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18 19 mee ...» Matteo Schenardi nennt dieses zur Formel gewordene Zitat den Schneezauber des Teufels, der dem Wegknecht Joder im wahrsten Sinne des Wortes seine Macht über die Elemente, über die Naturgewalten vor Augen führt. Will sagen: «Du musst mir nur deine Seele geben, dann wird alles leichter für dich. Ich kann dafür sorgen, dass deine Qualen ein Ende haben.» Der klassische Moment der Verführung funktioniert heute wie früher. Glaubt man angesichts der Fluten von Informationen nicht am liebsten und schnellsten auch denen, die einem die Welt am einfachsten erklären? Die es einem leichter machen, sich zu orientieren? Die einem vermeintlich Si- cherheit geben? «Der Joder ist wie der Wut- bürger von heute», sagt Matteo Schenardi. Wut und Empörung machen sich dort breit, wo der Einzelne das Gefühl hat, politische Entscheidungen werden über seinen Kopf hinweg willkürlich gefällt. Der Regisseur schlägt die Brücke über eine Zeitspanne von über 70 Jahren: von 1944 bis heute – 2017. Einer Zeit, in der Millionen wieder auf der Flucht sind, Zuflucht suchen, und die dama- lige Parole «Das Boot ist voll» wieder laut wird. «Das ist das Kernelement. Es geht um das archaische Gefühl des Verlustes seines eigenen Platzes in der Gesellschaft; um die Angst vor dem Verlust der Heimat. Aus die- sem Grund findet der Nationalismus heute auch wieder mehr Raum», erklärt Matteo Schenardi. Ganz bewusst verzichtet der Regisseur in seinem Konzept des Urner Krippenspiels auf Heinrich Danioths Marionettenfiguren Nero und Bruno (alias Hitler und Mussolini). Sie würden das Publikum zu sehr in Sicherheit wiegen. Nach dem Motto: Aha, es geht um den Zweiten Weltkrieg. Das ist längst vorbei. «Nein!», sagt Matteo Schenardi. Es gehe um die innere Zerrissenheit des Individuums im Heute. Um den Menschen, der angesichts einer Flut von Informationen nicht mehr weiss: Was ist richtig? Was ist falsch? Es geht um Schwarz und Weiss. Gut und Böse. Was liegt dazwischen? Und – wo stehe ich eigent- lich? Diese Fragen sind zeitlos. In der Neuinszenierung, die am 13. Dezem- ber Premiere im Theater(uri) hat, kann das Publikum Joders Geschichte, sein Hin-und- hergerissen-Sein zwischen den ewigen Kon- kurrenten Herrgott und Teufel, auf ganz neue Art beobachten. Der Blick hinter die Kulis- sen der Marionettenbühne ist frei. Wer an den Fäden zieht, ist sichtbar. Man muss nur hinschauen. Oder wie Heinrich Danioth einst formulierte: «Den Kleinen vorgeführt, den Grossen zugedacht.» Franka Kruse Sie haben viele Namen. Sie werden immer mehr. Sie bringen Neuigkeiten, News, Ge- rüchte, Fotos, Videos im gefühlten Zehntel- sekundenabstand online auf Smartphone und Computer. Was dem Nutzer nachrich- tentechnischer Errungenschaften als Mit- glied eines sozialen Netzwerkes vermeintlich das Gefühl von Mehrwissen in der digitalen Gemeinschaft Tausender Freunde gibt, dreht sich für manchen mit der Zeit selbst zum Strick um den eigenen Hals. Es wird immer mehr, mehr, mehr – bis es zu viel ist. Woher kommen die Informationen? Wie geht man mit ihnen um? Kann man glauben, was da steht? Stimmt das alles? Sind die Bilder echt? Wem kann man noch trauen? Hin und her geht es im Kopf – bis zur inneren Zerris- senheit. Bis zu dem Punkt, an dem man meint: Jeder will etwas anderes. Jeder er- wartet etwas von einem. Jeder zerrt an einem. «Hiä dr Herrgott, daa dr Tyyfel und dettä Zänzä. Zerret a dr wiä amä n ä Wulläplätz.» Das sagt der Joder im Urner Krippenspiel von Heinrich Danioth. Worte, die heute noch genauso aktuell klingen wie früher. Im Jahr 1944, als der Urner Dichter, eingeschneit in einer Alphütte im Meiental, wie getrieben in kürzester Zeit, das Urner Krippenspiel nie- derschrieb. Auf subtile Weise tat er darin seine Haltung während des Zweiten Welt- krieges kund, als er sich die Frage stellte: «Wie gehen wir mit den Leuten um, die Zu- flucht bei uns suchen?» Obdach und Frieden wünschen sich die beiden Figuren des Krip- penspiels, die dem Wegknecht Joder er- scheinen und ihm später Sinnbild für Maria und Josef sind. Für den Urner Regisseur und Theaterpäda- gogen Matteo Schenardi gehört das Urner Krippenspiel zu den persönlichen Ritualen des Weihnachtsfestes. «Jahr für Jahr habe ich diese Schallplatte aufgelegt. Sie hat meine Weihnachtsstimmung geprägt.» Joder erbarmt sich des Paares in der Not, nimmt sie auf. Das Gute überwindet das Böse. Was passt besser zum Heiligen Abend, als der Glaube daran? Den Teufel dauert es: Beklagt er doch zum Schluss jedes Spiels «das erblich Gute» im Men- schen. Wieder hat er verloren. Mit seiner Neuinszenierung des klassi- schen Marionettentheaters möchte Matteo Schenardi zugleich über die verklärte Stim- mung des Weihnachtsabends hinausgehen. Denn der Teufel lockt jederzeit, egal in wel- cher Form. Der Verführung zu widerstehen, zerrt am Menschen. In der Neuinszenierung des klassischen Stoffes trickst der Regis- seur: Mit seinem Bruder, dem Schauspieler Andri Schenardi, gibt es nur einen Sprecher für alle Figuren. «Auf diese Weise soll die Zwiesprache mit sich selbst – der innere Monolog – sichtbar werden.» Die innere Zerreissprobe will der Regisseur hervorheben. Und zwar abseits der wohl bekanntesten Worte des Stücks: «Schnee! Schnee! Schnee! Nur immer mee, mee, «Den Kleinen vorgeführt, den Grossen zugedacht» Matteo und Andri Schenardi sowie Marcel und Ursula Huwyler (von links) bei der Probearbeit.

A77686 immer meh · Monolog – sichtbar werden.» Die innere Zerreissprobe will der Regisseur hervorheben. Und zwar abseits der wohl bekanntesten Worte des Stücks: «Schnee! Schnee!

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Page 1: A77686 immer meh · Monolog – sichtbar werden.» Die innere Zerreissprobe will der Regisseur hervorheben. Und zwar abseits der wohl bekanntesten Worte des Stücks: «Schnee! Schnee!

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mee ...» Matteo Schenardi nennt dieses zurFormel gewordene Zitat den Schneezauberdes Teufels, der dem Wegknecht Joder imwahrsten Sinne des Wortes seine Machtüber die Elemente, über die Naturgewaltenvor Augen führt. Will sagen: «Du musst mirnur deine Seele geben, dann wird allesleichter für dich. Ich kann dafür sorgen, dassdeine Qualen ein Ende haben.»

Der klassische Moment der Verführungfunktioniert heute wie früher. Glaubt manangesichts der Fluten von Informationennicht am liebsten und schnellsten auchdenen, die einem die Welt am einfachstenerklären? Die es einem leichter machen, sichzu orientieren? Die einem vermeintlich Si-cherheit geben? «Der Joder ist wie der Wut-bürger von heute», sagt Matteo Schenardi.Wut und Empörung machen sich dort breit,wo der Einzelne das Gefühl hat, politischeEntscheidungen werden über seinen Kopfhinweg willkürlich gefällt. Der Regisseurschlägt die Brücke über eine Zeitspanne von

über 70 Jahren: von 1944 bis heute – 2017.Einer Zeit, in der Millionen wieder auf derFlucht sind, Zuflucht suchen, und die dama-lige Parole «Das Boot ist voll» wieder lautwird. «Das ist das Kernelement. Es geht umdas archaische Gefühl des Verlustes seineseigenen Platzes in der Gesellschaft; um dieAngst vor dem Verlust der Heimat. Aus die-sem Grund findet der Nationalismus heuteauch wieder mehr Raum», erklärt MatteoSchenardi.

Ganz bewusst verzichtet der Regisseur inseinem Konzept des Urner Krippenspiels aufHeinrich Danioths Marionettenfiguren Neround Bruno (alias Hitler und Mussolini). Siewürden das Publikum zu sehr in Sicherheitwiegen. Nach dem Motto: Aha, es geht umden Zweiten Weltkrieg. Das ist längst vorbei.«Nein!», sagt Matteo Schenardi. Es gehe umdie innere Zerrissenheit des Individuums imHeute. Um den Menschen, der angesichtseiner Flut von Informationen nicht mehrweiss: Was ist richtig? Was ist falsch? Es geht

um Schwarz und Weiss. Gut und Böse. Wasliegt dazwischen? Und – wo stehe ich eigent-lich? Diese Fragen sind zeitlos.

In der Neuinszenierung, die am 13. Dezem-ber Premiere im Theater(uri) hat, kann dasPublikum Joders Geschichte, sein Hin-und-hergerissen-Sein zwischen den ewigen Kon-kurrenten Herrgott und Teufel, auf ganz neueArt beobachten. Der Blick hinter die Kulis-sen der Marionettenbühne ist frei. Wer anden Fäden zieht, ist sichtbar. Man muss nurhinschauen. Oder wie Heinrich Daniotheinst formulierte: «Den Kleinen vorgeführt,den Grossen zugedacht.»

Franka Kruse

Sie haben viele Namen. Sie werden immermehr. Sie bringen Neuigkeiten, News, Ge-rüchte, Fotos, Videos im gefühlten Zehntel-sekundenabstand online auf Smartphoneund Computer. Was dem Nutzer nachrich-tentechnischer Errungenschaften als Mit-glied eines sozialen Netzwerkes vermeintlichdas Gefühl von Mehrwissen in der digitalenGemeinschaft Tausender Freunde gibt, drehtsich für manchen mit der Zeit selbst zumStrick um den eigenen Hals. Es wird immermehr, mehr, mehr – bis es zu viel ist. Woherkommen die Informationen? Wie geht manmit ihnen um? Kann man glauben, was dasteht? Stimmt das alles? Sind die Bilderecht? Wem kann man noch trauen? Hin undher geht es im Kopf – bis zur inneren Zerris-senheit. Bis zu dem Punkt, an dem manmeint: Jeder will etwas anderes. Jeder er-wartet etwas von einem. Jeder zerrt aneinem.

«Hiä dr Herrgott, daa dr Tyyfel und dettäZänzä. Zerret a dr wiä amä n ä Wulläplätz.»

Das sagt der Joder im Urner Krippenspielvon Heinrich Danioth. Worte, die heute nochgenauso aktuell klingen wie früher. Im Jahr1944, als der Urner Dichter, eingeschneit ineiner Alphütte im Meiental, wie getrieben inkürzester Zeit, das Urner Krippenspiel nie-derschrieb. Auf subtile Weise tat er darinseine Haltung während des Zweiten Welt-krieges kund, als er sich die Frage stellte:«Wie gehen wir mit den Leuten um, die Zu-flucht bei uns suchen?» Obdach und Friedenwünschen sich die beiden Figuren des Krip-penspiels, die dem Wegknecht Joder er-scheinen und ihm später Sinnbild für Mariaund Josef sind.

Für den Urner Regisseur und Theaterpäda-gogen Matteo Schenardi gehört das UrnerKrippenspiel zu den persönlichen Ritualendes Weihnachtsfestes. «Jahr für Jahr habeich diese Schallplatte aufgelegt. Sie hatmeine Weihnachtsstimmung geprägt.»Joder erbarmt sich des Paares in der Not,nimmt sie auf. Das Gute überwindet das

Böse. Was passt besser zum HeiligenAbend, als der Glaube daran? Den Teufeldauert es: Beklagt er doch zum Schlussjedes Spiels «das erblich Gute» im Men-schen. Wieder hat er verloren.

Mit seiner Neuinszenierung des klassi -schen Marionettentheaters möchte Matteo Schenardi zugleich über die verklärte Stim-mung des Weihnachtsabends hinausgehen.Denn der Teufel lockt jederzeit, egal in wel-cher Form. Der Verführung zu widerstehen,zerrt am Menschen. In der Neuinszenierungdes klassischen Stoffes trickst der Regis-seur: Mit seinem Bruder, dem SchauspielerAndri Schenardi, gibt es nur einen Sprecherfür alle Figuren. «Auf diese Weise soll dieZwiesprache mit sich selbst – der innereMonolog – sichtbar werden.»

Die innere Zerreissprobe will der Regisseurhervorheben. Und zwar abseits der wohlbekanntesten Worte des Stücks: «Schnee!Schnee! Schnee! Nur immer mee, mee,

«Den Kleinen vorgeführt, den Grossenzugedacht»

Matteo und Andri Schenardi sowie Marcelund Ursula Huwyler (von links) bei der Probearbeit.

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