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Schmerzen am Bewegungsapparat Das Schleudertrauma 4.3.8 Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11 1 4.3.8 Das Schleudertrauma – ein lösbares Problem B. Kügelgen, Koblenz Wohl kaum ein Krankheitsbild ist so lange und so heftig umstritten wie das sogenann- te Schleudertrauma. Daher wird das Schleudertrauma in die Medizingeschichte eingehen. Die heftigsten Diskussionen fin- den in der Begutachtung nach fremdver- schuldeten Unfällen statt. Bei unvoreingenommener Analyse fällt so- fort auf, dass in der klinischen Diagnostik insofern beträchtliche Defizite bestehen, als keine einheitliche Vorstellung besteht, was sich eigentlich bei einem solchen Schleudertrauma abspielt. Dementspre- chend fehlt es an einheitlichen klinischen Beschreibungen eines Schleudertraumas, also welche Anamnese, welche Beschwer- den und welche klinischen Befunde denn nun zur Diagnose eines solchen Schleuder- traumas führen sollen bzw. wann ein Schleudertrauma ausgeschlossen ist, weil diese Anamnese, diese Beschwerden und diese klinischen Befunde eben nicht vorlie- gen. Auch eine große Literaturfülle zu diesem Thema hilft nicht weiter: Eine Metaanalyse der Quebec Task Force (Spitzer et al. 1995) erbrachte von 1980–1994, also in 15 Jah- ren, 10 036 wissenschaftliche Publikatio- nen zum Thema Schleudertrauma, darun- ter nur 62 seriöse Arbeiten (= 6 ‰)! Dabei fällt nicht nur die fragliche Qualität vieler Publikationen auf, sondern auch dass selbst diese 62 seriösen Arbeiten das Rätsel nicht lösen konnten. Lage ................................................................................. 1 Bezeichnungen............................................................ 2 Einteilungen, Schemata ........................................... 2 Literaturüberblick ....................................................... 2 Diagnose ........................................................................ 5 Klinisches Bild: Anamnese, Beschwerden, Befunde .......................................................................... 7 Apparative Diagnostik ......................................... 8 Häufigkeit .................................................................... 10 Pathophysiologische Konzepte........................... 10 Chronifizierung.......................................................... 18 Diskussion der Konzepte........................................ 20 Differenzialdiagnose................................................ 21 Therapie ....................................................................... 25 Ergebnisse ................................................................... 28 Begutachtung ............................................................ 31 Diskussion.................................................................... 32 Literatur ........................................................................ 35 Anhang ......................................................................... 37 Lage

4.3.8 Das Schleudertrauma – ein lösbares Problem · 2019. 9. 9. · Das Schleudertrauma – ein lösbares Problem B. Kügelgen, Koblenz Wohl kaum ein Krankheitsbild ist so lange

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Page 1: 4.3.8 Das Schleudertrauma – ein lösbares Problem · 2019. 9. 9. · Das Schleudertrauma – ein lösbares Problem B. Kügelgen, Koblenz Wohl kaum ein Krankheitsbild ist so lange

Schmerzen am Bewegungsapparat Das Schleudertrauma 4.3.8

Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11

1

4.3.8 Das Schleudertrauma – ein lösbares Problem

B. Kügelgen, Koblenz

Wohl kaum ein Krankheitsbild ist so langeund so heftig umstritten wie das sogenann-te Schleudertrauma. Daher wird dasSchleudertrauma in die Medizingeschichteeingehen. Die heftigsten Diskussionen fin-den in der Begutachtung nach fremdver-schuldeten Unfällen statt.

Bei unvoreingenommener Analyse fällt so-fort auf, dass in der klinischen Diagnostikinsofern beträchtliche Defizite bestehen,als keine einheitliche Vorstellung besteht,was sich eigentlich bei einem solchenSchleudertrauma abspielt. Dementspre-chend fehlt es an einheitlichen

klinischenBeschreibungen

eines Schleudertraumas,also welche Anamnese, welche Beschwer-

den und welche klinischen Befunde dennnun zur Diagnose eines solchen Schleuder-traumas führen sollen bzw. wann einSchleudertrauma ausgeschlossen ist, weildiese Anamnese, diese Beschwerden unddiese klinischen Befunde eben nicht vorlie-gen.

Auch eine große Literaturfülle zu diesemThema hilft nicht weiter: Eine Metaanalyseder Quebec Task Force (Spitzer et al. 1995)erbrachte von 1980–1994, also in 15 Jah-ren, 10 036 wissenschaftliche Publikatio-nen zum Thema Schleudertrauma, darun-ter nur 62 seriöse Arbeiten (= 6 ‰)! Dabeifällt nicht nur die fragliche Qualität vielerPublikationen auf, sondern auch dassselbst diese 62 seriösen Arbeiten das Rätselnicht lösen konnten.

Lage ................................................................................. 1

Bezeichnungen............................................................ 2

Einteilungen, Schemata ........................................... 2

Literaturüberblick....................................................... 2

Diagnose........................................................................ 5

Klinisches Bild: Anamnese, Beschwerden, Befunde.......................................................................... 7

Apparative Diagnostik ......................................... 8

Häufigkeit ....................................................................10

Pathophysiologische Konzepte...........................10

Chronifizierung..........................................................18

Diskussion der Konzepte........................................20

Differenzialdiagnose................................................21

Therapie .......................................................................25

Ergebnisse ...................................................................28

Begutachtung ............................................................31

Diskussion....................................................................32

Literatur........................................................................35

Anhang .........................................................................37

Lage

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4.3.8 Das Schleudertrauma Schmerzen am Bewegungsapparat

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Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11

Kamieth (1990) gibt eine Übersicht über dieSynonyma:

• whiplash injury• Peitschenschlagverletzung• Schleudertrauma• acceleration injuries• extension injuries• Überstreckungsverletzung• coup du lapin• Hasenschlag• zervikozephales Beschleunigungstrauma.

All diese und noch immer neue Benennun-gen helfen nicht weiter. Im Deutschen wur-de früher von HWS-Distorsion gesprochen,dem folgte der Begriff Schleudertrauma,wobei nicht unterschieden wurde zwi-schen Unfallmechanismus und Diagnose,dann Beschleunigungstrauma, dann wie-der Distorsion der HWS, mittlerweile zervi-kozephales Syndrom, was eine reine Zuord-nung zu zwei anatomischen Strukturen be-inhaltet (zervix lat. = Hals, kephalon griech.= Kopf).

Der Würzburger Neurootologe Claus Claus-sen (1990) hat den Begriff zervikoenzepha-les Syndrom eingeführt, das es aber nichtgibt (zervix lat. = Hals, enkephalon griech. =Gehirn). Es wird mit der Wahl dieses Begrif-fes unterstellt und dann tatsächlich auchbehauptet, dass es sich um eine vom Halsausgehende Gehirnerkrankung handelt.Die Argumente dagegen sind leicht zu fin-den, eine solche unterstellte Hirnstammer-krankung ist jedem Neurologen bestens be-kannt und sieht völlig anders aus als das hierdiskutierte Krankheitsbild; eine ganze Ge-neration von Neurologen hat verschiedeneHirnstamm-Syndrome mit großer Akribiebeschrieben (Kügelgen 1989). In der Arbeit

der Quebec Task Force wird der BegriffWhiplash-Associated Diseases (WAD) ge-prägt, der ebenfalls international öfters ge-braucht wird, der aber natürlich ebenfallskeine präzise Krankheitsbezeichnung ist.

Die Vielfalt der Begriffe ist ein untrüglicherBeleg für fachliches Unwissen. Dies giltauch für Einteilungen und Schemata:Schröter (1995) hat in Neuroorthopädie 6eine Übersicht über die vielen Einteilungengegeben und eigene noch hinzugefügt.Sämtliche Einteilungen unterscheiden sichdurch die Kriterien, nach denen eingeteiltwird, sie sind gleich in ihrer Willkürlichkeitund damit fehlenden Plausibilität, weil sieetwas einteilen, was im Grunde gar nichtbekannt ist.

Die beiden bekanntesten Einteilungen lie-fern Erdmann (1983) und die Quebec TaskForce (1995), s.u.

Die Lösung des Problems kann nur in einerAufklärung der

klinischen

Wissenslückenbestehen. Dann lässt sich eine solche Diag-nose nachvollziehbar stellen oder aus-schließen, Behandlungsstrategien entwi-ckeln, Regelverläufe vorhersagen und dannauch plausible Gutachten erstellen.

Ausdrücklich wird darauf hingewiesen,dass die Literatur zum Thema Schleuder-trauma und anderen gewählten Bezeich-nungen in der Qualität sehr unterschied-lich, in ihren Aussagen insgesamt wenighilfreich ist. Es lässt sich anhand der Litera-

Bezeichnungen

Einteilungen, Schemata

Literaturüberblick

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Schmerzen am Bewegungsapparat Das Schleudertrauma 4.3.8

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tur fast alles belegen und auch fast alles wi-derlegen.

Daher soll hier nur auf vier historisch wich-tige Publikationen eingegangen werden:

1953 leiteten J. H. Gay und K. H. Abbott einebreitere Diskussion um das whiplash injuryein. Sie vermuteten wegen der langen Ver-läufe einerseits und der fehlenden Rönt-genbefunde andererseits ernsthaftereBandverletzungen („some severe ligamen-tous injuries“). Sie führten die Schmerzenauf durch die Weichteilverletzungen undderen Folgen bedingte Radikulitiden zu-rück. Sie beobachteten bei ihren 50 Patien-ten, dass prolongierte Verläufe vor allemmit Kopfschmerzen vorkamen, die an post-kommotionelle Beschwerden erinnerten,obwohl nachweislich kein Kopfanprall vor-gelegen hatte, aber ein Heckaufprall desFahrzeugs. Sie schlossen deswegen Verlet-zungsfälle mit offensichtlicher Kontaktver-letzung des Kopfes aus. Erstmals wurdenpsychische Auffälligkeiten bei Patientenmit protrahiertem Schleudertrauma her-vorgehoben. Diese Überlegungen warenfruchtbarer Nährboden für vielfältige Inter-pretationen. Immerhin plädierten sie füreine deutliche Verbesserung des Frühma-nagements nach der Verletzung, weil so

ganz offensichtlich eine „psychoneuroti-sche Entwicklung“ verhindert werden kön-ne.

Helmut Erdmann aus Darmstadt, Chirurgund Radiologe, beschrieb bereits 1973 einedeutliche Unterscheidung der HWS-Verlet-zungen, er trennte die Schleuderverletzunginfolge Auffahrunfall von der Abknickver-letzung beim frontalen Aufprall. Bei der vonihm abgetrennten Schleuderverletzungspricht er von einem Sammelbegriff mit po-tenziell ganz verschiedenen Einzelläsionenam Organ HWS, aber ohne Röntgen-Be-fund. Ausdrücklich beschreibt er für dasSchleudertrauma drei Distorsionsstufen,die nicht immer harmlos seien, auch wennder Knochen nicht beteiligt sei, in Einzelfäl-len käme es zu Dauerschäden.

Die Graduierung erfolgt anhand von dreiKriterien, einmal dem Intervall, ohne dassdies irgendwie näher erklärt wird, dann so-genannten neurologischen Primärsympto-men, wobei dann Missempfindungen (Pa-rästhesien) erwähnt werden, also unspezifi-sche Reizerscheinung ohne sicheren Hin-weis auf tatsächliche Beteiligung des Ner-vensystems, und schließlich wieder Rönt-genbefunde, die vorher ausdrücklich aus-geschlossen worden waren.

Tabelle 1: Stadien des Schleudertraumas nach H. Erdmann (1983)

Symptome Distorsion I° Distorsion II° Distorsion III°

Intervall + +/Ø Ø

Neurologische Primärsymptome (z.B. Parästhesi-en in Händen und Armen)

Ø + +

Positive Röntgenmerkmale• primäre• sekundäre(reparative Narben und dergl.)

ØØ

ØØ/+

++

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4.3.8 Das Schleudertrauma Schmerzen am Bewegungsapparat

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Das Verdienst Erdmanns ist darin zu sehen,dass er überhaupt längere Verläufe bei so-genannten Distorsionen für möglich hielt,ohne dies erklären zu können. Dies hat eraber auch freimütig eingeräumt. Von er-heblicher Bedeutung ist noch, dass Erd-mann unter Distorsion etwas völlig anderesverstand als eine Verstauchung, wie essonst in Unfallchirurgie und Orthopädieüblich ist (s.u.).

Erhebliche Beachtung fand 1995 die Arbeitder Quebec Task Force, auf die oben schonhingewiesen wurde.

Die 34 Autoren sprechen von Whiplash-As-sociated Disorders. Neben einer literatur-kritischen Metaanalyse untersuchen sie4 757 Fälle, die sie aus Versicherungsaktenherausgesucht haben, und liefern eine

neue Beschreibung und eine neue Klassifi-kation dieser Whiplash-Associated Disor-ders.

Diese Stadieneinteilung ist Grundlage fürThe Quebec Guidelines for patient care:

Die Patienten, die nicht ausheilen, sollennach sechs Wochen (Stadium 1) bzw. nachzwölf Wochen (Stadien 2 und 3) einer mul-tidisziplinären Team-Evaluation unterzo-gen werden, ohne dass mitgeteilt wird,welches Ziel diese Reevaluation haben soll.Stattdessen soll eine große Fülle von Datenstandardisiert erhoben und dokumentiertwerden.

Stadium 4 soll sofort einem Unfallchirurgenvorgestellt werden.

Im Epilog bekennen die Autoren:

The void, unfortunately, about what isknown in prevention, diagnosis and reha-bilitation is particularly noteworthy. …Despite the paucity of scientific evidence,we redefined and formally classified WAD.

So wird verständlich, dass sich im klini-schen Alltag durch diese Studie trotz einesimmensen Aufwandes wenig geändert hat.Der Grund ist einfach: Auch die Neudefinie-rung und Klassifikation haben das

klinischeProblem

nicht gelöst, es ist den Autorennicht gelungen, ein in sich geschlossenesKrankheitsbild plausibel zu beschreiben.

1996 veröffentlichten Schrader et al. in TheLancet ihre Arbeit „Natural evolution of latewhiplash syndrome outside the medicole-gal context“. Sie hatten in Litauen retros-pektiv mit einem Fragebogen 202 Perso-nen nach einem Auffahrunfall ein bis dreiJahre später befragt nach Nackenschmer-zen, Kopfschmerzen, subjektiver kognitiverDysfunktion, psychologischen Störungen

Tabelle 2: The Quebec classification of whiplash-associated disorders (Spitzer et al. 1995)

Grade Clinical Presentation

0 No complain about the neckNo physical sign(s)

1 Neck complain of pain, stiffness, or tenderness onlyNo physical sign(s)

2 Neck complainANDMusculoskeletal sign(s)

1

3 Neck complainANDNeurological sign(s)

2

4 Neck complainANDFracture or dislocation

1

Musculoskeletal signs include decreased range of motionand point tenderness.

2

Neurological signs include decreased or absent deep ten-don reflexes, weakness, and sensory deficits. Symptomsand disorders than can be manifest in all grades includedeafness, dizziness, tinnitus, headache, memory loss, dys-phagia and temporomanibular joint pain.

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und Kreuzschmerzen. Diese Ergebnissewurden mit einer Gruppe ohne Unfall ver-glichen. Sie fanden keinen Unterschied.Diese Ergebnisse wurden in Beziehung ge-setzt zu dem geringen Bekanntheitsgradvon Schleudertrauma in Litauen und demgering verbreiteten Versicherungsschutz.

Nicht das Ergebnis ihrer Untersuchungen,sondern die weite Verbreitung und das völ-lig unkritische Zitieren dieser Arbeit mussverwundern. Die Anforderungen an eineDiagnose in dieser Arbeit gleichen denenbei Grad 1 der Quebec Task Force (s.o.). Essei auf die oben aufgelisteten Kriterien, wieeine medizinische Diagnose gestellt wird,verwiesen: Anamnese, klinischer Befund,gegebenenfalls apparative Diagnostik.Auch diese Studie erfüllt nicht die Kriterienfür eine medizinische Diagnose und damitdie Zugangskriterien für eine solche Unter-suchung. Zudem: Geht man davon aus,dass von den 202 Personen weder Be-schwerden gleich nach dem Unfall noch einErstbefund bekannt sind, so ist zu vermu-ten, dass ein Teil dieser 202 Personen garkein Schleudertrauma erlitten hat. Wennvon dem Rest 90 % ausheilen, verbleibteine kleine Gruppe, die bei der weiten Ver-breitung von Spannungskopfschmerzen si-cher auch mit der besten Statistik nurschwer abgegrenzt werden kann.

Unter Diagnose versteht man gemeinhindie Erkennung einer Krankheit.

Dem Arzt begegnet der

individuelle

Krankemit

seiner

Krankheit. Diese ist einer

abstrak-ten

Krankheit zuzuordnen, wie sie die medi-zinische Lehre beschreibt. Dabei kommt es

immer zu einer Manipulation von Informa-tionen. Nie entspricht das individuelleKrankheitsbild dem abstrakten. Ein Zuvielan Beschwerden und Befunden gilt es zureduzieren, entweder auszublenden oderanderen Krankheiten zuzuordnen, ein Zu-wenig zu ergänzen. Dieser Prozess machtdiese Zuordnung natürlich auch anfällig fürFehler (Gross 1969). Diagnostizieren heißtalso Krankheitsgeschichte, Beschwerdenund klinische Befunde zu suchen und zuuntersuchen und diese Informationen ineine Krankheit zu abstrahieren. DieseKrankheit ist ein Ideal von pathophysiologi-schen Vorstellungen, von Beschwerden, kli-nischen Befunden und Krankheitsverlauf,damit einer Prognose, aus der sich Konse-quenzen in der Art ergeben, dass Behand-lungen als möglich oder gar notwendig er-kannt werden, andere Maßnahmen alsschädlich, oder auch die Unterlassung be-stimmter Maßnahmen als schädlich odersogar gefährlich eingeschätzt werdenkann, also eine differenzierte Strategie fürdas weitere Vorgehen im Einzelfall. Die ein-zelne Erkrankung entspricht also nie demKrankheitsideal. Die Schwierigkeit im diag-nostischen Prozess liegt in der Abstraktion,das ist in der Regel ein Weglassen oder Hin-zufügen von Informationen, durch die sichder Einzelfall vom Ideal unterscheidet.

Unverändert gilt die Regel, dass 70 % allerErkrankungen durch die Anamnese, 90 %durch Anamnese plus klinischem Befunddiagnostiziert werden. Hinzu kommt dieapparative Diagnostik. Hierbei handelt sichum technische Methoden, mittels derer be-stimmte Parameter meistens sehr genauerfasst werden können. Dabei ist immerdurch systematische Untersuchungen zuklären, wie genau die Parameter der appa-

Diagnose

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4.3.8 Das Schleudertrauma Schmerzen am Bewegungsapparat

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rativen Diagnostik die gesuchte Krankheitabbilden; es müssen

• Sensitivität (Werden tatsächlich Krankeals krank erkannt?),

• Spezifität (Werden tatsächlich Gesundeals gesund erkannt?),

• Validität (Messen wir wirklich das, waswir messen wollen?),

• Reliabilität (Reproduzierbarkeit der Mess-ergebnisse) bestimmt werden und

• Messfehler (Streubereich) immer ange-geben werden.

Apparative Untersuchungsmethoden soll-ten bis auf wenige Ausnahmen (Blutdruck,Blutzucker) nur gezielt, d.h. mit präziser Fra-gestellung aus den klinischen Informatio-nen heraus durchgeführt werden. Der Neu-rologe Werner Scheid (1983) hat immer von

Hilfsmethoden

gesprochen. Dann könnensie sehr hilfreich sein. Der unkritische Ein-satz von apparativer Diagnostik, erst rechtbei Verkürzung des oben dargestellten We-ges über Anamnese, Beschwerdebild undklinischem Untersuchungsbefund, ist einer

der häufigsten Gründe für Fehldiagnosenmit all ihren Konsequenzen und ist in vielenBereichen der Medizin geradezu eine Fehl-entwicklung geworden. Von diesem Weggerade im Zeitalter der immer perfekterenbildgebenden Methoden abzuweichen,löst nicht Probleme, sondern erschwert Lö-sungen.

Der berühmte Neurologe Marco Mu-menthaler (2009) beklagt:

Etwas Weiteres macht mir in der heutigenAusbildung des Neurologen Sorge: Ich sehezunehmend häufig Patienten, die ein nichtvon Anfang an klares Krankheitsbild haben –und das ist ja nicht selten –, bei denen keinesorgfältige Anamnese erhoben wurde. Diesaus Zeitmangel oder aus mangelnder Fähig-keit des konsultierten Arztes in der Kunst derAnamnese. Dann werden ungezielt zahlrei-che der heute leicht verfügbaren technischenUntersuchungen angewendet. Ein dann auf-tauchender, von der absoluten Normalitätabweichender Befund wird dann weiterver-folgt, unabhängig davon, ob er überhaupt

Abb. 1: Diagnostischer Prozess: von der individuellen Krankheit über die abstrakte Krankheit zur indi-viduellen Therapie.

Individuelle Krankheit

Diagnose

Prognose

TherapieTherapie im

Einzelfall

Arbeiten ohne Diagnose(Heilpraktiker)

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mit dem Krankheitsbild des Patienten korre-liert. Es fehlt also oft die logische Sequenz desVorgehens, von der Anamnese zur vorläufi-gen Einschätzung der infrage kommendenPathologie, zur körperlichen Untersuchungund dann erst zum darauf basierenden ge-zielten Einsatz geeigneter Zusatzuntersu-chungen.

Diagnosen werden über Differenzialdiag-nosen gestellt. Hierbei sind Wahrschein-lichkeiten anzugeben. Das gilt in der klini-schen Medizin ebenso wie in der Begutach-tung. Je schwieriger die Diagnose, umsomehr ist der oben aufgezeigte Weg einzu-halten. Keinesfalls sind Restkategorien er-laubt, erst recht nicht „Psyche“. Auch dieEinordnung eines Röntgenbefundes (dege-nerative Wirbelsäulenveränderungen) alsKrankheit ist ein grober methodischer Feh-ler im diagnostischen Vorgehen.

Es gibt weltweit keine einheitlichen Anga-ben zu Anamnese, Beschwerden und klini-schen Befunden. Genau das ist aber nötig,um das Krankheitsbild nachvollziehbardiagnostizieren bzw. nachvollziehbar aus-schließen zu können. Nur wenn das be-kannt ist, kann der oben beschriebene Wegzu einer Diagnose regelmäßig gegangenwerden.

Wenn die Patienten kurz nach dem Unfallvom Arzt befragt und untersucht werdenkönnen, ist die Schilderung ziemlich einför-mig: Schmerzen im Nacken, die in Hinter-kopf, bisweilen auch in den Bereich derSchultern, ein- oder beidseitig, ausstrahlen,das Gefühl, den Kopf nicht mehr richtig

kontrollieren, nicht mehr richtig halten zukönnen und das Gefühl der eingeschränk-ten Beweglichkeit des Kopfes im Halsbe-reich. Oft werden initial Übelkeit und Brech-reiz beklagt.

Dann gibt es zwei Arten von Beschwerde-schilderung:

Ein relativ kleiner Teil von Patienten, ge-schätzt 20–30 %, beklagt diese Phänomene

sofort nach dem Unfallereignis

, ein deutlichgrößerer Teil von Patienten, geschätzt 70–80 %, gibt eine Latenz an, die früher freiesIntervall genannt wurde, die zwischen 15–20 Minuten bis zu einigen Stunden dauernkann, nie länger als einen Tag.

Dieses Phänomen ist zwar weit bekannt,bisher aber viel zu wenig beachtet worden.Selbst in den D-Arzt-Berichten des erstun-tersuchenden Arztes wird es praktisch nieerwähnt, auch in den Krankengeschichtenoder sogar Gutachten findet es keine Er-wähnung. Die häufigste Erklärung von chi-rurgischer Seite lautet

Schock

(Gemeint istnicht eine Herz-Kreislauf-Dekompensationmit eindeutigen klinischen Zeichen, son-dern eine heftige psychische Reaktion.).Diese Erklärung ist deswegen schon unan-gemessen, weil alle Anzeichen für einensolchen Schock fehlen: andere Verletzun-gen werden sofort beklagt, im Übrigen ver-halten sich viele solcher Verletzten durch-aus geordnet. Wenn bei der klinischen Un-tersuchung, ja sogar noch viel später beider Begutachtung hiernach gezielt gefragtwird, können die Betroffenen fast minuten-genau das Stadium der Beschwerdefreiheitangeben und den Zeitpunkt der dann ein-setzenden Schmerzen präzise beschreiben.Die Klärung dieser Latenz ist Vorausset-zung, um zumindest diesen größeren Teil

Klinisches Bild: Anamnese, Beschwerden, Befunde

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der Schleudertrauma-Verletzungen verste-hen zu können (s.u.).

Etwa 90 % dieser Patienten sind nach eini-gen Tagen bis allenfalls wenigen Wochenwieder beschwerde- und befundfrei, alsogesund und normal belastbar. Ein auf ca.10 % geschätzter Teil der Patienten nimmteinen anderen, einen protrahierten Verlauf.Den Grund dafür gilt es zu klären (s.u.). Je-denfalls kommen nun auch andere Be-schwerden hinzu. In einer empirischen Wis-senschaft wie der Medizin gilt es, dies zu-nächst zur Kenntnis zu nehmen und nichtsogleich als entscheidendes Kriterium füreine psychiatrische und gegen eine somati-sche Störung zu instrumentalisieren. Sol-che Phänomene werden im Schrifttum oftbeschrieben, unter anderem auch im Be-schwerdekatalog der Quebec Task Force,und zwar für alle Schweregrade:

deafness,dizziness, tinnitus, headache, memory loss,dysphagia and temporomanibular joint pain

(s.o.).

An

klinischen Befunden

findet sich ein neu-rologischer Normalbefund, ein psychischerNormalbefund bis auf eine einfühlbare Re-aktion auf den Unfall, der manualmedizini-sche Befund, den jeder Arzt erheben kann,erbringt Schmerzen bei der

passiven

Mus-keldehnung zumindest im Endbereich, im-mer mit weichem Stopp, durchaus nichtimmer symmetrisch, dabei eine mehr oderweniger eingeschränkte Kopfbeweglich-keit. Auch die

aktive

Kopfbeweglichkeit isteingeschränkt infolge dabei provozierbarerSchmerzen, ebenfalls nicht immer symmet-risch. Bereits nach kurzer Zeit finden sichüberaus palpationsschmerzempfindlicheSchwellungen über den Halswirbelsäulen-gelenken, die als Irritationszonen (s.u.) be-zeichnet werden.

Die manualmedizinischen Befunde, derenErhebung keinesfalls eine spezielle Qualifi-kation erfordert, sondern die jeder Arzt undjeder Physiotherapeut erheben kann, sindgenau die Befunde, die Schöps et al. (2000)als reliabel gefunden haben.

Die festgehaltenen Schilderungen der Ver-letzten sowie die Befunde in den D-Arztbe-richten legen nahe, dass sowohl Beschwer-den, wie auch Befunde beider Verletzungs-formen gleich sind und sie sich nur im Ver-lauf und damit in der Pathophysiologie un-terscheiden, jedenfalls bis auf die Irritati-onszonen. Diese wurden ganz offensicht-lich nicht gesucht und nicht untersuchtund damit auch nicht dokumentiert, siesind offensichtlich zu wenig bekannt, ob-wohl sie sehr einfach nachzuweisen sind.Der Befund bei der Erstuntersuchung nachAuftreten von Beschwerden kann hinsicht-lich des Dehnungsschmerzes und desSchmerzes bei aktiver Bewegung als zwarmanchmal etwas unbeholfen geschildert,aber als gesichert angenommen werden,das gilt nicht für die Irritationszonen: Es istnicht bekannt, ob sie gleich nach dem Auf-treten der Beschwerden und bei beiden pa-thophysiologischen Möglichkeiten von An-fang an vorliegen oder ob sie sich erst da-nach entwickeln. Diese Frage kann nur einegezielte Untersuchung der Verletzten inden ersten 24 Stunden beantworten.

Apparative Diagnostik

Je nach Erstuntersucher werden Röntgen-aufnahmen, öfters Computertomogrammoder Kernspintomogramm der HWS gefer-tigt. Gelegentlich werden Steilstellungenbeschrieben, öfters Bandscheibenvorfälle,mit zunehmendem Alter häufiger sog. de-generative Veränderungen (bezüglich derdiagnostischen Wertigkeit s.u. unter Diffe-

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Schmerzen am Bewegungsapparat Das Schleudertrauma 4.3.8

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renzialdiagnose). Ansonsten ist der bildge-bende Befund normal. Die eigentliche Indi-kation zur Bildgebung besteht bei sofortaufgetretenen Beschwerden im Ausschlusseiner strukturellen Schädigung. Eine solchestrukturelle Schädigung kann bei sofortaufgetretenen Beschwerden anhand derKlinik alleine nicht mit der erforderlichen Si-cherheit ausgeschlossen werden.

Eine apparative neurophysiologische Un-tersuchung erscheint nur bei eindeutig pa-thologischem neurologischem Befund in-diziert. Die in der Literatur immer wiederangegebenen Parästhesien, Gefühle vonSchwäche, Sensibilitätsbeeinträchtigun-gen reichen hierzu nicht aus.

Tabelle 3: Klinische Diagnose eines sog. Schleudertraumas initial

Beschwerden• Nackenschmerzen (ausstrahlend in Kopf, Schulter, Arme)• Gefühl der Kraftlosigkeit („Kann Kopf nicht halten“)

Befunde• neurologischer Befund immer o.B.• Psyche immer o.B. bis auf einfühlbare Unfallreaktion• passive Bewegung (Dehnen) schmerzhaft• geführte aktive Bewegung (Muskelanspannung) schmerzhaft (Irritationszonen über den Wirbel-

gelenken

1

)

1

Erläuterung hierzu in Dvorak et al., 2008, S.129 ff.

Tabelle 4: Klinische Diagnose eines sog. Schleudertraumas in der Chronifizierung

Beschwerden• Nackenschmerzen, ausstrahlend in Kopf, Schulter, Arme• Gefühl der Kraftlosigkeit („Kann Kopf nicht halten“)• u.U. Tinnitus• u.U. Schwindel• u.U. ein oder beide Arme: Schmerzen, Missempfindungen, Gefühl von Schwäche• u.U. Missempfindungen im Gesicht: Augendruck, Leistungsbegrenzung beim Sehen, Schmerzen

im Kiefergelenk und Mundbereich, Körperschemastörungen im Gesicht, Beeinträchtigung von Aufmerksamkeit, Konzentration und Kurzzeitgedächtnis

• bei hoher Schmerzmedikation deren Nebenwirkung

Befunde• Neurologischer Befund immer o.B.• Psyche: wie bei allen chronischen Schmerzpatienten psychoreaktive Verstimmung, Probleme der

Krankheitsverarbeitung, Gefühl, nicht verstanden zu werden und nicht ernst genommen zu wer-den, zusätzlich Chronifizierung (s.u.)

• passive Bewegung (Dehnen) schmerzhaft, Beweglichkeit der HWS eingeschränkt• geführte aktive Bewegung (Muskelanspannung) schmerzhaft• Irritationszonen über den Wirbelgelenken

1

• Auffälligkeiten in der neuropsychologischen Testung

1

Erläuterung hierzu in Dvorak et al., 2008, S.129 ff.

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4.3.8 Das Schleudertrauma Schmerzen am Bewegungsapparat

10

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Graf et al. (2009) schätzen, dass in Deutsch-land von den 327 984 Verkehrsunfällen mitPersonenschäden und davon 422 337Schwer- und Leichtverletzten (lt. Statisti-schem Bundesamt für 2006) etwa die HälfteHWS-Verletzte sind. Hehling (2004) zählt fürdas Jahr 2000 67 292 meldepflichtige HWS-Unfälle allein für die gesetzliche Unfallversi-cherung, daraus 150 Renten (= 2,2 ‰). DieQuebec Task Force, die Versicherungsaktenausgewertet hat, kommt auf 70 HWS-Ver-letzte auf 100 000 Einwohner bzw. 131HWS-Verletzte pro 100 000 zugelassenePkws. Beide Zahlen würde für Deutschlandeine Häufigkeit von 400 000 bis 560 000 proJahr ergeben. Alle diese Zahlenangabensind aber sehr kritisch zu sehen, da die klini-schen Zugangskriterien sehr unterschied-lich und zum Teil gar nicht angegeben wer-den, dies gilt auch für die Quebec TaskForce. In der 4 757 Fälle umfassenden Stu-die sind auch viele Fälle enthalten, die aus-schließlich Nackenbeschwerden nach ei-nem Pkw-Unfallangaben, jedoch keinen kli-nischen Befund zeigten (Grad 1, s.o.).

Wie oben bereits ausgeführt, gehört zu ei-nem abstrakten Krankheitsbild neben typi-schen Beschwerden und typischen klini-schen Befunden auch ein pathophysiologi-sches Konzept. Dies ist beim Schleudertrau-ma bis heute nicht geklärt. Das schlägt sichdann auch in der Vielfalt der Bezeichnun-gen nieder.

Einige Bezeichnungen legen sich aber den-noch fest auf eine Pathophysiologie.

• Zervikoenzephales SyndromAuf diesen Begriff wurde weiter obenschon näher eingegangen, das gibt esnicht. Die unterstellten Hirnstamm-Syn-drome sind jedem Neurologen bestensbekannt, sie liegen mit Sicherheit hiereben nicht vor (Kügelgen 1989).

• Ligamenta alariaDvorak et al. (1987) fanden im VergleichGesunder gegen Patienten mittels funk-tioneller Computertomografie bei passivgehaltenen Untersuchungen in extre-mer Rotation Auffälligkeiten. Das führtezu der Vorgabe von normalen und ab-normen Winkelgraden, die bei solchenfunktionellen Computertomografien er-mittelt werden sollten. Diese Werte wur-den in späteren Untersuchungen ande-rer Autoren anders definiert. Als beson-ders gefährdetes Substrat wurden die

Flügelbänder (Ligamenta alaria)

festge-halten, deren Reißfestigkeit im Experi-ment aber als hoch gefunden wurde. Be-sonders bei extremer Seitwendung desKopfes seien sie angespannt und dahergefährdet. Ein Bezug zur Klinik, also zuBeschwerden und Untersuchungsbe-funden, wurde nicht angegeben.Diese Untersuchungen haben viele Jah-re später dazu geführt, dass bildgeben-de Untersuchungen an den Flügelbän-dern alleine für ausreichend gehaltenwurden, retrospektiv eine unfallbeding-te Verletzung dieser Flügelbänder zu un-terstellen. Alleine dieses Vorgehen istein grober Verstoß gegen die oben aus-geführten Regeln zu einer Diagnose. Zu-dem handelt es sich bei den Verletzun-gen solcher Bandstrukturen immer umeine schwere Verletzung, die allenfalls

Häufigkeit

Pathophysiologische Konzepte

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bei Bewusstlosen übersehen werdenkann. Gerade bei solchen Verletzungenverläuft die primäre unfallchirurgischeDiagnostik standardisiert und findetheute sicher die zugrunde liegendestrukturelle Schädigung.

• DistorsionDistorsion heißt wörtlich Verdrehung.Im Deutschen wird in der Regel der Be-griff

Verstauchung

verwendet. Hierunterversteht man eine vorübergehende Be-wegung zweier Gelenkpartner gegen-einander von unphysiologischem Aus-maß und/oder unphysiologischer Rich-tung (Rompe 2001). Verbleiben die Ge-lenkpartner in dieser Position, sprichtman von Luxation. Ein solches Ereignisist in der Traumatologie bestens be-kannt, es ist ausgesprochen häufig. Esbefällt unabhängig vom Trainingszu-stand auch Sportler. Es gibt verschiede-ne Schweregrade. Nennenswerte, dannauch länger anhaltende Distorsionen er-zeugen kurz nach dem Ereignis Schmer-zen und dann auch eine zunehmendeSchwellung, eingeschränkte Beweglich-keit und eingeschränkte Belastbarkeit. Beim Schleudertrauma wurde lange Zeitweltweit nahezu regelmäßig von einerDistorsion der HWS gesprochen.Wie der Begriff Distorsion in die Diskussi-on um die Verletzung der HWS gekom-men ist, kann man aus folgenden Äuße-rungen von H. Erdmann (1983) nachver-folgen:

Bei der Benutzung der Bezeichnung„Schleudertrauma“ sollte man vor allemdie folgenden Punkte beherzigen:1. Dieser Terminus bezeichnet zunächst

einmal lediglich den Unfallhergang,nämlich nach aller Regel einen Auffahr-unfall. Bezeichnet wird damit nur die

Einwirkung der von außen einwirken-den mechanischen Gewalt; nicht be-stimmt ist damit die Art und Weise, wiesich der mechanische Insult am biologi-schen Substrat ausgewirkt hat, hier alsoan der HWS.

2. Der traumatische Effekt besteht in einerspeziellen Form von HWS-Distorsion. Esmag sein, dass diese Sonderform gewis-se Eigenheiten aufweist; dies ändertaber nichts an der Tatsache, dass es beidem Gros dieser HWS-Verletzungengleichwohl um echte Distorsionen geht.

Beginnen wir also mit dem Oberbegriff derDistorsion. Bei den Distorsionen der HWShandelt es sich, wie dies Lob seinerzeit de-finierte, um Verletzungsformen, bei denenröntgenologisch fassbare Verletzungenam Wirbelsäulenskelett nicht zu erkennensind. Dies ist also ein Sammelbegriff; denner umschließt ja potenziell ganz verschie-dene Einzelläsionen am Organ HWS.

Es ist offensichtlich, dass „Distorsion“hier völlig anders gebraucht wird alsoben beschrieben, nämlich als ein unkla-rer Sammelbegriff zwischen „gesund“und „röntgenologisch nachweisbarerstruktureller Verletzung“. Ein solcherSammeltopf ist natürlich völlig ungeeig-net als präzise Vorstellung über ein Un-fallereignis und als Grundlage für eineplausible Begutachtung. Zur Begutach-tung äußert sich Erdmann in der glei-chen Arbeit:

In der Ausfüllung der oben zitierten Nebel-kammer besteht die eigentliche Kunst desGutachters.

Eine Distorsion im oben definierten (un-fallchirurgisch-orthopädischen) Sinne,also eine unphysiologische Bewegung

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4.3.8 Das Schleudertrauma Schmerzen am Bewegungsapparat

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in einem Gelenk nach Richtung und/oder Ausmaß, ist aber an der Halswirbel-säule aus anatomischen Gründen nurbei einer Bewegung nach hinten mög-lich, bei Bewegungen zur Seite oder garnach vorne nicht. Daher wurde die Be-wegung nach vorne auch Abknickverlet-zung genannt (Erdmann 1973, Wiesnerund Mumenthaler 1975). Bei einer Bewe-gung nach vorn oder zur Seite kommt eseher zu einem Wirbelbruch oder zu einerdiskoligamentären Zerreißung. Zudemwäre festzulegen, welches der 18 HWS-Gelenke denn nun von einer Distorsionbetroffen ist.Tatsächlich aber kommen Schleuder-traumata bei jeder Aufprallrichtung vor,sogar beim Überschlag.

Gerade beim Überschlag findet ja über-haupt kein Aufprall statt im Sinne einerKollision. Die offensichtliche Unabhän-gigkeit von der Richtung der einwirken-den Kraft spricht schon gegen eine Dis-torsion. Auch die Trainierbarkeit der be-troffenen Struktur, wie sie aus dem Feh-len von Schleudertraumata im Formel-1-Rennsport erkennbar ist, spricht gegeneine Distorsion.Eine Distorsion im Sinne einer Verstau-chung erleidet auch ein Michael Schu-macher, sogar sein Bein bricht wie einnormales Bein, eben weil Bänder, Gelen-ke und Knochen nicht trainierbar sind.Dies weist schon ganz deutlich darauf

hin, dass nicht ein Gelenk oder die Wir-belsäule beim Schleudertrauma betrof-fen sind. Auch ist es völlig undenkbar,dass jemand eine Verstauchung desSprunggelenkes erleidet und zunächstvöllig beschwerdefrei bleibt und sichnormal bewegt, bis dann nach einerganzen Zeit erste Schmerzen aufkom-men. Dann müsste die ganze Traumato-logie neu geschrieben werden.

• Zervikale MuskelfunktionsstörungWer die Pathophysiologie des Schleu-dertraumas klären will, muss sich an denklinischen Daten orientieren. Zunächstmuss geklärt werden, wieso zwei ver-schiedene Verlaufstypen möglich sind,wobei insbesondere der Verlaufstyp mitLatenz unverständlich ist. Weiterhin istzu klären, warum im Formel-1-Renn-sport derartige Verletzungen nicht be-kannt sind. Schließlich sind die in einergeringen Zahl auftretenden protrahier-ten Verläufe zu erklären.Treten nach einem solchen Unfall sofortBeschwerden auf, hängt die weitereDiagnostik vom klinischen Befund ab. Istder nicht gravierend, kann zum Aus-schluss eine bildgebende Diagnostikdennoch durchgeführt werden, ansons-ten aber ist von einer schmerzhaftenFunktionsstörung (Prellung bzw. Zer-rung) ohne strukturelle Schädigung aus-zugehen. Diese heilt im Regelfall in eini-gen Tagen bis allenfalls wenigen Wo-chen folgenlos aus.Versucht man die offensichtliche Trai-ningsabhängigkeit der verletzten Struk-tur einerseits und die in einem großenTeil der Fälle mit Latenz auftretenden kli-nischen Zeichen andererseits aufzuklä-ren, so stößt man auf die Muskulatur.Diese kann extrem trainiert werden, wiedie Formel-1-Piloten es ausnahmslos in-

Tabelle 5: Häufigkeitsverteilung nach Keidel (1995)

Auf 100 Heckaufpralle kommen 30 Überschläge, 24 Seitaufpralle, 23 Frontaufpralle.

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tensiv betreiben. Die geforderte Belast-barkeit ist für Frauen offensichtlich nichterreichbar. Zudem ist der Muskelkaterein Beispiel, wie Belastungen von Mus-keln mit einer Latenz von Stunden zuSchmerzen und Einschränkungen füh-ren können. Nun ist beim Schleudertrau-ma sicher nicht von einem Muskelkaterauszugehen. Es ist aber zumindest einHinweis, dass die Muskulatur zu einersolchen Reaktion mit Latenz fähig ist imGegensatz zu Knochen (Wirbelsäule)oder Bändern/Gelenkkapsel.Nun gibt es in der Sportmedizin eineweit verbreitete, in der klinischen Medi-zin nach wie vor wenig bekannte Funkti-onsstörung von Muskeln, die gut geeig-net ist, die Latenz bei einer Beeinträchti-gung der Nackenmuskulatur wie beimSchleudertrauma zu erklären. Wenn ein wenig trainierter Muskel imangespannten Zustand gedehnt wird,was Sportmediziner eine

supramaximaleexzentrische Muskelkontraktion

nennen,dann tritt mit einer Latenz von einigenMinuten bis wenigen Stunden eineStoffwechselaktivierung in einem sol-chen Muskel auf, die mit einer Schwel-lung einhergeht, begründet in einer ver-mehrten Wasseraufnahme. Solch eineMuskelschwellung verursacht spontaneSchmerzen, die bei aktiver Anspannungzunehmen, ebenso bei passiver Deh-nung. Die beschriebenen Veränderun-gen sind physiologisch und bilden sichnormalerweise innerhalb einiger Tagebis allenfalls wenigen Wochen vollstän-dig zurück.Damit kann ein pathophysiologischesSubstrat für die dem Schleudertraumazugrunde liegende Verletzung mit La-tenz geliefert werden: Es handelt sich

um eine passive Dehnung maximal an-gespannter kleiner Halsmuskulatur. Wie aber kommt es zur Anspannung derHalsmuskeln und deren Dehnung?Beim Aufprall eines Pkws wird die ruck-artige Bewegung der Fahrgastzelle inder Regel über den Sitz auf Rücken undGesäß und damit auf den Rumpf über-tragen, 60 ms danach kommt es zu einerreflektorischen Anspannung der Hals-muskeln, wiederum 30 ms danach, also90 ms nach dem Impuls auf die Fahrgast-zelle, erst zu einer passiven Bewegungdes Kopfes (Meyer et al. 1998), und zwarin die Richtung, wie es dem Aufprall ent-spricht, also bei einem Frontaufprallnach vorne, bei einem Seitaufprall zurSeite, einem Heckaufprall nach hinten,soweit es die Kopfstütze zulässt.

Durch eine Kopfstütze wird ein Auspendelndes Kopfes nach hinten verhindert, einekleine Bewegung aber offensichtlich nicht.

Diese geringe Bewegung reicht aus, um diereflektorisch angespannte Halsmuskulaturein wenig zu dehnen.

Hierfür reichen offensichtlich geringe Kräf-te aus.

Tabelle 6: Bewegung der Fahrgastzelle und zeit-liche Reaktionen

Bewegung der Fahr-gastzelle

Zeitpunkt 0: Vermitt-lung von Be- oder Ent-schleunigung über den Sitz auf Rumpf und Gesäß

Anspannung der Nackenmuskulatur

60 msec später

Erste Bewegung des Kopfes

90 msec später

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4.3.8 Das Schleudertrauma Schmerzen am Bewegungsapparat

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Abb. 2: Reflektorische Anspannung der Nackenmuskulatur bei Pkw-Unfällen

Abb. 3: Kurze Nackenmuskeln (aus: Sobotta, 2007)

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Diese besser

Dehnungsmyalgie

genannteVeränderung entspricht der supramaxima-len exzentrischen

Muskelkontraktion

derSportphysiologen.

Es liegen also zwei verschiedene, in ihrerAuswirkung jedoch zu einer vergleichbarenVeränderung führende Beeinträchtigun-gen der Nackenweichteile vor. Es resultie-ren durch die schmerzhafte Schonung inwenigen Tagen Veränderungen der Mus-kulatur, eine

muskuläre Insuffizienz

. Welchein Leistungseinbruch eine auch nur einigeTage währende Schonung auslösen kann,ist aus dem Leistungssport gut bekannt:Verringerung der Maximalkraft, besondersaber Verringerung der Ausdauer, späterauch Verschlechterung der Koordination.

Hierdurch kommt es zu einer Unterhaltungoder sogar zu einer Zunahme der Schmer-zen, die auch früher und länger auftreten.Diese Veränderungen sind harmlos undwerden von 90 % der Betroffenen durchRückkehr in die normale alltägliche Aktivi-tät problemlos überwunden.

Augenfällig sind Parallelen zum unspezifi-schen Rückenschmerz. Auch hier kommt esdurch einen meist nicht näher bekanntenAnlass, in der Regel kein Trauma, zu akutenSchmerzen, die in wenigen Tagen zu einerVerminderung der Maximalkraft und zu ei-ner Abnahme der Ausdauer und späterauch zu einer Verschlechterung der Koordi-nation führen.

Abb. 4: Entwicklung bei akuten unspezifischen Rückenschmerzen im Initialstadium.

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4.3.8 Das Schleudertrauma Schmerzen am Bewegungsapparat

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Wie beim Schleudertrauma wird auch beimunspezifischen Rückenschmerz dieser Zu-stand von 90 % der Betroffenen innerhalbeiniger Tage bis allenfalls wenigen Wochenüberwunden.

Warum kommt es bei 10 % der Fälle bei bei-den Diagnosen zur Chronifizierung?

Natürlich spielt der Trainingszustand einegroße Rolle. Noch nie hat es in der Mensch-heitsgeschichte eine Generation gegeben,die sich im Alltag so wenig zu bewegen undkörperlich zu betätigen brauchte wie in derheutigen Zeit. Die zur Gesundheit erforder-liche Aktivität und Belastung müssen vielein der Freizeit nachholen.

Wesentlicher aber ist für die Chronifizie-rung von Krankheit das biopsychosozialeKrankheitsmodell. Dies besagt, dass die Fä-higkeit, sich mit Belastungen, und eine sol-che ist jede Krankheit, erfolgreich ausei-nanderzusetzen und in die Gesundenrollezurückzukehren, Ressourcen voraussetzt,die bei besonderen biopsychosozialen Be-lastungen vermindert verfügbar sind. Diesebiopsychosozialen Belastungen stellen also

Risikofaktoren

dar für eine Chronifizierung.

Keinesfalls ist es gestattet, aus dem Nach-weis biopsychosozialer Belastungen alleine

auf eine psychiatrische Diagnose zu schlie-ßen und die somatischen Aspekte zu ver-kennen. Die Operationalisierung einer psy-chiatrischen Diagnose lässt sich sehr gutam Beispiel der

anhaltenden somatoformenSchmerzstörung

aufzeigen.

Die

anhaltende somatoforme Schmerzstö-rung

ist eine psychiatrische Erkrankung,vergleichbar einer Neurose, mit dem füh-renden Symptom

körperlich nicht hinrei-chend erklärbaren chronischen Schmerzes

.Ihre Ursache ist letztendlich unbekannt,darüber kann nur spekuliert werden. Gene-tische Veranlagung und biografische Ereig-nisse bilden zusammen das Fundament,auf das sich im Laufe des Lebens allmählichunter ungünstigen Lebensumständen einsolches Krankheitsbild aufbauen kann. Esist schwer zu beeinflussen, jedoch könnendie Schmerz

folgen

für den Betroffenendurch eine geeignete Therapie gemindertwerden, Analgetika sind kontraindiziert(Egle u. Nickel 2003). Für die Operationali-sierung einer solchen anhaltenden soma-toformen Schmerzstörung gilt (s. Tab. 8):

Die Diagnose einer anhaltenden somato-formen Schmerzstörung darf also nur danngestellt werden, wenn

körperliche Befundedie Schmerzen nicht hinreichend erklären

Tabelle 7: Belastungen („gelbe Flaggen“) nach dem biopsychosozialen Krankheitsmodell bei Chroni-fizierung somatischer Krankheiten (z.B. Rückenschmerz oder Schleudertrauma)

Gelbe Flaggen

• ungüstige Biografie• psychiatrische Komorbidität, z.B.

– Abhängigkeit – Angst – Depression

• soziale Belastungen, z.B.– Arbeitsplatz – Partnerschaft

• ungünstigerer Verlauf • schlechtere Prognose• niedrigere Therapieziele• größerer therapeutischer Aufwand

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Schmerzen am Bewegungsapparat Das Schleudertrauma 4.3.8

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können

. Das setzt aber immer eine sehr ge-naue körperliche Untersuchung voraus,insbesondere auch der Weichteile. Unspe-zifische Rückenschmerzen (ausgenommen:sog. „Rote Flaggen“) und auch das Schleu-dertrauma spielen sich nicht an der Wirbel-säule, sondern an den Weichteilen ab. Ge-rade diese Befunde an den Weichteilen ver-schwinden, wenn die Patienten mittelstar-ke Schmerzmittel nehmen. Dementspre-chend müssen die Patienten immer ohneMedikamente untersucht werden, bevoreine anhaltende somatoforme Schmerzstö-rung oder eine andere psychiatrische Er-krankung diagnostiziert und eine somati-sche Erkrankung ausgeschlossen werdenkann.

Die oben beispielhaft aufgeführten GelbenFlaggen stellen Belastungen entsprechenddem biopsychosozialen Krankheitsmodelldar, die einerseits zu einer allmählichenEntwicklung einer anhaltenden somatofor-men Schmerzstörung in der Biografie füh-ren können. Bei Nachweis einer somati-schen Erkrankung, wie z.B. dem Rücken-schmerz oder dem Schleudertrauma, ha-ben sie die Funktion von

Risikofaktoren füreinen protrahierten Verlauf

. Dies gilt esstreng zu trennen.

Zu diesen Belastungen entsprechend dembiopsychosozialen Krankheitsmodell kanneine unzulängliche Führung und Patien-teninformation durch das medizinischeSystem hinzukommen. Bereits Gay und Ab-bott (1953) haben darauf hingewiesen,dass ein verbessertes Frühmanagementprotrahierte Verläufe verhindern kann. Fal-sche Krankheitskonzepte, Überbewertungder klinischen Phänomene, Fehlinterpreta-tion nicht indizierter apparativer Befunde,schließlich der Rat zur Schonung und dieVorbereitung auf einen langen Krankheits-verlauf führen zu sogenannten Kontroll-überzeugungen bei den Patienten, die dasVerhalten entscheidend prägen („Ich habeeine kaputte Wirbelsäule. Mir kann keinermehr helfen.“). Übernimmt man chronifi-zierte Patienten, so ist es eine der ersten,aber auch schwierigsten Aufgaben, dieseKontrollüberzeugungen infolge Einwir-kung des medizinischen Systems zu hinter-fragen und schließlich zu überwinden. Diesist die entscheidende Voraussetzung für je-den Therapieversuch bei einem chronifi-zierten Schleudertraumapatienten.

Belastungen entsprechend dem biopsy-chosozialen Krankheitsmodell, schlechterTrainingszustand und unzutreffende Kont-rollüberzeugungen verhindern die Rück-kehr zu alltäglichem Verhalten und ziehenden Kranken in den Strudel der Chronifizie-rung.

Die Parallelen zum chronischen Rücken-schmerz sind unübersehbar. Dort ebensowie beim Schleudertrauma handelt es sichum häufige, aber harmlose Funktionsstö-rungen; der größte Teil der Patienten kehrtin kurzer Zeit ohne besondere Behandlungin den Alltag zurück, etwa 10 % geraten indie Chronifizierung. Auch die genanntenFaktoren sind gleich: Auch beim Rücken-

Tabelle 8: Anhaltende somatoforme Schmerz-störung F 45.4 Operationalisierung

• schwerer quälender Schmerz mehr als 6 Mo-nate

• physiologisch oder körperlich nicht hinrei-chend erklärbar

• verbunden mit schwerwiegenden emotio-nalen Konflikten oder psychosozialen Belas-tungen

• als Folge beträchtliche persönliche und me-dizinische Betreuung

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4.3.8 Das Schleudertrauma Schmerzen am Bewegungsapparat

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schmerz begünstigt ein schlechter Trai-ningszustand die rasche Dekompensation,entscheidend sind Belastungen nach dembiopsychosozialen Krankheitsmodell undfalsche Führung und Patienteninformation.Die falsche und durch nichts begründeteÜberbewertung sog. degenerativer Verän-derungen hält sich bis heute trotz aller Leit-linien (u.a. Europäische Leitlinien unterwww.backpaineurope.com, Schrift derBundesarbeitsgemeinschaft chronischerKreuzschmerz BAcK „ErgebnisorientiertesRückenmanagement“ 2003) und trotz allerErfolge von Konzepten, die dem widerspre-chen. Auch hierin stimmt der Vergleich mitdem Schleudertrauma.

Unter

Chronifizierung

werden gesundheitli-che Beeinträchtigungen zusammenge-fasst, die nach einer körperlichen oder see-lischen Verletzung (griech. Trauma) einenunerwartet langwierigen Verlauf nehmen,also chronisch werden (Chronos, griech. =Zeit). Ein solches Trauma kann vielfältigekörperliche Schädigungen verursachen(Schädelhirntrauma, Knochenbrüche,Querschnittlähmung), aber auch seelischeBeeinträchtigungen hinterlassen (z.B. Gei-selnahme bei Banküberfall).

Abb. 5: Entstehung chronifizierter unspezifischer Rückenschmerzen.

Chronifizierung

70

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Schmerzen am Bewegungsapparat Das Schleudertrauma 4.3.8

Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11

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Chronifizierung beschreibt Anpassungs-vorgänge bei den Patienten,

unabhängigvon Art und Ausmaß der eigentlichen Verlet-zung

mit zusätzlichen Krankheits

folgen

• auf körperlichem Gebiet: zunehmendschlechtere körperliche Leistungsfähig-keit,

• auf psychischem Gebiet: Verstimmung,Angst, Perspektivlosigkeit und Verlustan Selbstwertgefühl und schließlich

• auf sozialem Gebiet: sozialer Rückzugund Isolation.

Die Betroffenen erleiden einen

Verlust anTeilhabe

, sie können nicht mehr mitma-chen, nicht mehr das tun, was sie von sichund ihre Umgebung von ihnen erwartet,was ihnen Freude bereitet: Sie könnennicht mehr ein

selbstbestimmtes Leben

füh-ren. Eine alleinige Therapie der körperli-chen und psychischen Unfallfolgen führt

Abb. 6: Prozess der posttraumatischen Chronifizierung. Aus einem Trauma entsteht eine Krankheitmit typischen Beschwerden und Symptomen. Diese kann ausheilen oder zu einer Behinderung füh-ren. Unabhängig von der Art und der Schwere des Traumas und der Krankheit kann es zu einer Chro-nifizierung kommen, einem eingetretenen oder drohenden Verlust an Teilhabe mit körperlichen, psy-chischen und dann vor allem auch sozialen Folgen. Dies gilt es zu erkennen und neben den Krank-heitsfolgen zu behandeln. Die Behandlung der Krankheit besteht in der Besserung der Funktionenund in der Rückführung in das selbstbestimmte Leben, dem Aufbau einer Perspektive, eines Lebens-entwurfes, den der Kranke verinnerlichen und annehmen kann. Aus: Kooperationsmodell posttrau-matische Chronifizierungen: Eine Zwischenbilanz eines innovativen Projektes für ein optimiertesRehamanagement 2005–2008. Hrsg. von der Unfallkasse Rheinland-Pfalz, dem Medizinischem Versor-gungszentrum Koblenz® und dem Therapiezentrum Koblenz®. Siehe www.therapiezentrum-kob-lenz.de.

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4.3.8 Das Schleudertrauma Schmerzen am Bewegungsapparat

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dann zwar zu einer verbesserten Leistungs-

fähigkeit

, eine Rehabilitation würde als er-folgreich abgeschlossen, führt aber ebennoch nicht zu einer gelingenden Wieder-eingliederung.

„Fehlende Motivation“ oder „anhaltendesomatoforme Schmerzstörung“ oder „An-passungsstörung“ sind die häufigsten In-terpretationen für diesen Zustand.

Die Differenzierung gelingt klinisch: EineDiagnose einer Krankheit nach der Interna-tionalen Klassifikation von Krankheiten(ICD 10) beschreibt eine Erkrankung mit ty-pischen Symptomen, die eine bestimmteBehandlung verlangt und dann einen eini-germaßen vorhersagbaren Verlauf nimmt.Chronifizierung ist aber eine Veränderungim Leben des Betroffenen im Sinne vonstärkeren Auswirkungen von Krankheits

fol-gen

. Diese können immer weiter zunehmenoder aber in kurzer Zeit zurückgebildetwerden, etwa durch einen neuen, selbstbe-stimmten und als sinnhaft erlebten Lebens-entwurf und eine Rehabilitation, die dieÜberzeugung des Kranken stärkt, dass erdies schaffen kann. Dies lässt sich bei er-folgreicher Rehabilitation im Sinne der ge-lungenen anhaltenden Wiedereingliede-rung regelmäßig beobachten.

Wie lässt sich nun bei einer derartigen Mei-nungsvielfalt entscheiden, was zutreffendist? In der medizinischen Wissenschaft gel-ten die methodischen Regeln einer empiri-schen Wissenschaft. So erklärt sich dieenorme Wandlung des medizinischen Wis-sens. Man schätzt, dass das aktuelle medizi-nische Wissen eine Halbwertszeit von fünf

Jahren hat, dass also nach fünf Jahren dieHälfte des medizinischen Wissens überholtist. Dies gilt es sich bei sogenannten „gesi-cherten Erkenntnissen“ immer vor Augenzu halten. Das heißt aber auch, dass geradedie Begutachtung immer wieder die Fort-schritte in der klinischen Medizin beobach-ten, verfolgen und übernehmen muss.

In einer empirischen Wissenschaft ist

das

Krankheitsbild anerkannt, das in sich ge-schlossen ist, also eine pathophysiologi-sche Erklärung liefert und daraus abzulei-tende Beschwerden und Befunde, die re-gelmäßig festzustellen sind, bei deren Feh-len aber auch die Erkrankung ausgeschlos-sen werden kann. Hinzu sollte möglichsteine zutreffende Prognose kommen, diesgilt ganz besonders für eine erfolgreicheTherapie.

Genau daran fehlt es beim Schleudertrau-ma oder der sog. HWS-Distorsion bis heute.Der Beweis für die Richtigkeit

unserer

An-nahme ergibt sich eben aus unserer erfolg-reichen Therapie. Wir behandeln diese Pati-enten gezielt hinsichtlich der muskulärenVeränderungen, dies gelingt auch nochnach vielen Monaten. Die Behandlung ver-läuft gesetzmäßig. Wenn der Patient ko-operiert, lässt er sich regelmäßig aus die-sem muskulären Dilemma herausholen.Die Störungen lassen sich durch typischeBeschwerden und typische Befunde gutbelegen, bei deren Fehlen auch ausschlie-ßen.

Wie schwerfällig solche Erkenntnisse Ein-gang finden in den ärztlichen Alltag, zeigtdas Beispiel des chronischen Rücken-schmerzes. Seit den Untersuchungen vonMayer et al. (1988) mit dem neuen Behand-lungsziel

Functional Restoration

und Wad-dells

The Back Pain Revolution

(1988) wer-

Diskussion der Konzepte

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Schmerzen am Bewegungsapparat Das Schleudertrauma 4.3.8

Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11

21

den die chronischen Rückenschmerzen völ-lig neu gedeutet, sie können erfolgreich be-handelt werden. Leider sprechen immernoch die einen von Verschleiß, andere vonsich verselbständigender Schmerzkrank-heit, wieder andere von Schmerz als psy-chosomatischem Problem. Es gilt derschlichte Satz: „Wer heilt, hat Recht.“ Damitist aber nicht ein in der Therapie chroni-scher Schmerzen gar nicht so seltener Pla-cebo-Effekt gemeint, auch nicht eine Be-handlung, die in etwa die Ergebnisse dersehr guten Spontanheilung erreicht, son-dern eine systematische Therapie aufgrundeines plausiblen Krankheitskonzeptes miteinigermaßen vorhersagbaren Therapieer-folgen, die sich gegenüber dem Spontan-verlauf und anderen Therapieversuchendeutlich überlegen zeigt. Therapieversagermüssen erklärt werden.

Zuerst sind andere Erkrankungen des Be-wegungssystems zu bedenken, wegen ih-rer Gefährlichkeit zunächst die sogenann-ten

Roten Flaggen

der Rückenerkrankun-gen: Tumore, Entzündungen, frische Frak-turen. 1 und 2 scheiden schon wegen dernicht traumatischen Genese anhand derAnamnese aus, in aller Regel sind solche Pa-tienten schon diagnostiziert oder sonstbrauchen sie wegen ihrer Anamnese zwin-gend eine bildgebende Untersuchung, diedie Diagnose erbringt.

Es wurde bereits oben darauf hingewiesen,dass bei einem Unfall, auch bei einem Ver-dacht auf ein Schleudertrauma, mit soforteingetretenen Beschwerden der klinischeBefund alleine eine strukturelle Schädi-gung nicht mit der erforderlichen Sicher-

heit ausschließen kann. Daher ist immer beieiner solchen Anamnese zwingend einebildgebende Untersuchung indiziert.

Viel häufiger sind Beschwerden im Bereichvon Nacken, Hinterkopf oder Schultern/Ar-men, für die sich die Begriffe Zervikalsyn-drom, zervikozephales oder zervikobrachi-ales Syndrom eingebürgert haben. Sämtli-che sind nur Regionalbezeichnungen. Nachwie vor am häufigsten werden hierfür de-generative Veränderungen der Halswirbel-säule und/oder Bandscheibenveränderun-gen angeschuldigt.

Auch wenn der bloße Augenschein demschon widerspricht, so hält sich nach wievor die irrige Auffassung, dass degenerati-ve Veränderungen der Wirbelsäule in engerKorrelation zu Beschwerden stehen, insbe-sondere Schmerzen. Wenn dies zuträfe,müssten

alle Menschen mit zunehmendemAlter immer mehr Rückenschmerzen

bekom-men. Das Gegenteil ist der Fall: Der Rücken-schmerz (zervikal wie lumbal) ist eine Er-krankung des mittleren Lebensalters, werim Alter Rückenschmerz bekommt, hängtwesentlich von seiner Fitness ab, wie derSeniorensport zeigt. Dagegen haben un-trainierte Jugendliche trotz jungfräulicherWirbelsäule bereits zu 15 % in der heutigenZeit mit Rückenschmerzen zu tun. Weltweitwird in der Rücken-Reha nicht die Wirbel-säule nachgebessert, sondern durch Akti-vierung Muskelkraft, Muskelausdauer undbesonders Muskelkoordination verbessert.Dies ist eindeutig sehr effektiv, das Problemder Rehabilitation besteht nicht im Rehabi-litationserfolg, sondern in der Nachhaltig-keit. Die Anschuldigung degenerativer Ver-änderungen als Ursache für Schmerzen istauch deswegen verheerend, weil häufigdamit Aussichtslosigkeit vermittelt und derRat zur Schonung verbunden wird. Damit

Differenzialdiagnose

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4.3.8 Das Schleudertrauma Schmerzen am Bewegungsapparat

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Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11

wird genau die falsche Kontrollüberzeu-gung vermittelt und ein falsches Verhaltenin Richtung Krankenrolle regelrecht losge-treten.

Tatsächlich ähneln sich solche Beschwer-den und die dann erhebbaren Befunde imHalsbereich wie im Lendenbereich.

Es lassen sich akute Formen von chroni-schen Krankheiten unterscheiden, letzteremeist in Form eines wellenförmigen Verlau-fes, ein großer Teil davon mit langsamerVerschlechterung über Monate, Jahre, zumTeil Jahrzehnte.

Das akute Krankheitsbild ist in der Regeleindrucksvoll und sehr weit verbreitet: He-xenschuss oder steifer Hals sind trefflicheBezeichnungen des Volksmundes. Sie ge-hen einher mit einer reflektorischen, äu-ßerst schmerzhaften Verriegelung des be-fallenen Rückenabschnittes durch anhal-tende Muskelkontraktion, klinisch impo-niert neben dem Schmerz eine erheblicheBewegungseinschränkung. Die Prognoseist ausgezeichnet, das Krankheitsbild dau-ert in der Regel einige Tage bis allenfallswenige Wochen.

Entscheidend ist die möglichst umgehendeRückkehr in den normalen Alltag mit nor-maler Bewegung und normaler Belastung,sodass es nicht zu einem größeren Trai-ningsverlust der Muskulatur und zu einerVerfestigung der Krankenrolle kommt.

Davon zu trennen ist der chronifizierte Ver-lauf, durchaus auch in seiner wellenförmi-gen Verlaufsform. Die Betroffenen sindnicht schwer krank, wohl aber in ihren Le-bensmöglichkeiten zunehmend einge-schränkt, einmal hinsichtlich schwerer kör-perlicher Arbeit, insbesondere Halteleis-tungen werden schwieriger, dann auch in

ihrer Freizeit. Der eindrucksvollste Befundist ein Verlust an Koordination, die Bewe-gungen werden hölzern, unharmonisch, esfindet sich jeder Verlust an Eleganz und Be-wegungsharmonie. In der Regel sind dieMuskeln im Sinne der muskulären Dysba-lance zervikal und lumbal verkürzt, Halte-leistungen sind eingeschränkt möglich, dieBeweglichkeit der Wirbelsäule in allen Ab-schnitten ist etwas eingeschränkt, keines-wegs dramatisch im Sinne einer Fixierung.Die Weichteilbefunde sind vielfältig undwechselhaft, lassen sich aber auch bei Be-schwerdedominanz in einer Region in allerRegel im gesamten Rücken einigermaßengleichförmig nachweisen.

Bei der chronischen Form im Halsbereichsind die Weichteilbefunde im Verhältnis zuden chronifizierten Schleudertrauma-Ver-läufen in aller Regel weniger dramatisch,insbesondere finden sich Irritationszonenseltener, die Muskulatur nach einemSchleudertrauma ist deutlich eher und stär-ker verkürzt. Dennoch muss eingeräumtwerden, dass nach einem längeren Verlaufder klinische Befund alleine die Krankheits-bilder nicht mit Sicherheit trennen kann.Auffällig ist noch, dass chronifizierte HWS-Patienten im Gegensatz zu Schleuder-traumapatienten kaum neuropsychologi-sche Störungen beklagen.

Das in aller Regel gute Ansprechen auf akti-vierende Maßnahmen spricht eindeutiggegen die immer wieder unterstelltenBandscheibenveränderungen als Ursachesolcher Beschwerden. Die Bildgebung kannzwar heute in nie gekannter Weise die Mor-phologie beschreiben, eine Diagnose be-ruht aber auf Beschwerden und Anamnesesowie klinischem Befund. Die Bandschei-benveränderungen bestehen ja auch nacheiner erfolgreichen Rehabilitation.

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Schmerzen am Bewegungsapparat Das Schleudertrauma 4.3.8

Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11

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Es ist zu bedenken, dass bei 60-Jährigen ineinem ganz hohen Prozentsatz in einemoder mehreren WirbelsäulenabschnittenBandscheibenvorfälle gefunden wurden.Die meisten hatten keine Beschwerden,viele wussten das gar nicht, konnten vor al-len Dingen auch nicht angeben, wann ihrBandscheibenvorfall entstanden ist. Vondaher ist es auch sicher richtig, wenn welt-weit der Schmerz alleine nie eine Indikationzur Bandscheibenoperation darstellt, auchwenn er noch so therapieresistent ist.

Wenn die Bandscheibe auf eine den Wirbel-kanal verlassende Nervenwurzel drückt,kann dies ein radikuläres Syndrom bewir-ken. Auch dies ist eine klinische Diagnoseund keine Diagnose durch die Bildgebung(Das Bild ist abhängig von der Körperlageund ändert sich bei Lagewechsel prompt.)!Radikuläre Syndrome werden viel zu häufigangenommen. Der wie eine Raumforde-rung wirkende Bandscheibenvorfall drücktauf die Nervenwurzel und löst dadurchSchmerzen aus, die zunächst in das sensib-le Versorgungsgebiet der entsprechendenWurzel, dann aber auch in Myotom undSklerotom (Kügelgen 2001) des entspre-chenden Segmentes ausstrahlen. Nebendieser Nervenwurzelreizung kann es auchzu einer Nervenwurzel

schädigung

kom-men, die distal beginnt, also an den Zehenbzw. den Fingern; betroffen sein könnenMotorik, Sensibilität und Muskeleigenrefle-xe. Entscheidend für die Diagnose ist ne-ben der Verteilung die Provozierbarkeit ei-nes solchen radikulären Syndroms durchbestimmte Manöver, die auch eine Intensi-tätsveränderung bewirken: Bauchpresse(Husten, Niesen, Stuhlgang), Rückwärtsnei-gen des Kopfes im Zervikalbereich undLasègue-Zeichen im Lumbalbereich provo-zieren bzw. intensivieren den radikulären

Schmerz prompt. Bei den häufig beklagten

Missempfindungen

an Armen/Händen bzw.Beinen/Füßen, durchaus auch mit einer ArtKontrollverlust verbunden, handelt es sichviel häufiger um sogenannte pseudoradi-kuläre Phänomene als Begleiterscheinungvon Weichteilirritationen. Unter pseudora-dikulären Schmerzen versteht manSchmerzen, die nicht auf eine direkte Wur-zelreizung zurückzuführen sind, aber auf-grund ihrer örtlichen Anordnung an eineradikuläre Genese erinnern können (Brüg-ger 1962).

Ein deutlich davon abzutrennendes Krank-heitsbild ist der Spannungskopfschmerz,der sehr weit verbreitet ist. Hierbei bestehteine schmerzhafte Tonuserhöhung der zer-vikalen Muskulatur, die psychisch unterhal-ten wird. Die Behandlung ist aufwendigund sollte nicht medikamentös-analgetischsein, neben der Rehabilitation der Muskula-tur sind bei chronischem Verlauf immerpsychotherapeutische Maßnahmen indi-ziert, um der schmerzhaften Muskelspan-nungserhöhung die Grundlage zu entzie-hen. (Siehe Therapieempfehlungen auf derHomepage der Deutschen Migräne- undKopfschmerzgesellschaft unterwww.dkmg.de/therapie)

Immer wieder werden so genannte

Kopfge-lenkstörungen

infolge einer Atlasfehlstel-lung als Ursache für die beschriebenen Be-schwerden angeschuldigt. Die Diagnose-stellung erfolgt in der Regel „ex iuvanti-bus“, d.h. durch eine erfolgreiche Manipu-lation in diesem Bereich. Dieser Schluss istaber nicht zwingend. Durch die Manipulati-on wird auch für eine bestimmte Zeit derTonus der entsprechenden Muskulatur he-rabgesenkt. Zudem handelt es sich wieeine Injektion um eine akutmedizinischeMaßnahme, die jedenfalls nicht regelhaft

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4.3.8 Das Schleudertrauma Schmerzen am Bewegungsapparat

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Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11

einen dauerhaften Erfolg im Sinne der Wie-dergewinnung an Teilhabe aufweisenkann, schließlich wird der Zustand der Mus-kulatur nicht dauerhaft verändert.

Ganz selten gibt es tatsächlich

Distorsionen

im Bereich der Halswirbelsäule. Nach unse-ren eigenen Erfahrungen geht eine unmit-telbare Gewalteinwirkung direkt auf denHals voraus, zum Beispiel Herumschleu-dern eines Schülers im sogenannten„Schwitzkasten“. Das Krankheitsbild ist ein-drücklich, wie von einer Distorsion nichtanders zu erwarten: sofort einsetzende hef-tige Schmerzen, Bewegungsunfähigkeitdes Halses, auch mit radikulärem Syndromin typischer Weise (s.o.). Der Verlauf ent-spricht dem einer Distorsion: vollständigeRückbildung mit typischem Decrescendo-Charakter über einige Wochen.

Schließlich gibt es noch das

Hyperflexions-trauma

, wie es insbesondere Zweiradfahrererleiden können, wenn sie zum Beispielüber den Kühler eines seitlich getroffenenPkws stürzen. Auch dieses Krankheitsbildist eindrücklich: es kann zu einer Contusiospinalis kommen mit eindeutigen Strang-störungen des Rückenmarks im Sinne einesmehr oder weniger kompletten Quer-schnittes, radikuläre Syndrome können bishin zum Nervenwurzelausriss beobachtetwerden.

Eine weitere wichtige Differenzialdiagnosebeim Schleudertrauma sind eine ganze Rei-he von psychiatrischen Diagnosen, u.a.

• anhaltende somatoforme Schmerzstö-rung F45.4,

• posttraumatische BelastungsstörungF43.1,

• Anpassungsstörung F43.2,• chronische Schmerzstörung mit somati-

schen und psychischen Faktoren F45.41,

• andauernde Persönlichkeitsveränderun-gen bei chronischen Schmerzen R62.8.

Dann aber auch

• Aggravation oder gar • Simulation, zudem • Begehrenshaltung bzw. • Rentenneurose.

So wichtig und richtig alle psychiatrischenDifferenzialdiagnosen sind, so sollte es beiallen Differenzialdiagnosen zunächst umeinen Verdacht gehen, der dann sorgfältignach den Regeln der Diagnose (siehe oben)anzunehmen oder zu verwerfen ist. Dabeisind Operationalisierungsregeln wie obenam Beispiel der anhaltenden somatofor-men Schmerzstörung dargestellt zu beach-ten. Auf keinen Fall sind diese Differenzial-diagnosen als Restkategorie zu missbrau-chen, also bei Unverständnis von Patientund Krankheitsbild der Kategorie „Psyche“zuzuordnen. Jede dieser Differenzialdiag-nosen ist im ICD 10 genau festgelegt undsollte hiernach geprüft werden. Eine solchePrüfung umfasst Anamnese, Beschwerdenund klinischen Befund und sollte nach die-sen ICD-10-Vorgaben erfolgen. Leider wirdin vielen Fällen eine solche Prüfung garnicht durchgeführt, vielfach scheinen dieentsprechenden Krankheitsbilder gar nichtgenau bekannt zu sein. Diese Zuordnungzu „Psyche“ hat also auch nach den Regelneiner Diagnose zu erfolgen.

Eine weitere Differenzialdiagnose wird oftgar nicht erst erwogen, sie ist aber häufig:Dabei liegt gar keine psychiatrische Erkran-kung im Sinne des ICD 10 vor, sondern einepsychische Auffälligkeit im Sinne der Chro-nifizierung, also nach dem biopsychosozia-len Krankheitsmodell eine Teilhabestörungmit entsprechenden Begleiterscheinun-gen, wie sie oben ausführlich dargestellt

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Schmerzen am Bewegungsapparat Das Schleudertrauma 4.3.8

Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11

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wurden. Dazu gehören auch Verstimmungund sozialer Rückzug. Deren Klassifikationerfolgt nicht als Diagnose nach dem ICD 10,sondern als Ausdruck der Chronifizierungmit Teilhabeminderung nach der Internati-onal Classification of Functioning, Disabilityand Health (ICF). Die differenzialdiagnosti-sche Zuordnung ist nicht schwer, wenneben Hinweise auf eine solche sich allmäh-lich im Verlauf der Krankheit entwickelndezunehmende Funktionsstörung mit Ein-schränkung von Teilhabe und den entspre-chenden Begleiterscheinungen beachtetwerden. Der Beweis für die Richtigkeit einersolchen diagnostischen Zuordnung istdann erbracht, wenn durch einen neuen,für den Rehabilitanden als Sinn stiftend er-lebten und damit für ihn zu verinnerlichen-den Lebensentwurf eine neue Perspektiveeröffnet wird und der Rehabilitand in derRehabilitation die Erfahrung macht, dass erdiesen Lebensentwurf umsetzen könnenwird. Aus Perspektivlosigkeit, Traurigkeitund Hoffnungslosigkeit wird in kurzer ZeitHoffnung, Zuversicht und Aktivität. In vie-len Fällen muss man solche Rehabilitandenzurücknehmen, um sie vor Verletzungen zuschützen, weil sie nun zur Überforderungneigen.

Akute Schmerzen lassen sich heute durchbetäubende Maßnahmen in eindrucksvol-ler Weise beherrschen. Bei

chronischen

Schmerzen wird nach wie vor viel zu wenigbeachtet, dass es sich um ein vollständiganderes Krankheitsbild handelt, dass durchdie häufige Wiederholung akutmedizini-scher Maßnahmen nicht angemessen be-handelt wird.

Zunächst ist die Frage der

Therapieziele

zustellen: Nach wie vor gilt in der

Schmerzthe-rapie

von chronischen Schmerzen dieSchmerzreduktion als das wichtigste Thera-pieziel. Natürlich soll die Schmerzreduktionals für den Patienten wesentlich nicht ver-kannt werden, sie stellt aber nicht das The-rapieziel dar. Bei chronischen Schmerzenliegt in aller Regel eine bereits eingetreteneoder drohende Teilhabestörung im Sinneder ICF (s.o.) vor. Tatsächlich wünschen sichSchmerzpatienten, dass sie wieder allesmachen können, was sie von sich und ihreUmgebung von ihnen erwartet und was ih-nen Freude bereitet. Genau das wird mitdem Begriff des selbstbestimmten Lebenserfasst. Schmerzpatienten haben nur durchvielfältige Informationen gelernt, dass siehierfür eine möglichst vollständige Betäu-bung ihrer Schmerzen brauchen. Diese In-formation erweist sich schlicht als unzutref-fend.

Ein großer Teil der Patienten mit chroni-schen Schmerzen beklagt die unzureichen-de Wirkung von betäubenden Maßnahmenund die beträchtlichen Nebenwirkungen,die bei genauer neuropsychologischerTestung auch in vielen Fällen die Fahrtaug-lichkeit umfasst. Es ist erstaunlich, wie vielePatienten mit chronischen Schmerzen vonsich aus die Medikamente absetzen. 1/3 un-serer 42 Patienten mit CRPS, die wir ge-meinsam mit der Unfallkasse Rheinland-Pfalz in den letzten Jahren betreut haben,hatte von sich aus die Schmerzmedikationabgesetzt! Die umstrittene Leitlinie „Lang-zeitanwendung von Opioiden bei nicht tu-morbedingten Schmerzen“ (LONTS, s. un-ter www.lonts.de) braucht gar nicht so hef-tig diskutiert zu werden, der Behandlungs-erfolg im Sinne der gelingenden und anhal-

Therapie

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4.3.8 Das Schleudertrauma Schmerzen am Bewegungsapparat

26 Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11

tenden Wiedereingliederung bei chroni-schen Schmerzen spricht für sich.

Damit ist auch die angemessene Methodegeklärt: Nach der ICF und dem darauf auf-bauenden Sozialgesetzbuch IX (2001) istbei Teilhabestörung eine Rehabilitation er-forderlich, die sich nicht nur formal durcheinen größeren Aufwand, sondern vor al-lem in den Zielen von ambulanten Therapi-en, gegebenenfalls unter Einschluss vonHeilmitteln, unterscheidet.

Die Rehabilitation von solchen Patienten istäußerst aufwendig, ganzheitlich und indivi-duell. Sie ist immer multimodal, d.h. sie um-fasst Maßnahmen auf allen dafür erforderli-chen Feldern, die für das Therapieziel Teil-habe erforderlich sind. An sie schließt sicheine längere Phase der ambulanten Nach-behandlung an, unter Umständen beglei-tet durch einen allmählich abnehmendenHeilmitteleinsatz.

Am Anfang der Therapie von chronifizier-ten Schleudertraumapatienten steht derAufbau einer belastbaren Patienten-Arzt-Therapeutenbeziehung, die sich auf Vertrau-en und Anerkennung von Kompetenzgründet.

Hierzu gehört die Information des Patien-ten einzeln und in Form von Edukation, ins-besondere über das Konzept, die Therapie-ziele mit Zwischenzielen und die Metho-den. Es ist sehr hilfreich, wenn hier Angehö-rige eingebunden werden können.

Gerade bei der einzelnen Information desPatienten und gegebenenfalls seiner Ange-hörigen sind das Selbstkonzept des Patien-ten und seine Kontrollüberzeugungen zuprüfen (s.o.). Hierzu dient im körperlichenBereich das Performance Assessment Ca-pacity Testing (PACT), das eine gestufte

Selbsteinschätzung der körperlichen Leis-tungsfähigkeit des Patienten erbringt. Eswird verglichen mit Auszügen aus der Eva-luation der funktionellen Leistungsfähig-keit (EFL). Es ist erstaunlich, wie wenig dieErgebnisse dieser beiden Methoden über-einstimmen: Ein weit überwiegender Teilder Patienten unterschätzt seine körperli-che Leistungsfähigkeit, nur wenige schät-zen sich angemessen ein, ein kleiner Teilüberschätzt sich.

Diese Ergebnisse dieser beiden Teste wer-den mit dem Patienten besprochen mitdem Ziel einer Korrektur des Selbstkonzep-tes. Hierzu werden unter Umständen auchnoch Videoselbstkonfrontationen aus derEFL eingesetzt. Schließlich erfolgt die aus-führliche Diskussion der unterstellten Pa-thophysiologie, also wie Beschwerden undSymptome zustande kommen und warumsie nach wie vor bestehen. Daraus lassensich dann die Behandlungsmethoden er-klären. Die Behandlung ist ausgesprochenanstrengend für die Patienten. Daher müs-sen sie zunächst überzeugt werden unddann in der Rehabilitation möglichst baldselbst erfahren, dass sich ihr Zustand posi-tiv verändert. Dann sind sie „gewonnen“.

Über die Hälfte (32 von 62) unserer gemein-sam mit der Unfallkasse Rheinland-Pfalz be-treuten Schleudertrauma-Patienten (s.u.)

Tabelle 9: Therapie des Schleudertraumas (1)

1. Aufbau einer vertrauensvollen, belastbaren Patienten-Arzt-Therapeuten-Beziehung

2. umfassende Information (einzeln und in der Edukation) des Patienten über– Konzept– Therapieziele– Zwischenziele– Methoden

3. Einbindung von Angehörigen

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Schmerzen am Bewegungsapparat Das Schleudertrauma 4.3.8

Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11 27

hatten von sich aus bereits vor der Rehaihre Schmerzmittel ganz abgesetzt.

Warum erfolgt die Behandlung ohne Be-täubung?

• Die zu behandelnden Weichteilbefundewerden durch Schmerzmittel verschlei-ert.

• Die Therapie erfolgt in einem schmalenKorridor zwischen Unterforderung undÜberforderung. Diese Steuerung der Be-handlung nach Intensität und auch nachder möglichen Steigerung wird durchSchmerzmittel sehr erschwert, bisweilensogar verhindert.

• Das Therapieziel Eigenkompetenz wirddurch Schmerzmittel erheblich er-schwert.

• Belastungssteigerungen unter Schmerz-mittel bergen ein erhebliches Verlet-zungsrisiko, wie aus der Sportmedizinbekannt ist.

• Das Erlernen einer verbesserten Koordi-nation wird erschwert.

• Motorisches Lernen wird erschwert.• Die Körperwahrnehmung wird deutlich

beeinträchtigt.• Sämtliche Therapieziele werden sehr viel

schwieriger oder gar nicht erreicht.

Aus Sicht der Patienten ist der Verzicht aufSchmerzmittel für einen Teil überraschend.

Sie lassen sich aber in aller Regel davonüberzeugen. Das Absetzen erfolgt abrupt,etwa 2/3 der Patienten machen einen mehroder weniger heftigen Entzug durch. Abge-sehen vom Entzugssymptom Ganzkörper-schmerz kommt es nicht zu einer anhalten-den Verstärkung der Schmerzen, die Pati-enten sind vielmehr ausnahmslos erleich-tert, sie seien wieder sie selbst.

Die Schmerztherapie besteht im Wesentli-chen aus physikalischen Mitteln wie Kälte,gegebenenfalls TENS, ansonsten vegetati-ver Roborierung mit regelmäßiger Bewe-gung, regelmäßigen Wechselduschen.

Große Bedeutung kommt der psychologi-schen Schmerztherapie zu:

Tabelle 10: Therapie des Schleudertraumas (2)

Korrektur des Selbstkonzeptes• PACT• EFL, ggf. mit Videoselbstkonfrontation• Erklären von Krankheitskonzept und daraus

abzuleitenden Methoden• Diskussion von Kontrollüberzeugungen• Aufgabe von möglichst rascher Schmerzbe-

freiung als primärem Therapieziel, stattdes-sen alltagstaugliche Belastbarkeit und Ei-genkompetenz

Tabelle 11: Therapie des Schleudertraumas (3)

Ambulanter Entzug von Schmerzmitteln• abrupt• durch schwach potente Neuroleptika ge-

dämpft• in dieser Zeit nur milde Therapie, keine Be-

lastbarkeitssteigerung, vor allem Ablenkung des Patienten sowie dessen Beobachtung

• tägliche Gespräche

Tabelle 12: Therapie des Schleudertraumas (4)

Psychologische Schmerztherapie• Entspannungsübungen• Stressbewältigung• Aufmerksamkeitslenkung• erste Hilfe bei Schmerz (selbst entwickelte

Kaskade hilfreicher Verhaltensweisen)• „Schmerz ist nicht mein Schicksal, sondern

meine Herausforderung“• Vermeidung dysfunktionaler Gedanken,

stattdessen hilfreiche Gedanken• Genusstraining• NLP• Coping-Strategien• Phantasie-Reisen

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4.3.8 Das Schleudertrauma Schmerzen am Bewegungsapparat

28 Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11

Von Beginn der Reha an, im Falle eines Ent-zuges zunächst gedämpft, erfolgt eine sys-tematisch aufgebaute somatische Thera-pie.

Als Grundsatz gilt, dass immer erst die Vo-raussetzungen für eine Steigerung auf dienächst höhere Stufe der Belastbarkeit ge-schaffen werden müssen. Dies erforderteine klare Vorstellung von den einzelnenBehandlungsstufen, die jeweiligen Maß-nahmen müssen in einem Korridor gesteu-ert werden. Bei Unterforderung kommt eszu fehlenden Fortschritten, die Rehazielewerden verfehlt. Überforderung führt zu ei-ner klinischen Verschlechterung.

Der eigentliche Behandlungserfolg ist diean die Reha sich anschließende Wiederein-gliederung. Die Rehabilitation schafft nurdie Voraussetzung hierfür (Leistungsfähig-keit), für den humanitären Erfolg des Pati-enten und wirtschaftlichen Erfolg des Kos-tenträgers entscheidend ist aber nicht dieCapacity, sondern die Performance (tat-sächlich erbrachte Leistung). Hier zeigt essich, wie stark der Übergang von Leistungs-fähigkeit zu Leistung von sogenannten Kon-textfaktoren (ICF) abhängig ist. Diese gilt esfrühzeitig während der Reha einzubinden,zu analysieren und gegebenenfalls zu opti-mieren (Angehörige, Arbeitsplatz).

Während der Wiedereingliederung ist einekontinuierliche Betreuung des Patientenerforderlich, die Intensität richtet sich nachden Schwierigkeiten im Einzelfall. In jedemFall soll das Angebot einer Kriseninterventi-on bestehen, sodass der Patient bei Proble-men sofort Kontakt aufnehmen kann, an-sonsten ist mindestens eine in der Fre-quenz abnehmende ärztliche Konsultationvorzusehen, gegebenenfalls unterstütztnoch durch Heilmittel, alles allmählichübergeleitet in Maßnahmen der Sekundär-prävention.

Wir haben diese beschriebene Therapie ineiner Pilotstudie von 1999–2001 zusam-men mit dem Landesverband der gewerbli-chen Berufsgenossenschaften bei 48 Pati-enten durchgeführt.

Für die beiden Kategorien „Mäßig“ und„Versager“ lagen Erklärungen vor, die nichtdas Konzept betrafen.

Tabelle 13: Therapie des Schleudertraumas (5)

Somatische Therapie:• Grundsatz: immer erst Voraussetzungen für

Steigerung schaffen!• zunächst aktuelle Baustellen, die Belas-

tungssteigerung ausschließen, behandeln (Schulterprobleme, ISG)

• Maßnahmen zur Detonisierung, Harmoni-sierung, Koordination– Entspannen in der Gruppe– aktive Übungen– Spannen – Entspannen– Biofeedback

• Herz-Kreislauf-Training (4 Wochen, von An-fang an):

• erst Ausdauer, ca. ab der 3. Woche KraftÜberforderung: • Schwellung der Muskulatur und der Weich-

teile steigt• Schmerzen nehmen zu• Muskeltonus steigt• Harmonie sinkt• Koordination sinkt• klinisch: VerschlechterungHeimprogramm, auch während der Reha (abends, am Wochenende) erst ganz zum Schluss: arbeitsplatzspezifisches Training (work hardening)

Ergebnisse

80

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Schmerzen am Bewegungsapparat Das Schleudertrauma 4.3.8

Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11 29

Mit der Unfallkasse Rheinland-Pfalz betrei-ben wir seit 2005 ein KooperationsmodellPosttraumatische Chronifizierungen, in dasauch das Schleudertrauma eingebundenist. Auch für die anderen Diagnosen diesesKooperationsmodells haben wir den ge-samten Rehaprozess überprüft und im Sin-ne eines optimalen Rehamanagementsverbessert (siehe Tab. 15).

Tabelle 14: Behandlungsergebnis bei chroni-schen Schleudertrauma-Patienten unter dem Aspekt der Wiedereingliederung und von Rest-beschwerden (n = 48)

sehr gut (keine Restbeschwerden) 28

gut (geringe Restbeschwerden) 10

Mäßig (Verbesserung gegen Aufnah-mebefund)

7

Versager (keine Änderung) 3

* Trauma und Berufskrankheit Dez. 2001, Suppl. 3, S. 321–330und 334–343

Tabelle 15: Verbesserungen zu einem optimierten Rehamanagement im Rahmen des Kooperations-modells posttraumatische Chronifizierungen mit der Unfallkasse Rheinland-Pfalz

Probleme Lösungen

Beim Einstieg in die Reha

1. Zuweisung zur Reha2. Rehaziele und Rehapotenzial 3. Falsche Ziele4. Therapieplanung

Beim Einstieg in die Reha

1. Assessment zur Indikation2. Probewoche zur Rehaprognose 3. Zielvereinbarung4. gestufter Rehaplan 5. wöchentliche Visite mit Rehafachberatern mit

Protokoll6. gezieltes Nachfragen nach psychoreaktiven

Störungen7. therapeutisches Milieu8. psychosomatische Kompetenz des gesamten

Teams9. Mitarbeiterschulung

Bei der Chonifizierung

Kontext-Faktoren nicht eingebunden, besonders bei wohnortferner Reha

Bei der Chonifizierung

1. Feststellen und Erfassen der Chronifizierung 2. Einbinden der Kontext-Faktoren (Arbeitsplatz,

Angehörige)3. gemeinsames Erarbeiten eines als sinnstiftend

erlebten Lebensentwurfes4. Erfahrung in der Reha, dass dieser Lebensent-

wurf zu schaffen ist

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4.3.8 Das Schleudertrauma Schmerzen am Bewegungsapparat

30 Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11

Patientenaspekte

1. fehlende und widersprüchliche Krankheits-konzepte

2. keine individuelle Reha3. keine ganzheitliche Reha4. Ziel nur Funktionsverbesserung5. bei Rehabeginn neues Team, neue Konzepte,

keine Fortsetzung vertrauter Personen und Konzepte

Patientenaspekte (Fortsetzung)

1. umfassende Information mit Edukation über2. fehlende oder widersprüchliche Krankheits-

konzepte (Schmerz / Betäubung)– Kontrollüberzeugungen– Einstellungen– Therapieziele– Methoden– Zwischenziele

3. Einbindung von Angehörigen4. Selbstkonfrontation, Edukation, Korrektur fal-

scher und widersprüchlicher Krankheitskon-zepte

5. Selbsteinschätzung der körperlichen Leis-tungsfähigkeit durch Performance Assessment Capacity Testing (PACT)

6. Bewerbungstraining, Vorstellungsgespräche7. alltagstaugliche Belastbarkeit als Therapieziel8. Eigenkompetenz und Wiedergewinn an Teil-

habe als Therapieziel9. Selbstmanagement, Heimprogramm und Res-

sourcenorientierung

Nach der Reha

Hausarzt, Facharzt oder Unfallarzt

keine ausreichende Kompetenz, keine Struktur

Nach der Reha

1. identisches Team wie in der Reha2. gestufte Begleitung mit Option auf therapeuti-

sche Interventionen3. Wiedereingliederungsmanagement und Ar-

beits- & Belastungserprobung4. Krisenintervention5. persönliches Budget an Therapien für die ers-

ten 6–12 Monate nach abgeschlossener Wie-dereingliederung

aus: Kooperationsmodell posttraumatische Chronifizierungen: Eine Zwischenbilanz eines innovati-ven Projektes für ein optimiertes Rehamanagement 2005–2008. Hrsg. von der Unfallkasse Rhein-land-Pfalz, dem Medizinischen Versorgungszentrum Koblenz® und dem Therapiezentrum Kob-lenz®. Siehe www.therapiezentrum-koblenz.de.

Tabelle 15: Verbesserungen zu einem optimierten Rehamanagement im Rahmen des Kooperations-modells posttraumatische Chronifizierungen mit der Unfallkasse Rheinland-Pfalz (Forts.)

Probleme Lösungen

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Schmerzen am Bewegungsapparat Das Schleudertrauma 4.3.8

Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11 31

Hier die Ergebnisse betreffend die Schleu-dertrauma-Patienten (aktualisiert bis Sep-tember 2010):

Es ist nahe liegend, dass es in der Begutach-tung besonders bei fremdverschuldetenUnfällen zu heftigen Streitigkeiten kom-men muss, solange das klinische Phäno-men nicht aufgeklärt ist. Auch wenn die Be-gutachtung derzeit durch die Unfallanalyseklar geregelt zu sein scheint, so muss dochanerkannt werden, dass man dies durcheine technische Methode tut, die wederhinsichtlich Spezifität noch Sensibilität,noch Validität, noch Reliabilität jemals auchnur annähernd geprüft wurde; Messfehlerwerden nie angegeben. Eine solche Prü-fung ist auch gar nicht möglich, da sie na-türlich voraussetzt, dass die Krankheit, diedie technische Untersuchung abbilden soll,bekannt ist und nach den Regeln der klini-schen Medizin diagnostiziert werden kann.Es ist ein in der Medizingeschichte einmali-ger Vorgang, dass Ärzte Diagnosen anhandvon Veränderungen an Fahrzeugen fürmöglich erklären oder ausschließen unddamit klinisch gewonnene Erkenntnisseder erstuntersuchenden Ärzte, zum großenTeil ja aus BG-Kliniken, im Nachhinein fürunzutreffend erklären. Herausgekommensind scheinbar klare Verhältnisse, die aberin einer beträchtlichen Zahl zu erheblichenFehleinschätzungen führen und Verletztennicht nur ihnen zustehende Entschädigun-gen, sondern auch Wege in die Therapieversperren. Verfolgt man die Forderungen

Tabelle 16: Ergebnisse bei Schleudertrauma-Pa-tienten n = 62, 44 ����, 18 ����

Alter0–17 Jahre 0518–35 Jahre 2336–53 Jahre 2654–71 Jahre 0872 Jahre und älter 00

Tabelle 17: Ergebnisse bei Schleudertrauma-Pa-tienten n = 62, 44 ����, 18 ����

Krankheitsdauer< 3 Monate 07 3–6 Monate 27 7–12 Monate 12 13–18 Monate 08 19–24 Monate 00> 24 Monate 07> 10 Jahre 01

Tabelle 18: Schmerzmittelkonsum

in der Reha abgesetzt 25in der Reha nicht abgesetzt 05keine Schmerzmittel bei der Aufnahme 32

Tabelle 19: Ergebnisse bei Schleudertrauma-Pa-tienten n = 62, 44 ����, 18 ����

Entlassungsbefundekomplette Remission, keine Einschränkungen 33

leichte Restbefunde, nicht sozialmed. relevant 22

deutliche Restbefunde, sozialmed. relevant, Besserung zum Aufnahmebefund 04

keine Verbesserung zum Aufnahmebefund (Abbruch) 03

Tabelle 20: Ergebnisse bei Schleudertrauma-Pa-tienten n = 62, 44 ����, 18 ����

Sozialmedizinischer Status prä postarbeitsunfähig 33 01arbeitsfähig 23 55 arbeitslos/Rentner/Schüler 03 03abgebrochen 03 03

Begutachtung

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4.3.8 Das Schleudertrauma Schmerzen am Bewegungsapparat

32 Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11

von der Erstpublikation 1998 (Castro et al.1998) mit der Entwicklung der Rechtspre-chung bis zum heutigen Tag, so kann mandas nur als ein einziges Zurückrudern be-zeichnen (Übersicht bei Jäger 2007). Es istzu hoffen, dass sich die klinischen Erkennt-nisse mehr und mehr durchsetzen und da-mit die Begutachtung in der derzeit über-wiegend geübten Form ad absurdum ge-führt wird. Es gibt keine eigene Gutachten-Medizin, die Begutachtung hat besondereFragestellungen.

Der Weg zur Diagnose ist in der klinischenMedizin und im Gutachten gleich.

Die Behandlungsergebnisse werden ge-meinsam mit dem Rehaträger, der Unfall-kasse Rheinland-Pfalz, veröffentlicht. DieseBerufsgenossenschaft ist einheitlicher Kos-tenträger und liefert uns von daher auchimmer eine Katamnese. Die unter „Ergeb-nisse“ ausgewerteten Patienten des Koope-rationsmodells bekamen wir ausschließlichvon dieser Berufsgenossenschaft vorge-stellt, in aller Regel wegen Therapieresis-tenz. Die Beurteilung des weiteren Verlau-fes hängt immer von der Erstuntersuchungab. Fehlen entsprechende Befunde, wirdder Patient mit der Diagnose „Kein Anhaltfür ein Schleudertrauma“ zurückverwiesenoder einer anderen Versorgung zugeführt.

Die von uns durchgeführte Therapie trägtden vielen Ansprüchen chronisch Krankerund insbesondere chronisch Schmerzkran-ker Rechnung. Sie ist aus dem Göttinger Rü-ckenIntensivProgramm entwickelt und au-ßerordentlich erfolgreich, bei Versagen

können Gründe angegeben werden, dieaber nicht im Konzept liegen.

Das Schleudertrauma stellt sich nun dar alseine harmlose, aber häufige Verletzung, dieallerdings zu sehr unangenehmen und läs-tigen Beschwerden und Einschränkungenführen kann. Wie beim Rückenschmerz bil-den sich 90 % der Fälle in kurzer Zeit zurückund sind ausgeheilt, 10 % chronifizieren.Die Gründe hierfür sind dargestellt.

Zwei Mechanismen können zum Schleu-dertrauma führen, einmal der unmittelbareAnprall mit Prellung bzw. Zerrung, dann dieDehnung angespannter Nackenmuskeln(Dehnungsmyalgie), wie sie besondersbeim Pkw-Unfall auftreten kann (Erklärungs.o.). Damit wird verständlich, warum gera-de beim Pkw-Unfall Fälle mit Latenz so häu-fig vorkommen.

Beide Mechanismen münden in wenigenTagen in eine muskuläre Insuffizienz, die ih-rerseits eingeschränkte Belastbarkeit ins-besondere gegenüber Haltearbeit unddann zunehmende Schmerzen mit allenmöglichen Missempfindungen herbeiführt.Diese Entwicklung wird durch einenschlechten Trainingszustand und falschesFrühmanagement mit angeratener Scho-nung oder verordneter Halskrawatte geför-dert. Ansonsten gelten die oben für dieChronifizierung angeführten Kriterien. Wiees zu den neuropsychologischen Störun-gen, zu Schwindel, Tinnitus, Körperschema-störungen im Gesicht kommt, ist nicht be-kannt. Jedenfalls sind diese Veränderungennicht regelmäßig, aber doch häufig zubeobachten. Keinesfalls dürfen sie als Be-weis einer Hirnsubstanzschädigung gewer-tet werden. Dies wird durch das Verschwin-den solcher Störungen bei intakter Hals-muskulatur am Ende der Therapie regelmä-

Diskussion

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Schmerzen am Bewegungsapparat Das Schleudertrauma 4.3.8

Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11 33

ßig belegt. Ob deswegen in der Therapieein neuropsychologisches Training erfol-gen soll, ist erwägenswert. Dies sollte aberin den ersten Wochen auf keinen Fall amComputer-Bildschirm erfolgen, weil die Na-ckenmuskulatur durch diese Haltearbeitwährend einer ganzen Therapieeinheit völ-lig überfordert würde.

Es wäre überaus wünschenswert, diesePhänomene näher zu untersuchen, die of-fensichtlich von einer gestörten Funktionder Halsmuskulatur ausgehen. Denn, siealle lassen sich durch eine aggressive Hals-muskel-Therapie verstärken, sie verschwin-den regelmäßig mit dem Ausheilen derMuskelfunktionsstörung der Halsmuskula-tur, anstatt die Bedeutung der Muskulaturzu verkennen (Widder et al. 2002).

Auch weitere Fragen lassen sich nun beant-worten: Keineswegs ist das Schleudertrau-ma an einen Heckaufprall gebunden, dieMuskulatur kann bei jeder Belastungsrich-tung so reagieren. Keineswegs kann manSchleudertraumata auf sogenannte Non-contact-Verletzungen begrenzen, wie esinsbesondere Gay und Abbott (1953) getanhaben.

Auch spielt die Kopfhaltung, wie sie als Vo-raussetzung für eine Läsion der Ligamentaalaria gehalten wurde (s.o.), keine Rolle. Diegeschilderten Weichteilverletzungen tre-ten bei jeder Kopfhaltung auf. Schließlichspielt es keine Rolle, ob ein Pkw-Insasse denUnfall kommen sieht. Die darauf folgendeMuskelanspannung unterscheidet sichnicht von der reflektorischen Muskelan-spannung. Diese wird sogar im Schlaf aus-gelöst. Ob sie auch bei schwerer Trunken-heit möglich ist, ist nicht bekannt.

Immer wieder wird nach der Unfallspezifi-tät der beim Schleudertrauma zu finden-

den Symptome gefragt. Die Frage ist nichtzulässig. Nur bei einer Diagnose kann diePathophysiologie, und dazu gehört auchdie Entstehung durch einen Unfall, angege-ben werden. Dies ist bei einem Symptomalleine nie möglich. Noch nicht einmal eineBewusstlosigkeit ist unfallspezifisch, siekann durch einen epileptischen Anfall, eineIntoxikation, einen Herzinfarkt entstandensein. Erst die Kombination aus Anamnese,Befund, gegebenenfalls gezielte apparati-ve Diagnostik gestatten Aussagen überden Unfallzusammenhang.

Schließlich gibt es noch die These, dass Ver-letzungsmöglichkeiten in Korrelation zuäußeren Belastungen stehen (Mazzotti u.Castro 2006). Das mag insofern stimmen,dass ab einem bestimmten BelastungsmaßVerletzungen regelmäßig auftreten. Dasgilt wenn überhaupt zum Beispiel für denKnochen. Auf keinen Fall ist der umgekehr-te Schluss zulässig, dass bei einer bestimm-ten niedrigen Belastungseinwirkung Ver-letzungen ausgeschlossen werden können,erst recht nicht Weichteilverletzungen. DerAlltag lehrt, dass im Leistungssport extre-me Krafteinwirkungen unverletzt überstan-den werden können, während bei Untrai-nierten alle möglichen alltäglichen Verrich-tungen durchaus zu nennenswerten Ver-letzungen führen können.

Weiterhin haben wir ein Schleudertraumaauch bei Verletzungen außerhalb von Pkw-Unfällen aufgrund typischer Befunde diag-nostiziert, durchaus in Verbindung mit ei-ner Commotio, also Patienten mit einer kur-zen Erinnerungslücke. Die Prognose warbei der oben durchgeführten Therapie gut.Die Patienten wurden uns zugewiesen alsposttraumatische Kopfschmerzen unklarerGenese. Neben dem vegetativen Syndromund dem medikamenteninduzierten Kopf-

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4.3.8 Das Schleudertrauma Schmerzen am Bewegungsapparat

34 Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11

schmerz halten wir den Kopfschmerz infol-ge einer Muskelfunktionsstörung (wiebeim Schleudertrauma) für eine Erklärungunklarer posttraumatischer Kopfschmer-zen.

Es lassen sich folgende Stadien für dasSchleudertrauma einteilen:

Natürlich ist die Frage nahe liegend, warumes ein Stadium 0 geben muss. Dies ist tat-sächlich eigentlich überflüssig. Es wird den-noch angeführt, um zu verdeutlichen, dassdie Diagnose Schleudertrauma auch unzu-reichend begründet gestellt wird, wie es fürGrad 1 der Quebec Task Force gilt (Der dortangefürte Grad 0 ist tatsächlich überflüs-sig.). Gleiches gilt auch für die Fälle vonSchrader (1996) sowie für viele Fälle im täg-

lichen Alltag, bei denen die Diagnose unbe-dacht und auf jeden Fall ohne hinreichendeBelege aus Anamnese und klinischem Be-fund gestellt wird. Dies gilt auch für Fälle,die gar kein Schleudertrauma erlitten ha-ben, dennoch aber z.B. mit einerSchanz’schen Krawatte versorgt werdenund anschließend Schmerzen infolge vonMuskelinsuffizienz beklagen. Hier hat sichkein Schleudertrauma zugetragen. Wie diesrechtlich zu bewerten ist, hat mit der Patho-physiologie nichts zu tun.

Aus dieser Einteilung ergibt sich folgendesManagement des Schleudertraumas:

Eine Patienteninformation (s. www.thera-piezentrum-koblenz.de) kann hilfreich sein.

Zu einem verbesserten Frühmanagementgehört auch die Überwachung des Verlau-fes. Die Patienten sollen in jedem Falle zueinem kurzen Bericht (E-Mail, Fax, Telefon,Brief, persönliche Vorstellung) um die 6.Woche angehalten werden, bei fehlenderBeschwerdefreiheit empfiehlt sich folgen-des Vorgehen:

Tabelle 21: Stadien des Schleudertraumas

Stadium 0: unverletzt

Stadium 1: funktionelle Störung

Stadium 2: Strukturschaden

Abb. 7: Management des Schleudertraumas

Latenz

funktionelle Störung oder unverletzt

0muidatS1muidatSInformation,Schmerzmanagementkeine Schonungenge FührungVerlauf überwachen

Keine Latenz

Chirurgischer Fall ?

ja nein

Strukturschaden

Stadium 2

chirurgische VersorgunggesundBetrugBehandlungsfehler

Anamnese, klinischer Befund

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Schmerzen am Bewegungsapparat Das Schleudertrauma 4.3.8

Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11 35

1. Eingreifen nach 6–12 Wochen (Beginnder Chronifizierung)Liegen Weichteilbefunde vor, die mit Be-schwerden übereinstimmen?a) nein: Dokumentation, gerichtsbe-

ständiger Abbruch des Verfahrensoder Verweisen an andere Versor-gung

b) ja: Einleitung einer geeigneten Thera-pie– befundgesteuert– ergebnisorientiert– mit geeigneter und gerichtsbe-

ständiger Dokumentation2. Frühmanagement

Information, einfache Schmerztherapie,keine Schonung, keine Schanz’sche Kra-watte, enge Führung, Überwachung desVerlaufes

Es wäre sehr erfreulich, wenn die hier er-worbenen Erkenntnisse in ein flächende-ckend verändertes Frühmanagement ein-münden würden. Selbstverständlich sindbei unmittelbar auftretenden Beschwerdenstrukturelle Schädigungen durch eine Bild-gebung auszuschließen. Ansonsten abersollte der Patient informiert werden undauch über die Risiken von Schonung aufge-klärt sein und zu Aktivität, so gut es geht,angehalten werden. In der Akutphase istneben einfachen Analgetika wie Paraceta-mol die kurzfristige lokale Anwendung vonEis hilfreich (nicht die so sehr beliebte Wär-me!), zudem eine enge Anbindung des Pa-tienten, wie es bereits Gay und Abbott(1953) gefordert haben. Wenn diese Patien-ten sogar in der Chronifizierung noch er-folgreich behandelt werden können, somuss es umso mehr möglich sein, die Ent-wicklung der chronifizierenden Patienten amAnfang durch ein verändertes Frühmanage-ment aufzuhalten und zu verhindern. Damit

könnte das Problem „chronifiziertesSchleudertrauma“ dauerhaft gelöst wer-den.

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Literatur

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4.3.8 Das Schleudertrauma Schmerzen am Bewegungsapparat

36 Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11

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Schmerzen am Bewegungsapparat Das Schleudertrauma 4.3.8

Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11 37

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Konsensus zum sog. Schleudertrauma 41 Thesen von

Prof. Dr. med. Friedrich Baumgärtel, Chef-arzt der Klinik für Unfall-, Wiederherstel-lungs- und orthopädische Chirurgie, Stifts-klinikum Mittelrhein Koblenz, Koblenz

Prof. Dr. med. Hubert Baumgartner, ehem.Präsident der Schweizerischen Ärztegesell-schaft für Manuelle Medizin, Zürich

Johann Breckner, Chirurg, Deutsche Ren-tenversicherung Rheinland-Pfalz, Speyer

Prof. Dr. med. Kurt-Alphons Jochheim,ehem. Direktor des Rehabilitationszent-rums an der Medizinischen Fakultät derUniversität zu Köln und LehrstuhlinhaberRehabilitation an der deutschen Sport-hochschule in Köln, Erftstadt

Prof. Dr. med. Marco Mumenthaler, ehem.Direktor der Neurologischen Universitäts-klinik Bern, Herausgeber des LehrbuchesNeurologie, Zürich

Prof. Dr. med. Gerhard Rompe ✝, ehem. Lei-ter der Gutachtenambulanz der Orthopädi-schen Universitätsklinik Heidelberg, He-rausgeber des Buches „Begutachtung vonErkrankungen des Bewegungssystems“,Heidelberg

Prof. Dr. med. Michael Schnabel, kommiss.Direktor der Klinik für Unfall-, Wiederher-stellungs- und Handchirurgie des Universi-tätsklinikums Marburg, Marburg

Priv. Doz. Dr. med. Rüdiger Volkmann, Chef-arzt der Klinik für Unfall- und Wiederher-stellungschirurgie, Klinikum Bad Hersfeld,Bad Hersfeld

Anhang

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4.3.8 Das Schleudertrauma Schmerzen am Bewegungsapparat

38 Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11

Prof. Dr. med. Dr. h. c. mult. Siegfried Weller,ehem. Ärztlicher Direktor der BG Unfallkli-nik Tübingen und ehem. Ordinarius für Un-fallchirurgie der Univ. Tübingen, Tübingen

Dr. med. Bernhard Kügelgen, Leitender Arztdes Therapiezentrum Koblenz® und Ärztli-cher Direktor des Medizinischen Versor-gungszentrum Koblenz®, Koblenz (feder-führend).

Diagnostik

1. Art und Ausmaß von Verletzungen amBewegungssystem sind durch Anamneseund klinischen Befund zu diagnostizieren,ggf. durch apparative Diagnostik zu bestä-tigen. Nur akzessorisch können Verletzun-gen am Bewegungssystem über andereKriterien (neurologisches Defizit, neuro-physiologische Messungen) erschlossenwerden. Apparativ-technische Untersu-chungen oder eine Unfallanalyse könnennicht Anamnese und klinischen Befund er-setzen.

2. Die Primärdiagnostik fahndet bei jederVerletzung zunächst nach Strukturschä-den. Die seltenen schweren Verletzungen,vor allem Frakturen und diskoligamentäreInstabilitäten, können selbst bei Bewusstlo-sen in der Primärdiagnostik erfasst und ei-ner standardisierten Versorgung zugeführtwerden.

3. Der größte Teil der Verletzungen ohneFrakturen und diskoligamentäre Instabilitä-ten heilt in Tagen bis allenfalls wenigenWochen folgenlos aus. Ein geringer Teil

ohne schwere initiale Verletzung zeigt ei-nen protrahierten Verlauf.

4. Bei der Diagnostik sind alle Beschwerden,das sind insbesondere Schmerzen und Be-wegungseinschränkungen, durch entspre-chende klinische Befunde zu stützen, die al-lerdings durch Schmerzmittel nivelliertwerden können.

5. Hierbei sind besonders die als zuverlässiggefundenen Untersuchungen der Halsbe-weglichkeit und der Halsweichteile zu su-chen und zu beschreiben, wie es jeder er-fahrene Arzt durchführen kann.

6. Lassen sich bei einem Patienten, dernicht unter Analgetika steht, solche Befun-de nicht erheben, kann eine solche Verlet-zung nicht diagnostiziert werden.

7. Ein neurologisches Defizit ist bei diesenVerletzungen sehr selten und sollte nur beiobjektivierbarem neurologischem Befundangenommen werden.

8. Armschmerzen und nur grenzwertig pa-thologische somatosensibel evozierte Po-tenziale der Armnerven reichen nicht zurAnnahme eines radikulären Syndroms.

9. Schwindel, Tinnitus, Kopfschmerzen undandere Befindlichkeitsstörungen, sowieauch neuropsychologisch anmutende Defi-zite allein reichen nicht zur Annahme einerHirnstammschädigung. Hierzu sind die inder Neurologie bekannten klinischen Be-funde zu fordern.

10. Eine psychiatrische Diagnose bei sol-chen Verletzten zu stellen bedarf großerSorgfalt und positiver Belege und kann nie-mals per exclusionem, sozusagen als Zu-ordnung zu einer Restkategorie, erfolgen.

41 Thesen zum sogenannten Schleudertrauma

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Schmerzen am Bewegungsapparat Das Schleudertrauma 4.3.8

Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11 39

Differenzialdiagnose

11. Eine Hirnbeteiligung ist möglich, unter-liegt aber den Regeln der Schädel-Hirn-Traumatologie. Bleibende Schäden setzenbei geschlossenen Schädel-Hirn-Traumenin der Regel sehr deutliche initiale Störun-gen voraus. Wenn keine Komplikation vor-liegt, bedürfen seltene Ausnahmen hiervoneiner besonders überzeugenden Argu-mentation. Eine Hirnstammschädigunggibt es bei einem bloßen Schleudertraumanicht.

12. Die psychiatrische Differenzialdiagnoseumfasst alle psychoreaktiven Bereiche:Kränkung bei Fremdverschulden, Beson-derheiten bei Haftpflichtschaden, bei be-sonderen Umständen und eindeutigen Be-schwerden eine posttraumatische Belas-tungsstörung, eher Anpassungsstörungenkommen vor. Der Schmerz selbst ist keinpsychoreaktives Phänomen, wohl aber un-ter Umständen eine evtl. nicht gelungeneSchmerzbewältigung.

13. Verletzungen der ligamenta alaria sinddurch solche Unfälle kaum vorstellbar, siewürden bei der Primärdiagnostik festge-stellt. Eine solche Bandverletzung Monatespäter anhand von bildgebenden Befun-den ohne entsprechende Klinik zu diagnos-tizieren, entspricht nicht den Vorgaben zurtraumatologischen Diagnostik.

14. Die Unfallanalyse ist bestenfalls appara-tive Diagnostik. Sie kann nie klinische Un-tersuchungen ersetzen. Dementsprechendist sie alleine nie geeignet, eine Verletzungeines Patienten auszuschließen oder zu be-legen.

Konzepte

15. Eine ärztliche Diagnose setzt eine Vor-stellung von einer Krankheit voraus, dieseumfasst deren Pathophysiologie, Be-schwerden, Befunde und Krankheitsver-lauf. Erst eine so begründete Diagnose ge-stattet Aussagen zu Prognose, Risiken undtherapeutische Vorgaben.

16. Die bisher bei diesen Verletzungenmeist angenommene Distorsion, also einenach Richtung und/oder Ausmaß zweierGelenkpartner unphysiologische Bewe-gung, war in den meisten Fällen nichtdurch entsprechende Anamnese und klini-sche Befunde unterlegt. Die Annahme ei-ner solchen Weichteilschädigung mit kon-sekutiver Ruhigstellung ist meist nicht zu-treffend und begünstigt die Chronifizie-rung.

Pathophysiologie

17. Viele derartig Verletzte zeigen ein Phä-nomen, das als „freies Intervall“ bezeichnetwird. Trotz Fremdverschulden geben diesePersonen zunächst keine verletzungsbe-dingten Beschwerden an. Es handelt sichalso nicht wie beim epiduralen Hämatom,für das der Begriff „freies Intervall“ kenn-zeichnend ist, um ein vorübergehendesAufklaren, eine vorübergehende Befund-besserung, sondern es liegt ein verzögertesEinsetzen von Beschwerden und Befundenvor, daher erscheint „Latenz“ zutreffender.Hierbei handelt es sich auch nicht um einen„Schock“ im Sinne einer psychischen Beein-trächtigung oder um eine Zunahme von in-itial bereits vorhandenen Beschwerden.Vielmehr können die Betroffenen meist na-hezu auf die Minute genau den Beginn vonBeschwerden und Funktionsminderung

91

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4.3.8 Das Schleudertrauma Schmerzen am Bewegungsapparat

40 Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11

angeben. Die meisten von ihnen verhaltensich bis dahin geordnet.

18. Eine solche Latenz ist für eine Distorsionim Sinne einer Hyperextension im Bereichder Halswirbelsäule ganz ungewöhnlich,ebenso wie das Auftreten solcher Verlet-zungen unabhängig von der Richtung dereinwirkenden Kraft. Auch paßt die offen-sichtliche Abhängigkeit vom Trainingszu-stand (s. Formel-1-Rennsport) nicht zu ei-ner solchen Distorsion.

Eine Distorsion im Sinne einer Extensionkann aus anatomischen Gründen nur beimHeckaufprall und schlecht angepassterKopfstütze vorkommen.

19. In bisher nicht verständlichen Fällen mitLatenz, ohne Strukturschäden und mit un-geklärt protrahiertem Verlauf können beieinem Teil der Fälle Weichteil-Veränderun-gen beobachtet werden, die mit bekanntenPhänomenen beim sog. unspezifischenchronischen Rückenschmerz übereinstim-men. Es handelt sich um eine Reduzierungder Muskelmaximalkraft, der Muskelaus-dauer, der Muskellänge und der muskulä-ren Koordination. Diese Muskelfunktions-störungen äußern sich in klinischen Befun-den (s. 7.) und gehen mit einer verminder-ten Leistungsfähigkeit und Belastbarkeiteinher, was sich in geeigneten Untersu-chungen erfassen lässt (z.B. EFL), zudem mitSchmerzen.

20. Bei Untrainierten reichen wenige Tageder (schmerzbedingten oder gar verordne-ten) Ruhigstellung, um einen solchen Pro-zess in die muskuläre Insuffizienz anzusto-ßen.

21. Psychologische Grundlage kann einLernprozess sein, der sich im Sinne einerangstvollen Vermeidenshaltung entwi-

ckelt: Bewegung und Aktivität werden im-mer wieder als schmerzauslösend undschmerzverstärkend erlebt und schließlichimmer mehr vermieden.

22. Als Anstoß für diese Entwicklung er-scheint ein aus der Sportphysiologie gutbekanntes Phänomen geeignet, nämlichdie „spupramaximale exzentrische Muskel-kontraktion“: Gerade bei Untrainierten rea-giert ein angespannter Muskel im Falle derpassiven Dehnung unterhalb von Muskel-zerrung oder Muskelfaserriss Stunden spä-ter mit einer Stoffwechselaktivierung, wasmit (NMR gesicherter) vermehrter Wasser-aufnahme sowie Schwellung und vermin-derter Funktion, verminderter Dehnbarkeitund Schmerzen bei Dehnung und Druck-palpation einhergeht.

23. Die Dehnung der Nackenmuskeln imangespannten Zustand bei Pkw-Unfällenist durch Befunde der Unfallanalyse belegt:Über den Pkw-Sitz auf Rumpf und Gesäßübertragene Be- bzw. Entschleunigungenführen reflektorisch 60 msec nach einemsolchen Impuls zur Anspannung der Na-ckenmuskeln, bevor wiederum 30 msecspäter die Kopfbewegung beginnt.

24. Wird diese lästige, aber häufige undharmlose Muskelfunktionsstörung mit Ru-higstellung behandelt, kann sich der obendargestellte Chronifizierungsprozess ein-stellen.

25. Damit wird nicht nur die Latenz ver-ständlich, sondern auch die Abhängigkeitdieser Verletzungen vom Trainingszustandund auch die offensichtliche Unabhängig-keit von der Krafteinwirkungsrichtung.

26. Dieses Modell taugt nicht als Erklärungfür die weniger häufigen Fälle von leichterVerletzung und sofortigen Schmerzen.

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Schmerzen am Bewegungsapparat Das Schleudertrauma 4.3.8

Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11 41

Wahrscheinlich handelt es sich um andereWeichteilbeeinträchtigungen an Muskeln,Bändern, Gelenken, ohne dass normale all-tägliche Bewegung, so gut es die Schmer-zen zulassen, zu einer Gefährdung der Pati-enten führen können. Ob man auch für die-se, keinesfalls mit einer Hyperextensionvergleichbaren Beeinträchtigungen denBegriff „Distorsion“ verwendet, ist eine Fra-ge der Definition. Jedenfalls reichen dieVeränderungen auf keinen Fall als Begrün-dung für eine Ruhigstellung aus.

Behandlung

27. Die Rolle des Arztes entspricht nicht dereines Anwaltes oder Fürsprechers, sondernder Arzt hilft dem Patienten, das vereinbar-te Therapieziel, die Reintegration, soschnell und so vollkommen wie möglich zuerreichen. Hierfür ist eine genügende Wie-derherstellung der Funktion wesentlicheVoraussetzung, nicht aber völlige Be-schwerdefreiheit.

28. Der Arzt muss sich in der Führung desKranken zwischen Ruhigstellung der HWSund Ermunterung zu weiterer Aktivität, sogut es geht, entscheiden. Dabei sollte dieRuhigstellung nie als nicht näher begrün-dete Vorsichtsmaßnahme gewählt werden,vielmehr muss das erhebliche Chronifizie-rungsrisiko bedacht werden. Besteht keineStrukturschädigung, so ist selbst bei erheb-lichen Schmerzen eine solche Ruhigstel-lung nicht notwendig.

29. Therapieziele des Frühmanagementssind Erhaltung von Aktivität und Muskelsta-tus sowie Begrenzung der Schmerzen. DerPatient ist ernst zu nehmen, dann aberauch beschwichtigend zu informieren.

30. Bei allen diagnostischen und therapeu-tischen Maßnahmen ist von Anfang an das

Risiko einer Chronifizierung mit zu berück-sichtigen, sie kann durch somatische wiepsychische Fehlbehandlung begünstigt,durch geeignete Maßnahmen vermindertwerden.

Körperlich kann sich eine rasch einsetzendeDekonditionierung der Muskulatur entwi-ckeln; psychisch verstärken ein unange-messenes Krankheitskonzept und Kontroll-überzeugungen des Betroffenen, wenn ereine erhebliche Verletzung befürchtet, dieKrankenrolle und die Inaktivität. Die angst-volle Vermeidenshaltung (Fear AvoidanceBelief) des Patienten und evtl. des Arztes/Therapeuten sind die wichtigsten psycho-logischen Faktoren für eine Chronifizie-rung, deren somatisches Substrat sich inTrainingsverlust und Unterforderung derMuskulatur, dann Verringerung der Maxi-malkraft und Verringerung von Ausdauer-leistung (z.B. alle Haltearbeit) zeigt,Schmerzen treten dann immer häufiger,immer früher, immer stärker auf („Immobi-litätsschmerz“) infolge muskulärer Insuffizi-enz und können chronifizieren.

31. Bei biopsychosozialen Risikofaktoren(„gelben Flaggen“) ist das Chronifizierungs-risiko erhöht.

32. Die Therapie in den ersten Tagen nachAusschluss einer schweren Verletzung (s.o.)besteht aus Information, Zuspruch undSchmerzmanagement. Das Schmerzma-nagement besteht aus oralen Stufe-1-Anal-getika, passagerer lokaler Eisanwendungund Anhalten zur Aktivität soweit möglich.

33. Wenn die Primärdiagnostik keine zwin-gend mit Immobilisation zu verbindendeInformation erbracht hat, gibt es keine Indi-kation, Bewegungen weiter einzuschrän-ken, als die Betroffenen es von selbstschmerzbedingt tun. Es gibt auch keinen

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4.3.8 Das Schleudertrauma Schmerzen am Bewegungsapparat

42 Aktuelle Schmerztherapie – 11. Erg.Lfg. 05/11

Grund, eine vollkommene Ausschaltungvon Schmerzen als Therapieziel auszuge-ben.

34. Die Betroffenen sind in diesem Stadiumnicht voll belastbar. Es ist nicht möglich,das normale Ausheilen durch Betäubungzu beschleunigen.

35. Gleiches gilt für alle anderen Maßnah-men zur Ausschaltung des Schmerzes (In-jektionen, Manipulationen). Davon zu tren-nen sind schmerzlindernde Maßnahmenwie Kälte und orale Stufe-1-Analgetika.

36. Die psychische Führung der Patientenist gekennzeichnet von Empathie wegender unangenehmen Befindlichkeitsstörun-gen und der Funktionseinschränkungen,nimmt bei fremdverschuldeten UnfällenRücksicht auf die erlebte Kränkung, ist aberebenso geprägt von Zuversicht wegen derGutartigkeit der zugrunde liegenden Stö-rung.

37. Therapieresistenz ist ab drei Monatenanzunehmen. Der dann drohenden Chroni-

fizierung ist auf allen Ebenen entgegenzu-wirken.

Begutachtung

38. Die Begutachtung kennt eigene Frage-stellungen, aber keine eigenen Regeln zueiner Diagnose. Eine Diagnose wird in derBegutachtung nach den Erkenntnissen derklinischen Medizin gestellt.

39. Die gutachterliche Beurteilung des Un-fallzusammenhangs erfolgt nach den Re-geln der traumatologischen Begutachtung.

40. Die zu beobachtenden Weichteil-Verän-derungen sind nicht verletzungsspezifisch,d.h. sie kommen als Verletzungsfolge, aberauch anders bedingt vor.

41. „Vorstellbarkeit“ oder „Harmlosigkeits-grenze“ sind keine in der klinischen Diag-nostik etablierten Kriterien zur Bestätigungoder zum Ausschluss einer Diagnose. Siesind daher auch in der Begutachtung hier-für nicht geeignet.

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Quelle: Kügelgen, B. (2011). Das Schleudertrauma – ein lösbares Problem. In: Kress, H. G. (Hrsg.), Aktuelle Schmerztherapie - Standards und Entwicklungen. ecomed Medizin, Landsberg.