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Durchblick-Filme – Bundesverband Jugend und Film e.V. Das DVD-Label des BJF Ostbahnhofstr. 15 60314 Frankfurt am Main Tel. 069-631 27 23 E-Mail: [email protected] www.durchblick-filme.de www.BJF.info Durchblick 8+ Kauwboy Boudewijn Koole Niederlande 2012 78 Min. 5. Filmbildung mit „Kauwboy“ „Kauwboy“ ist ein eindrucksvoller Film, der die schweren Themen Tod und Trauer in den Mittelpunkt stellt und sehr kindgerecht und auf Augenhöhe mit dem zehnjährigen Protago- nisten Jojo davon erzählt, wie dieser nach dem Verlust seiner Mutter wieder einen Weg ins Leben findet und ein hoffnungsvoller Neuanfang möglich ist. Sehr vielschichtig zeigt der Film von Boudewijn Koole, der mit zahlreichen wichtigen Preisen ausgezeichnet wurde, diesen Entwicklungsprozess, der sich in verschiedenen Schritten vollzieht und von der Flucht in eine Fantasiewelt über die Übernahme von Verantwortung bis hin zum Halt durch andere Men- schen und zum Akzeptieren der neuen Situation reicht. Indem Koole stets sehr nahe bei Jojo bleibt, ermöglicht der Film gute Identifikationsmöglich- keiten – sogar wenn Jojo aus der Rolle fällt und über die Stränge schlägt. Die klare Farb- dramaturgie unterstreicht dabei konsequent die melancholische Stimmung und vermittelt visuell einen guten Eindruck, wie Jojo sich fühlt und wie es in ihm aussieht. Auf einfache Lösungen verzichtet „Kauwboy“ – und trotzdem gelingt es ihm, sein Publikum mit einer positiven Botschaft zu entlassen. Die folgenden Kapitel stellen ausgewählte Themen des Films sowie Besonderheiten der filmischen Gestaltung vor. Unter den jeweiligen Themenblöcken finden Sie Verweise zu Arbeitsblättern, die Anregungen zur Auseinandersetzung mit den jeweiligen Aspekten bieten. Einige Arbeitsblätter sind mehreren Themen zugeordnet, wenn sie sich etwa sowohl auf inhaltliche als auch auf filmgestalterische Aufgaben beziehen. Die Abfolge der inhaltlichen Themen orientiert sich vor allem an der Dramaturgie des Films. Da der Tod der Mutter am Anfang von „Kauwboy“ noch nicht offensichtlich ist, steht zunächst die Einsamkeit von Jojo im Vordergrund. Erst an letzter Stelle folgt das Thema der Trauerverarbeitung. Die Themen- blöcke versuchen so, den Entwicklungsprozess von Jojo zu spiegeln. Abweichend davon ist es jedoch empfehlenswert, die Besprechung von „Kauwboy“ mit einer Aufgabe einzuleiten, die den Schülerinnen und Schülern zunächst Raum lässt, um ihre Ge- fühle zu äußern: Methodischer Vorschlag für die Einleitung der Nachbesprechung Am Anfang ist alles dunkel. Und am Ende? „Am Anfang ist überhaupt nichts – nur Schwarz.“ Mit diesem Satz beginnt „Kauwboy“ – und dieser kann auch als Einleitung zu einem Gespräch nach dem Film dienen. Denn wie sieht es am Ende in Jojos Welt aus? Ist immer noch alles so dunkel? Oder ist es heller ge- worden? Handelt es sich um ein zuversichtliches oder gar glückliches Ende, weil Ronald und Jojo gemeinsam und ausgelassen im Auto zu sehen sind? Oder überwiegt die Trauer um Jojos Mutter und die Dohle? Vor der Filmsichtung werden an alle Schülerinnen und Schüler zwei kleine Karten (DIN A 5) ausgeteilt. Eine Karte ist vollständig schwarz, eine vollständig weiß. Nach dem Film werden die Schülerinnen und Schüler gebeten, mit den Farbkarten ihre Meinung zu zeigen: Schwarz steht für eine eher traurige Stimmung, weiß für ein eher hoffnungsvolles Ende. Wer sich nicht entscheiden kann, darf auch beide Karten zeigen. 1

5. Filmbildung mit „Kauwboy“ - durchblick-filme.de · Fantasiewelt über die Übernahme von Verantwortung bis hin zum Halt durch andere Men-schen und zum Akzeptieren der neuen

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Durchblick-Filme – Bundesverband Jugend und Film e.V.

Das DVD-Label des BJF Ostbahnhofstr. 1560314 Frankfurt am Main

Tel. 069-631 27 23E-Mail: [email protected]

www.durchblick-filme.de www.BJF.info

Durchblick 8+ – Kauwboy – Boudewijn Koole – Niederlande 2012 – 78 Min.

5. Filmbildung mit „Kauwboy“

„Kauwboy“ ist ein eindrucksvoller Film, der die schweren Themen Tod und Trauer in den Mittelpunkt stellt und sehr kindgerecht und auf Augenhöhe mit dem zehnjährigen Protago-nisten Jojo davon erzählt, wie dieser nach dem Verlust seiner Mutter wieder einen Weg ins Leben findet und ein hoffnungsvoller Neuanfang möglich ist. Sehr vielschichtig zeigt der Film von Boudewijn Koole, der mit zahlreichen wichtigen Preisen ausgezeichnet wurde, diesen Entwicklungsprozess, der sich in verschiedenen Schritten vollzieht und von der Flucht in eineFantasiewelt über die Übernahme von Verantwortung bis hin zum Halt durch andere Men-schen und zum Akzeptieren der neuen Situation reicht.

Indem Koole stets sehr nahe bei Jojo bleibt, ermöglicht der Film gute Identifikationsmöglich-keiten – sogar wenn Jojo aus der Rolle fällt und über die Stränge schlägt. Die klare Farb-dramaturgie unterstreicht dabei konsequent die melancholische Stimmung und vermittelt visuell einen guten Eindruck, wie Jojo sich fühlt und wie es in ihm aussieht. Auf einfache Lösungen verzichtet „Kauwboy“ – und trotzdem gelingt es ihm, sein Publikum mit einer positiven Botschaft zu entlassen.

Die folgenden Kapitel stellen ausgewählte Themen des Films sowie Besonderheiten der filmischen Gestaltung vor. Unter den jeweiligen Themenblöcken finden Sie Verweise zu Arbeitsblättern, die Anregungen zur Auseinandersetzung mit den jeweiligen Aspekten bieten.Einige Arbeitsblätter sind mehreren Themen zugeordnet, wenn sie sich etwa sowohl auf inhaltliche als auch auf filmgestalterische Aufgaben beziehen. Die Abfolge der inhaltlichen Themen orientiert sich vor allem an der Dramaturgie des Films. Da der Tod der Mutter am Anfang von „Kauwboy“ noch nicht offensichtlich ist, steht zunächst die Einsamkeit von Jojo im Vordergrund. Erst an letzter Stelle folgt das Thema der Trauerverarbeitung. Die Themen-blöcke versuchen so, den Entwicklungsprozess von Jojo zu spiegeln.

Abweichend davon ist es jedoch empfehlenswert, die Besprechung von „Kauwboy“ mit einer Aufgabe einzuleiten, die den Schülerinnen und Schülern zunächst Raum lässt, um ihre Ge-fühle zu äußern:

Methodischer Vorschlag für die Einleitung der Nachbesprechung

Am Anfang ist alles dunkel. Und am Ende?

„Am Anfang ist überhaupt nichts – nur Schwarz.“ Mit diesem Satz beginnt „Kauwboy“ – und dieser kann auch als Einleitung zu einem Gespräch nach dem Film dienen. Denn wie sieht es am Ende in Jojos Welt aus? Ist immer noch alles so dunkel? Oder ist es heller ge-worden? Handelt es sich um ein zuversichtliches oder gar glückliches Ende, weil Ronald und Jojo gemeinsam und ausgelassen im Auto zu sehen sind? Oder überwiegt die Trauer um Jojos Mutter und die Dohle?

Vor der Filmsichtung werden an alle Schülerinnen und Schüler zwei kleine Karten (DIN A 5)ausgeteilt. Eine Karte ist vollständig schwarz, eine vollständig weiß. Nach dem Film werden die Schülerinnen und Schüler gebeten, mit den Farbkarten ihre Meinung zu zeigen: Schwarz steht für eine eher traurige Stimmung, weiß für ein eher hoffnungsvolles Ende. Wer sich nicht entscheiden kann, darf auch beide Karten zeigen.

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Für alle wird damit sichtbar, wie der Film wahrgenommen wurde. Wer möchte, darf danach sagen, warum er sich für die schwarze oder die weiße Karte entschieden hat. Die Antwortender Schülerinnen und Schüler dienen als Impulse für ein Gespräch, in dem vor allem die letzte Szene des Films besprochen werden sollte. Denn was bedeutet diese für Jojo? Wie wird sich sein Vater ihm gegenüber nun verhalten? Wird er ihm wieder nicht zuhören oder ihn wegschicken, wenn er seine Nähe braucht? Wie wird Ronald in Zukunft reagieren, wennJojo sich an seine Mutter erinnern möchte?

Die Themen im Überblick

Inhalt/ Filmhandlung Einsamkeit und der Wunsch nach Zuneigung

Arbeitsblatt: Jojos Wünsche

Arbeitsblatt: Jojo und sein Vater

Arbeitsblatt: Wie Jojo die Welt sieht

Filmausschnitt: Jojo legt sich neben seinen Vater

Filmausschnitt: Jojos Vater kocht

Liebe, Fürsorge und Verantwortung

Arbeitsblatt: Jojo und die Dohle

Arbeitsblatt: Jojo und Yenthe

Filmausschnitt: Jojo und Yenthe

Trauer und Trauerbewältigung

Arbeitsblatt: Trauer

Arbeitsblatt: Jojo und sein Vater

Arbeitsblatt: Jojo und die Dohle

Arbeitsblatt: Jojo und Yenthe

Arbeitsblatt: Jojo sucht Trost

Filmische Gestaltung/Filmsprache

Dramaturgie (kann durch die Reihenfolge thematisiert werden, in der die Arbeitsblätter bearbeitet werden)

Farbgestaltung Arbeitsblatt: Wie Jojo die Welt sieht

Momentaufnahmen Arbeitsblatt: Jojo und sein Vater

Arbeitsblatt: Jojo und Yenthe

Filmausschnitt: Jojo legt sich neben seinen Vater

Filmausschnitt: Jojo spielt

Filmausschnitt: Jojo und Yenthe

Cadrage Arbeitsblatt: Bildgestaltung

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Themen

Einsamkeit und der Wunsch nach Zuneigung

„Am Anfang ist überhaupt nichts – nur Schwarz“, heißt es zu Beginn des Films aus dem Off. Erst danach sind Ronald und sein Sohn Jojo zu sehen. Aber ihr Gespräch dauert nicht lange.Schon muss der Vater sich auf den Weg zur Arbeit machen. Zwar folgt ihm Jojo noch ein Stück – die beiden haben es sich zum Ritual gemacht, dass Jojo einen bestimmten Punkt auf einer Brücke schneller zu Fuß erreichen muss als der Vater mit dem Auto – aber schließlich ist er doch allein.

Von Anfang an wird deutlich, dass dieser Junge vor allem auf sich selbst gestellt ist. „Kauwboy“ ist kein Film über Freundschaft oder Kinderbanden, sondern vor allem über das Gefühl der Einsamkeit. Gleichaltrige Freunde scheint Jojo nicht zu haben. Ganz überrascht ist Jojos Vater, als er ihn eines Tages zusammen mit Yenthe sieht. Bemerkenswert ist jedoch, dass Jojo sich nicht darüber beklagt, oft allein zu sein. Er hat sich damit abgefunden,für sich selbst zu sorgen und sich zu beschäftigen.

Eher unterschwellig spiegeln sich Jojos wahre Gefühle – etwa in den vermeintlichen Tele-fonaten mit seiner Mutter. Dabei beantwortet Jojo keine Fragen, sondern spricht sich viel-mehr aus und bringt zum Ausdruck, wie er sich seine Welt wünscht. Oft deuten gerade die offensichtlichen Widersprüche darauf hin: Von dem heiteren Zusammenleben mit dem Vater während der Abwesenheit der Mutter, von dem Jojo in den Telefonaten erzählt, war im Film nichts zu sehen. Im Gegenteil: Als Jojo sich eines morgens ins Schlafzimmer seiner Eltern schleicht und sich an seinen Vater kuschelt, wird er von diesem fortgeschickt. Und das schöne Essen, dass der Vater angeblich für beide gekocht hat, ist in Wahrheit auf dem Boden gelandet. Jojo beschönigt die Lage in den fiktiven Gesprächen mit der Mutter, indem er die triste Wirklichkeit ignoriert oder ausblendet. Seine Einsamkeit kommt nicht zur Sprache. Jojo blendet sie ebenso aus wie den Verlust seiner Mutter.

Das Verhältnis zwischen Jojo und seinem Vater wiederum ist vor allem geprägt durch Sprachlosigkeit. Seit dem Tod seiner Frau hat sich Ronald zurückgezogen und weiß nichts mehr zu sagen. Nach der Arbeit setzt er sich vor den Fernseher und sieht sich Tier-dokumentarfilme an, mit Jojo redet er nur wenig. Besonders deutlich wird dies in der Szene, in der Jojo von einem siegreichen Wasserballspiel zurückkommt. Jojo hat gut gespielt und wurde dafür im Mannschaftsbus bereits gefeiert. Als er zu Hause dieselbe Situation noch einmal beschreibt, reagiert sein Vater kaum. Jojo fühlt sich ignoriert und allein gelassen – auch wenn der Vater es nicht böse meint und der Film keinen Zweifel daran lässt, dass er seinen Sohn wirklich liebt.

► Arbeitsblatt: Jojos Wünsche

► Arbeitsblatt: Jojo und sein Vater

► Arbeitsblatt: Wie Jojo die Welt sieht

► Filmausschnitt (siehe Videoebene): Jojo legt sich neben seinen Vater

► Filmausschnitt: Jojos Vater kocht

Liebe, Fürsorge und Verantwortung

Für Jojo bietet der Fund des Dohlenkükens eine Möglichkeit, selbst in eine verantwortungs-volle Rolle zu schlüpfen. Symbolisch übernimmt Jojo für die Dohle, die aus dem Nest ge-fallen ist, die Mutterrolle und bietet ihr Schutz und Liebe. In der Beziehung zwischen Jojo undseiner Dohle wird anschaulich, was dem Jungen zu Hause fehlt und was er sich wünscht. So, wie Jojo sich um die Dohle kümmert, würde er selbst gerne umsorgt werden. Zugleich

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kann er sich auch gut mit dem Küken identifizieren. Denn auch dieses ist verwaist und auf Hilfe angewiesen.

Wie einen Freund behandelt Jojo den Vogel, dem er den Namen Jack gibt, als er diesen zunächst durch die Wohnung führt, ihm das Schlafzimmer der Eltern, das Badezimmer und sein eigenes Zimmer zeigt und ihm Lieder seiner Mutter auf der Stereoanlage vorspielt. Jojo gefällt die Vorstellung, mit Jack von nun an einen „Freund fürs Leben“ zu haben. Dass er damit die Regel seines Vaters – „Tiere gehören ins Freie!“ – missachtet, nimmt Jojo in Kauf. Die Dohle ist nur ein weiteres Geheimnis, von dem der Vater nichts wissen soll.

Eine Hilfe bei der Überwindung von Jojos Einsamkeit ist auch Yenthe. Jojo verliebt sich in das Mädchen und schenkt ihr sogar einen Ring. Eine besonders schöne Szene des Films zeigt die beiden Kinder an einem Nachmittag im Freien. Sie spielen im hohen Gras Ver-stecken und liegen später nahe beieinander. Worte sind hier nicht notwendig. Diese Nähe gibt Jojo neuen Halt und die Liebe, die er seit dem Tod seiner Mutter so sehr vermisst.

Während Jojo sowohl zu Yenthe eine enge Beziehung aufbaut als auch Jack liebevoll auf-zieht, hält Jojos Vater seit dem Tod der Mutter jeden auf Distanz. Er will niemanden zu nahe an sich heranlassen, um nicht verletzt zu werden, wenn dieser plötzlich nicht mehr da ist. Dies zeigt sich zum einen, als er Jojo aus dem Schlafzimmer schickt, aber auch, als er Jojos Dohle entdeckt. Jack muss lernen, vor Menschen Angst zu haben, um zu überleben, erklärt er seinem Sohn. Abstand ist sicherer als Nähe, glaubt Jojos Vater lange Zeit – und merkt dabei nicht, wie sehr man sich dadurch auch selbst schaden kann.

► Arbeitsblatt: Jojo und die Dohle

► Arbeitsblatt: Jojo und Yenthe

► Filmausschnitt (siehe Videoebene): Jojo und Yenthe

Verzweiflung, Trauer und Trauerbewältigung

Wir erfahren in „Kauwboy“ nicht, wann und wodurch Jojos Mutter gestorben ist. Stattdessen zeigt der Film, welche Lücke sie im Leben von Jojo und ihrem Mann Ronald hinterlassen hat.Jojo leidet sehr unter dem Verlust und hat seither in einer Art Fantasiewelt Zuflucht gesucht. Er will den Tod nicht wahrhaben und stellt sich vor, seine Mutter sei nur auf Tournee. Diese Situation kennt Jojo. Wenn sie früher nicht da war, wusste Jojo, dass sie wiederkommen würde – und dieser Gedanke spendet ihm nun auch Trost. So weit geht Jojos Fantasie, dasser sogar mit ihr telefoniert und schließlich auch eine Geburtstagsfeier für sie plant. Gerade dies jedoch empfindet Jojos Vater als noch schmerzhafter. Während Ronald versucht, sich mit dem Tod seiner Frau abzufinden, beschwört sein Sohn sie geradezu immer wieder herbei.

Umso schlimmer ist es für Jojo, als Yenthe ihm erzählt, dass sie vom Tod seiner Mutter wisse und ihn damit aus seiner Traumwelt reißt. Wütend gibt Jojo ihr eine Ohrfeige. Denn plötzlich wird damit die heile Welt, die er um sich errichtet hat, wieder in Frage gestellt. An jenem Abend wird er vor dem Haus stehen, in dem Yenthe mit ihrer Mutter wohnt. Yenthes Mutter deckt anscheinend gerade in dem in warmen Farben erstrahlenden Wohnzimmer denTisch. Eine Welt voller Geborgenheit, die Jojo nicht mehr kennt – und die er sehr vermisst.

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Nach dieser Konfrontation gelingt Jojo auch die Flucht in die Fantasiewelt nicht mehr. Am anderen Ende der Telefonleitung ist zum ersten Mal auch für den Zuschauer das Freizeichenzu hören. Das Publikum sieht nun die Welt, wie sie wirklich ist – und nicht mehr nur, wie Jojo sie sich erträumt. Umso emotionaler ist die nächste Szene, weil sie zeigt, wie Jojo sich an seiner Traumwelt festhält: Jojo backt fröhlich einen Kuchen, während im Hintergrund ein Lieder seiner Mutter zu hören ist und singt seinem Vater später trotzig ein Geburtstagslied für seine Mutter entgegen, mit dem er darauf pocht, dass sie in seiner Welt noch lebt.

„Kauwboy“ zeigt aber nicht nur, wie Jojo die Realität verdrängt, sondern macht auch immer wieder die innere Anspannung deutlich, die in ihm – und in seinem Vater – herrscht und sich in kurzen aggressiven Ausbrüchen ihren Weg bahnt. Aus einem spielerischen Raufen wird plötzlich eine handfeste Auseinandersetzung, nach einem Foul beißt Jojo einen Team-kameraden beim Wasserballspiel ins Bein, als sein Vater ihm verbietet, Jack zu behalten, erschießt Jojo ihn symbolisch mit seinen Spielzeugsoldaten und als Jack in die Speichen seines Fahrrads fliegt und stirbt, würde Jojo am liebsten einen Stein auf das Auto seines Vaters werfen. Die Wutausbrüche sind unbequem, manchmal fast beängstigend. Aber trotz-dem wird spürbar, dass vor allem Verzweiflung die Ursache dafür ist. Und schließlich reagiertauch Jojos Vater oft nicht anders. Nachdem Jojo beim Versuch, Wäsche zu waschen, seine Arbeitsuniform ruiniert hat, schlägt er ihn. Einmal wirft er beim Kochen die Sauce an die Wand und die Nudeln auf den Boden. Ein anderes Mal setzt er sich in sein Auto und fährt wild durch die Gegend.

Jojo Jojos Vater

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Ausgerechnet der Tod der Dohle hilft Jojo schließlich, seine Trauer zu überwinden. Dadurch muss er sich dem Tod noch einmal stellen. Noch einmal muss er jemanden beerdigen, der ihm sehr wichtig war. Aber Jacks Tod bringt auch Jojo und seinen Vater einander wieder näher. Am Ende des Films steht die Hoffnung, dass die Zeit der Sprachlosigkeit und des Schweigens nun überwunden ist und dass beide einen gemeinsamen Weg finden, um zu trauern.

► Arbeitsblatt: Trauer

► Arbeitsblatt: Jojo und sein Vater

► Arbeitsblatt: Jojo und die Dohle

► Arbeitsblatt: Jojo und Yenthe

► Arbeitsblatt: Jojo sucht Trost

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Die filmische Gestaltung

Filme erzählen ihre Geschichten nicht nur durch die Dialoge und die Handlungen der Figuren, sondern vor allem auch durch die Art und Weise, wie die verschiedenen Szenen in Bilder umgesetzt und mit Geräuschen und Musik untermalt werden. Zu der filmischen Ge-staltung zählen zum einen die offensichtlichen Bildinhalte: So vermittelt beispielsweise die Ausstattung schon viel über die Situation oder die Kostüme über den Charakter einer Figur. Zum anderen ist bedeutsam, aus welcher Perspektive oder aus welcher Nähe beziehungs-weise Distanz (Einstellungsgrößen) eine Figur aufgenommen wurde. Weitere Hinweise und Bedeutungsebenen erschließen sich über die Abfolge der verschiedenen Einstellungen und Szenen aufeinander (Schnitt beziehungsweise Montage), die Farbgebung, den Einsatz von Licht und Schatten, die Musikuntermalung und das Sounddesign oder auch die Art und Weise, wie das Bild aufgeteilt ist (Cadrage). Für die medienpädagogische Filmanalyse ist es nicht nur wichtig, filmsprachliche Mittel erkennen zu können, sondern vor allem auch, für deren Wirkungsweisen zu sensibilisieren. Themen und Gestaltungsmittel eines Films sind dabei nie zu trennen, sondern ergänzen sich.

Die folgenden Unterkapitel stellen eine Auswahl auffälliger Gestaltungsmerkmale von „Kauwboy“ sowie deren Bedeutungen oder Wirkungen vor.

Dramaturgie

„Kauwboy“ lässt sich voll und ganz auf die Perspektive von Jojo ein und zeigt die Welt aus dessen Augen. Dies zeigt sich besonders dadurch, dass der Zuschauer lange Zeit nichts über den Tod von Jojos Mutter weiß und nur ahnen kann, dass etwas nicht stimmt. Denn für Jojo ist seine Mutter immer noch da – und der Film versucht glaubwürdig, diese Welt zu zeigen und den Zuschauer in Jojos Lage zu versetzen. Aber in Wirklichkeit hat sich der Junge in einer Fantasiewelt eingerichtet, die ihm hilft, mit der schwierigen Situation klarzu-kommen. Dazu gehört vor allem die Vorstellung, dass die Mutter gerade einmal wieder auf Tournee in den USA ist. Jojo kennt diese kurzzeitigen Trennungen anscheinend tatsächlich –und so ist dies für ihn eine plausible Erklärung. Erst als Yenthe diese Fantasiewelt brüchig werden lässt, erfährt das Publikum die Wahrheit. Damit wird „Kauwboy“ zu einem Beispiel fürdas so genannte „unzuverlässige Erzählen“, durch das in diesem Fall auch die emotionale Wirkung verstärkt wird. Danach verändert sich auch der Blick auf den Film. Das Gescheheneerscheint plötzlich in anderem Licht und erhält eine neue Bedeutung.

Farbgestaltung

Dass „Kauwboy“ die Perspektive von Jojo übernimmt, spiegelt sich auch in der Farb-gestaltung des Films. Denn Jojos Welt sieht anders und fremd aus. Fahl und trist wirken die blaustichigen, entsättigten Bilder, die an alte verblasste Fotoabzüge erinnern. Sogar eigent-lich warme Farben – etwa das Rot von Yenthes Bikinioberteil – kommen kaum zur Geltung und werden gedämpft. Durch die bewusste Veränderung der natürlichen Wahrnehmung er-öffnet der Film seinem Publikum einen direkten Zugang zu der Gefühlswelt von Jojo. Seit dem Tod der Mutter fehlt in seinem Leben die Farbe, alles wirkt matt und beklemmend. Dieses Gefühl überträgt sich damit auch auf die Zuschauer und prägt die Grundstimmung des Films, der auch in manchen glücklichen Momenten dieses Farbschema konsequent beibehält.

Wie stark die Farben der Bilder von einer realistischen Wahrnehmung abweichen, zeigt der folgende Vergleich. Links sehen Sie zwei Standbilder in den Originalfarben des Films. Auf der rechten Seite wurden diese digital bearbeitet und farbkorrigiert. Der Überschuss an Blautönen wurde abgesenkt, Rotanteile wurden hinzugefügt. Insbesondere die Hauttöne

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lassen die Unterschiede deutlich werden: Erst der höhere Rotanteil der Bilder lässt Jojo und Yenthe „gesund“ aussehen.

Standbilder in den Originalfarben Farbkorrigierte Standbilder

► Arbeitsblatt: Wie Jojo die Welt sieht

Momentaufnahmen

In vielen Szenen kommt „Kauwboy“ ohne Dialoge aus. Boudewijn Koole verlässt sich ganz auf das Spiel seiner Darsteller sowie die Kraft seiner Bilder, die durch ihre Gestaltung Geschichten erzählen und einen Einblick in Jojos Welt vermitteln. Manchmal greift Koole auf vollständig „eingefrorene“ Bilder zurück. Wir sehen Momentaufnahmen, die wie ein Schnappschuss wirken, die sich dadurch aus dem Fluss des Films lösen und in denen die Zeit für einen Moment still zu stehen scheint.

Diese Technik wird angewendet, als Jojo sich eines morgens zu seinem Vater ins Bett legt und dessen Arm schützend um sich hält. Wahrscheinlich dauert es nicht lange, bis sein Vater ihn wieder in sein eigenes Bett schickt. Aber durch die Standbilder wirken diese für Jojo so kostbaren Momente viel länger. Als er das Elternschlafzimmer verlassen muss, ist kurz ein Standbild seiner nackten Füße auf Fliesen zu sehen – ein Bild, das als Symbol für seine Enttäuschung und das Gefühl des Verlassenseins dient.

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Bei einem schlimmen Streit wird Jojo von seinem Vater geschlagen. Wir sehen dies nicht im Bild, sondern nur die Folgen. Auf Jojos Backe prangt beim Schwimmtraining ein großer blauer Fleck. Nachdem sein Vater sich entschuldigt hat, ist wieder eine Folge von Stand-bildern zu sehen, die Jojo beim Spielen im Freien zeigt und die mit dem Entzünden eines Streichholzes endet (ein Bild, das im Film häufig als Metapher für Vergänglichkeit eingesetzt wird). Dieser Aufnahmen konterkarieren die Aggression der vorangegangenen Szenen.

Am wichtigsten jedoch ist der Nachmittag mit Yenthe. An diesem Tag gelingt es dem Mädchen, Jojo von seiner Trauer abzulenken und ihm zu zeigen, dass er trotzdem nicht alleine ist. Umso intensiver wirkt diese Szene, weil hier nicht gesprochen wird. Hier wird nichtversucht, mit Worten die Handlung oder Gefühle zu erklären, sondern die Bilder sprechen fürsich und bringen auf den Punkt, was dieser Moment für Jojo bedeutet. Gerade in dieser Szene tragen die eingefrorenen Bilder noch einmal ganz deutlich dazu bei, einen in Wirk-lichkeit kurzen Augenblick zu dehnen und so dessen Wichtigkeit zu unterstreichen.

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► Arbeitsblatt: Jojo und sein Vater

► Arbeitsblatt: Jojo und Yenthe

► Filmausschnitt (siehe Videoebene): Jojo legt sich neben seinen Vater

► Filmausschnitt: Jojo spielt

► Filmausschnitt: Jojo und Yenthe

Cadrage

Nicht nur durch die gedämpften Farben vermittelt „Kauwboy“ ein Gefühl für die Situation von Jojo, sondern auch durch die Bildgestaltung. Auffallend oft werden die Bilder so kadriert, dass große Flächen ins Bild hineinragen. Einerseits wird dadurch die Aufmerksamkeit auf einen kleinen Teil des Bildes gelenkt. Andererseits ist damit allerdings auch eine symbo-lische Funktion verbunden: Denn visuell wird dadurch auch der Spielraum der Figuren ein-geschränkt. Sie haben keinen Platz, das Bild wirkt beengend und bedrückend – und dies trifftin „Kauwboy“ auch sehr gut auf Jojo und seinen Vater zu. Sie wirken eingeschlossen in ihrer Trauer.

► Arbeitsblatt: Bildgestaltung

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