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1 © JOACHIM HERZ STIFTUNG
Einstieg
DIE ZUKUNFT DER RENTENVERSICHERUNG – EINE HERAUSFORDERUNG FÜR DIE SOZIALE SICHERUNG IN DEUTSCHLAND
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht das Modell soziale Marktwirtschaft vor einer Reihe von
Herausforderungen. Schlagwortartig seien die Problemfelder Globalisierung, europäische
Integration, demografischer Wandel und Klimawandel bzw. Energiewende genannt. Dabei sind
die sozialen Sicherungssysteme zentrale Institutionen der sozialen Marktwirtschaft und deren
Zukunftsfähigkeit vor allem durch den demografischen Wandels gefährdet.
Warum das so ist, lässt sich exemplarisch am Beispiel der Rentenversicherung zeigen: Sie wird in
Deutschland zum größten Teil im Umlageverfahren durchgeführt, d. h. die aktuell im Arbeitsprozess
Stehenden finanzieren die Renten der heutigen Rentnergeneration. Damit ist die Rente abhängig
von der demografischen Entwicklung. Und dort zeichnen sich gravierende Änderungen ab.
Es stellt sich die Frage, wie die Rentenversicherung zukunftsfest gestaltet werden kann.
ÜBERBLICK ÜBER DIE UNTERRICHTSEINHEIT
THEMENBEREICH Soziale Marktwirtschaft � Herausforderungen für die soziale Sicherung in Deutschland
VORWISSEN Grundkenntnisse der sozialen Marktwirtschaft, Grundkenntnisse der sozialen Sicherungssysteme
in Deutschland
ZEITBEDARF 2 Unterrichtsstunden
METHODE Streitgespräch als Amerikanische Debatte
KOMPETENZEN Die Schülerinnen und Schüler …
• stellen Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung dar und beurteilen deren Implikationen für
die soziale Sicherung am Beispiel der Rentenversicherung.
• charakterisieren die Finanzierung der Rentenversicherung als ein Problem des modernen
Sozialstaats.
• erläutern konkrete Reformansätze zur Rentenversicherung und beurteilen diese.
SCHLAGWORTE Soziale Marktwirtschaft, Sozialstaat, demografischer Wandel, Rentenversicherung,
Generationenvertrag
AUTOR Dr. Stephan Podes
PRODUKTION C.C. Buchner Verlag
2 © JOACHIM HERZ STIFTUNG
Die Zukunft der Rentenversicherung – eine Herausforderung für die soziale Sicherung in Deutschland
DIE ZUKUNFT DER RENTENVERSICHERUNG – EINE HERAUSFORDERUNG FÜR DEN SOZIALSTAAT IN DEUTSCHLAND
Als Sozialstaat kann die Bundesrepublik Deutschland durchaus Erfolge verzeichnen, etwa indem
der Sozialstaat „dazu beiträgt, das Bewusstsein in der Bevölkerung zu verbreiten, unter einiger-
maßen gerechten Verhältnissen zu leben.“ (Franz Xaver Kaufmann, Das Doppelgesicht des
Sozialstaats, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.2.2014) Der Sozialstaat wirke damit stabilisie-
rend auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse und trage wesentlich zur Akzeptanz
der herrschenden rechtsstaatlichen und demokratischen Ordnung bei.
Allerdings sieht sich dieser Sozialstaat mit großen Herausforderungen konfrontiert. Mit Rekurs
auf die Geschichte des Modells Deutschland heißt es dazu bei Daniel Buhr: „Das Konzept der
Sozialen Marktwirtschaft hat den Wiederaufbau der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig
beeinflusst. Das Zusammenspiel von wirtschaftlicher Freiheit und sozialer Absicherung ist als
eines der zentralen wirtschaftspolitischen Ordnungsprinzipien fest verankert worden. Der
Wirtschaftspolitik kommt seitdem auch und vor allem die Aufgabe zu, die Rahmenbedingungen
für eine Fortführung der Sozialen Marktwirtschaft in Zeiten des wirtschaftlichen und gesell-
schaftlichen Wandels zu gewährleisten. Und die Herausforderungen sind zu Beginn des 21. Jahr-
hunderts ebenso drängend wie vielfältig. Mit den Schlagwörtern Globalisierung, Europäische
Integration, demografischer Wandel und Klimawandel sind vier Entwicklungsprozesse genannt,
die von besonders tiefgreifender Bedeutung für die Wirtschaftspolitik sind, da sie jeweils alle
wirtschaftspolitischen Ziele betreffen und vor allem auch durch ihre Gleichzeitigkeit zu massiven
Zielkonflikten führen können.“ (Buhr 2014, S. 100)
Welche Auswirkungen haben diese Herausforderungen auf den deutschen Sozialstaat? Die
vorliegende Unterrichtseinheit thematisiert exemplarisch nur eine der hier genannten vier
Herausforderungen: Das System der Rentenversicherung und seine durch den demografischen
Wandel problematische Finanzierbarkeit. „Immer wieder sind Gesellschaften mit Fragen
konfrontiert, die man sich früher nicht hätte vorstellen können. In den frühen Jahren der
Bundesrepublik, als Kanzler Konrad Adenauer das umlagefinanzierte Rentensystem auf den Weg
brachte, konnte man sich noch nicht vorstellen, dass dieses System einmal aus demografischen
Gründen untragbar werden könnte: „Kinder kriegen die Leute immer“, meinte Adenauer. Aber die
Gesellschaft hat sich verändert, die „Leute“ bekommen immer weniger Nachwuchs – und das
stellt so manches Hergebrachte auf den Kopf, nicht nur das Rentensystem.“ (Horn 2010, S. 180)
Wenn sich die Alterspyramide auf den Kopf stellt, dann bleibt das für den Sozialstaat nicht ohne
Folgen, denn die Sozialsysteme sind für ein solches Generationenverhältnis nicht gebaut:
Weniger beitrags- und steuerzahlende Erwerbstätige und gleichzeitig eine größere Gruppe an
Rentenempfängern führen den Generationenvertrag an seine Grenzen, wenn nicht entsprechende
Produktivitäts- und damit Lohnsteigerungen einen Ausgleich schaffen.
Sachanalyse
Literaturhinweise:
• Buhr, Daniel u. A. (2014): Wirtschaft und Politik – eine Einführung, Kohlhammer: Stuttgart.
• Horn, Karen Ilse (2010): Die Soziale Marktwirtschaft, Frankfurt a. M.
3 © JOACHIM HERZ STIFTUNG
Die Zukunft der Rentenversicherung – eine Herausforderung für die soziale Sicherung in Deutschland
Zeit Phase Inhalte Materialien Tipps/Hinweise
1. und 2. Unterrichtsstunde
5‘ Einstieg Abfrage von Vorwissen der SuS zu der aktuellen Situation der sozialen Sicherungs systeme in Deutschland und Impuls für erste Fragestellungen zu den Herausforderungen des Sozialstaates
Impulsfilm: Der deutsche Sozialstaat – vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall?
Dient der Lehrkraft als Hinführung zum Stundenthema und als Anstoß für erste Fragestellungen
15' Erarbeitung I Materialauswertung und Formulieren von Hypothesen zu den Auswirkungen des demografischer Wandels auf die Rentenversicherung in Deutschland
M1 Der Generationen-vertrag
M2 Bevölkerungsvor-ausberechnung
15' Erarbeitung II Konfrontation der Hypothesen mit der empirischen Evidenz � Überprüfung der Hypothesen
M3 Die Probleme der Rentenversicherung
25‘ Vertiefung Vertiefender Blick auf einen möglichen Lösungsansatz: Heraufsetzen des Rentenalters
Vorbereitung auf die Amerikanische Debatte
M4 Rente mit 83 – eine Lösung?
M5 Wie du mir, so ich dir
M6 Rente mit 70 bedeutet Schuften bis zum Umfallen
Methode: Streitgespräch in Form der Amerikanischen Debatte
Arbeitsteilige Vorbereitung auf die Debatte:Gruppe 1: M4 + M6Gruppe 2: M5 + M6 Gruppe 3: M6 + freie RechercheGruppe 4: freie Recherche
Ergänzend zu den Texten: Möglichkeit der freien Recherche (Computerraum notwendig)
15‘ Durchführung der Debatte
15‘ Auswertung der Debatte
Unterrichtsverlauf
4 © JOACHIM HERZ STIFTUNG
Die Zukunft der Rentenversicherung – eine Herausforderung für die soziale Sicherung in DeutschlandMaterialien
Der deutsche Sozialstaat – vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pfl egefall? (Impulsfi lm)
Wie zukunftsfähig ist der deutsche Sozialstaat? Gerade in Wahlkampfzeiten werden gerne kontroverse Debatten
darüber geführt, was als sozial gerecht angesehen wird und wie der Sozialstaat ausgestaltet werden sollte, um trotz
der tiefgreifenden aktuellen Veränderungen und Entwicklungen zukunftsfähig zu bleiben. Die sozialen Sicherungs-
systeme sollen Lebensrisiken absichern, erschwerte, sozial bedingte Lebenssituationen abmildern und die Alters-
versorgung gewährleisten. Heute sieht sich der deutsche Sozialstaat, dessen Fundamente vor 120 Jahren mit der
bismarckschen Sozialgesetzgebung gelegt wurden, vor große Herausforderungen gestellt. Hat der deutsche Sozial-
staat angesichts der Probleme durch den demografischen Wandel, die europäischen Integration, die Globalisierung
und den Klimawandel überhaupt eine Zukunft? Die Sozialausgaben steigen seit Jahren in schwindelerregende Höhe.
Reformen und ein Umbau des Sozialstaates wurden bereits umgesetzt und scheinen weiter unumgänglich. Doch wie
viel Eigenverantwortung soll der Einzelne zukünftig tragen? Welche Reformansätze werden diskutiert? Im Zentrum
dieses Impulsfilms stehen diese und weitere Fragestellungen rund um die sozialen Sicherungssysteme und ihre
Zukunftsfähigkeit. Sie geben Anstöße für eine kontroverse Auseinandersetzung mit dem Thema.
AUFGABE
1. a) Stellen Sie die Herausforderungen für die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland dar, die im Film
aufgezeigt werden.
b) Formulieren Sie thesenartig, wo Sie die größte Herausforderung für den deutschen Sozialstaat heute
sehen.
5 © JOACHIM HERZ STIFTUNG
Die Zukunft der Rentenversicherung – eine Herausforderung für die soziale Sicherung in DeutschlandMaterialien
M1 Der Generationenvertrag
3454
… für dieNachkommen
… für denLebensunterhalt der
Rentner
Als sozialversicherungspflichtige Erwerbstätige sorgen wir…
…durchUnterhalt, Erziehung, Ausbildung, Pflege…
…durch Beiträgezur gesetzlichen Rentenversicherung…
Der Begriff entstand mit dem so genannten Umlageverfahren in der Rentenversicherung, eingeführt 1957 durch die
Rentenreform unter Bundeskanzler Konrad Adenauer. Das Prinzip:
AUFGABEN
2. Analysieren Sie die Bevölkerungsentwicklung Deutschlands anhand des Schaubildes. Bestimmen Sie auch
Ihre eigene Position darin (M2).
3. Stellen Sie Hypothesen zu den Auswirkungen des demografi schen Wandels auf die Rentenversicherung in
Deutschland auf (M1, M2).
M2 Bevölkerungsvorausberechnung
1 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung. Variante 1: Kontinuität bei schwächer Zuwanderung.
Bevölkerung nach Altersgruppen in %
8 55
20
17
79,2Mill.
5
15
1861
80,8Mill. 51
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20
67,6Mill.
2013 20301 20601
0 bis 19 20 bis 64 65 bis 79 80 und älter
Statistisches Bundesamt, Bevölkerung Deutschlands bis 2060, Wiesbaden 2015, S. 19
© dpa Infografik
6 © JOACHIM HERZ STIFTUNG
Die Zukunft der Rentenversicherung – eine Herausforderung für die soziale Sicherung in DeutschlandMaterialien
M3 Die Probleme der Rentenversicherung
Rentner je 100 Beitragszahler*
1960 1960 2015 1960 2015 1960 20162016**
2030(Prognose)
2014
Rentenniveau(Verhältnis zum durch-schnittlichen Brutto-Arbeitseinkommen)
Rentenbezugsdauer Renteneintrittsalter Beitragssatz zurRentenversicherung
*Rentnerquotient**geschätzt (Juni 2016) Stand 2016
1960 und Rentenniveau 2016:Angaben für Westdeutschland
Quelle: Deutsche Renten-versicherung, BMAS 11404
52
67
53,2 %44,3 %
9,9Jahre
19,6Jahre
64,7Jahre
64,4Jahre
14,0 %
18,7 %
AUFGABE
4. Überprüfen Sie mithilfe der Daten in M3 Ihre Hypothesen und korrigieren Sie diese gegebenenfalls.
© dpa Infografik
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Materialien
© JOACHIM HERZ STIFTUNG
Die Zukunft der Rentenversicherung – eine Herausforderung für die soziale Sicherung in Deutschland
M4 Rente mit 83 – eine Lösung?
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15
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30
35
Neulich stand in einer Zei-
tung, die Beiträge zur Pflege-
versicherung müssten drin-
gend erhöht werden, weil die
Babyboomer im Jahr 2030 ins
Pflegealter einträten. Da wäre
Ursula Lehr dem Verfasser
furchtbar gerne an die Gurgel
gesprungen. Aber der war
nicht greifbar, solange ihr
Zorn noch rauchte. Und Frau
Lehr ist mit 84 Jahren auch
nicht mehr so beweglich wie
früher. Stattdessen referiert
sie mit der wuchtigen Kom-
petenz der führenden Altersforscherin Deutsch-
lands: „Es gibt ein Alter, in dem Kinder mit dem
Krabbeln beginnen, es gibt ein Alter, in dem sie zah-
nen. Aber es gibt kein Alter, von dem an Menschen
automatisch pflegebedürftig sind.“
Die Frau redet gegen eine Wand hierzulande. Denn
das Alter an sich wird allgemein weiter als hochge-
fährliche Sache angesehen, angetan, den Menschen
Angst einzuflößen. Mythen regieren, etwa, dass
man automatisch nach der Verrentung der Pflege
anheimfällt. So ist es aber nicht. Viele Menschen
werden uralt und bleiben trotzdem unabhängig.
Von den 70 bis 75 Jährigen sind 95 Prozent nicht
pflegebedürftig, von den 75 bis 80 Jährigen können
90 Prozent auf sich selbst achten. […]
Zur Vorstellung des individuellen Verfalls gesellt
sich die generelle Überzeugung in der politischen,
gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatte,
dass alternde Gesellschaften geradezu zwangsläufig
in ihr Verderben steuern. Dahinter steckt die Vor-
stellung, dass die Ansprüche und Bedürfnisse des
älteren, passiven Teils der Gesellschaft wachsen
und von immer weniger jungen, aktiven Erwerbs-
tätigen zu befriedigen sind. […]
Wer ein Gegenbild haben möchte, der muss James
Vaupel zuhören. Der Mann ist 69 Jahre alt, ge-
schäftsführender Direktor des Max-Planck-Institut
für demografische Forschung in Rostock und einer
der international anerkannten Wissenschaftler sei-
ner Disziplin. […]
Aus individueller Perspektive ist die Angelegenheit
glasklar. „Jeder will alt werden“, sagt Vaupel. Lang-
lebigkeit werde als großer Fortschritt empfunden.
Was die Alterung aber laut Vaupel zu einem bedroh-
lichen Phänomen macht, sind allein die sozialen
Arrangements, etwa das Eintrittsalter in die gesetz-
liche Rente. Diese ignorierten den Fortschritt und
die wahre Natur der Langlebigkeit. In den Industrie-
ländern steigt die Lebenserwartung in stetigem
Tempo Jahr für Jahr um drei Monate. Und ein Ende
dieses Trends ist nicht in Sicht.
Die steigende Langlebigkeit bedeute aber nicht, dass
sich die Altersphase verlängere. Sie bedeute viel-
mehr, dass sich die Phase des Alters nach hinten
verschiebe, hebt der Wissenschaftler hervor: 65 Jäh-
rige von heute sind so fit wie 55 Jährige früher, 75
Jährige wie die 65 Jährigen von gestern. Und Schau-
spielerin Kim Basinger ist mit gut 60 Jahren deut-
lich jünger als die annähernd gleichaltrige Mutter
des Malers Albrecht Dürer, die im frühen 16. Jahr-
hundert nach rauhen Jahren das Zeitliche segnete:
„Meine fromme Mutter hat 18 Kinder getragen und
erzogen, hat oft Seuchen gehabt, viele andere
schwere Krankheiten, hat große Armut gelitten, Ver-
spottung, Verachtung, höhnische Worte, Schrecken
und große Widerwärtigkeit“, notierte der Sohn. Ein
Wunder, dass sie überhaupt so lange gelebt hat.
„Wir leben nicht nur länger, wir leben länger ge-
sund“, sagt Vaupel. […] Während die Gesellschaft
strukturell altert, hat sich die ältere Generation
gleichsam verjüngt und kompensiert damit einen
Teil der Auswirkungen der demographischen Ent-
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© F.A.Z.-Foto / Helmut Fricke
Winand von Petersdorff berichtet als Wirtschafts-korrespondent für die FAZ aus Washington.
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Materialien
© JOACHIM HERZ STIFTUNG
Die Zukunft der Rentenversicherung – eine Herausforderung für die soziale Sicherung in Deutschland
Winand von Petersdorff-Campen, Es ist Zeit, über die Rente mit 83 nachzudenken, Faz.net, 26.11.2014
wicklung. Das hat praktische Relevanz: Die für die
Gesellschaft so teuren Aufenthalte in Alters- und
Pflegeheimen würden aufgeschoben und nicht etwa
ausgedehnt, wie man meinen könnte.
Vor dieser Erkenntnis wirkt die Herabsetzung der
Rente auf 63 Jahre für Teile der Arbeitnehmerschaft
wie aus der Zeit gefallen. Die frühe Verrentung sei,
so Vaupel, das wahre Problem unserer Gesellschaft,
nicht die Alterung. Nicht alle, aber doch die meisten
Leute über 60 oder 65 Jahre könnten weiterarbeiten,
tun es aber nicht. Damit verlängert sich die Phase
des Rentenbezugs im Gleichklang mit der Entwick-
lung der Langlebigkeit. Das ist es, was die Rente so
teuer macht und irgendwann nicht mehr tragbar.
[…]
Vaupel versteht, warum so viele Leute der Versu-
chung erliegen und die Frühpensionierung anstre-
ben. Der Staat zahlt schließlich. Er hält die Entschei-
dung gleichwohl für fundamental falsch. Sie sei ein
Zeichen mangelnder Solidarität für die jüngere Ge-
neration, die so gezwungen werde, zusätzliche Bei-
träge zu erwirtschaften. […] Vaupel findet deshalb
ziemlich harte Worte: Leute, die sich früh verrenten
lassen, obwohl sie noch arbeitsfähig sind, nennt der
Amerikaner „zutiefst selbstsüchtig“ („fundamen-
tally selfish“) gegenüber der jüngeren Generation.
Das Denken, das der Wissenschaftler aus Rostock
propagiert, steht in fundamentalem Kontrast zu
einer Ethik, der die Regierung zu folgen vorgibt:
nämlich langjährigen Beitragszahlern Gerechtigkeit
zuteilwerden zu lassen. Vaupel und mit ihm viele
Forscher kommen dagegen zu dem Schluss, dass
das gesetzliche Rentenalter längst nicht mehr die
Phase markiert, in der die Gebrechlichkeit beginnt.
Mithin gibt es auch keine Gründe für den Schutz
und die Privilegien der älteren Generation. Kann
schon sein, dass ein 63 Jahre alter Dachdecker sich
schwertut, auf das Dach zu steigen, ergänzt die
Gerontologin Lehr. Aber muss er deshalb gleich zu
Hause bleiben?
In dieser Argumentation ist nicht die Alterung der
Gesellschaft eine Bedrohung, die ungerechtfertigte
Alimentierung ist die wahre Gefahr. Ins Gute
gewendet, lautet die Botschaft, die 60 bis 80Jährigen
stecken noch voller Möglichkeiten und Fähigkeiten.
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Materialien
© JOACHIM HERZ STIFTUNG
Die Zukunft der Rentenversicherung – eine Herausforderung für die soziale Sicherung in Deutschland
M5 Wie du mir, so ich dir
Liebe Parteifreunde von der Jungen Union!
Diesen Brief schreibt ein alter Opa, der sich um seine politischen Enkel sorgt. So
zuverlässig, wie an Silvester um Mitternacht die Glocken läuten, erklingt auf jedem
Deutschlandtag der Jungen Union das Totenglöcklein der Rentenversicherung. Zur
Totenliturgie gehört, nachdem die Litanei von den Grenzen der Belastbarkeit und
der Ausbeutung der Jungen durch die Alten gebetet worden ist, der Ruf nach einer
grundlegend neuen Rentenpolitik – so weit, so gewohnt!
Ich rate meinen Parteifreunden von der Jungen Union allerdings, sich mit den
Elementargesetzen humaner Generationsverhältnisse vertraut zu machen, bevor sie
nach einem revolutionären neuen Rentenkonzept suchen, das alle Probleme lösen
soll.
Es kann in Berlin regieren, wer will, und selbst dann, wenn die Welt zum zweiten
Mal erfunden würde: Immer „bezahlen“ die Jungen für die Alten. Das war schon im
Neandertal so und wird selbst dann noch so sein, wenn wir demnächst den Mars
besiedeln.
Dieses unumstößliche Generationengesetz schafft für alle deshalb eine verträgliche Regelung, weil die Jungen
einmal alt werden und die Alten einmal jung waren. Es gilt also das Prinzip der Gegenseitigkeit im Zeitverlauf.
Keine Generation wird über den Tisch gezogen, weil jede einmal die andere wird oder war. „Wie du mir, so ich
dir“ ist der kategorische Imperativ der generationsübergreifenden Solidarität.
Deren Grundgedanke ist ein einfaches Verteilungsverfahren: Die Erwerbstätigen gewähren mit einem Teil
ihres Einkommens Kredit, mit einem anderen zahlen sie ihre Schulden ab, und der dritte Teil gehört ihnen
selbst. Kredit gewähren sie der nachfolgenden Generation, Schulden begleichen sie bei der vorhergehenden.
Im Kreislauf des Lebens kommt es immer zum Ausgleich zwischen den anderen und uns.
Unser Rentensystem verbindet auf geniale Weise Eigeninteresse mit Solidarität. Es knüpft nämlich die Höhe
der nachträglichen Renten an die Höhe und Dauer der vorgeleisteten Beiträge. So geraten Leistung und
Gegenleistung ins Verhältnis proportionaler Äquivalenz.
Bezahlt wird die Rente stets aus dem aktuellen Sozialprodukt. Es gibt realwirtschaftlich keinen Sparstrumpf,
aus dem das Geld von gestern für die Rentenzahlung heute entnommen werden könnte. Es wird immer nur
der Kuchen gegessen, der jetzt gebacken wird. […]
Es gehört zu den Lebenslügen der Privatversicherung, sich als unabhängig von der Wirtschaftsentwicklung zu
gerieren, indem sie ihre gestern eingesammelten Beträge heute verteilt. Es nutzt das schönste Kapital-
deckungsverfahren nichts, wenn das eingesetzte Kapital keine Nutzung findet. Die Ansprüche an die Zukunft
lösen zwar Pflichten aus, sind aber noch nicht ihre Verwirklichung.
Die Privatversicherung folgt lautstark der Maxime „Selbstvorsorge“ und gibt dies als ihren Vorzug an, der sie
von der Sozialversicherung unterscheidet. Dazu passt die Parole „Jede Generation sorgt für sich selber“. Sie
wurde von den Jungen Liberalen verkündet und von flotten Jung-Unionisten nachgeplappert. Wenn es für
solche Dummheiten eine Auszeichnung gäbe, verdiente der Satz aus meiner Sicht einen Nobelpreis. Ich habe
nämlich noch kein Baby gesehen, das sich selbst stillt und wickelt. Von der Wiege bis zur Bahre sind wir alle
aufeinander angewiesen.
© GettyImages, Marc Pfitzenreuter
Norbert Blüm (CDU) war von 1982 bis 1998 Bundesarbeitsminister.
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Materialien
© JOACHIM HERZ STIFTUNG
Die Zukunft der Rentenversicherung – eine Herausforderung für die soziale Sicherung in Deutschland
Das auf der Gegenseitigkeit der Generationen basierende solidarische Grundgesetz, welches das Generationen-
verhalten prägt, bestimmt auch die Folgen der demografischen Entwicklung. Wenn weniger Junge geboren
werden, müssen die „geborenen Jungen“ die Beiträge ihrer „nicht geborenen“ Altersgenossen mitbezahlen,
und die Renten der Alten fallen niedriger aus. Das war bereits Sinn der 1989 eingeführten „Nettorente“, bei
der das Rentenniveau sinkt, wenn die Belastung der Jungen steigt. Keine Reform kann die Demografie
wegreformieren.
Dass die Beiträge steigen, gehört zur Wahrheit der Rentenpolitik, die man nicht verheimlichen darf. Bis zu
welcher Grenze die Beitragssteigerung erträglich ist, ist eine Frage, die sich aus dem proportionalen Verhältnis
zwischen individuellem Einkommen und Volkseinkommen ergibt. Wenn die individuellen Einkommen
wachsen, steigt auch die Belastungsfähigkeit der Einkommensbezieher durch Beiträge. Meine Kinder etwa
zahlen erheblich höhere Beiträge als früher ihre Großeltern. Trotzdem bleibt für die Enkel heute mehr
Nettoeinkommen als Oma und Opa damals, weil das Gesamteinkommen der Enkel wesentlich größer ist. Bei
10 Prozent von 100 Euro bleiben 90 Euro übrig. Bei 20 Prozent von 200 Euro dagegen 160 Euro.
Geburtenrückgang und die steigende Lebenserwartung sind primär kein Rentenproblem. Die Zukunft der Rente
hängt in erster Linie von der Ergiebigkeit der Arbeit ab, die man Produktivität nennt. Während zum Beispiel
bei Opel in den Frühzeiten des Autobaus 60 Arbeitstage notwendig waren, um ein Auto herzustellen, sind es
heute nur noch 15 Arbeitsstunden. Die Produktivität eines Arbeiters ist also heute rund 300mal höher als die
seines Urgroßvaters. Weniger Arbeiter erzeugen mehr, und weniger Beitragszahler können mehr Rentner
finanzieren.
Es kommt also für die Zukunft der Rentenversicherung nicht so sehr auf die „Kopfzahl“ der Geburten an,
sondern mehr darauf, wie produktiv die Arbeit derjenigen ist, die geboren werden, und wie lange diese
erwerbstätig sind. Die Entwicklung der Arbeit – in ihrer Form und Intensität – wird die Welt mehr verändern
als alle Rentenvorschläge, einschließlich derjenigen der Jungen Union und ihrer Verbündeten. […]
Eines aber bleibt immer gültig: Die Jungen bezahlen für die Alten.
Ein Gastbeitrag von Norbert Blüm, Wie du mir, so ich dir, ZEIT Online, 27.10.2016
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Materialien
© JOACHIM HERZ STIFTUNG
Die Zukunft der Rentenversicherung – eine Herausforderung für die soziale Sicherung in Deutschland
Sabine Zimmermann, Erhöhungen des Renteneintrittsalters sind versteckte Rentenkürzungen, linksfraktion.de, 27.4.2016
AUFGABE
5. Bereiten Sie sich, ausgehend von den Materialien M4 bis M6, auf ein Streitgespräch in Form der Amerika-
nischen Debatte zu der Frage vor: Soll das Rentenalter heraufgesetzt werden? Achten Sie bei der Bearbei-
tung der Materialien insbesondere darauf, welche Argumente angeführt werden, mit welchen Belegen
diese Argumente unterfüttert werden, an welchen Beispielen die Argumente illustriert werden und
welche Wertmaßstäbe sich ggf. erkennen lassen.
M6 Rente mit 70 bedeutet Schuften bis zum Umfallen
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30
35
Trotz steigender Lebens er-
wartung geht nur gut die Hälf-
te der 60 bis 65Jährigen einer
Erwerbstätigkeit nach.
Eine Erhöhung des Renten-
alters auf 67 oder gar 70 Jahre
würde daher eine doppelte
Rentenkürzung bedeuten. Die
Rentenhöhe würde sich für
viele weiter vermindern, weil
sie in den letzten Jahren vor
Renteneintritt gar nicht oder
nicht mehr Vollzeit arbeiten;
und immerhin jede/r Fünfte
würde ein Renteneintrittsal-
ter von 70 Jahren gar nicht erreichen oder kurz da-
nach sterben.
Fakten
1) Lebenserwartung
Wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine
Frage von Sabine Zimmermann, stellvertretende
Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag,
hervorgeht, verstarben in den Jahren 2005 bis 2014
1.392.271 Menschen (16,3 Prozent aller Gestor-
benen) vor Erreichen des 65. Lebensjahres; 963.774
Menschen (11,3 Prozent aller Gestorbenen) sogar
vor Erreichen des 60. Lebensjahres.
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes
waren von allen im Jahre 2014 Gestorbenen 21,8
Prozent 70 Jahre oder jünger. Im Alter zwischen 65
und 70 waren 6 Prozent aller in diesem Jahr
Gestorbenen. (Statistisches Bundesamt, „Todes ur-
sachen 2014, 15.12.2015, S. 911).
Die häufigsten Todesursachen von Personen zwi-
schen dem 50. und 75. Lebensjahr sind mit dem
Herzinfarkt-, Magen- und Lungenkrebskrankheiten
(s.o. „Todesursachen“, S. 910), unter denen Menschen
mit niedrigem sozioökonomischem Status signifi-
kant häufiger leiden als sozial Bessergestellte (Ge-
sundheitsberichterstattung des Bundes „Gesundheit
in Deutschland“, Robert Koch Institut, 2015, S. 150).
Das Statistische Bundesamt rechnet mit einer durch-
schnittlichen (arm, reich, Ost, West) Steigerung der
Lebenserwartung bis 2060 von 7 Jahren für Männer
bzw. 6 Jahren für Frauen (https://www.destatis.de/
DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/
Bevoelkerungsvorausberechnung/Sterblichkeit.html);
außerdem mit einer durchschnittlichen Lebens-
arbeitszeit von rund 40 Jahren für Männer und rund
35 Jahren für Frauen („Frauen und Männer auf dem
Arbeitsmarkt – Deutschland und Europa“, Statisti-
sches Bundesamt, Oktober 2012, S. 54).
2) Erwerbsbeteiligung
In der Altersgruppe der 60 bis 65Jährigen lag 2014 die
Erwerbstätigenquote (Erwerbspersonen minus Er-
werbslose, also Personen, die tatsächlich einer Er-
werbstätigkeit nachgehen) bei 52,9 Prozent. Dieser
Wert fällt gegenüber dem Vergleichswert für die Al-
tersgruppe der 55 bis 60Jährigen (76,9 Prozent) schroff
ab. („Ältere am Arbeitsmarkt“, BA, Oktober 2015, S.9)
Ähnlich deutlich ist der Abfall in der Beschäftigungs-
quote (sozialversicherungspflichtig Beschäftigte)
von 58,0 Prozent für die 55 bis 60Jährigen auf 35,6
Prozent in der Gruppe der 60 bis 65Jährigen. („Der
Arbeitsmarkt für Ältere“, BA, Februar 2016, S. 7).
In der Gruppe der 60 bis 65Jährigen steigt ebenfalls
deutlich die Bedeutung der Minijobs: in dieser Alters-
gruppe kommen 34 Minijobs auf 100 sozialversiche-
rungspflichtig Beschäftigte; in der Gruppe der 55 bis
60Jährigen liegt dieses Verhältnis nur bei 1:5. (Bei den
über 65Jährigen dann kommen 4,7 Minijobber auf ei-
nen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten („Äl-
tere am Arbeitsmarkt“, BA, Ok tober 2015, S.9 und 14).
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60
65
70
© www.wikimedia.org, Foto AG Gymnasium Melle CC BY-SA 4.0
Sabine Zimmermann ist Abgeordnete des Deutschen Bundestages für die Fraktion der Linkspartei.