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9. Gottes Wille
9.1 Einleitung
Dem Willen Gottes hat Voetius, im Unterschied zu Gottes Wissen, keine eigen-
ständigen Disputationen gewidmet. Seine Äußerungen zu Gottes Willen müssen
daher aus den verschiedenen Werken und Disputationen zusammengeführt
werden. Daraus folgt jedoch nicht, dass die Bedeutung des Willens Gottes in
Voetius‟ Gotteslehre eine untergeordnete wäre. Das Gegenteil ist der Fall, wie
bereits aus der wichtigen Rolle ersichtlich wird, die Gottes Wille in Voetius‟
Lehre vom göttlichen Wissen spielt.
In diesem Kapitel sollen zunächst einige grundlegende Unterscheidungen zu
Gottes Willen bei Voetius erörtert werden (Kap. 9.2). Sodann folgt eine Diskus-
sion des Verhältnisses von Gottes gutem Willen und dem Bösen (Kap. 9.3). In
einem weiteren Schritt soll die Schlüsselrolle des freien göttlichen Willens als
Dreh- und Angelpunkt innerhalb der Gotteslehre herausgearbeitet werden (Kap.
9.4). Abschließend stellt sich die Frage, ob die starke Betonung der Rolle des
göttlichen Willens keine deterministischen Implikationen mit sich bringt (Kap.
9.5).
9.2 Unterscheidungen
Entsprechend der Struktur der Gotteslehre bei Voetius ist die simplicitas-Lehre
regulativ für alle operativen Eigenschaften. Wie Gott „alle wissbaren Dinge mit
einem schlechthin einfachen Wissensakt weiß“, so will er auch „alle Dinge, die
er will, mit einem reinen, einfachen und unteilbaren Willensakt“.1 Voetius hält
gegen die Sozinianer fest an der klassischen Lehre von der Einfachheit des
göttlichen Willens, bei dem es kein früher und später gibt, sondern lediglich
einen Willensakt.2
1 SD V, 88: „In Deo enim, seu in actu volendi Dei, seu a parte actus volendi, nec prius est nec post-
erius, nec antecedens nec consequens, nec conditio nec conditionatum: sed, purus, simplex, et indivisi-
bilis actus voluntatis, quo omnia vult, quae vult: sicuti uno simplicissimo actu intelligit, quae intelligibi-
lia sunt.“ Vgl. auch SD V, 721; Syllabus, F1r; Catechisatie, 303–305; BECK/DEKKER, Gods kennis en
wil, 40–41, 51–54. 2 VOETIUS, Syllabus, F1r: „An Dei voluntas sit unica et simplex in se; an v[ero] plures? A[ffirmatur]
pr[ior]. N[egatur] post[erius] c[contra] Socinum.“ Vgl. zu Socinus VAN WYK, Die versoeningsleer in die
Rakouer Kategismus, 138–141; DE GROOT, Faustus Socinus en Nederland; unten, Kap. 7.7.1, Anm.
330 Gottes Wille
Gottes Wille ist Gott selbst.3 Das heißt, dass der göttliche Wille als solcher
der Wille Gottes ist und nur der Wille Gottes sein kann. Aus dieser Anwendung
der simplictas-Lehre ergibt sich auch, dass Gottes Wille nicht von anderen
Dingen abhängt oder verursacht wird. Wenn Gott etwa das Objekt A will, ist
das nicht dadurch bedingt, dass dieses Objekt schon unabhängig von seinem
Willen gegeben wäre. Der Wille konstituiert es als Willensobjekt. Genauso
wenig ist es der Fall, dass ein anderes Objekt B verursachen würde, dass Gott
das Objekt A will.
Andererseits kommt in Voetius‟ Gotteslehre die innere Dynamik der gewoll-
ten Dinge in ihren konditionellen und teleologischen Relationen durchaus zum
Tragen. Die Willensobjekte können zueinander etwa in einer Mittel-Ziel-
Relation stehen und von Gott mit dieser Relation gewollt werden. Voetius zi-
tiert in diesem Zusammenhang Thomas von Aquin: „Gott will dieses, das we-
gen einem anderen ist, aber er will es nicht auf Grund von jenem anderen.“4
Das heißt, dass das andere nicht die Ursache des göttlichen Wollens des erstge-
nannten Objekts ist.
Die simplicitas-Lehre steht auch einer Reihe von wichtigen Unterscheidun-
gen innerhalb des göttlichen Willens nicht entgegen. Grundlegend ist die Un-
terscheidung zwischen Gottes notwendiger und willentlicher Selbstbejahung
einerseits und seinem freien und kontingenten Willen in Bezug auf die geschaf-
fenen Dinge andererseits.5
Mit Hilfe einer weiteren Unterscheidung betont Voetius, dass auch Gottes
notwendiger Wille in gewisser Weise frei ist, sofern es sich um eine das göttli-
che Wesen begleitende (concomitans) Willensbejahung handelt. Allerdings ist
Gottes Wille in diesem Fall nicht in absoluter Weise frei, da er nicht strukturell
dem Willensobjekt vorangeht (antecendens), wie im Fall der außergöttlichen
Objekte, die er auch nicht wollen kann. Wie Gott sich selbst notwendigerweise
124. Vgl. zur klassischen Position etwa SCOTUS, Lectura, I, d. 39, n. 54 (ed. Vat., XVII, 497; CF, 124):
„[…] voluntas autem divina non potest habere nisi unicam volitionem […].“ 3 VOETIUS, Syllabus, F1r; Catechisatie, 303f. Es handelt sich hier um eine materiale Identität, die
mit formalen Unterscheidungen kompatibel ist; vgl. oben Kap. 7.7. 4 SD V, 87: „VIII Quaest[io]. An Deus unum velit propter aliud. N[egatur] c[um] D[istinctione].
Resp[ondetur] si σὸ propter ponatur super σὸ velit aut σὸ velle, seu conjungatur cum σῷ velle Neg[atur]. Sin ponatur super σὸ hoc, seu conjungatur cum σῷ hoc, conceditur. […] Deus enim est ens primum, absolutum, independens; qui a nulla re extra se dependet, determinatur, limitatur, definitur, condi-
tionatur. Sed res, quae objectum sunt voluntatis divinae, aliae ab aliis dependere, causari etc. dici
possunt et solent. Potest etiam hoc modo per distinctionem determinari: a parte actus volendi
Neg[atur]. a parte rei volitae conceditur. Et hoc est quod Thomas acute expressit hoc axiomate: Deus
vult hoc propter hoc: sed non propter hoc vult hoc.“ Vgl. THOMAS, S.Th., I, q. 19, a. 5, in corp., und
vgl. SD V, 88f. (Q. XIII). 5 VOETIUS, Syllabus, F1v–F2v; SD I, 389; I, 341. Vgl. zur Unterscheidung zwischen voluntas neces-
saria und voluntas libera in der reformierten Orthodoxie MULLER, PRRD, III, 453–455, und die be-
sonders deutliche Formulierung beim Voetius-Schüler VAN RIJSSEN, Francisci Turretini Compendium
theologiae didactico-elencticae, locus III, n. 28 (31); vgl. auch HEPPE, Dogmatik, 73.
Unterscheidungen 331
versteht, so will und liebt er sich selbst mit Notwendigkeit. Dies gilt auch trini-
tätstheologisch: Der Vater will und liebt den Sohn auf notwendige Weise.6
In Bezug auf die geschaffenen Dinge unterscheidet Voetius den Willen Got-
tes auf vierfache Weise. Die erste Unterscheidung ist die bekannte traditionelle
Unterscheidung zwischen dem ‚Willen des Wohlgefallens„ (voluntas benepla-
citi) und dem ‚Willen des Zeichens„ (voluntas signi).7 Voetius führt sie auf
Augustinus und Petrus Lombardus zurück und verweist außerdem auf Thomas
und Duns Scotus.8 Darüber hinaus sieht er mit dem Lombarden diese und ande-
re Unterscheidungen letztlich in der Heiligen Schrift begründet, die, so Petrus
Lombardus, „auf verschiedene Weisen vom göttlichen Willen“ spreche.9 Die
voluntas beneplaciti ist Gottes Wille im eigentlichen Sinn, nämlich der Wille
des göttlichen Ratschlusses.10 Was Gott mit seiner voluntas beneplaciti will, tritt
ein; so gesehen wird sein Wille immer erfüllt.11 Die voluntas signi hingegen
signifiziert Gottes Anweisungen und kann frustriert werden.12 Im Unterschied
zum ‚Willen des Wohlgefallens„ ist also der ‚Wille des Zeichens„ nicht ontisch,
sondern deontisch oder moralisch. Ein Spezialfall des weiter gefassten ‚Willen
des Zeichens„ ist der ‚Wille des Befehls„ (voluntas mandati).13
Das Verhältnis der voluntas beneplaciti zur voluntas signi bzw. mandati il-
lustriert Voetius anhand einer interessanten Erklärung zu Gen 22. Dort gebietet
Gott dem Abraham, seinen Sohn Isaak zu opfern. Gott will jedoch nicht im
6 Vgl. SD I, 389: „Quomodo necessitate quadam Deus seipsum intelligit, vult seipsum et amat, nihi-
lominus voluntate libera non quidem antecedenter, sed concomitanter: non potest enim velle seipsum
non cognoscere, non amare, item non potest Pater velle non generare aut amare filium.“ Vgl. BECK,
Gisbertus Voetius, 224, und zur Unterscheidung zwischen der libertas voluntatis concomitans und
antecedens MULLER, PRRD, III, 455. 7 VOETIUS, Syllabus, F1v; SD V, 87f.; IV, 26; Catechisatie, 304f., 307; DTV, 82, 86. 8 In DTV, 82 bezieht sich Voetius auf AUGUSTIN, De civitate Dei, XXII, cap. 1f., und PETRUS
LOMBARDUS, Sententiae, I, d. 47 (lies: dist. 45, cap. 7). In SD V, 88 verweist er auf THOMAS, S.Th., I,
q.19, a.6 und a.11. VOETIUS/NETHENUS, De concursu determinante, B3v–B4r, zitiert zustimmend
SCOTUS, Op. Oxon., I, d. 46, q. un., n. 2 (ed. Wadding, V/2, 1384); vgl. Ordinatio, I, d. 46, q. un., n. 5
(ed. Vat., VI, 377). Auch wenn Voetius auf Thomas verweist, funktioniert diese Unterscheidung bei
Voetius im Rahmen des scotischen Kontingenzmodells. Vgl. hierzu unten, Kap. 9.4. 9 PETRUS LOMBARDUS, Sententiae, I, d. 45, cap. 5: „Hic non est praetereundum nobis, quod sacra
Scriptura de voluntate Dei variis modis loqui consuevit; et tamen non est Dei voluntas diversa, sed
locutio diversa est de voluntate, quia nomine voluntatis diversa accipit.“ 10 Voetius verweist in SD V, 38 auf Jes 46,10b, und in seiner Catechisatie auf Mat 11,26; Eph 1,1; Ps
115,3. 11 SD V, 87: „IX. Quaest[io]. An omnis voluntas Dei impleatur. N[egatur] cum D[istinctione].
Resp[ondetur]. De voluntate proprie accepta, seu beneplaciti, Aff. Jesa. 46. vers. 10.“ Das Siglum „N“
muß wohl korrekt „A“ lauten, analog zu Syllabus, F1v. Voetius bezieht sich auf THOMAS, S.Th., I, q.19,
a.6, obwohl sich seine Position hier und in den folgenden drei Fragen in größerer Nähe zu SCOTUS,
Ordinatio, I, d. 46, befindet. Vgl. zu Scotus VOS u.a., DSDL, 166–176. 12 In Catechisatie, 307, verweist Voetius etwa auf 1Thess 4,3–4 und Joh 6,40. 13 SD IV, 26f.: „Neque enim idem sunt voluntas signi, et mandati: quia omnis mandati est etiam sig-
ni; sed // non vice versa.“ Das mandatum der voluntas mandati stimmt mit dem praeceptum bei
THOMAS, S.Th., I, q.19, a.12, in corp., überein, dem ersten der fünf signa der voluntas signi. Die übri-
gen signa sind concilium, prohibitio, permissio und operatio.
332 Gottes Wille
eigentlichen Sinn dieses Opfer, was schon daraus ersichtlich wird, dass es letzt-
lich nicht durchgeführt wird. Das Objekt seiner voluntas mandati, das Opfern
Isaaks, ist also dem Objekt seiner voluntas beneplaciti, dem Nicht-Opfern
Isaaks, entgegengesetzt. Dennoch steht die voluntas beneplaciti nicht im Wi-
derspruch zur voluntas mandati. Denn Gottes Gebieten des Opferns, und damit
auch die voluntas mandati, fällt selbst unter die voluntas beneplaciti, die dem
göttlichen Dekret gleichkommt.14 Daraus ergibt sich als ethische Konsequenz,
dass Abraham in seinem Gehorsam gegenüber Gottes Befehl mit Recht etwas
will, was Gott mit seinem eigentlichen Willen nicht will.15 Indem jedoch Gott
kraft seiner voluntas beneplaciti das Opfern nicht eintreten lässt, wird eine
ethische Komplikation vermieden und bleibt im Ergebnis das sechste Gebot
unverletzt. Mittels dieser bemerkenswerten Anwendung dieser Unterscheidung
begegnet Voetius dem im Mittelalter viel diskutierten Dilemma zwischen dem
sechsten Gebot und Gottes Befehl zur Tötung des Isaaks.16 Die Bedeutung
dieser Unterscheidung bei Voetius steht im merkwürdigen Kontrast zu Heppes
problematischer Behauptung, „die reformierte Theologie“ habe „die Unter-
scheidung der voluntas signi und beneplaciti im allgemeinen missbilligt“.17
Die zweite Unterscheidung ist mit der ersten verwandt, aber nicht identisch:
Gottes Wille kann für uns verborgen (occultus) oder auch offenbart (revelatus)
sein. Die voluntas occulta ist wie auch die voluntas beneplaciti keine ethische
Richtschnur für unser Handeln, bezieht sich jedoch ausschließlich auf die uns
verborgenen Sachverhalte. Die voluntas revelata hingegen ist in ethischer Hin-
sicht instruktiv, sofern sie sich nicht nur auf das an der Geschichte ablesbare
göttliche Dekret bezieht, sondern auch auf Gottes Befehle, Verheißungen und
Warnungen. So gesehen ist Gottes Wille, wie Voetius betont, in mancherlei
Situationen konditionell, etwa um Menschen zu prüfen oder umzustimmen.18
Anders als Samuel Maresius (1599–1673) und Johann Heinrich Heidegger
(1633–1698) gewinnt Voetius drittens der traditionellen Unterscheidung zwi-
14 SD V, 88 (Q. XII): „Quamvis autem objecta voluntatis mandati et beneplaciti inter se opponuntur,
non tamen actus mandati et voluntatis opponuntur, sed ille isti subordinatur. Deus enim voluntate
beneplaciti voluit mandatum, seu mandare Abrahamo: sed non voluit rem Abrahamo mandatum, seu rei
mandatae impletionem. Vgl. BECK/DEKKER, Gods kennis en wil, 39f., 52. 15 Siehe SD V, 88 (Q. XI); vgl. BECK/DEKKER, Gods kennis en wil, 39, 52. 16 Vgl. HEDWIG, Das Isaak-Opfer (Thomas, Scotus, Ockham); MANDRELLA, Das Isaak-Opfer, und
jetzt VOS, The Philosophy of John Duns Scotus, 456f. Vgl. unten, Kap. 10.2, bei Anm. 67. 17 HEPPE, Dogmatik, 76; vgl. STREHLE, Calvinism, Augustinianism, and the Will of God, 232. Vgl.
jedoch zu dieser Unterscheidung in der reformierten Orthodoxie MULLER, PRRD, III, 457–459. 18 VOETIUS, Syllabus, F1v: „An voluntas Dei recte distinguatur in occultam et revelatam?
A[ffirmatur].“ Catechisatie, 307: „V[raag]. De geopenbaerde wille Godts, is die menighmael conditio-
neel? A[ntwoord]. Ja: het zy om de menschen te beproeven, als Abraham, Gen. 22 vs. 1 het zy tot
haerder overtuyginge, of tot een ander eynde.“ Vgl. insgesamt Catechisatie, 305–307, mit Hinweis auf
Deut 29,29 (lies: 28); Röm 11,34; Mat 10,29f.; Apg 14,16, und MULLER, PRRD, 461–463.
Unterscheidungen 333
schen Gottes voluntas antecedens und consequens einen positiven Sinn ab.19
Sofern nämlich unter dem ‚voraufgehenden„ Willen eine „Erklärung des göttli-
chen Willens und der von ihm erstellten Ordnung zwischen Bedingung und
bedingter Sache“ verstanden wird, sei die Unterscheidung durchaus sinnvoll.20
Als Beispiel für ein solches Willensobjekt führt Voetius den Bedingungssatz
„Wenn jemand glaubt oder vielmehr ausharrt, wird er gerettet werden“ an. Da
dieser Bedingungssatz äquivalent ist mit dem kategorischen, also unbedingten
Satz „Jeder, der glaubt oder vielmehr ausharrt, wird gerettet werden“, impliziert
ein solches Willensobjekt keine Bedingtheit des göttlichen Willens.21 Während
der ‚voraufgehende„ Wille somit eher allgemein ist, bezieht sich der ‚folgende
Wille„ für Voetius offensichtlich auf die Bedingung und vor allem auf die be-
dingte Sache selbst, und ist damit spezifisch. Im Beispiel des obigen Bedin-
gungssatzes wäre diese bedingte Sache Gottes Wille in Bezug auf den Glauben
bzw. die Errettung eines bestimmten Menschen. Folgerichtig lehnt Voetius ein
solches Verständnis dieser Unterscheidung, bei dem die voluntas antecedens
mit der voluntas beneplaciti bzw. dem Willen im eigentlichen Sinn gleichge-
stellt werden würde, ab.22 Ein solches ‚pelagianisierendes„ Verständnis findet
sich bei Remonstranten und Sozinianern, die den ‚voraufgehenden Willen„ auf
Gottes universalen Heilsratschluss und den ‚nachfolgenden Willen„ auf die
partikularische Realiserung in Abhängigkeit von der menschlichen Glaubensre-
aktion beziehen.23 Weit davon entfernt sei jedoch, wie Voetius betont, die Ver-
wendung der Unterscheidung bei William Twisse (1575–1645) und Antonius
Walaeus (1573–1639), die zu Recht die voluntas antecedens auf die Mittel,
nämlich den Glauben, und die voluntas consequens auf das Ziel, nämlich das
Heil, beziehen.24 Insgesamt lässt sich sagen, dass Voetius diese Unterscheidung
in ihrer klassischen Interpretation, wie sie etwa bei Johannes Chrysostomus
(345–407), Johannes Damascenus (670–750), Thomas von Aquin und Duns
Scotus zu finden ist, zu würdigen weiß.25
19 VOETIUS, Syllabus, F1v, mit SD V, 88 (Q. X); vgl. BECK/DEKKER, Gods kennis en wil, 39, 52f.
Vgl. MARESIUS, Collegium theologicum, loc. 2, n. 47 (39); HEPPE, Dogmatik, 73f.; und zur reformier-
ten Orthodoxie insgesamt MULLER, PRRD, III, 465–469. 20 SD V, 88: „Resp[ondetur]. Si per antecedentem intelligatur declaratio voluntatis divinae, et ordi-
nis ab illo positi inter conditionem et rem conditionatam. Aff[irmatur].“ 21 SD V, 88: „[E].gr. si quis credit, aut si quis preseverat, salvabitur: quod aequivalet isti enuntiationi
categoricae, omnis credens aut perseverans salvabitur.“ 22 SD V, 88: „Sed si per antecedenten [voluntatem] intelligitur voluntas proprie dicta, seu beneplaci-
ti, Neg[atur].“ 23 Vgl. MULLER, PRRD, III, 466–467. Arminius verwendete übrigens diese Unterscheidung auf eine
eigene Weise, die sich mehr dem klassischen Verständnis nähert; vgl. MULLER, God, Creation, and
Providence, 168–168; DEKKER, Rijker dan Midas, 122–124. 24 SD V, 88. 25 SD V, 88 verweist auf Johannes Chrysostomus, „in Ephes. 4“ (vgl Hom. 1 in Eph., n. 5 [PG 62,
13]). Vgl. JOHANNES VON DAMASCUS, De Fide Orth., lib. 2, cap. 29 (PG 94, 969); THOMAS, S.Th., I, q.
19, a. 6, ad 1; q. 23, a. 4, ad 3. RUTHERFORD, Exercitationes apologeticae pro divina gratia, exercit. 1,
cap. 4, n. 1 (363) verweist für eine ähnliche Verwendung der Unterscheidung ausdrücklich auf SCOTUS,
334 Gottes Wille
Nach dem bisher Gesagten überrascht es nicht, dass Voetius die von Molinis-
ten und Remonstranten vielfach bemühten Unterscheidungen zwischen Gottes
absolutem und bedingtem Willen (voluntas absoluta et conditionata) oder Got-
tes wirksamem und unwirksamem Willen (voluntas efficax et inefficax) ablehnt.
Für Voetius ist Gottes Wille niemals bedingt oder unwirksam.26 Ganz anders
verhält es sich mit der vierten von Voetius rezipierten Unterscheidung, nämlich
die klassische Unterscheidung zwischen Gottes wirksamem Willen (voluntas
efficax) und seiner Zulassung (permissio). Die mit dieser Unterscheidung zu-
sammenhängende klassische Zulassungslehre spielt eine wichtige Rolle zum
Verständnis des göttlichen Willens bei Voetius und soll daher in einem eigenen
Abschnitt thematisiert werden.
9.3 Gottes guter Wille und das Böse
In seinen relativ späten Problemata de Deo (1661 bzw. 1669) introduziert Voe-
tius die Unterscheidung zwischen Gottes effektivem Willen und seiner Zulas-
sung im Zusammenhang mit der Frage, ob Gott jemals etwas Ungerechtes
wolle oder ob er wolle, dass wir sündigen. Voetius verneint unter Anwendung
einer Unterscheidung: „Er will die Sünde nicht unmittelbar, aber er will seine
freie, gerechte und weise Zulassung, mit der er die Sünde zulässt.“27
Voetius schließt hierbei aus, dass die Sünde direktes Objekt des göttlichen
Willens ist, und lehrt lediglich eine Zulassung (permissio) hinsichtlich der Sün-
de. Im Unterschied zur Sünde ist diese Zulassung jedoch selbst Objekt des
göttlichen Willens: Gott will die Zulassung der Sünde sozusagen mit einem
Willensakt der zweiten Ordnung bzw. einem reflexiven Willensakt.28 Dennoch
wäre es missverständlich, den göttlichen Willen einzuteilen in einen zulassen-
den und effektiven Willen (voluntas permissiva et effectiva). Streng genommen
sei nämlich der göttliche Wille selbst vermutlich nicht permissiv, da er lediglich
aufgrund einer äußeren Benennung vom Objekt her als ein zulassender be-
zeichnet werden könne.29
Op. Oxon., I, d. 46 [q. un., n. 3 (ed. Wadding, V/2, 1384)]; vgl. Ordinatio, I, d. 46, q. un., n. 7 (ed. Vat.,
VI, 379); VOS u.a., DSDL, 168f., 171. 26 VOETIUS, Syllabus, F1v: „An voluntas recte distinguatur in absolutam et conditionatam in effica-
cem et inefficacem? N[egatur].“ Vgl. DTV, 51–54; MULLER, PRRD, III, 463–465. 27 SD V, 89: „XIV. Quaest. An Deus aliquid injustum unquam velit. Et An Deus peccata fieri a nobis
revera velit? N[egatur] c[um] D[istinctione]. Resp[ondetur]. Non vult immediate peccatum, sed
liberam, justam et sapientem permissionem suam, qua peccatum permittit.“ 28 Vgl. für die Unterscheidung zwischen Willensakten der ersten und zweiten Ordnung DEKKER,
Rijker dan Midas, 114–117, 289–291. 29 SD V, 89: „Sunt ex orthodoxis qui distinguant voluntatem Dei in permissivam et efficacem. Sed
forte termini distinctionis non satis commodi sunt: et voluntas formaliter et accurate non dicitur permis-
siva, sed tantum secundum extrinsecam denominationem ab objecto.“
Gottes guter Wille und das Böse 335
Voetius ist nur folgerichtig, wenn er sich in diesem Zusammenhang von Aus-
sagen eines Twisse und Maccovius distanziert, wonach Gott die Sünde wolle.30
Obwohl Voetius zugibt, dass deren Aussagen auch im guten Sinne interpretiert
werden können, zieht er dennoch ausdrücklich die „klare und behutsame“ Mei-
nung Thomas von Aquins vor, wonach Gott das schuldhafte Übel weder an sich
noch akzidentiell wolle.31
Aus dieser deutlichen Unterscheidung zwischen Gottes Willen und Zulas-
sung zieht Voetius die Konsequenz, dass die Menge göttlicher Willensobjekte
kleiner ist als die Menge der Wissensobjekte, welche Gott auf bestimmte Weise
weiß. „Denn Gott weiß“, wie Voetius begründet, „die Sünde, wenn auch ledig-
lich als Gegensatz zum Guten; aber er will die Sünde nicht, und er kann auch
nicht sündigen“. Es kann also faktische Sachverhalte geben, die Gott zwar
anhand des entgegengesetzten Guten weiß, aber nicht will. In dieser Hinsicht
sind Gottes Wissen und Wille bezüglich faktischer Sachverhalte nicht äquiva-
lent; erst wenn die unter Gottes Zulassung fallenden Objekte zu den Willensob-
jekten hinzuaddiert werden, ist die Gesamtmenge der faktischen (nicht: mögli-
chen) Wissensobjekte erreicht.32
Ähnliche Äußerungen zur Zulassungslehre finden sich auch in Voetius‟ Sylla-
bus problematum (1643). Dort lehrt Voetius, dass der Wille Gottes üble Dinge
nicht vorschreiben, wohl aber deren Zulassung wollen kann – auch hier handelt
es sich um einen Willensakt der zweiten Ordnung. Zudem könne der Wille
Gottes auf keinerlei Weise bei der Sünde als solcher mitwirken.33 Obwohl diese
Aussagen durchaus signifikant sind, ergibt sich eine präzisere Deutung der
Zulassungslehre bei Voetius erst, wenn wir neben den spezifisch der Gottesleh-
re gewidmeten Texten auch auf entsprechende Äußerungen in Schriften wie De
30 SD V, 89, wo Voetius sich auf TWISSE, Vindiciae Gratiae, bezieht, eine Antwortschrift auf
ARMINIUS, Examen Perkinsiani, die wiederum auf PERKINS, De praedestinationis modo et ordine,
reagiert. Vgl. zu Twisse STREHLE, Calvinism, Federalism, and Scholasticism, 104–111. Der Name des
Maccovius fällt bei Voetius ohne weitere Angaben; vgl. etwa MACCOVIUS, Collegia theologica, pars 1,
disp. 1, n. 26, wo Maccovius den Willen unterteilt in voluntatem effectivam et permissivam und letzterer
die Sünde als deren Objekt zuordnet (125–127). Vgl. jedoch zu Maccovius VAN ASSELT, Johannes
Maccovius; VAN ASSELT, The Theologian‟s Tool Kit; VAN ASSELT, On the Maccovius Affair. 31 SD V, 89, wo Voetius THOMAS, S.Th., I, q. 19, a. 9, in corp., trefflich als ‚determinatio„ des Ma-
gister zusammenfasst; dort heißt es bei Thomas: „Nunquam igitur appeteretur malum, nec per accidens,
nisi bonum cui coniungitur malum, magis appeteretur quam bonum quod privatur per malum. Nullum
autem bonum Deus magis vult quam suam bonitatem, vult tamen aliquod bonum magis quam aliud
quoddam bonum. Unde malum culpae, quod privat ordinem ad bonum divinum, Deus nullo modo vult.
Sed malum naturalis defectus, vel malum poenae vult.“ 32 SD V, 91: „Scientia cum voluntate et potentia si comparetur, latius se extendit: cognoscit enim
[Deus] peccatum quamvis in opposito bono: sed non vult peccatum, nec potest peccare. Qui statuunt
Deum immediate velle peccatum, hic aequalem facerent scientiam et voluntatem. Sed nos supra mo-
nuimus rectius et tutius negari volitionem peccati; et affirmari volitionem permissionis.“ Vgl. hierzu
BECK/DEKKER, Gods kennis en wil, 42, 53f. 33 Syllabus, F2r: „An voluntas Dei possit praecipere mala? N[egatur]. An possit velle permittere ma-
la? A[ffirmatur]. An voluntas Dei aliquo modo concurrat ad peccatum? N[egatur] qua tale scil[icet].“
336 Gottes Wille
termino vitae (1634) und Thersites heautontimorumenos (1635) achten.34 Dazu
kommen, neben verstreuten Passagen zur Dekreten- und Vorsehungslehre,
insbesondere die Disputationen zur Hamartiologie.35
Zunächst einmal wäre festzuhalten, dass für Voetius Gottes Zulassung nur in
einem besonderen Sinn auf die Sünde bezogen werden kann. Auf die Frage, ob
Gott die Sünde zulassen könne, sofern (qua) sie Sünde sei, antwortet Voetius
unter Bezugnahme auf Bonaventura:
„Wenn man unter ihr die Schlechtigkeit im formalen Sinne versteht und das ‚qua‘ die
Sünde in dieser Hinsicht denotiert, verneinen wir. Siehe die oben zitierte Stelle aus Bona-
ventura zu I dist. 49 [lies: 46]. […] Wenn ‚Sünde„ aber nur die Schlechtigkeit selbst deno-
tiert bzw. die Sünde als solche, bejahen wir. Denn Gott legt dem Willen oder Vermögen
des Sünders bzw. der Sünde selbst als solcher kein Hindernis in den Weg, und das ist
zulassen.“36
Diese Stelle ist nicht leicht verständlich. Zieht man jedoch den bei Voetius
weiter oben ausführlich zitierten Text von Bonaventura heran, so ergibt sich als
mögliche Interpretation, dass die Sünde in der erstgenannten Hinsicht nicht
zugelassen werden kann, da sie so verstanden ontologisch lediglich ein Mangel
an Gutem (privatio boni) ist. In der zweitgenannten Hinsicht hingegen stellt sie
eine mögliche Gelegenheit (occasio) – nicht Ursache (causa) – zu einem von
Gott gewollten Guten dar, und in diesem Sinne kann Gott sie zulassen.37 In eine
ähnliche Richtung scheint auch Ebrard zu denken, wenn er obige Stelle so
deutet, dass „die ethische Qualität des Böse-seins, ethisch betrachtet“ von Gott
nicht zugelassen werden könne, wohl aber „das Faktum des Daseins des Bö-
sen“.38 Mit dieser Deutung wäre im Einklang, dass für Voetius, wie er wenige
Zeilen zuvor anmerkt, zwar die Zulassung der Sünde, nicht aber die Sünde
selbst ein Mittel der göttlichen Verwerfung oder Illustration der göttlichen Ehre
ist.39
34 DTV, bes. 119–124; Thersites, bes. 83–97, 212–219. Relevant sind auch weite Teile der Proeve
van de Cracht der Godtsalicheyt (1628), die hier jedoch nicht eigens aufgeführt werden, da deren
diesbezüglichen systematischen Hauptpunkte in den erstgenannten Werken aufgegriffen werden. 35 SD I, 1059–1078 (bes. 1059f., 1076–1077), 1078–1118, 1118–1137 (bes. 1132–1136). Vgl. auch
SD I, 389–392, 401f.; V, 751f.; VOETIUS/NETHENUS, De concursu determinante, bes. R2r–R3r. 36 SD I, 1076f.: „IX. probl. An dici possit Deum permittere peccatum, qua peccatum? Resp. Si intel-
ligatur de malitia formaliter dicta, et σὸ qua notet propter se, Neg. Vide Bonaventuram ad I. dist. 49. supra citatum. […//…] Sin vero tantum notet ipsam malitiam, seu peccatum in se consideratum Aff.
Quia Deus impedimentum non ponit aut voluntati aut potentiae peccantis, seu ipsi peccato qua tali: et
hoc est permittere.“ (Hervorhebung im Original.) Ähnlich Duns Scotus; vgl. VOS u.a., DSDL, 178–192. 37 Gemeint ist BONAVENTURA, Sent., I, d. 46, q. 3 („Utrum mala fieri sit bonum“; BONAVENTURA,
Opera omnia, I, 826), wovon Voetius in SD I, 1066 weite Teile der conclusio zustimmend zitiert (es gibt
keine dist. 49 im ersten Buch der Sententiae). 38 EBRARD, Christliche Dogmatik, I, 341. Ebrard setzt sich in diesem wenig beachteten Werk mit der
deterministischen Deutung der reformierten Orthodoxie bei SCHWEIZER, Glaubenslehre, auseinander. 39 SD I, 1076: „VI. probl. An peccatum sit medium reprobationis, aut illustrationis gloriae divinae?
Resp. Proprie aut per se Neg[atur] sed permissio peccati.“
Gottes guter Wille und das Böse 337
Zweitens wäre festzuhalten, dass Voetius die Zulassung als Gottes Nicht-
Verhindern der Sünde auffasst, wie aus dem letzten Satz der oben zitierten
Voetiusstelle hervorgeht.40 Die Zulassung ist, wie Voetius an anderer Stelle
angibt, „keine Handlung, sondern ein Sich-Enthalten von einer Handlung bzw.
eine Nicht-Handlung“.41 Und in einem Brief vom 7. Juni 1643 an den polni-
schen Maccovius-Schüler Johannes Szydlowski – Hans Emil Weber bezeichnet
ihn als „enfant terrible“ – schreibt Voetius, jesuitische Vorwürfe, wonach Gott
für die Calvinisten Urheber der Sünde sei, wären gegenstandslos, da es sich bei
Gottes Zulassung lediglich um ein Nicht-Verhindern der Sünde handele, um
eine „reine Verneinung des Aktes bzw. einer Enthaltung vom Akt“.42 Gottes
Zulassung ist also kein positiver Willensakt, sondern vielmehr der Verzicht auf
einen solchen, wobei dieser Verzicht allerdings wiederum Resultat eines Wil-
lensaktes der zweiten Ordnung ist.43
Indem Voetius, wie in der reformierten Orthodoxie nicht unüblich, die Zulas-
sung als Gottes willentliche Nicht-Verhinderung des Bösen bzw. der Sünde
versteht, steht seine Zulassungslehre in deutlicher Kontinuität mit der klassi-
schen Zulassungslehre, wie sie bereits bei Augustin und dem Lombarden ange-
legt und bei Thomas, Bonaventura und Duns Scotus weiter entfaltet wurde.44
Durch diese Verhältnisbestimmung zwischen Gott und dem Bösen hält Voetius
die Mitte zwischen der Skylla eines ohnmächtigen Gottes, der das Böse nicht
verhindern könnte, und der Charybdis einer göttlichen Allkausalität, die Gott
zum Urheber des Bösen bzw. der Sünde machen würde.45 Mit dieser Intention
steht Voetius ganz auf dem Boden reformierten Bekennens.46
40 Siehe oben, Anm. 36. 41 SD I, 915: „Non per permissionem [Deus est author peccati diabolici], quod labentes non inhibuit
aut sustentavit, quia permissio non est actio, sed cessatio ab actione seu non actio.“ 42 Der Brief ist abgedruckt in SD I, 388–392, hier 391: „De permissione quod objicitur, nihil est:
aliud enim est peccata permittere, hoc est non impedire, et aliud actu positivo ac directo ea praecipere:
illic enim nihil aliud est quam mera negatio actus seu cessatio ab actu.“ Vgl. zu Szydlowski – Voetius
nennt ihn Zydlovius – RITSCHL, Geschichtliche Studien [2], 115f., und WEBER, Reformation, Orthodo-
xie und Rationalismus, II, 122f., hier 122. 43 Formalisiert: gW(g-W-p), wobei ‚g-W-p„ einen negativen Willensakt in Bezug auf die Verneinung
von p darstellt, der wiederum als solcher von Gott gewollt ist (g = Individualkonstante, die ein Subjekt
denotiert; W = Operator für ‚Wollen„; p = Konstante für das Willensobjekt). 44 Vgl. AUGUSTINUS, Enchridion, cap. 96 und 100; PETRUS LOMBARDUS, Sententiae, I, d. 47;
THOMAS, S.Th., I, q. 19, a. 19; De Malo, q. 2, ad 4; BONAVENTURA, Sent. I, d. 47; SCOTUS, Ordinatio I,
d. 47, und vgl. PALUCH, „God Permits the Evil for the Good“, sowie die präzise Analyse bei DEKKER,
The Theory of Divine Permission According to Scotus‟s Ordinatio I 47; DEKKER, Gottes zulassender
Wille; VOS u.a., DSDL, 178–192; DEKKER, Gods toelatende wil. Vgl. auch DEKKER, Rijker dan Midas,
114–117, 289–291. 45 Voetius hat der Problematik, wie man dem Vorwurf, die reformierte Lehre würde Gott zum Urhe-
ber der Sünde machen, eine eigene Disputation gewidmet: „Methodus respondendi excerptis et calum-
niis de Deo autore peccati“ (1647), in SD I, 1118–1137. Vgl. VOETIUS/NETHENUS, De concursu deter-
minante, R2r: „Prohibet et punit peccata sanctus Israelis, non efficit.“ 46 Vgl. Confessio Belgica, Art. 13, und ROHLS, Theologie reformierter Bekenntnisschriften, bes. 73.
338 Gottes Wille
Inwiefern aber ist diese Intention kompatibel mit Voetius‟ starker Betonung
des göttlichen Willens oder Dekrets? Für ein vertieftes Verständnis aufschluss-
reich ist hier Voetius‟ Auseinandersetzung in seinem Thersites mit den Vorwür-
fen des Remonstranten Batelier. Der remonstrantische Gegner folgert aus der
Schlüsselrolle, die Voetius dem göttlichen Willen im Hinblick auf Gottes Wis-
sen der Zukunft zuschreibt, dass Gott sich letztlich als Urheber der Sünde er-
weist.47 Konkret beanstandet Batelier diese Aussage des Voetius:
„Die Wahrheit der zukünftigen kontingenten Sachverhalte ist eine bestimmte, und zwar
nicht deshalb, weil Gott sie auf spekulative Weise von Ewigkeit wusste, sondern weil er
sie beschlossen hat (sed quia decrevit).48
In seiner Entgegnung des remonstrantischen Vorwurfs arbeitet Voetius drei
Voraussetzungen heraus, von denen Batelier offensichtlich ausgeht, die jedoch
zurückzuweisen seien. Erstens werde vorausgesetzt, dass der Ausdruck „weil er
[sie] beschlossen hat“ auf eine Ursache und das Folgende (consequens) verwei-
se. Dies sei jedoch falsch, da „quia“ hier lediglich eine Folge (consequentia)
indiziere, wie etwa in Joh 12,39–40a: „Darum konnten sie nicht glauben, weil
(quia) Jesaja an einer anderen Stelle gesagt hat: Er hat ihre Augen blind ge-
macht“.49 Diese von Voetius angeführte Schriftstelle ist deshalb interessant, weil
hier ganz offensichtlich die Aussage Jesajas nicht Ursache für den Unglauben
des Volks ist.
In diesem Zusammenhang verweist Voetius unter ausdrücklicher Berufung
auf Melanchthons Initia doctrinae physicae auf die Unterscheidung zwischen
der Notwendigkeit der Folge (necessitas consequentiae) und der Notwendigkeit
des Folgenden (necessitas consequentis).50 Diese wichtige modallogische Un-
terscheidung war bereits in den Artesfakultäten des dreizehnten Jahrhunderts,
die alle Theologen zu durchlaufen hatten, Gemeingut.51 Der springende Punkt
47 VOETIUS, Thersites, 212–218. 48 Thersites, 212: „Futurorum contingentium est determinata veritas, non quia Deus speculative sci-
vit ea ab aeterno, sed quia decrevit.“ 49 Thersites, 212: „Resp[ondetur]. Quia, hic notare consequentiam tantum, non consequens ut Jo-
hann. 12. v. 39“; ich folge hier der Einheitsübersetzung. Vgl. auch DTV, 120: „Omne antecendens
positivum, aut negativum, aut privativum non est causa consequentis; alioquin nox praecedens esset
causa sequentis diei, et dies sequentis noctis.“ 50 Thersites, 212, wo Voetius zitiert aus MELANCHTHON, Initia doctrinae physicae (1549) (CR 13,
207f.). Dort grenzt Melanchthon die necessitas consequentiae von der necessitas absoluta (= necessitas
consequentis) und der necessitas physica ab und schreibt: „Tertio, vocatur necessitas consequentiae,
cum propter praecedentes causas certo sequitur effectus, etiamsi initium, et quae sequuntur sua natura,
contingentia sunt, aut cum propter dialecticam connexionem, certo sequitur aliquid, quod tamen sua na-
tura contingens est […]. Tali sunt et quae decreto divino eveniunt.“ Ich folge hier BECK, Rezeption Me-
lanchthons, 339f. Der erste reformierte Theologe, der diese scholastische – von Luther und dem frühen
Calvin abgewiesene – Unterscheidung positiv rezeptierte, war wahrscheinlich Petrus Martyr Vermigli;
vgl. DONNELLY, Calvinism and Scholasticism, 141–144; VOS, Kennis en noodzakelijkheid, 119–121. 51 Vgl. zu dieser Unterscheidung HENRY, The Logic of Saint Anselm, 71–80; VOS, Kennis en nood-
zakelijkheid, 57f.; KNUUTTILA, Modalities in Medieval Philosophy, 99–149; VOS u.a., CF, 37f., 130f.,
Gottes guter Wille und das Böse 339
dieser Unterscheidung besteht darin, dass eine strikt implikative Beziehung
zwischen Antezedent und Konsequent nicht die Notwendigkeit des Konsequen-
ten selbst einschließt.52 Angewendet auf das obige Beispiel: Die Folge zwischen
dem Antezedenten, also Jesajas Aussage, dass Gott die Augen bestimmter Men-
schen blind gemacht hat, und dem Konsequenten, also deren Unglauben bzw.
Unvermögen zu glauben, ist eine notwendige. Denn für Voetius ist die in der
irrtumslosen Schrift bezeugte Aussage Jesajas ohne Zweifel wahr. Daraus folgt
aber nicht die Notwendigkeit des Konsequenten, also nicht, dass die genannten
Menschen notwendigerweise ungläubig wären.
In Anwendung auf die von Batelier angegriffene These des Voetius bedeutet
diese Unterscheidung, dass mit dem Ausdruck „weil (quia) Gott sie beschlossen
hat“ lediglich eine Notwendigkeit der Folge zwischen Gottes Beschluss und
dem beschlossenen Objekt indiziert ist, nicht aber eine Kausalität, aufgrund der
das Folgende, also das beschlossene Objekt, notwendig gemacht werden würde.
In anderen Worten: Die Notwendigkeit der Folge (necessitas consequentiae),
also:
Notwendigerweise gilt: Wenn Gott die bestimmte Wahrheit zukünftiger kontingenter
Sachverhalte beschließt (= Antezedent), dann sind diese zukünfti-
gen kontingenten Sachverhalte auf bestimmte Weise wahr (=
Konsequent)
impliziert nicht die Notwendigkeit des Folgenden (necessitas consequentis),
also
Notwendigerweise gilt: Diese zukünftigen kontingenten Sachverhalte sind auf bestimmte
Weise wahr.
Ansonsten wäre nämlich ausgeschlossen, dass diese Sachverhalte auch falsch
bzw. nichtexistent sein könnten, was natürlich aufgrund ihrer Kontingenz nicht
ausgeschlossen werden kann.53
Die zweite irrtümliche Voraussetzung Bateliers sei, dass für Voetius unter die
von Gott beschlossenen, zukünftigen kontingenten Sachverhalte oder Ereig-
nisse auch die Sünden qua Sünde, also unter ihrem Aspekt der Sündhaftigkeit,
fallen würden. Dies sei jedoch falsch, da die Sünde an sich keine Sache, ob nun
notwendig oder kontingent, sei, sondern „nur ein Mangel, eine Ungeordnetheit
132–137; DEKKER, Rijker dan Midas, 15f., 54–75. Varianten dieser Unterscheidung gehören auch in der
modernen Modallogik zum Standardinstrumentarium. 52 Formalisiert: N(p → q) schließt nicht an sich Nq ein (N = modaler Notwendigkeitsoperator; → =
[materiale] Implikation; p bzw. q = propositionale Variable). Vgl. für dieses logische Instrumentarium
VOS u.a., CF, 37f. 53 Eine genauere Interpretation der vorliegenden These des Voetius müsste auch noch auf die hier
vorausgesetzte scotische ‚Theorie der neutralen Proposition„ Bezug nehmen; siehe hierfür jedoch oben,
Kap. 8.2, bei Anm. 36, und die dort genannte Literatur.
340 Gottes Wille
und ein Defekt einer Sache“.54 Voetius warnt hier ausdrücklich vor einem neuen
Manichäismus oder einem Flacianismus, der die Sünde in den Status einer
Substanz, einer Sache oder eines natürlichen Aktes erhebe.55 Wie Voetius an
anderer Stelle erläutert, ist somit die Ursprungssünde weder eine Substanz oder
Qualität des Menschen, sondern eine akzidentiell zu seiner Natur hinzutretende
böse Disposition oder moralische Verderbtheit.56 So wie das Böse, wie Voetius
mit Augustin sagt, „keine eigene Natur hat, sondern Verlust des Guten genannt“
wird,57 so ist die Sünde als das schuldhafte Böse ein privatives Seiendes.58 Als
ein solches hat sie, wie das Böse, keine Wirkursache im eigentlichen Sinn.59
Weiteres Licht fällt auf Voetius‟ Sündenbegriff, wenn wir uns der dritten Un-
terstellung Bateliers zuwenden. Der remonstrantische Gegner gehe davon aus,
dass nach Voetius‟ Meinung Gott die Sünde auf direkte Weise wolle und be-
schließe, was wiederum falsch sei.60 Vielmehr müsse man, so Voetius, drei
Aspekte der Sünde unterscheiden, nämlich (1) den „der Sünde zugrunde lie-
gende Akt (actus substratus), (2) die „Gesetzlosigkeit“ (ἀνομία) oder ethische Unzulänglichkeit dieses Aktes, und (3) die „Ordinierbarkeit dieser Gesetzlosig-
keit bzw. dieses Aktes“.61
Diese Unterscheidung dreier Aspekte ist wichtig zum Verständnis des Ver-
hältnisses zwischen Gott und der Sünde bei Voetius und findet sich wiederholt
in seinem Werk.62 Sinn dieser Unterscheidung ist zu zeigen, dass der Sünde im
weiteren Sinn, oder, wie Voetius an anderer Stelle schreibt, als Konglomerat
54 Thersites, 212f.: „Secundo, praesupponit per contingentes, futuras, et eventus a Deo decretos in-
telli-//gi a nobis peccata qua peccata. Sed fallitur. Neque enim peccatum est res sive necessaria sive
contingens, sed tantum vitium, inordinatio, et defectus rei.“ Voetius bezieht sich u.a. auf THOMAS, De
malo, q. 1, a. 1; Contra gentiles, c. 7–10; S.Th., I, q. 48, a. 1. 55 VOETIUS, Thersites, 213. Voetius räumt freilich die Möglichkeit ein, dass der Gnesiolutheraner
Matthias Flacius in dieser Hinsicht missverstanden wurde. Zu Flacius vgl. KROPATSCHECK, Das Pro-
blem theologischer Anthropologie. Vgl. oben, Kap. 5.3.3, Anm. 130; Kap. 6.3, Anm. 43. 56 SD I, 1083f.: „Decimaquarta, Peccatum originale non esse hominis substantiam, nec qualitates,
[…] sed affectionem malam seu malignam naturae dispositio-//nem, ac moralem corruptionem, seu
permanentem deordinationem, quae per accidens supervenit.“ 57 SD I, 1059 mit AUGUSTIN, De civitate Dei, II, cap. 9 (PL 41, 325): „Mali natura nulla est, sed
amissio boni mali nomen accepit“; ebenso SD I, 1079. 58 SD I, 1080: „Privatio, seu malum est vel culpae, vel poenae. Malum culpae est peccatum.“ 59 SD I, 1080: „Tertia, peccatum non habere causam positivam, qua talem, directe et per se efficien-
tem, et proprie dictam, sed potius deficientem, seu per accidens efficientem.“ Vgl. SD I, 1059. 60 Thersites, 213: „Tertio praesupponit Deum directe velle, et decernere peccatum ex mea sententia.“ 61 Thersites, 213: „Circa peccatum sunt tria consideranda; actus peccato substratus, ipsa ἀνομία ac-
tus, et ordinabilitas istius ἀμξμίαρ, seu actus quamvis vitiosi in aliquod bonum non quidem ex se et natura sua (quia mali qua tale nullus est finis, nullus effectus bonus) sed per accidens sapientiae, bonita-
tis, et potestatis divinae, qui praeter et contra naturam peccati, et intentionem peccatoris malum potest
convertere in bonum, hoc est, occasione illius bonum aliquod producere.“ 62 DTV, 122–123; SD I, 1059–1060, 1132–1134. Vgl. hierzu jetzt auch GOUDRIAAN, Reformed Or-
thodoxy and Philosophy, 188–192, der jedoch aufgrund der Zuordnung der Zulassung auf den zweiten
Aspekt Voetius eine eingeschränkte Zulassungslehre zuschreibt und dabei unterzubelichten scheint,
dass Voetius auch in dieser Hinsicht nicht von der klassischen Zulassungslehre eines Thomas, Bovena-
tura oder Scotus abweicht.
Gottes guter Wille und das Böse 341
verschiedener Aspekte, zwar solche Aspekte anhaften, die von Gott gewollt
sind, dass aber die Sünde an sich, bzw. abstrakt betrachtet, keineswegs direkt
von Gott gewollt ist, sondern lediglich zugelassen. Die Sünde im eigentlichen
Sinn kommt im zweiten Aspekt zum Ausdruck. Der erste Aspekt, der zugrunde
liegende Akt, hingegen ist, in seiner Naturhaftigkeit und ontischen Qualität
betrachtet, gut und als solcher Objekt des göttlichen Willens. Der dritte Aspekt
ist, richtig verstanden, auch von Gott gewollt, sofern dieser selbst aus dem
Bösen etwas Gutes machen kann. Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass das
Böse an sich zu keinem guten Ziel taugt und nur entgegen seiner Natur für
Gott, der seine göttliche Weisheit, Gutheit und Macht akzidentiell hinzutreten
lässt, Anlass werden kann zur Hervorbringung einer guten Sache.63
Voetius verdeutlicht auch hier anhand eines Beispiels. Nehmen wir etwa ein
komplexes Ereignis wie „das Leiden des unschuldigen Christus zugunsten des
Lebens der Welt“.64 Gott will das dabei vorausgesetzte Geschehen in seiner
natürlichen Qualität sowie die Zuordenbarkeit dieses Ereignisses auf das Heil
der Menschen und die Verherrlichung der göttlichen Barmherzigkeit, Gerech-
tigkeit, Weisheit und Macht.65 Nun gibt es jedoch dieses Leiden des Unschuldi-
gen nicht ohne die Sünde derer, die ihn kreuzigen. Deshalb „hat Gott beschlos-
sen, diese Sünde zwar nicht auf ursprüngliche oder direkte Weise, sondern als
Folge (consequenter) zuzulassen, wobei sich sein Wille unmittelbar um die
Zulassung, nicht aber um die Sünde, dreht.“66
An dieser Stelle behandelt Voetius drei mögliche Einwände des Opponenten.
Der erste Einwand stellt die Frage, ob Voetius‟ Bemühungen, Gott von der
Urheberschaft des Bösen zu befreien, nicht rein verbal sind, solange er an der
Dekretenlehre festhält. Eignet dem permissiven Dekret nicht letztlich dieselbe
Wirksamkeit wie dem effektiven Dekret, wenn die Sünde aufgrund dieses De-
krets eine bestimmte Wahrheit in der Zukunft hat?67 Voetius‟ Antwort ist ein-
deutig:
63 Thersites, 213: „Actum naturalem qua talem, et ordinabilitatem in bonum Deus directe vult et de-
cernit; Vitium non vult sed permissionem vitii, et quidem consequenter.“ Vgl. oben Anm. 61, und vgl.
DTV, 123, wo Voetius sich auf AUGUSTIN, Enchridion, cap 100f., und De praed. sanctor., cap 16,
bezieht. 64 Thersites, 213: „Totum ergo illud complexum rei seu eventus alicujus exemp. gr. innocentis
Christi passionem pro mundi vita vult et decernit Deus directe, quod ad actus et media naturalia et quod
ad ordinabilitatem.“ 65 Siehe oben, Anm. 64. 66 Thersites, 213: „[…] sed quia innocens non potest crucifigi absque peccato crucifigentium, decre-
vit Deus non primo aut directe sed consequenter permittere illud peccatum voluntate ejus immediate
versus circa permissionem non vero circa peccatum.“ In Thersites, 214, zitiert Voetius zustimmend
ARMINIUS, Disputationes privatae, th. 17, n. 2 (356): „Novit Deus omnia […] per suam ipsius essentiam
et solam; exceptis malis, quae indirecte novit per opposita bona; sicut mediante habitu cognoscitur
privatio.“ 67 Thersites, 214: „Instant[ia]. 1. Atqui statuitis decretum premissivum ejusdem efficaciae esse cum
decreto effectivo, nec enim decretum permissivum tibi otiosum est, sed ita efficax, ut quia decretum sit
factum ideo peccatum quoque in futurum determinatam habeat veritatem.“
342 Gottes Wille
„Es gibt keine bewirkende Zulassung, da sie ein Ablassen vom Akt ist und ein Unterlassen
der Verhinderung.“ 68
Gottes Zulassung ist also weder ein positiver Willensakt noch bewirkt sie ir-
gendetwas. Bewirkend ist lediglich Gottes Wille in Bezug auf die Zulassung,
also im Sinne eines Willensakts der zweiten Ordnung. Gott will jedoch nicht
die Sünde; er beabsichtigt sie nicht und bestimmt auch nichts hinsichtlich der
Sünde, sondern er beabsichtigt die Zulassung der Sünde. So gibt es nur in Be-
zug auf die Sache, der die Sünde anhaftet, eine bestimmte Wahrheit, nicht aber
in Bezug auf die Sünde selbst, außer im akzidentiellen Sinn und der Konse-
quenz nach.69
Der zweite Einwand des Opponenten führt Calvin ins Feld. Behauptet dieser
nicht, dass Gott Urheber all der Dinge sei, die nach Meinung der Kritiker nur
unter Gottes müßiger Zulassung (otiosa permissio) geschehen?70 Voetius nimmt
Calvin in Schutz, da dieser hier lediglich berichte, dass die Schrift von Gott als
als Urheber der Sünde spreche – allerdings, so ergänzt Voetius bezeichnender-
weise, „gewiss in dem Sinn, den ich oben erklärt habe“. Gemeint ist, dass Gott
die Sünde hinsichtlich des Aspekts ihrer Ordinabilität auf das Gute will. Dabei
gehört dieser Aspekt freilich nicht zum Wesen der Sünde, sondern ist auf Gottes
Wirksamkeit zurückzuführen.71
Der dritte Einwand bezieht sich auf Luther, für den „alle Dinge absolut und
notwendig“ seien, da Gottes Prädestination eine Freiheit und Kontingenz auf-
hebende Notwendigkeit mit sich bringe.72 Voetius‟ Antwort überrascht:
„Wenngleich ich Luther, Calvin und andere Gelehrte nicht zusammen mit ihren undankba-
ren Schülern schmähe, bin ich dennoch nicht gehalten, jede ihrer Aussagen als allgemeine
Lehre unserer Kirchen anzunehmen.“73
68 Thersites, 214: „Resp. Permissio efficax nulla est, quia est cessatio ab actu et impedimenti sus-
pensio.“ 69 Thersites, 214: „Ubi non est efficientia, ibi non est efficacia. […] Res illa, cui peccatum cohaeret
proprie et directe habet determinatem veritatem, peccatum non nisi consequenter et quidem per acci-
dens: Deus enim per se illud non intendit, nec aliquem ad illud destinat, sed consequenter intendit
permittere.“ 70 Thersites, 214, unter Bezugnahme auf CALVIN, Institutio (1559), I, 18, 3 (CR 30, 170), wo Calvin
auf Ps 115,3; Jes 45,5 und Am 3,6 verweist. 71 Thersites, 214: „Calvinus dicit a scriptura Deum vocari authorem, et quidem eo sensu quem supra
exposui: si cum scriptura sentit et loquitur, cur vapulat? Respectu ordinabilitatis, seu peccatum qua
ordinabile et ordinatum ad bonum aliquod, est a Dei efficaci operatione; ad bonum scil. Illustrationis
gloriae divinae, ad bonum justitiae, ad bonum misericoriae: Non est tamen bonum illud ad quod ordina-
tur, de essentia peccati, nec mutat intrinsece naturam peccati, nec inde aliquid accedit aut decedit.“ 72 Thersites, 214, ohne Stellenangabe; vgl. jedoch WA 43, 5f. (Genesisvorlesung 1534–1545, zu
Gen. 26,9): „Scripsi autem inter reliquia, esse omnia absoluta et necessaria […].“ Vgl. auch WA 7, 146,
7f. (Assertio) und StA 3, 267, 12–14 = WA 18, 699 (De servo arbitrio), wo Luther die vom Konstanzer
Konzil (1415–1418) verurteilte These des Augustiners John Wyclif, wonach „alles aus unbedingter
Notwendigkeit“ geschehe („Omni de necessitate absoluta eveniunt“; DH 1177), in Schutz nimmt.
Gottes guter Wille und das Böse 343
Voetius macht sich also nicht abhängig von möglicherweise deterministisch zu
deutenden Aussagen der Reformatoren. Indem er allerdings dennoch obigem
Lutherzitat einen guten Sinn abzugewinnen versucht und die erwähnte Not-
wendigkeit als lediglich relative Notwendigkeit (necessitas secundum quid)
bzw. Notwendigkeit der Folge (necessitas consequentiae) deutet, greift er auf
den traditionellen Usus des exponere reverenter zurück.74
Nun ist die necessitas consequentiae durchaus kompatibel mit der Freiheit
und Kontingenz des Konsequenten und impliziert keine Kausalität im eigentli-
chen Sinn. So errichtet zwar „das unfehlbare Vorherwissen Gottes, das der
Sünde vorausgeht, eine Notwendigkeit der Folge“, ist aber dabei keinesfalls
„Ursache der folgenden Sünde“. Ebenso wenig ist das der Sünde vorausgehen-
de „Dekret des Zulassens“ in irgendeiner Weise Ursache die Sünde.75 Zur Be-
gründung zitiert Voetius zustimmend Arminius:
„Das Dekret selbst, gemäß welchem der Herr die Vorsehung und deren Akte administriert,
legt den zukünftigen Dingen keine Notwendigkeit auf. Da es nämlich ein innerer Akt
Gottes ist, errichtet er nichts in der Sache selbst.“76
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Voetius nicht nur verbal Gott von der
Urheberschaft des Bösen ausschließen möchte, sondern deutlich ‚unbefangener„
als Luther oder Calvin die klassische Zulassungslehre rezipiert und präzisiert.
Dabei deutet er die Zulassung präzise als Gottes Nicht-Verhindern des Bösen,
also als Abwesenheit eines positiven Willensaktes. Dieses Nicht-Verhindern
resultiert jedoch nicht etwa aus göttlicher Ohnmacht, sondern ist mit einem
Willensakt der zweiten Ordnung von Gott gewollt. Es handelt sich somit kei-
nesfalls um eine müßige Zulassung (permissio otiosa). Indem nun Gott die
Zulassung des Bösen, nicht aber das Böse will, besteht zwar eine necessitas
73 Thersites, 215: „Quamvis Lutherum, Calvinum, aliosque doctores non proscindam cum ingratis
discipulis, non teneor tamen quaevis dicta eorum pro communi Ecclesiarum nostrarum doctrina am-
plecti.“ 74 Thersites, 215: „Necessitas tamen eventibus humanis et contingentibus tribuitur, non absolute in
se seu intrinsece, sed secundum quid per externam quandam relationem ad aliud, et ex hypothesi, sic ut
in se et intrinseca natura sua nihilominus maneat contingens ac libera. […] Necessitatem consequentiae
hic intelligimus.“ LUTHER hingegen lehnt in De servo arbitrio die Unterscheidung zwischen einer
necessitas consequentiae und consequentis als unnütze Wortspielerei ab und betont, dass alle Dinge mit
Notwendigkeit geschehen (Studienausgabe [StA] 3, 191, 3–5 = WA 18, 615; StA 3, 192, 8–18 = WA 18,
617; StA 3, 290, 31f. = WA 18, 722 u.ö.). Freilich sollte der soteriologische Kontext beachtet werden;
vgl. hierzu REINHUBER, Kämpfender Glaube, 119–124. Zum mit der mittelalterlichen Autoritätsidee
verbundenen Gebrauch des exponere reverenter vgl. DE RIJK, La philosophie au moyen âge, 87–96,
103, 152, 156; VOS, The Philosophy of John Duns Scotus, 4–6, 528–539. 75 Thersites, 216–217: „Breviter si praescientia Dei infallibilis praecedens peccatum hominis ponit
necessitatem consequentiae, […// …] et tamen praecedens scientia illa non est causa sequentis peccati;
ergo nec decretum permittendi.“ Vgl. die ausführliche Begründung, dass ein Antezedent nicht notwen-
digerweise Ursache des Konsequenten ist, in DTV, 120–122. 76 Thersites, 217 (wörtliches Zitat aus ARMINIUS, Disputationes privatae, th. 28 [nicht 29], n. 15
(373): „Ipsum decretum secundum quod providentiam ejusque actus administrat dominus, necessitatem
rebus futuris non infert: cum enim actus Dei internus sit, in re ipsa nihil ponit.“
344 Gottes Wille
consequentiae zwischen Gottes Zulassung des Bösen und der Tatsächlichkeit
des Bösen, ohne dass jedoch das Böse damit notwendig oder verursacht werden
würde. Das Böse in seiner Boshaftigkeit bzw. die Sünde in ihrer Sündhaftigkeit
ist in keiner Weise auf Gott zurückzuführen, obwohl natürlich die physischen
Voraussetzungen der Sünde von Gottes Providenz abhängig sind und Gott in
seiner Weisheit trotz der an sich sinnlosen Sünde seine guten Ziele erreicht.77
9.4 Der freie Wille als Dreh- und Angelpunkt
In der Struktur der Gotteslehre bei Voetius spielt der göttliche Wille eine ent-
scheidende Rolle. Ihm kommt sozusagen eine Achsenfunktion zu; er ist Dreh-
und Angelpunkt. Dies wird etwa deutlich in der Lehre vom göttlichen Wissen
(Kap. 8). So ist der Unterschied zwischen Gottes notwendigem Wissen (scientia
necessaria), welches strukturell-logisch jedwedem Willensakt voran geht, und
dem strukturell dem Willen folgenden freien Wissen (scientia libera) durch
eben diesen Willen konstituiert. Analoges gilt für die bei Voetius im scotischen
Sinn gefüllte, terminologisch aber bei Thomas vorgefundene Unterscheidung
zwischen Gottes Wissen der einfachen Einsicht (scientia simplicis intel-
ligentiae) und seinem Wissen der Schau (scientia visionis). Auch für die Unter-
scheidung des unbestimmten vom bestimmten Wissen (scientia indefinita –
definita) ist der den Wahrheitswert einer ansonsten neutralen Proposition be-
stimmende göttliche Wille von entscheidender Bedeutung. Gottes praktisches
Wissen (scientia practica) schließlich zeichnet sich dadurch aus, dass es, im
Unterschied zu Gottes spekulativem Wissen (scientia speculativa), mit dem
Willen verbunden ist.78 Folgerichtig verweist Voetius in seiner Antwort auf die
Frage, inwiefern Gottes unfehlbares Vorherwissen mit der Kontingenz der zu-
künftigen Wissensobjekte vereinbar ist, nicht auf die Gegenwart aller Sachver-
halte vor Gottes Ewigkeit im Sinne des boethianisch-thomistischen Ewigkeits-
begriffs, sondern auf die Schlüsselrolle des freien göttlichen Dekrets, aufgrund
dessen Gott die kontingente Zukunft weiß.79
77 In diesem Sinn könnte man die Sünde, ohne sie zu verharmlosen, mit BARTH, KD IV/1, 48f., als
kontingenten „Zwischenfall“ bezeichnen. Voetius‟ differenzierte Zulassungslehre hebt sich ab von der
Darstellung der reformiert-orthodoxen Zulassungslehre bei SCHWEIZER, Glaubenslehre, 368–386, wo-
nach Gott letztlich auch Urheber des Bösen ist, wenn auch nicht in gleicher Weise, wie er Urheber des
Guten ist. Eine solche Deutung würde, wie jüngst Willem van Asselt zeigen konnte, auch etwa Macco-
vius nicht gerecht werden; siehe VAN ASSELT, Johannes Maccovius; VAN ASSELT, The Theologian‟s Tool
Kit; VAN ASSELT, On the Maccovius Affair; vgl. jedoch auch oben, Anm. 30. Vgl. gegen Schweizer
bereits EBRARD, Christliche Dogmatik, I, 339–348. 78 Siehe oben Kap. 8.2. 79 Vgl. SD V, 587: „Haec est ergo sententia, haec intentio nostra, ut certitudo scientia visionis, seu
praescientiae definitae futurorum contingentium quaeratur et statuatur primo in Dei voluntate seu ejus
decreto, tanquam in propria radice ejus (ita loquar); non vera extra illud, e. gr. in ipsa determinata
veritate futurorum contingentium, aut in rerum omnium praesentialitate in Deo, seu in earum existentia
Der freie Wille als Dreh- und Angelpunkt 345
Resümierend kann gesagt werden, dass Gottes Wissen der faktischen Wirk-
lichkeit dem göttlichen Willen folgt. Der freie Wille selektiert auf kontingente
Weise aus der Menge der von Gott auf notwendige Weise gewussten Möglich-
keiten eine konsistente Teilmenge – extrapolierend könnte man sagen: eine
mögliche Welt –, und verleiht ihr aktuelles Sein. Diese so aktualisierte Teil-
menge – die aktuelle Welt – ist kontingent; sie könnte auch nicht aktualisiert
sein. Mit ihrem aktuellen Sein ist die synchrone Möglichkeit, nicht aktualisiert
zu sein, kompatibel. Da Gott seinen freien und kontingenten Willensbeschluss
kennt, kennt er die aktuelle Teilmenge in ihrem aktuellen Sein, und zwar auf
freie und kontingente Weise.80
Auch im Verhältnis zur göttlichen Macht bzw. Gottes Handlungsvermögen
spielt Gottes Wille die entscheidende Rolle. Die potentia Dei ist in Relation zu
Gottes Willen nicht mehr als „der äußere Grund, der dem ewigen und inneren
Willensbeschluss entsprechend extern und in der Zeit folgt und wirkt“, während
der Wille hierfür der „vorbereitende und immanente Grund“ ist.81
Mit dieser Schlüsselstellung des göttlichen Willens hängt zusammen, dass
für Voetius, wie wir gesehen haben, das Konzept der scientia media obsolet ist:
Gott kennt die bedingt-zukünftigen Sachverhalte als neutrale Möglichkeit mit
seinem natürlichen Wissen und, mit seinem freien Wissen, in ihrem vom göttli-
chen Willen bestimmten Wahrheitsgehalt. Die Gewissheit des göttlichen Wis-
sens hinsichtlich dieser Sachverhalte ist weder wie bei Molina in Gottes über-
ragendem Begreifen der geschöpflichen Willensurteile noch wie bei Suárez in
einer prävolitional bestimmten Wahrheit der gewussten Propositionen begrün-
det. Vielmehr ist auch hier der göttliche Wille entscheidend. Anders als bei
Arminius, der sich Molinas Lehre von der scientia media anschließt, gibt es bei
in aeternitate, aut in ideis aut in causis moraliter necessitantibus, aut in essentia divina tanquam in
medio, aut in decreto concomitante, aut in causa libera super-comprehensa, aut per excellentiam et
infinitatem divinae scientiae, aut per simplicem intuitum veritatis seu intuitive in seipsis.“ Vgl. DTV,
43f. 80 Obwohl Voetius‟ Denken auf diese Weise in eine moderne modal-ontologisches Sprache übersetz-
bar ist, ist freilich zu beachten, dass es ein Anachronismus wäre, bei ihm das Konzept einer ‚möglichen
Welt„ im Sinne der modernen Möglichen-Welten-Semantik vorauszusetzen. Wenn Voetius etwa in SD
V, 119–123 (vgl. auch V, 123–136) die Frage behandelt, „An per absolutum Dei potentiam, plures
mundi procudi possint“, hat er nicht eine maximale und konsistente Menge möglicher Sachverhalte im
Blick, sondern eher eine konkrete Welt im Sinne des ptolemäischen Weltbilds. Dennoch haben bereits
für ihn ‚mögliche Welten„ durchaus die Funktion, eine von Gott synchron aktualisierbare Alternative
zur aktuellen Welt anzuzeigen; vgl. etwa SD I, 293–295, zitiert oben in Kap. 8.3.8, Anm. 154; siehe
dort auch Literatur zu möglichen Welten im 17. Jahrhundert. 81 Voetius, SD V, 91: „XVI. Quaest. Utrum voluntas Dei sit causa rerum? A[ffirmatur] cum
D[istinctione]. Resp[ondetur]. Praeposita aliqua distinctione inter voluntatem et potentiam Dei, sub
distinctione respondemus, voluntatem esse causam praeparantem et immanentem: potentiam esse
causam externe et in tempore secundum aeternum et internum voluntatis decretum exequentem atque
operantem.“ Voetius beruft sich hier auf Eph 1,11.19. Vgl. BECK/DEKKER, Gods kennis en wil, 41, 54,
und unten Kap. 11.2. Ähnlich SCOTUS, Lectura, I, d. 39, n. 45, 53 (ed. Vat., XVII, 493, 496f.; CF, 108f.,
124f.).
346 Gottes Wille
Voetius kein Primat des göttlichen Verstandes, das die Freiheit des göttlichen
Willens, keine oder eine andere als die aktuelle Welt erschaffen zu wollen,
einschränken würde.82 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang Voetius‟
Sorge, dass das Kalkül der scientia media in einen stoischen Fatalismus um-
schlagen könnte.83
Gottes Wille in Bezug auf die Sekundärobjekte ist für Voetius dezidiert frei:
Gott hat ein freies Willensurteil (liberum arbitrium), und was er will, will er
nicht aufgrund der Notwendigkeit seiner Natur.84 Gottes Wille ist ewig, unend-
lich und als solcher Grund der Sekundärobjekte, und zwar sowohl der kontin-
genten Objekte, die zugleich auf den Willen der Geschöpfe zurückgehen, als
auch der ‚notwendigen„ Objekte, die zwar an sich kontingent sind, aber als
notwendig bezeichnet werden, da sie weltimmanent auf natürlichen Ursachen
beruhen und den Naturgesetzen folgen.85
Bedeutet dies, dass Gottes Dekrete temporell veränderlich sind? Hierzu ten-
dierte, zumindest aus Voetius‟ Sicht, der profilierte remonstrantische Theologe
Conradus Vorstius. Für Vorstius sind die Dekrete entweder Akzidentia zu Got-
tes Wesen, oder sie sind der Notwendigkeit dieses Wesens unterworfen. Um die
letztgenannte Alternative zu vermeiden, optiert Vorstius zugunsten einer Deu-
tung der Dekrete im temporell-akzidentiellen Sinn.86
Für Voetius kommt keine der beiden Alternativen in Frage. Aufgrund der
simplicitas Dei gibt es im ewigen göttlichen Wesen keine der Zeit unterworfe-
nen Akzidentia; Gottes Wille und Wollen ist Gott selbst.87 Dies steht jedoch,
82 Vgl. oben Kap. 8.3 (bes. 8.3.4, 8.3.8 und 8.3.9), und zur ambivalenten Position Arminius‟
DEKKER, Rijker dan Midas, 107–109. Vgl. auch die in ihrem Duktus teilweise irreführende Beobach-
tung von SPARN, Subjekte von Freiheit, 174: „In der Tat lehnen die calvinistischen Dogmatiker den
molinistischen Begriff und die damit verbundenen Annahmen ab, und zwar umso schärfer, je entschie-
dener sie gegen die arminianische Ermäßigung des theologischen Voluntarismus, d. h. für die supra-
lapsarische Fassung des doppelten Prädestinationsdekrets auftreten, wie William Ames oder Gisbert
Voet.“ 83 Vgl. SD I, 331–336 und oben Kap. 8.3.10. Auch wenn diese Darstellung von der Sichtweise Voe-
tius‟ ausgeht, soll gewiss nicht die Möglichkeit einer theologisch fruchtbaren Interpretation der molinis-
tischen scientia media ausgeschlossen werden; vgl. hierzu CRAIG, Divine Foreknowledge and Human
Freedom; DEKKER, Does Duns Scotus Need Molina?; DEKKER, Middle Knowledge. 84 VOETIUS, Syllabus, F2r: „An Deus habeat liberum arbitrium? A[ffirmatur]. An quicquid Deus vult
ex necessitate naturae suae velit? N[egatur].“ 85 Syllabus, F2v: „An [velle Dei] sit prima regula et ratio contingentium? A[ffirmatur]. An idem sit
prima regula et ratio necessarium? A[ffirmatur]. An voluntas Dei sit aeterna? A[ffirmatur]. An possit
dici infinita? A[ffirmatur].“ Vgl. für die paraphrasierende Erläuterung DTV, 105–108, und unten Kap.
12.3. 86 VORSTIUS, Tractatus Theologicus de Deo, 208–210, hier 208: „Si enim quidquid in DEO est,
Deus est, non potest quidquam apud animum suum Deus libere, h. e. contingenter sive indifferenter
decernere: proinde nec libere aut contingenter quidquam potest operari. Nam in essentia DEI nulla est
mutabilitas, aut contingentia, Si igitur omnis actio divinae voluntatis est ipsa DEI essentia, consequitur
omnino, Deum, quidquid vult, ex naturae necessitate velle. […] [E]t proinde totidem in Deo accidentia
sunt, quod decreta de rebus foris efficiendis.“ Vgl. SD I, 245[= 235]–245. 87 VOETIUS, Syllabus, F1r: „An voluntas et velle sit ipse Deus? A[ffirmatur].“ Vgl. hierzu die Dis-
kussion in SD I, 249[= 239]–241. Vgl. zur Simplicitas-Lehre oben, Kap. 7.7.1f.
Der freie Wille als Dreh- und Angelpunkt 347
richtig verstanden, der Freiheit der göttlichen Willensbeschlüsse nicht im Weg.
Mit Siegesgewissheit präsentiert Voetius einen Lösungsansatz zu dem von
Vorstius behaupteten Dilemma: Statt Temporalität ins göttliche Wesen hinein-
zutragen, müsse man, so Voetius, drei strukturelle Momente (momenta seu
instantia rationis, aut naturae) in Bezug auf das göttliche Wesen unterscheiden.
Im ersten Strukturmoment bezieht sich Gott nach unserem Verständnis auf
notwendige Weise auf sich selbst als sein Primärobjekt. Im zweiten Struktur-
moment bezieht Gott sich ohne irgendeine Veränderung oder reale Hinzufügung
zu seinem Wesen in freier Weise auf die Geschöpfe, die er unmittelbar durch
sein Wesen versteht, will und beschließt. Der dritte strukturelle Moment
schließlich besagt eine hieraus resultierende Beziehung, die in Gottes Verstand
Wirklichkeitscharakter hat (respectus rationis) und sowohl auf der freien Be-
stimmung des Dekrets beruht als auch auf dem Zukünftigsein bzw. der Existenz
des Geschöpfes.88 Obwohl es notwendig ist, dass Gott etwas beschließt in Be-
zug auf jeden möglichen Sachverhalt, nämlich ob er aktualisiert wird oder
nicht, ist das göttliche Dekret dabei jeweils frei und bezieht sich in Freiheit auf
die jeweiligen Sachverhalte.89
Statt temporelle Veränderung oder Akzidentalität in Gottes Wesen und De-
kret hineinzutragen, bedient sich Voetius hier des originär typisch scotischen
Instruments der Unterscheidung verschiedener Stadia oder Strukturmomente.90
Dadurch ergibt sich eine mit Gottes simplicitas kompatible Dynamik in der
Gotteslehre, die Raum schafft für die Freiheit und Kontingenz des göttlichen
88 SD I, 240f.: „Tertius fons solutionum est, Decretum potest a nobis concipi secundum tria momenta
seu instantia rationis, aut naturae, non vero temporis seu durationis, quia decretum est Deo coaeternum,
In primo concipimus essentiam divinam per modum actus vitalis significatam, quatenus necessario
terminatur ad Deum tanquam objectum primarium, et adhuc indifferens est ad creaturas. In secundo
concipimus eandem, quatenus libere terminatur ad creaturas producendas aut gubernandas, sine ulla sui
mutatione, vel reali additione […//…]. Tantummodo accedit externa quaedam denominatio et respectus
rationis, quo essentia Dei per modum intelligentis, amantis, decernentis refertur ad rem intellectam
amatam et decretam. In tertio ergo instanti concipimus decretum quatenus hinc resultat respectus
rationis, qui ex parte Dei fundatur in ipso decreto jam libere terminato; et ex parte creaturae in ipsa
futuritione seu existentia illius.“ 89 SD I, 240: „Est ex[emplum] gr[atiae] necessarium, ut Deus quid decernat de istius possibilis aut
hominis, aut canis, aut arboris existentia et actione tali aut tali: sed liberum est, ut decernat in istam aut
istam contradictionis partem; ut scil[icet] sit aut non sit.“ In erster Hinsicht ist die Bezugnahme des
Dekrets auf die Sekundärobjekte „notwendig im zusammengesetzten bzw. zusammengestellten Sinn“
(necessaria composite seu conjunctim), während sie in zweiter Hinsicht „schlechthin frei ist, nämlich
im getrennten Sinn“ (est simpliciter libera; divisim scil[icet]), ebd. Vgl. zu dieser Unterscheidung die
Erklärung weiter unten, und vgl. Kap. 12.2. 90 Vgl. HOENEN, Marsilius of Inghen, 84f., wo Hoenen „[t]he distinction of conceptual stages (signa
naturae, signa originis, instantia naturae, instantia originis)“ als einen der im 14. Jahrhundeten kon-
troversiellen und intensiv diskutierten „aspects of Scotus‟s position“ charakterisiert und korrekt beo-
bachtet: „Its use was typical of Scotus and of Scotists generally“ (ebd., 84). Siehe ferner zur
Begründung der These, „that the formal distinction and the theory of stages were seen as typical of
Scotus by his contemporaries“, HOENEN, Scotus and the Scotist School, 198–202, hier 201, und vgl.
VOS, The Philosophy of John Duns Scotus, 237–249.
348 Gottes Wille
Willens und seiner Akte bzw. Beschlüsse.91 In ihrer Beziehung auf die Sekun-
därobjekte kann der Wille Gottes sozusagen in äußerer Benennung als frei und
nicht-notwendig bezeichnet werden, oder, in der Terminologie moderner Mo-
dallogik, als kontingent.92
Obwohl Voetius eindeutig die Freiheit und Nichtnotwendigkeit des göttli-
chen Willens und Wissens in ihrer Beziehung auf die Sekundärobjekte lehrt,
beschränkt er konsequent die Verwendung des Terminus ‚kontingent„ auf den
kreatürlichen Bereich. Offensichtlich möchte er Konnotationen einer temporel-
len oder diachronen Veränderlichkeit und einer Fehlbarkeit, die dem traditionel-
len Kontingenzbegriff seit Aristoteles anhaften, vermeiden.93 Dass er dennoch
dem göttliche Handeln, und damit auch Gottes Willen, Freiheit im Sinne mo-
dal-ontologischer Nichtnotwendigkeit bzw. Kontingenz zuschreibt, wird auf
eindrückliche Weise im achten Teil der Problemata de Deo deutlich. Dort greift
Voetius eine bereits im Syllabus problematum angeführte Frage auf:
„Kann Gott bewirken, was er nicht bewirkt, oder unterlassen, was er bewirkt?“94
Voetius bejaht diese Frage, sofern eine Unterscheidung beachtet wird. Gemeint
ist die Unterscheidung zwischen dem zusammengesetzten Sinn (sensus compo-
situs) und dem getrennten Sinn (sensus divisus). Wird die Frage im getrennten
Sinn gelesen, so ist die Antwort bejahend; im zusammengesetzten Sinn gelesen
wäre die Antwort jedoch negativ.95 Wie ist dies zu verstehen?
Voetius verwendet hier ein syntaktisches Instrument der scholastischen Me-
thode. Dieses Instrument sei, wie er an anderer Stelle bemerkt, „von vortreffli-
chem Nutzen bei theologischen Disputationen“ und werde von den „Thomis-
ten“ erläutert und ständig bemüht, in welchem Zusammenhang insbesondere
91 Auch Duns Scotus will, entgegen mancher Behauptung, die simplicitas Gottes wahren; vgl. FÄH,
Die Einfachheit Gottes; CROSS, Duns Scotus on God, 99–114; VOS, The Philosophy of John Duns
Scotus, 249–261. Wenn LOONSTRA, De leer van God en Christus in de Nadere Reformatie, 113,
schreibt, Theologen wie Voetius hätten nicht verdeutlichen können, wie Gottes Beschluß trotz der
Identifizierung („vereenzelviging“) mit Gottes Wesen frei sein könne, beachtet er zu wenig, dass es sich
hier keineswegs um eine formale Identifizierung handelt; vgl. oben, Kap. 7.7.2. 92 Siehe Anm. 88f. 93 Vgl. DTV, 103f.: „Contingentia definit Philosophus [i.e. Aristoteles, ajb], quod, cum sit, possit
non esse. Plenius ex Scholasticis Naclantus in opere resoluto cap. de origine con//tingentia. Contingen-
tia est entitas positiva modalis, per quam vis causae illativa effectus, habet modificare, et proxime
fallibilitatem in causando sortiri.“ Vgl. Aristoteles, De int. 12, 21a38, und NACLANTUS, Opus doctum
ac resolutum, in quattuor tractatus, seu qaestiones dissectum, „De origine contingentiae“, 143–156, hier
144. Der dominikanische Bischof Jacopo Nacchianti (1500–1569) bezieht sich in diesem Zusammen-
hang positiv auf Duns Scotus. Vgl. auch SD I, 576 f.; DTV, 112. 94 SD V, 115: „II. Quaest. An Deus possit facere, quae non facit, vel praemittere quae facit?“. Vgl.
Syllabus, G1v. 95 SD V; 115: „A[ffirmatur] cum D[istinctione]. Resp[ondetur]. In sensu composito. Neg[atur]. In
sensu diviso, Aff[irmatur]. Vel, de potentia effectus, Neg[atur]. de potentia causae. Affirmatur.“ Vgl.
Syllabus, G1v, wo freilich die Erklärung fehlt, und vgl. insgesamt die Erörterung bei BECK, Gisbertus
Voetius, 215–217, und die Zusammenfassung bei MULLER, PRRD, II, 448.
Der freie Wille als Dreh- und Angelpunkt 349
der spanische Dominikaner Diego Álvarez (ca. 1550–1635) zu nennen sei.96
Schlägt man bei Álvarez nach, so zeigt sich, dass dieser die Distinktion im
scotischen Sinn versteht und nicht der aristotelischen Lesart folgt, die den ge-
trennten Sinn auf verschiedene Zeitmomente bezieht.97 Diese Hintergrundin-
formation erlaubt eine genaue Rekonstruktion der Antwort Voetius‟ auf obige
Frage. Nehmen wir den Satz
Gott, der p nicht bewirkt, kann p bewirken.
Wird die in der Frage ausgedrückte Proposition im zusammengesetzten Sinn
gelesen, dann ergibt sich:
96 SD II, 396: „Sexta reg[ula] ab utraque distingui debet, distinctio sensus compositi et divisi cujus
eximius usus in disputationibus theologicis; et de quo alibi agendum: imprimis cum nullam habeat cum
hac materia affinitatem. Explicant, hanc distinctionem, ejusque usum ostendunt passim Thomistae, in
controversia de concordia gratiae et liberi arbitrii, inter quos nominandus Alvarez de auxiliis divinae
gratiae lib. 2. cap. 11. ubi eam vindicat a detorsione adversariorum.“ Vgl. auch SD I, 338, 393f.; II,
396, 449; IV, 3; DTV, 44, 101, 102f.; VOETIUS/NETHENUS, De concursu determinante, Q3r–G3v;
VOETIUS/BEECKMAN, Disp. Phil.-Theol., A4r–v, B1v, mit BECK, The Will as Master of Its Own Act. 97 ÁLVAREZ, Operis de auxiliis summa, II, c. 11, n. 1–6 (234–241). Siehe bes. n. 4 (238f.): „Sicut
enim dicimus: Album potest esse nigrum; in sensu composito non significamus, quod albedo sit aut esse
possit seorsum in aliquo subiecto; vel nigredo sit aut esse possit in aliquo subiecto; sed sensus est, quod
albedo et nigredo simul sint compossibiles in eodem subiecto: et propterea propositio illa in sensu
composito est falsa, quia impossibile est, quod aliquid simul sit album et nigrum.“ Vgl. auch n. 6, 240f.:
„Ex quo apparet, Concilium Tridentinum esse intelligendum in sensu diviso, cum definit, liberum
hominis arbitrium a Deo motum, et excitatum posse dissentire, si velit: nam sensus compositus illius
propositionis est, haec duo simul esse compossibilia: Motio Dei efficax ad consentiendum est in libero
hominis arbitrio, et nihil[ominus] dissentiri; qui sensus est falsus. Unde non potuit esse a Concilio
intentus: sensus autem divisus illius definitionis est, quod liberum arbitrium, etiam pro instanti, quo
movetur a Deo efficaciter ad consensum, retinet veram facultatem et potentiam, qua potest dissentire si
velit, quod sufficit ad libertatem, quam adversus Lutheranos intendebat statuere Concilium; nam liber-
tas consistit in facultate ad utrumlibet oppositorum, nimirum ad velle, et nolle divisive, non autem ad
velle, et nolle simul habenda; nam id est impossibile.“ Beachte insbesondere „etiam pro instanti, quo
movetur“ (sychron zu deuten; meine Hervorhebung). Vgl. zum Tridentinum DH 1554 (= can. 4), und
für Álvarez insgesamt GENEST, Prédétermination et liberté créée, 160f., 168–170. Vgl. zur Distinktion
bei Scotus und deren Vorgeschichte VOS u.a., CF, 118–123, 126–129; KNUUTTILA, Modalities in
Medieval Philosophy, 118–122, 139–149; VOS, The Philosophy of John Duns Scotus, 224–232. Vgl.
außerdem GOCLENIUS, Lexicon philosophicum, 556. Auch THOMAS folgt noch der traditionellen Inter-
pretation des getrennten Sinns und hält an der Notwendigkeit der Gegenwart fest; vgl. De veritate, q. 2,
a. 12, ad 4: „[O]mne scitum a Deo est necesse; haec est duplex: quia potest esse vel de dicto vel de re.
Si sit de dicto, tunc est composita et vera, et est sensus: hoc dictum: omne scitum a Deo esse, est neces-
sarium, quia non potest esse quod Deus aliquid sciat esse et id non sit. Si sit de re, sic est divisa et falsa,
et est sensus: id quod est scitum a Deo, necesse est esse: res enim quae a Deo sunt scitae, non propter
hoc necessario eveniunt, ut ex dictis patet. Et si obiiciatur, quod ista distinctio non habet locum nisi in
formis quae sibi invicem succedere possunt in subiecto, ut albedo et nigredo; non autem potest esse ut
aliquid sit scitum a Deo, et postea nescitum; et sic distinctio praedicta hic locum non habet: dicendum,
quod quamvis scientia Dei invariabilis sit, et semper eodem modo, tamen dispositio secundum quam res
refertur ad Dei cognitionem, non semper eodem modo se habet ad ipsam: refertur enim res ad Dei
cognitionem secundum quod est in sua praesentialitate: praesentialitas autem rei non semper ei conve-
nit; unde res potest accipi cum tali dispositione, vel sine ea; et sic per consequens potest accipi illo
modo quo refertur ad Dei cognitionem, vel alio modo; et secundum hoc praedicta distinctio procedit.“
350 Gottes Wille
Gott hat die Möglichkeit, zugleich p nicht zu bewirken und p zu bewirken.98
Diese Lesart heißt deshalb zusammengesetzt, weil der modale Operator sich auf
den gesamten Satzteil hinter dem Komma bezieht. Dieser Satzteil hinter dem
Komma schließt jedoch einen Widerspruch ein, weshalb die Proposition so
gelesen falsch ist. Richtig hingegen wäre die Lesart im getrennten Sinn:
Gott bewirkt p nicht, und er hat zugleich die Möglichkeit, p zu bewirken.
Der modale Operator bezieht sich nun nur auf den Satzteil „p zu bewirken“; die
inhaltlichen Elemente der Ausgangsproposition sind sozusagen voneinander
getrennt. Da die Möglichkeit, p zu bewirken, synchron kompatibel ist mit Got-
tes Nicht-Bewirken von p, ist die Proposition im getrennten Sinn wahr.
Wie bereits angedeutet, wurde der getrennte Sinn vor Scotus traditionell im
Hinblick auf verschiedene Zeitpunkte interpretiert. So verstanden könnte Gott
zwar nicht zugleich etwas bewirken und nicht-bewirken, aber er könnte zu
einem späteren Zeitpunkt etwas bewirken, was er jetzt nicht bewirkt. Angewen-
det auf Gottes innere Akte wie seine Willens- und Wissensakte würde diese
Lesart Temporalität und diachrone Veränderlichkeit in das Wesen Gottes hinein-
tragen. Dies wäre, überspitzt ausgedrückt, die nominalistische Lösung Conrad
Vorstius‟, der damit gewissermaßen in der Tradition Wilhelm von Ockhams und
Gabriel Biels stünde.99 Voetius folgt einen anderen Weg. Ähnlich wie Peter
Martyr Vermigli (1499–1562), der von Gregorius von Rimini (1300–1358)
inspiriert war, und William Twisse, der 1618 ohne seinen Namen zu nennen die
erste Ausgabe von Thomas Bradwardines De causa Dei für den Druck heraus-
gab,100 sieht er eine nicht-diachrone Veränderlichkeit oder Kontingenz des gött-
lichen Willens, Wissens und Handelns: Gott kann von Ewigkeit etwas anderes
wollen, wissen und bewirken, als er tatsächlich will, weiß und bewirkt.101
98 In Formel: M(gBp & g-Bp); (M = modaler Operator für ‚Möglich„; g = Individualkonstante, die
ein Subjekt denotiert; B = Operator für ‚Bewirken„; p = Konstante für das Willensobjekt). 99 Vgl. DEN BOK, Scotus‟ Theory of Contingency, und DEN BOK, Volheidsbeginsel. 100 Obwohl die Titelseite von BRADWARDINE, De causa Dei, angibt: „Iussu Reverendiss. Georgii
Abbot Cantuariensis Archiepiscopi; opera et studio D. Henrici Savilii, Collegij Mertonensis in Acade-
mia Oxoniensi Custodis“, kann dennoch Twisse als der eigentliche Herausgeber betrachtet werden;
siehe GENEST, Prédétermination et liberté créée , 160: „Le véritable auteur de l'édition Savile est en
réalité Twisse, dont le nom n‟apparaît pourtant nulle part dans le livre. Jeune clergyman de tendances
puritaines, ‚converti„ dans des circonstances dramatiques, William Twisse avait transcrit tout le De
causa Dei dès 1613, alors qu‟il n‟était encore que bachelier en théologie à Oxford.“ Genest beruft sich
hierfür u.a. auf Twisse‟ Biograph GEORGE KENDALL, der im Appendix „G. Tuissii vita“ zu seinem Werk
Fur pro tribunali, Oxford 1657, schreibt: „Tandem ad doctoratum in theologia gratulabunda (Academia)
promovit. Dederat scilicet grande specimen, cum eruditionis, tum industriae, utriusque rarioris, ut in
lectionibus et disputationibus suis, ita in scriptis profundi illius doctoris Thomae de Bradwardina, a
Dno. H. Savilio in publicum edendis sua manu et fidelius exaratis, et curiosius emendatis“ (ebd., 68,
zitiert bei GENEST, Prédétermination et liberté créée , 160f., Anm. 798. 101 Vgl. GENEST, Prédétermination et liberté créée, bes. 147–150 (Bradwardine, Ockham, Grego-
rius), und 157–163 (Twisse); JAMES III, Peter Martyr Vermigli; FIORENTINO, Gregorio da Rimini: Con-
tingenza, futuro e scienza nel pensiero tardo-medievale.
Determinierung ohne Determinismus 351
In der jüngeren Forschung wird die von diachroner Veränderlichkeit entkop-
pelte Nicht-Notwendigkeit, wie sie seit spätestens Duns Scotus in die Modallo-
gik eingegangen ist, zunehmend als synchrone Kontingenz bezeichnet.102 Damit
soll jedoch keinesfalls Temporalität oder ‚Chronos„ in Gott hineingetragen und
die Ewigkeit Gottes aufgehoben werden.103 Vielmehr soll das Attribut ‚syn-
chron„ zur konzeptuellen Deutlichkeit beitragen und das historisch gesehen
nicht unbedeutende Missverständnis im Sinne einer diachronen Veränderung
ausschließen. In diesem Sinn ist ‚synchrone Kontingenz„ gleichbedeutend mit
dem gewöhnlichen Kontingenzbegriff der standardisierten Modallogik. Wie aus
obiger Analyse hervorgehen mag, ist der Begriff der synchronen Kontingenz
durchaus geeignet für ein vertieftes Verständnis der von Voetius gelehrten Frei-
heit des göttlichen Willens, Wissens und Handelns.104
9.5 Determinierung ohne Determinismus
Wie wichtig das Konzept der synchronen Kontingenz für ein adäquates Ver-
ständnis der Freiheit des göttlichen Willens in der Theologie Voetius‟ ist, zeigt
sich auch anhand der Missverständnisse, die auftreten können, wenn lediglich
die Betonung der simplicitas Dei und die Abwehr jeder temporellen Veränder-
lichkeit Gottes beachtet wird. So schreibt etwa Jürgen Moltmann im Hinblick
auf die Theologie der reformierten Orthodoxie: „In seinem wesentlichen Rat-
schluß hat Gott ‚keine Wahl„.“105 Eine ähnliche Deutung findet sich bereits im
Idealismus des 19. Jahrhunderts. Wo Johannes Henricus Scholten die Position
102 Die Terminologie geht zurück auf Antonie Vos. Vgl. Anm. 103 103 Das befürchtet HELM, Synchronic Contingency. Vgl. jedoch BECK/VOS, Conceptual Patterns Re-
lated to Reformed Scholasticism, und die Verwendung des Konzepts bei HONNEFELDER, Scientia
transcendens, 56–108; HONNEFELDER, Die Kritik des Johannes Duns Scotus am kosmologischen
Nezessitarismus der Araber; DEKKER, Rijker dan Midas, 3–8; VOS u.a., CF, 23–36; KNUUTTILA, Moda-
lities in Medieval Philosophy, 145f.; DUMONT, The Origin of Scotus‟s Theory; MACDONALD, Synchro-
nic Contingency; LEWIS, Power and Contingency; WOLTER/FRANK, Duns Scotus on the Will and
Morality (ed. 1997), xi; DUMONT, Duns Scotus; WILKS, The Use of Synchronic Contingency; SÖDER,
Kontingenz und Wissen, 85–124; DREYER/INGHAM, Johannes Duns Scotus zur Einführung, 47–60, bes.
58f.; SCHMIDT, Natur und Geheimnis, 327–346; DEWEESE, God and the Nature of Time, 186–194, der
allerdings Scotus und Ockham zuviel auf einer Linie zu sehen scheint, vgl. ebd. 194–200. Vgl. jetzt
auch GELBER, It Could Have Been Otherwise, 109–150, 156–158, und VOS, The Philosophy of John
Duns Scotus, 293–301, 585–589. 104 Auch nach Helm vertritt Voetius (wie angeblich auch Thomas) eine „simple and unadorned con-
tingency of the divine will“; HELM, Synchronic Contingency, 217. Entsprechend deutet Helm Calvin,
für den Gottes Wille kontingent sei, obwohl er alles notwendig mache („necessitates everything“);
HELM, John Calvin‟s Ideas, 170. Auch die Kontingenz des göttlichen Wissens stellt Helm letztlich nicht
in Frage: „In this sense the mainstream theology of the church has always affirmed that God‟s know-
ledge of the contingent must itself be contingent; not that he knows, for he necessarily knows maximal-
ly, by the exercise of his perfect power, but what he knows“; HELM, Synchronic Contingency, 217. 105 MOLTMANN, Gott in der Schöpfung, 93, mit Hinweis auf HEPPE, Dogmatik, 107, wo sich diese
Aussage jedoch nicht findet. Vgl. dagegen MULLER, PRRD, III, 434.