe auch 1.1.1.: Die gesellschaftlich schwächere Sprache soll besonders gefördert werden) und mit ihnen soll häufig verbal kommuniziert werden, dabei sollen auch nonverbale Stimuli (Mimik, Gestik, Hilfsmittel) eingesetzt werden (vgl. VIS, 30). Sprachliches Kommunizieren mit dem Kind soll permanent und durchaus auch zweckfrei, also nicht nur im Sinne von abgesetzter „sprachlicher Förderung“ erfolgen: Das Kind „lernt“, auch wenn nicht direkt mit ihm kommuniziert wird bzw. wenn zweckfrei kommuniziert wird. Und es lernt ganzheitlich, denn es versteht z.B., dass die Kindergartenpädagogin sicher will, dass es zu ihr kommt, wenn sie ihm winkt (vgl. VIS, 2002, 32). Vieles von dem Verstehen, so BUTTARONI, ist zunächst ein Erahnen, wesentlich wäre also, dass, um Kontinuität zu garantieren, derartige Situationen oft erlebt werden

„... und sich zu seinem Wissen über ablaufendes Geschehen mit der Zeit identifizierbare Laute mit einer Bedeutung gesellen. Über derartige freie Verwendung von Sprache hinaus ist auch jede Form von wiederkehrendem, ritualisiertem Sprachgebrauch hilfreich“. (VIS 2002, 33)

Kinder erfahren ihre Mehrsprachigkeit als Unterscheidungsmerkmal von einsprachig aufwachsenden Kindern In einer fortgeschrittenen Phase dieses Spracherwerbsprozesses erleben Kinder ihr „Anders-Sein“ in der sie umgebenden Welt ganz bewusst:

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„Wissen die Kinder mehr als die Erwachsenen… fehlt den letzteren ein wesentliches Kontrollinstrument.“

sagt BUTTARONI (VIS, 14). Sie „wissen“ in Bezug auf Sprache mitunter mehr als ihre Eltern und können bzw. müssen kleine Verhandlungen für sie führen:

„Afghanische Mütter sprechen nicht Englisch. Da kann ich Mitteilungen nur über die Kinder weitergeben, sobald sie ein bisschen Deutsch verstehen, denn wir haben ja keinen Dolmetscher zur Verfügung.“ (BERTHOLD, 2003, 17)

Das unterscheidet diese Kinder von gleichaltrigen deutschsprachigen Kindern und kann sie auch überfordern:

„Im Aufnahmeland werden sie dann oft in eine Rolle gezwängt, in der sie nicht mehr `Kind´ sein können. Kinder lernen eine fremde Sprache meist schneller als ihre Eltern und werden deshalb zum Sprachrohr und Dolmetscher ihrer Eltern.“ (ECKER, 2005, 12)

Sie haben aber auch ein vielleicht einer kleinen Gruppe von Kindern gemeinsames und deshalb innerhalb dieser Gruppe „geheimes“ Verständigungsmittel, das Erwachsene und andere Kinder beliebig ausschließen kann. Jedenfalls wird ihnen die Mehrsprachigkeit bewusst und wird von ihnen je nach Situation als lustvoll oder belastend erlebt. Literatur BERTHOLD Erika (2003): Das Wichtigste ist die Kommunikation. Über interkulturelle Sprach- und andere Barrieren. In: klein & groß. Lebensorte für Kinder. Die Fachzeitschrift für ErzieherInnen und sozialpädagogische Fachkräfte. 5/03. Basel/Weinheim: Beltz, 16-19. BOFILL I BALL Gilbert (2003): Zwei oder drei Sprachen? In: CZERNILOFSKI, Barbara; Georg KREMNITZ (Hg.): Trennendes. Verbindendes. Selbstzeugnisse zur individuellen Mehrsprachigkeit. Wien: Edition Praesens, 156-159. BORN Karin (2003): Wenn Kinder zwei Sprachen lernen. In: klein & groß. Lebensorte für Kinder. Fachzeitschrift für Erzieherinnen und sozialpädagogische Fachkräfte. 1/03. Basel/Weinheim: Beltz, 42-43. ECKER Gabriele (2005): Nicht zu schnell erwachsen werden. In: Frische BÖE. Bundesverband Österreichischer Elternverwalteter Kindergruppen. Nr. 52, März 2005 (=“Integration,2“),12-14. FREITAG Ines; Petra WAGNER (2001): Kinderwelten oder Interkulturelle Erziehung neu gedacht. In: klein & groß. Lebensorte für Kinder. Die Fachzeitschrift für Erzieherinnen und sozialpädagogische Fachkräfte.1/01 Basel/Weinheim: Beltz, 16-19.

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VRIGNAUD, Veronique (2003): Die Mehrsprachigkeit als Identitätsversuch. In: CZERNILOFSKI Barbara/Georg KREMNITZ (Hg.): Trennendes. Verbindendes. Selbstzeugnisse zur individuellen Mehrsprachigkeit. Wien: Edition Praesens, 151-155. VORSCHULISCHE INTEGRATION DURCH SPRACH(EN)WISSEN (2003): Bericht über ein Projekt des Integrationshauses (Leitung: Dr. Susanna BUTTARONI) Hg.: Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur, Wien.