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Band 3
Kölner Beiträge zu
Geschichte und Ethik der Medizin
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Ferdinand Peter Moog
Euripides und die Heilkunde9 783737 603409
ISBN 978-3-7376-0340-9ISBN 978-3-7376-0340-9
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar ISBN: 978-3-7376-0340-9 (print) ISBN: 978-3-7376-0341-6 (e-book) DOI: http://dx.medra.org/10.19211/KUP9783737603416 URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0002-403414 © 2017, kassel university press GmbH, Kassel www.upress.uni-kassel.de Umschlaggestaltung: Jörg Batschi Grafik Design, Kassel
3
VICTORIAE, GEORGIO ET MANIBUS PARENTUM
4
EURIPIDES UND DIE HEILKUNDE
INHALT
Danksagung S. 6-7
I. Einführung und Stand der Forschung S. 8-20
II. Belege des Vorkommens medizinischer Motive in den Tragödien des Euripides und der
Instrumentalisierung medizinisch-psychologischer Aspekte für das tragische
Bühnenspiel
II.1 Kyklops S. 21-25
II.2 Alkestis S. 26-38
II.3 Medeia S. 39-73
II.4 Die Herakliden S. 74-78
II.5 Hippolytos S. 79-108
II.6 Andromache S. 109-119
II.7 Hekabe S. 120-128
II.8 Die Hiketiden (Supplices) S. 129-134
II.9 Elektra S. 135-151
II.10 Herakles (Hercules furens) S. 152-187
II.11 Die Troerinnen (Troades) S. 188-194
II.12 Iphigenie auf Tauris (Iphigenia in Tauris) S. 195-209
II.13 Ion S. 210-225
II.14 Helena S. 226-228
II.15 Die Phoenissen S. 229-238
II.16 Orestes S. 239-277
II.17 Die Bacchen (Mänaden) S. 278-318
II.18 Iphigenie in Aulis (Iphigenia Aulidensis) S. 319-324
II.19 Rhesos S. 325-338
5
III. Die tragische Dichtung des Euripides vor dem Hintergrund von attischem
Dramenschaffen und hippokratischer Heilkunst
III.1 Die hippokratische Medizin zur Zeit der griechischen Klassik – Praxis
und Literatur S. 339-344
III.2 Die Medizin im Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts S. 345-355
III.3 Interferenzen von Medizin und Dichtung im klassischen Athen S. 356-359
III.4 Euripides - ein poeta doctus im klassischen Athen
a. Seine Persönlichkeit S. 360-363
b. Sein Wissen als konstituierende Komponente seines dramatischen
Schaffens am Beispiel der Heilkunst S. 364-373
IV. Zum Nachleben der euripideischen Dichtung in der medizinischen Fachliteratur -
Fragmente des Dichters und ausgewählte Testimonien von der Antike bis zur
Neuzeit S. 374-413
V. Conclusio S. 414-420
VI. English Summary S. 421-423
VII. Literatur S. 424-464
6
Danksagung
Eingangs möchte der Verfasser denjenigen danken, die ihm auf sehr verschiedene Weise die
Erstellung der vorliegenden Studie ermöglicht haben. Sie wurde unter dem Titel „Hippokrates und
Euripides - Interferenzen von dramatischer Dichtung und medizinischem Schrifttum“ 2005 in der
damaligen Fassung von der Hohen Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln als
Habilitationsschrift zur Erlangung der Venia legendi im Fache „Geschichte der Medizin“
angenommen.
An erster Stelle gilt mein Dank meinem verehrten akademischen Lehrer Herrn Universitätsprofessor
Dr. phil. Clemens Zintzen, der es mir ermöglicht hat, parallel zu meinem medizinischen Studium an
der Universität zu Köln eine fundierte Ausbildung in Klassischer Philologie zu erhalten. Er hat im
Rahmen seiner Vorlesung „Euripides“ und zweier Seminare zur Iphigenie in Aulis und zur Medeia
Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts mein Interesse an den Tragödien des Euripides
und speziell den Interaktionen mit der zeitgenössischen Heilkunst geweckt. In der Folgezeit hat er
meine diesbezüglichen Gedanken und Forschungen stets mit großem fachlichen Interesse und
liebenswürdiger Anregung begleitet. Auch in schwierigen Phasen hat er mir nie seinen Zuspruch
versagt und Wege der Lösung aufgewiesen. Insbesondere danke ich ihm für den Hinweis auf die
Kalkhof-Rose-Stiftung der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz, die die
entscheidende Phase der Abfassung mit einem großzügigen Stipendium dankenswerterweise
finanziert hat. Er hat mir auch wertvolle Korrekturvorschläge zukommen lassen.
Herr Universitätsprofessor Dr. med. Dr. phil. Klaus Bergdolt, hat mir im Institut für Geschichte und
Ethik der Medizin freundliche Aufnahme und vielfältige Forschungsmöglichkeiten gewährt und die
Mühe auf sich genommen, das Habilitationsverfahren als Betreuer an der Medizinischen Fakultät der
Universität zu Köln zu begleiten.
Als Gutachter stellte sich Herr Universitätsprofessor Dr. med. Dr. phil. Dr. h.c. Gundolf Keil, der die
interdisziplinäre Ausrichtung der Studie sehr begrüßte, gerne zur Verfügung.
Dankbar bin ich dem Institut für Geschichte und Ethik der Uniklinik Köln und insbesondere seinem
kommissarischen Leiter Herrn Professor Dr. med Axel Karenberg, der die Drucklegung jüngst
finanziell freundlich unterstützt hat.
S. E. Dr. phil. Georg Graf von Gries hat die Mühe auf sich genommen, die Studie sorgfältig
durchzuarbeiten und zu kommentieren. Er hat mir zahlreiche Verbesserungsvorschläge unterbreitet
und mich von etlichen Fehlern bewahrt.
7
Herr Diplom-Chemiker Dr. rer. nat. Reinhard Prinzen hat mir immer wieder als kundiger Kenner der
Informatik zur Seite gestanden und bei Problemen mit Hardware und Software findige Lösungen
aufgezeigt.
Schließlich gilt mein Dank meiner Familie, meiner leider im Jahre 2011 verstorbenen Mutter
Katharina, die durch unermüdliches Korrekturlesen sehr viel zum Gelingen der Habilitation
beigetragen hat, meiner Frau Victoria und meinem Sohn Georg. Sie haben mir die heimische
Atmosphäre gewährt, die zum Erstellen einer derartigen Studie vonnöten ist. Ganz besonders haben
sie es mit Gleichmut und Humor getragen, daß der Verfasser mit seinen Gedanken häufig weit weg
in der Welt der Antike weilte. Ihnen sei diese Studie daher gewidmet.
8
I. Einführung und Stand der Forschung
Medizin und Dichtung sind im Verständnis vieler Zeitgenossen zwei Dinge, die sich beinahe
diametral gegenüberstehen. Auf der einen Seite ist die auf den modernen Naturwissenschaften
fußende, evidenzbasierte und professionalisierte Heilkunde, auf der anderen steht die Dichtkunst, die
verbreitet nur mehr als Steckenpferd intellektueller Kreise und allenfalls unterhaltsam gilt.
Dichterzitate machen sich zwar immer noch gut auf dem Vorsatzblatt auch von Fachpublikationen,1
doch auf den folgenden Seiten sucht man den beschworenen Geist nicht selten vergebens. Dies gilt
auch für die Medizin, wo man bisweilen plakative Worte von Dichterärzten wie etwa Friedrich von
Schiller oder Anton Pawlowitsch Tschechow vorfindet, zugleich aber den Eindruck gewinnt, daß
dem Verfasser die Autoren und noch mehr ihre Werke nur mehr vom Hörensagen geläufig sind. Hier
spiegelt sich ein kultureller Wandel des 20. Jahrhunderts wider, der von manchen als Faunenschnitt
angesehen wird. Das verfügbare Wissen und damit auch das Wissen, das dem einzelnen abverlangt
wird, nimmt in der sogenannten Informationsgesellschaft so exponentiell zu, daß die Beschränkung
auf sich immer mehr spezialisierende Fachgebiete beinahe erzwungen wird. Folglich müssen
anderweitig Abstriche gemacht werden, und dies geschieht dort, wo ein unmittelbarer Nutzen nicht
sofort evident ist.
Dabei dürften die Beziehungen zwischen der Dichtkunst und der Medizin bis zu den Anfängen der
Menschwerdung und damit zum Beginn der Medizin an sich zurückgehen.2 Wenn man nämlich als
urtümlichste Form der Heilkunst die magische bzw. theurgische annehmen möchte, so steht außer
Frage, daß den Gebeten, Gesängen, Zaubersprüchen und Beschwörungsformeln, mit denen
heilspendende, höhere Mächte angerufen wurden, eine Form eigen war, die sich von der Sprache des
täglichen Lebens unterschied. Dies ist aber ein Beginn der Dichtkunst, wenn Worte nicht mehr
einfach so dahingesagt, sondern in besonderer Auswahl, Folge und Formulierung gefügt werden, so
daß ein neues Ganzes entsteht, das sich über die Alltagssprache erhebt und den sachlichen Gehalt der
bloßen Aussage weit hinter sich läßt. So gingen im Grunde bis in die Gegenwart Dichtkunst und
Heilkunst meist Seite an Seite durch die Jahrhunderte. Nicht zuletzt ist die Untersuchung des
Verhältnisses von Medizin und Dichtkunst auch das hohe Lied von der Bedeutung, Kraft und
Zaubermacht des Wortes. Die Sprache ist auch in der heutigen stark technisch-naturwissenschaftlich
ausgerichteten Medizin das wichtigste Instrument des Arztes und etwa im Bereich der Psychiatrie,
1 Euripideszitate finden sich in derartiger Verwendung etwa bei Mugler (1964) und Quecke (1972). 2 Vgl. den folgenden Gedankengang ausführlicher dargestellt als Einführung eines Gesamtüberblick über die
Interaktionen von Medizin und Dichtung im Altertum bei Moog (2004h).
9
erst recht aber der Psychotherapie, das wesentliche Therapeutikum.3 Sie ermöglicht die
Kontaktaufnahme zwischen Arzt und Patient und das gegenseitige Verstehen und Verstandenwerden
als wichtigste Voraussetzung für das „therapeutische Bündnis“. Den Griechen galten Menschen,
denen die , jene Dichter- bzw. Sehergabe im Sinne einer über das Normale hinausgehenden
Gottbegnadung oder Verzückung zu eigen war, als hervorgehobene, beinahe heilige Personen.4 Sie
hatten Beziehungen zu überirdischen Mächten und daher die Fähigkeit, zu schauen und zu blenden,
aufzutun und zu verhüllen, zu segnen und zu verfluchen, zu befreien und zu bannen, zu heilen und zu
verwunden. Daß damit eine ganz ursprüngliche und tiefgehende Beziehung gerade zu Krankheit und
Heilung gegeben war, liegt auf der Hand. Ähnliches läßt sich bei zahlreichen Völkern und Kulturen
beobachten.5 Erst in der Zeit der zunehmend naturwissenschaftlich und technisch beherrschten
Medizin der letzten hundert Jahre hat sich dies gewandelt. Doch auch im Zeitalter der
hochspezialisierten Medizin, der vielfach säkularisierten Welt und des „mündigen“ Patienten hat
gerade die Dichtkunst ihre unbestreitbaren Stärken. Aus zahlreichen entsprechenden
Verlautbarungen seien beispielhaft drei besonders prägnante angeführt.
Erwin Strittmatter sah zwischen Wissenschaft und Dichtung keinen Unterschied: „In jedem wahren
Wissenschaftler ist ein Dichter verborgen, und in jedem wahren Dichter ein Wissenschaftler, und
wirkliche Wissenschaftler wissen, daß ihre Hypothesen poetische Vorstellungen sind, und wirklichen
Dichtern ist bewußt, daß ihre Vorahnungen unausgesprochene Hypothesen sind.“6 William
Sommerset Maugham7 hob den Wert autoptischer medizinisch-psychologischer Kenntnisse für den
Literaten hervor: „Ich kenne keine bessere Schulung für den Schriftsteller, als einige Jahre den Beruf
eines Arztes auszuüben.“8 Das wohl schönste Kompliment der Heilkunst an die Dichtkunst stammt
von dem Medizinhistoriker Heinrich Schipperges: „Vielleicht sind es die Dichter und Denker, die in
großen Umrissen, aber auch in der vollen Dichtigkeit am ehesten noch eine Sinngestalt vom
Kranksein zu entwerfen in der Lage sind.“9
3 Vgl. hierzu grundsätzlich Moog (2003c), Sp. 379f. 4 Letztlich gar eine Apotheose der Seher, Dichter und Ärzte postuliert der gelehrte Selbstdarsteller Empedokles von
Akragas im Fragment Diels / Kranz 31 B 146. Vgl. auch Finckenstein (1864), S. 9. Inwieweit Empedokles damit auf seine eigene Person abheben wollte, sei dahingestellt. Vgl. zu seiner bizarren Persönlichkeit ausführlich Moog (2004j).
5 So beobachtet Meid (1974), besonders S. 30, die hohe Wertschätzung der Dichter im alten Irland, die in der gesellschaftlichen Schichtung mit Ärzten, Rechtsgelehrten und manchen Kunsthandwerkern zur Klasse der „begabten Leute“ zählten. Dies beruhte auf keltischen Traditionen.
6 Zit. n. Radunskaja (1986), S. 179f. 7 Er hatte in Heidelberg und London Medizin studiert und dürfte daher aus eigener Erfahrung sprechen. 8 Zit. n. Schaller (2000). 9 Schipperges (1988), S. 139.
10
Eine besondere, für das Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts prägende Form der Dichtung stellt
die Tragödie dar, die zusammen mit der Komödie und dem Dithyrambos (Chorlyrik) eine poetische
Trias bildete. Diesen drei Ausdrucksformen dichterischen Schaffens galt das Augenmerk der ganzen
Polis. Sie stellten keine Privatangelegenheit und kein Vergnügen gepflegter Zirkel dar, sondern ihre
Aufführungen waren im Jahresablauf des öffentlichen Lebens verankerte Festlichkeiten.10 Vor allem
fanden die Aufführungen im kultischen Rahmen statt, so daß in heute nicht immer leicht
nachvollziehbarer Weise Gottesdienst und Theaterbesuch, Glaube und Erleben, sicher auch
Vergnügen, hierbei untrennbar miteinander verknüpft waren. Dies ist vor allem für das Verständnis
der Tragödie wichtig, deren Wesen dem Aufführungsanlaß Rechnung tragen mußte und auf subtile
Weise auf den Zuschauer - die Werke waren primär nicht als Lesedramen gedacht! - Einfluß nahm
(Weiteres s. u.).
Die Interaktionen von Medizin und attischer Tragödie wurden schon verschiedentlich ansatzweise
untersucht. Dabei erwies sich immer wieder - wie auch bei manchen klassisch- philologischen
Studien - der der annähernd überlappenden Lebens- und Schaffenszeiten der drei großen
attischen Tragiker Aischlyos, Sophokles und Euripides als ebenso faszinierend wie problematisch.
Oft wurde ein gewählter Forschungsansatz bei Aischylos verifiziert, auf Sophokles übertragen, und
Euripides wurde nur noch kursorisch oder gar nicht mehr berücksichtigt.11 Dies mag vor allem daran
liegen, daß er der jüngste in dieser Trias von Ausnahmetragikern war und daher meist zuletzt an die
Reihe kam. Dabei ist vom Werk dieses (Aristoteles, De arte poetica 13 bzw. 1453 a
29f.) mehr erhalten, als von allen anderen Tragikern zusammen. Zudem mag hinzukommen, daß
Euripides wie kaum ein anderer Dichter umstritten ist: Die Einschätzung seines Werkes wie seiner
Person unterlag zu verschiedenen Zeiten erheblichen Wandlungen. Zu Lebzeiten stand er, auch was
die Siege im tragischen Wettstreit angeht, oft im Schatten des Sophokles, während seinen Werken
postum ungewöhnlich viele Wiederaufführungen zuteil wurden. In der Römerzeit genoß er großes
Ansehen: Der Rhetoriker Quintilian empfahl seine dramatischen Streitgespräche als sehr instruktiv
für angehende Anwälte. Die Spätantike schätzte ihn offensichtlich weit mehr als Aischylos und
Sophokles, was sich im Erhaltungszustand seines Œuvre widerspiegelt. Seine Werke wurden weit
10 Vgl. zur Einführung in das athenische Festwesen Parke / Hornbostel (1987). 11 Symptomatisch etwa bei Morris (1991) - in deutscher Sprache als Morris (1994) -, der bei seiner Erörterung des
Schmerzes im Bereich der Tragödie Sophokles eifrig beforscht, Aischylos und vor allem Euripides aber fast völlig ausgeblendet hat (Vgl. Morris (1994), S. 262 u. 344). Man beachte des weiteren Zierl (1994), der eine kritische Evaluation der Angaben des Aristoteles zur Tragödie in der Ars poetica sehr sorgfältig an erhaltenen Tragödien, aber nur bei Aischlyos und Sophokles, vornimmt. Kornexl (1970) hat gleichfalls bei seinen Studien zur körperlichen Gesundheit im alten Hellas bei der Berücksichtigung der Tragödie Aischylos und Sophokles sorgfältig angeführt, Euripides aber völlig ausgeklammert.
11
umfangreicher tradiert. Vor allem im 19. Jahrhundert sah man Euripides freilich als „säkularisiert“ im
Vergleich zu dem altehrwürdigen Aischylos oder dem „frommen“ Sophokles. Der Ruf eines
Zersetzers, ja Gotteslästerers haftet ihm dann bei vielen bis heute an, wobei sich zeigt, daß diese
Verleumdung bereits mit der widerwärtigen Hetze seines Zeitgenossen Aristophanes beginnt. Man
gewinnt den Eindruck, daß die grundsätzliche Haltung zu Euripides einer Art Gretchenfrage
gleichkommt: Entweder man verehrt ihn oder man haßt ihn beinahe. Zumindest ist die Polarisierung
in der gelehrten Welt hinsichtlich des Euripides in ihrer Schärfe mit den Meinungen bezüglich des
Aischylos oder Sophokles nicht vergleichbar. Diese Werturteile aber beeinflussen naturgemäß auch
den Gang der Forschung und das Interesse derjenigen, die sich mit der attischen Tragödie befassen.
Die bisherigen Untersuchungen zum Verhältnis des Euripides zur Medizin kommen im wesentlichen
aus drei Richtungen. Da sind zunächst Klassische Philologen wie Harold W. Miller und N. E.
Collinge, die vor allem lexikalische Parallelen zwischen dem Vokabular des Dramatikers und Werken
des Corpus Hippocraticum anmerken. Ihre Arbeiten haben aber weniger für den Gegenstand ihrer
Untersuchungen, den sie nur symptomatisch angerissen haben, sensibilisiert als man hätte erwarten
wollen. In Einzelfällen werden auch klinische Anmerkungen, die den Wissensstand gebildeter Laien
widerspiegeln, beigesteuert. Hier sei neben Arbeiten von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff etwa
auf den Bacchen-Kommentar von E. R. Dodds oder den auch medizinhistorisch streckenweise
bemerkenswerten Medeia-Kommentar von Denys L. Page verwiesen.
Hin und wieder haben sich Ärzte, vor allem nervenärztlich tätige Kollegen wie etwa der Kölner
Neurologe Jobst Rudolf, zu Wort gemeldet und besonders auf der Grundlage ihrer klinischen
Erfahrung zu Charakteren wie dem Orest, dem rasenden Herakles oder Medeia Anmerkungen zur
dramatischen Schilderung gemacht. Abgesehen vom grundsätzlichen Problem des retrospektiven
Diagnostizierens konnte hierbei manch wertvoller Hinweis gegeben werden. Immer wieder wurde
dabei angemerkt, daß Euripides bisweilen beachtliche klinische Einzelheiten in seine Dramen
eingearbeitet hat. Schwieriger zu beurteilen sind dagegen einige Studien aus dem psychologisch-
psychoanalytischen Umfeld,12 die, gleichfalls auf sicherlich breiter klinischer Kenntnis ihrer Verfasser
beruhend, versuchen, mit den ganz spezifischen Methoden ihres Fachgebietes an die Texte des
Dichters heranzutreten. Hier wären beispielsweise Arbeiten von Bezdechi, Devereux, Ekstein,
McConaghy, Medlicott oder Perry zu nennen. Bei einigen dieser Arbeiten ist die Textgrundlage, auf
der operiert wird, unklar, bei anderen gar ersichtlich, daß nicht einmal der Originaltext eingesehen
wurde und man sich mit Übersetzungen beholfen hat, was wissenschaftlich unbefriedigend ist. Das
12 Den Primat der psychoanalytischen Deutungen unter den Interpretationen griechischer Tragödien von medizinischer
und psychologischer Seite merkt auch Sommerville (1999), S. 69 kritisch an und hat nicht zuletzt deshalb von der Warte der evolutionären Psychologie aus eine Untersuchung der Medeia des Euripides vorgenommen.
12
Gespür für das Wesen der Tragödie und das Einfühlungsvermögen in das tragische Spiel ist nicht
immer ausgeprägt. Vor allem aber ist die Grundvoraussetzung höchst problematisch. Weder
Euripides noch die von ihm geschaffenen Bühnenfiguren sind leidende Klienten eines
Psychoanalytikers, die frei assoziierend auf der Couch ihres Therapeuten ruhen. Vielmehr handelt es
sich bei den Texten um kunstvoll und bewußt unter den spezifischen Vorgaben des Versmaßes, des
Mythos und - etwa bei Chorliedern oder Arien - der Musik gefügte Texte, erstellt für den Vortrag im
Rahmen von religiösen Festlichkeiten. Diese grundsätzliche Verschiedenheit der Aussagen wurde
aber oft so sehr hintangestellt, daß die entsprechenden Ergebnisse, mögen sie im Einzelfall auch ein
frappierendes Schlaglicht auf einen Vers des Dichters werfen, mit Vorsicht aufzunehmen sind.
Schließlich wären an dritter Stelle medizinhistorische Forscher wie etwa Walter Artelt, Nikolaus
Mani, Jacques Jouanna, Peter Cordes und andere zu nennen, die meist in Übersichtsdarstellungen
oder größeren Aufsätzen für ihre jeweilige Fragestellung aufschlußreiche Textstellen bei Euripides
berücksichtigt haben. Diese Analysen sind hinsichtlich der Einzelergebnisse durchweg sehr
aufschlußreich, doch wäre es unangebracht, hier jeweils eine Übersicht über das Gesamtwerk des
Euripides und die Vielschichtigkeit seiner Aussagen zu fordern.
Im Jahre 2000 ist die italienische Philologin Alessia Guardasole mit einer bemerkenswerten Studie
zum Verhältnis von Tragödie und Medizin hervorgetreten. Sie hat zahlreiche Querverbindungen
zwischen ärztlichen Schriften, vor allem des Corpus Hippocraticum, und den drei großen Tragikern
aufgewiesen, besonders unter dem lexikalischen Aspekt des Textvergleiches. Klinische Aspekte
haben sie dagegen nicht sehr beschäftigt. Vor allem aber wurde die Bedeutung der medizinischen
Hintergründe und Kenntnisse für das jeweilige Drama an sich fast völlig außer acht gelassen. Wie
medizinische Vorstellungen etwa leitmotivartig in den Dramen verwendet werden, vor allem wie
Euripides sie in der Konzeption des Ablaufes des jeweiligen Bühnenspiels oft klinisch präzise
instrumentalisiert und variiert, war nicht Guardasoles primäre Fragestellung.
Jennifer Clarke Kosack hat mit ihrer 2004 als Buch erschienenen Disseration die Hoffnung erweckt,
Interferenzen zwischen Euripides und Hippokrates aufzuzeigen. Allerdings ist dies nur ansatzweise
gelungen. Sehr treffend beobachtet sie, daß Tragödie und Medizin sich mit schreckenerregenden
Bildern von Krankheit, Leid und Tod auseinandersetzen müssen. Sie stellt dann typische Heilkundige
im alten Hellas, unter denen Ärzte, welche die Verfasserin befremdlicherweise als weitgehend hilflos
bei der Patientenversorgung ansieht (S. 2), nur eine Teilgruppe darstellten, sowie Heilungs- und
Überwindungstrategien, wie sie das Corpus Hippocraticum bietet, vor. Später wird vornehmlich auf
die Tragödien eingegangen, die schon öfter medizinhistorisch interpretiert worden sind. Dabei
unternimmt Kosak den Versuch, die Tragödien in ihrem Ablauf mit Kasuistiken des Corpus