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45 Kopfzeile Die Einstellung der Koranexegeten im 19. Jahr- hundert zur Verfälschung des Christentums Al-Ālūsī als Beispiel Mohammed Abdel Rahem

Abdel Rahem-Tahrif-CIBEDO Bd3

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Die Einstellung der Koranexegeten im 19. Jahr-hundert zur Verfälschung des Christentums

Al-Ālūsī als Beispiel

Mohammed Abdel Rahem

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1 Einleitende Fragen

1.1 Was sagt der Koran über das Evangelium?

Der Koran erkennt das Evangelium – und auch die Tora – als heilige von Gott herabgesandte Schrift an. Das hängt mit der Anerkennung aller Muhammad vorangegangener Propheten zusammen. In diesem Zusammenhang ist v. a. auffällig, dass das Evangelium nach der kora-nischen Beurteilung ursprünglich eine göttliche Offenbarung ist. An zwei Stellen kommt der Satz „und Wir gaben ihm das Evangelium“1 vor. Der erste Vers tritt in einem großen Kontext (Sure 5:41–50) auf, in dem die Tora und das Evangelium als Rechtleitung und Licht für die Menschen grob beschrieben werden und die Mahnung an die Ju-den und Christen geäußert wird, dass sie an den göttlichen Geboten in diesen Schriften festhalten sollen. Im Zusammenhang dieser Verse wird als Offenbarungsanlass berichtet, dass ein jüdischer Mann und eine jüdische Frau Unzucht begingen und dann von den Juden zu Mu-hammad gebracht wurden, um bei ihm eine andere bzw. leichtere Strafe zu suchen als die jüdische, nämlich die Steinigung.2 Demzufolge spre-chen die Verse v. a. die Juden an, dass sie sich eher an den von Gott in der Tora offenbarten Gesetzen orientieren müssen. Dann erzählen die Verse, dass Jesus Christus das Evangelium mit Rechtleitung und Licht zur Bestätigung dessen, was vor ihm in der Tora war, gegeben worden ist. D. h., dass das Evangelium, wie vorher die Tora, von Gott seinem Gesandten offenbart wurde, was im nächsten Vers (5:47) explizit mit dem Verb anzala (herabsenden) zum Ausdruck gebracht wird: „Und die Leute des Evangeliums sollen nach dem urteilen, was Gott darin hinabgesandt hat.“3 Sure 57:27 erwähnt nahezu das Gleiche. Nur wird nicht Mose, sondern Noah und Ibrahim werden als Vorgänger Jesu genannt, den Gott ihren Spuren folgen ließ.

1 Sure 5:46; vgl. auch 57:27; die Übersetzungen folgen, soweit nicht anders angegeben, Der Koran, Übersetzung von Rudi Paret, Stuttgart u. a. 102007.

2 Vgl. Abū al-Ḥasan YAlī al-NAISĀBŪRĪ, Asbāb al-Nuzūl, Kairo: Mumassasat al-Ḥalabī 1968, S. 131; Abū ǦaYfar Muḥammad b. Ǧarīr al-ṬABARĪ, ǦāmiY al-bayān Yan tamwīl āy al-Qurmān, hrsg. von Aḥmad Muḥammad Šākir, Beirut: al-Risāla 2000, Bd. X, S. 339.

3 Übersetzung nach: Der Koran: Das heilige Buch des Islam. Aus dem Arabischen übersetzt von Max Henning , München 2007.� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

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Der Koran erkennt das Evangelium als eine der heiligen Schriften Gottes an und rühmt es auch. Die vorhandenen kanonischen Evangeli-en werden jedoch vom Koran nicht als von Gott herabgesandt betrach-tet. Nach dem Zeugnis der Christen selbst wurden sie ja von Menschen verfasst. Der christliche Glaube lehrt, dass Gott sich in der Person Jesu Christi geoffenbart hat und sich somit eine „Herabsendung“ von Wor-ten erübrigt. Im Koran werden die Lehren der Christologie und der Trinität sowie die Kreuzigung Jesu strikt abgelehnt und als „Übertrei-bung“ in der Religion bezeichnet (Sure 4:171 und 5:77). Es ist die herr-schende Überzeugung der islamischen Theologen, dass ein großer Teil der göttlichen Offenbarung an Jesus nicht mehr existiert. Sie gehen davon aus, dass der Koran das Evangelium (inǧīl) als ursprüngliche Of-fenbarung Gottes betrachtet und somit viele Glaubenslehren des Neu-en Testaments oder der christlichen Tradition nicht anerkennt: Nach Ibn Ḥazm ist der größte Teil dieses geoffenbarten Evangeliums in der Zeit vor Konstantin dem Großen4 verloren gegangen.5 Die konkreten Gründe sind nach Abū Zahra die Verfolgungen und Unterdrückun-gen, darunter besonders auch die Gewaltherrschaft Neros6, unter denen die Christen litten und die erst 391 mit der Anerkennung der christlichen Kirche als einziger Staatsreligion endeten.7 Demgegen-über meint al-Hamḏānī, dass das „authentische“ Evangelium Gottes in dieser Periode bewusst durch die Christen selbst, die in Beziehung zu

4 Konstantin der Große (oder Konstantin I.) war von 306 bis 337 römischer Kaiser. Historisch bedeutend ist Konstantins Regierungszeit v. a. wegen der von ihm einge-leiteten sogenannten Konstantinischen Wende, mit der der Siegeszug des Christen-tums begann (vgl. Kurt ALAND, Konstantin der Große, in: Kurt GALLING (Hrsg.), Die Religion in Geschichte und Gegenwart: Dritte Auflage Bd. 3, Tübingen 1959, S. 1785).

5 Vgl. Abū Muḥammad YAlī b. Aḥmad b. SaYīd b. ḤAZM, al-fiṣal fī al-milal wa-al-ahwām wa-al-niḥal, hrsg. von Muḥammad Ibrāhīm Naṣr u. a., Beirut: Dār al-Ǧīl 21996, Bd. II, S. 17.

6 Nero war von 54 bis 69 römischer Kaiser. Durch ihn erfolgte 64 n. Chr. „das erste, auf Rom beschränkte Eingreifen“, nachdem er den Christen den Brand Roms zur Last gelegt hatte. „Die Hinrichtung geschah in der für Brandstifter üblichen Form (Verbrennung u. Ä.). Petrus und Paulus sind wohl Opfer der Verfolgung gewor-den“ (Klaus WESSEL, Christenverfolgungen in den ersten Jahrhunderten, in: Kurt GALLING (Hrsg.), Die Religion in Geschichte und Gegenwart: Dritte Auflage Bd. 1, Tübingen 1957, S. 1730).

7 Vgl. Muḥammad ABŪ ZAHRA, Muḥāḍarāt fī al-Naṣrānīya, Beirut: Dār al-Fikr al-YArabī 31961, S. 31; Dāwūd YAlī al-FĀḍILĪ, Uṣūl al-masīḥīya kamā yuṣawwiruhā al-qurmān al-karīm, Rabat: Maktabat al-MaYārif 1986, S. 142 f.� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

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den römischen Gewaltherrschern standen, verfälscht wurde.8 Diesen zitierten Theologen fehlen aber die genauen geschichtlichen Beweise für ihre Meinungen, und sie bieten keine Angaben für das fragliche Evangelium, das nach der Lehre des Koran Gott Jesus geoffenbart hat. Sie äußern sich ausdrücklich nicht darüber, ob dieses schon zur Zeit Jesu oder später niedergeschrieben worden ist. Parallel dazu fehlt auch bei der christlichen Literatur die genaue historische Datierung der Entstehung der vier Evangelien. Riḍā stützt sich seinerseits auf die Überlieferung, in der Muhammad sagt, dass der Muslim den Schrift-besitzern weder glauben noch sie für Lügner halten darf. Riḍā zufolge befinden sich im Evangelium doch klare Stellen, von deren Glaubwür-digkeit die Muslime ausgehen sollen. Die Bergpredigt Jesu in Mt 5–7 führt er dazu als Beispiel an.9

1.2 Welche Stellung hat Jesus im Koran?

Es wird verkündet, dass Gott in jedem Volk Propheten auserwählt hat, um die Menschen auf den Pfad der Wahrheit und Rechtschaffenheit zu führen (vgl. Sure 35:24). Zwar gibt es laut dem Koran Rangunter-schiede unter den Propheten (vgl. 2:253), doch gilt der Glaube eines Muslims nicht als vollkommen, wenn er nicht an die vor Muhammad existierenden Propheten glaubt: „… und [wir] machen keinen Unter-schied zwischen Seinen Gesandten“ (Sure 2:285).10 Das hängt natür-lich damit zusammen, dass vorausgesetzt wird, dass alle authentischen prophetischen Botschaften in der Aussage übereinstimmen: Es gibt nur einen Gott. Jesus Christus, seine Wunder, seine Botschaft und sei-ne Anhänger werden in vielen Koranstellen thematisiert. Der Muslim soll dem Koran zufolge an YĪsā (Jesus) als Gesandten Gottes (aber nicht als Gottes Sohn; vgl. 4:157 und 61:6) und an das Inǧīl (Evangelium) als heiliges, geoffenbartes Buch (aber nicht als von den Nachfolgern Jesu niedergeschriebene Schrift; vgl. 5:46; 57:27) glauben. Von YĪsā erzäh-len 15 Suren und über hundert Verse im Koran, wobei er eine höchst

8 Vgl. al-Qāḍī YAbd al-Ǧabbār b. Aḥmad al-HAMAḏĀNĪ, Taṯbīt dalām il al-nubūwa, hrsg. von YAbd al-Karīm YUṯmān, Beirut: Dār al-YArabīya 1966, Bd. I, S. 152 f.

9 Vgl. Muḥammad Rašīd RIḍĀ, Šubuhāt al-naṣārā wa-ḥuǧaǧ al-islām, Kairo: Dār al-Manār 1947, S. 4.

10 Übersetzung nach Henning; vgl. auch Sure 4:150.� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

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bedeutsame Rolle spielt und eine so große Ehre genießt wie sonst kein anderer Prophet, außer Muhammad.11 Er wird entweder mit „BĪsā“ (Je-sus) oder mit „al-Masīḥ“ (der Messias) erwähnt. Von der Geburt Jesu und seiner Empfängnis durch die Jungfrau Maria berichten besonders die Suren 3 und 19 ausführlich. In diesen Zusammenhängen entspricht die koranische Sprache der neutestamentlichen Darstellung mehr oder weniger. Was die Wundertätigkeit Jesu angeht, so ist im Koran von den Krankenheilungen und Totenerweckungen Jesu die Rede, allerdings ohne die in den Evangelien erzählten Einzelheiten (3:49 und 5:110). Erwähnt wird in diesen Stellen ebenso die Erschaffung lebender Vögel aus Lehm – eine Wundergeschichte, die im Neuen Testament nicht steht. Der Koran berichtet auch dreimal von dem Glauben der Jünger und darüber, dass sie YĪsā Beistand geleistet haben (3:52; 5:111; 61:14). Jesus selbst gilt nach dem Wortlaut des Koran als „Zeichen Gottes“, mit dem Gott den Menschen mitteilen will, dass er ihnen mit Barm-herzigkeit begegnet (19:21 und 21:91). Als Vorgeschichte der Geburt Jesu, wie sie der Koran in Sure 19 (Maryam) erwähnt, berichtet Sure 3, wie die Ehefrau von YImrān Gott ihr Kind Maria weihte, wie Gott Maria in seiner Gnade annahm und sie in Obhut von Zacharias ließ (3:35–37). Gott sandte Maria seinen Engel Gabriel, um ihr ein Kind als Gnade und Rechtleitung für die Menschheit zu verkünden (Sure 19:17–21). Durch einen göttlichen Schöpfungsakt oder – laut Suren 21:91 und 66:12 – „durch Einhauchen des Geistes“ empfing Maria das Kind Jesus. Demgegenüber erfahren der Tod Jesu und seine Lehren im Koran eine Interpretation, die den Aussagen der Evangelien des Neuen Testaments nicht gemäß ist.

1.3 Koranische Einstellung zur christlichen Gesellschaft

Zunächst ist zu verdeutlichen, dass die Christen im Koran nicht mit dem Terminus „Christen“ bezeichnet werden. Der Koran bezeichnet die Christen auf dreierlei Weise: entweder mit Rücksicht auf den Hei-matort Jesu (Nazareth bzw. Nazaret) als „Nazarener“ (naṣārā) oder mit dem Begriff ahl al-kitāb (Leute der Schrift), d. h. als diejenigen,

11 Vgl. Muhammad ABU LAYLA, The Qurman and the Gospels: A Comparative Study, Kairo 1997, S. 4.� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

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die heilige Schriften vor dem Propheten Muhammad hatten. Das be-deutet jedoch, dass die Juden dabei auch mit inbegriffen sind. Wenn der Koran jedoch christliche Dogmen bzw. Aussagen kritisieren will, verwendet er nicht die Begriffe „Nazarener“ oder „Leute der Schrift“, sondern spricht ganz einfach von: „diejenigen, die so und so sagen“. Aber im Endeffekt sind in der islamischen Theologie damit doch die Christen gemeint. Die Bezeichnung „Nazarener“ kommt insgesamt in acht Koranversen vor. In jedem Vers sind auch andere Religions-gemeinschaften genannt: entweder nur die Juden oder die Juden, die Muslime, die Sabäer und die Polytheisten. Fast alle Koranverse, die den sozialen Umgang mit den Christen regeln, sprechen allgemein von den ahl al-kitāb, also den Juden und Christen. Nur ein Vers unterscheidet zwischen den beiden Gemeinschaften, den Juden und den Nazarenern, in Hinblick auf ihre jeweilige Haltung zur muslimischen Gesellschaft (5:82):

„Du wirst sicher finden, dass diejenigen Menschen, die sich den Gläubigen gegenüber am meisten feindlich zeigen, die Juden und die Heiden sind. Und du wirst sicher finden, dass diejenigen, die den Gläubigen in Liebe am nächsten stehen, die sind, welche sagen: ‚Wir sind Christen.‘ Dies deshalb, weil es unter ihnen Priester und Mönche gibt, und weil sie nicht hochmütig sind.“12

Im Gegensatz zu den Nazarenern, denen der Koran eine freundliche Gesinnung gegenüber den Muslimen bescheinigt, wird auf Seite der Juden eine heftige Gegnerschaft gegen die muslimischen Gläubigen festgestellt. Während die Juden von David und Jesus verflucht wur-den, einander die verwerflichen Handlungen nicht verboten und den Ungläubigen Unterstützung bieten (Sure 5:78–80), stehen die Nazare-ner den Gläubigen am freundlichsten gegenüber. Es gibt unter ihnen Priester und Mönche, die beim „Hören dessen, was auf den Prophe-ten herabgesandt wurde“ weinen, sie suchen den Glauben an Gott und werden für ihr Bekenntnis mit „Gärten, unter denen Bäche fließen“ belohnt (5:82–85).

Abū al-Ḥasan YAlī al-Naisābūrī (gest. 1076) berichtet in seinem Werk „Asbāb al-Nuzūl“ nach Ibn YAbbās, dass der Anlass der Offenba-

12 Übersetzung nach Henning.� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

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rung des hier zitierten Verses die gute Behandlung der muslimischen Auswanderer seitens des Negus, des Königs von Abessinien, war.13 Neben dieser Überlieferung berichtet Ibn Ǧarīr al-Ṭabarī (gest. 838) noch, dass der Vers auf eine andere Gruppe der Christen verweisen kann als die von Abessinien, und hält dies für wahrscheinlicher.14 Ei-gentlich fand um die Zeit der Auswanderung nach Abessinien noch keine Auseinandersetzung mit den Juden statt, die damals in Medina wohnten. Das bedeutet, dass, falls der Vers die Haltung der Christen von Abessinien darstellt, es keinen Anlass dafür gibt, zwischen den Christen und den Juden zu vergleichen. Ich bin der Meinung, dass die-ser Vers entweder später in Medina offenbart wurde, und zwar mit dem Ziel, die Muslime an die Geschichte in Abessinien zu erinnern, oder aber, dass er – wie al-Ṭabarī meint – über eine andere Gruppe der Nazarener spricht. Bemerkenswert ist, dass für das Lob der Anhänger Jesu auf einen religiösen Grund verwiesen wird: Unter den Nazarenern gebe es Priester und Mönche, die nicht hochmütig seien. Hier fällt die Unterscheidung auf, die der Koran zwischen dem Umgang mit den Dogmen der Andersgläubigen und dem Umgang mit ihnen einfach als Menschen macht: „Wenn es … nicht ausschließlich um rein religiöse Fragen geht, sondern … um Fragen, die den gesellschaftlichen Bereich und das allgemein politische Leben betreffen, dann treten andere Vor-schriften in Kraft.“15 Islamisch-rechtlich gesehen, dürfen die Muslime dem Koran zufolge die Speisen der ahl al-kitāb essen und die ehrbaren Frauen unter ihnen heiraten (Sure 5:5) – zwei rechtliche Urteile, mit

13 Vgl. NAISĀBŪRĪ, Asbāb al-Nuzūl, S. 136; Ibn Isḥāq berichtet in seiner Biographie des Propheten Muhammad, dass die Muslime von den Heiden in Mekka verfolgt und mit Schlägen und Nahrungsentzug gefoltert wurden. Der Prophet befahl den Muslimen, nach Abessinien auszuwandern: „Dort … herrscht ein König, bei dem niemandem Unrecht geschieht.“ Die Auswanderer wurden dort freundlich empfan-gen. Als der Negus von den Muslimen in Anwesenheit einiger Priester verlangte, etwas von der islamischen Offenbarung zu rezitieren, trug ǦaYfar b. Abī Ṭālib einen Abschnitt aus der Sure „Maria“ (Sure 19) vor. Beim Hören des Koran weinten die Priester. Der Negus sagte: „Diese Offenbarung und die Offenbarung Jesu kommen aus derselben Nische“ (vgl. Muḥammad Ibn ISḥĀQ, Das Leben des Propheten (al-sīra al-nabawīya). Aus dem Arabischen übertragen und bearbeitet von Gernot Rot-ter, Kandern 1999, S. 65–70).

14 Vgl. ṬABARĪ, ǦāmiY, Bd. X, S. 501.15 Der Koran, Arabisch – Deutsch: Übersetzung und wissenschaftlicher Kommentar

von Adel Theodor Khoury, Bd. 6, Gütersloh 1995, S. 149.� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

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denen sich die Gelehrten des islamischen Rechts seit dem 8. Jahrhun-dert ausführlich beschäftigen.

2 Islamischer Vorwurf bezüglich der Verfälschung (taḥrīf) des Christentums

Am Anfang muss zwischen zwei Begriffen unterschieden werden, der Verfälschung (taḥrīf) des Evangeliums und der des Christentums. Die Verfälschung der Heiligen Schrift hat die Verfälschung der Religion zur Folge. Die in der islamischen Geschichte vorherrschende Meinung besagt, dass das vorhandene Neue Testament eine verfälschte Versi-on des vom Islam anerkannten Evangeliums sei, das von Gott herab-gesandt wurde. Dieser Aufsatz möchte den muslimischen Theologen dazu einige Fragen stellen: Spricht der Koran explizit von Verfäl-schung des Evangeliums? Ist mit „Evangelium“ im Koran ein von Gott Wort für Wort geoffenbartes Buch gemeint oder bezeichnet „Evange-lium“ hier die philologische, im Christentum fixierte Bedeutung des Evangeliums, d. h. der Frohen Botschaft? Nimmt das Evangelium im Gesamt des christlichen Glaubens die gleiche Stellung ein, wie sie dem Koran als iBǧāz ilāhī (göttliches Wunder) im Gesamt des islamischen Glaubens zukommt? Welche christlichen Lehren lehnt der Koran ab und betrachtet sie als Zeichen der Verfälschung der göttlichen Bot-schaft an die Christen? Wie legen die Koranexegeten die diese Lehren kritisierenden Verse aus? Der vorliegende Beitrag untersucht im Fol-genden die Antworten, die der islamische Exeget Abū al-Faḍl Šihāb al-Dīn al-Ālūsī (gest. 1270 H./1854) in seinem Werk „Rūḥ al-maYānī fī tafsīr al-qurmān al-Yaẓīm“ auf diese Fragen geben hat. Al-Ālūsī lebte in Bagdad und wurde 1832 vom osmanischen Sultan zum Mufti ernannt. Sein Korankommentar „Rūḥ al-maYānī“ gehört zu den bekanntesten und größten Tafsīr-Werken der islamischen Geschichte. Al-Ālūsī be-fasst sich kritisch mit den verschiedenen von seinen Vorgängern aus-geführten Bedeutungen der Koranverse sowie den Anlässen ihrer He-rabsendung.

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2.1 Spricht der Koran ausdrücklich über den taḥrīf? In welchen Kontexten?

Das Wort taḥrīf (Verfälschung) kommt in vier Koranstellen und nur in der Verbform yuḥarrifūna vor (vgl. 2:75; 4:46; 5:13; 5:41). An zwei dieser Stellen (4:46 und 5:13) bedeutet das Verb nicht „Verfälschung“, sondern „Verstellung“: yuḥarrifūna al-kalima Ban mawāḍiBih ([sie] entstellen die Worte der Schrift, indem sie sie von der Stelle wegneh-men). Es muss gleich zu Beginn darauf hingewiesen werden, dass in den vier Versen, in denen der Koran über den taḥrīf spricht, dem weiteren Kontext nach besonders die Juden betroffen sind. Al-Ālūsī schließt, wie fast alle anderen Korankommentatoren, die Christen von der in diesen Versen geführten Kritik gänzlich aus. Er interpretiert den Satz yuḥarrifūna al-kalima Ban mawāḍiBih in dem Sinne, dass die Ju-den entweder bestimmte Stellen von ihrer Schrift weglöschten, wie die Beschreibung des Propheten Muhammad und die Steinigungsstrafe, oder falsche und unehrliche Auslegungen der Schrift verbreiteten.16 Die erste Auslegung al-Ālūsīs entbehrt zwar jeder jüdisch-historischen Grundlage, v. a. in Bezug auf die Beispiele über die Beschreibung Mu-hammads und die Steinigungsstrafe. Al-Ālūsī setzt sich jedoch über jegliches wörtliche Verständnis des Satzes hinweg, indem er von einer Verfälschung des Wortsinns und nicht von einer Verstellung der Wor-te selbst spricht. Diese Auslegung stimmt m. E. weitgehend mit der neutestamentlichen Sicht des Alten Testaments überein, sofern auch Jesus das jüdische Verständnis vieler Lehren in der Tora kritisiert.17

Sprechen wir über die Frage des koranischen Vorwurfs der Verfäl-schung (taḥrīf) des Evangeliums durch die Christen, dann kann nur eine Stelle infrage kommen, wo jedoch nur allgemein von den ahl al-kitāb, den Juden und Christen, die Rede ist. Explizit spricht der Vers weder über eine Entstellung noch über eine Verfälschung. Diesen ahl al-kitāb wird stattdessen vorgeworfen, vieles von der Schrift „geheim gehalten“ zu haben (5:15):

16 Vgl. Abū al-Faḍl Šihāb al-Dīn al-Sayyid Maḥmūd al-ĀLŪSĪ, Rūḥ al-maYānī fī tafsīr al-qurmān al-Yaẓīm, Beirut: Dār Iḥyām al-Turāṯ al-YArabī (o. J.), Bd. V, S. 46.

17 Die Aussage „ich aber sage euch“ bzw. „aber ich sage euch“ kommt in vielen neu-testamentlichen Kontexten vor, in denen Jesus die neue Lehre verkündet oder ein neues Verständnis der jüdischen Lehre zeigt (vgl. Mt 5,22.28.32.34.39 und 44; 8,11; 19,9; Mk 9,13; Lk 6,27; 13,35; Joh 16,7).� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

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„Ihr Leute der Schrift! Unser Gesandter ist nunmehr zu euch ge-kommen, um euch (auf Grund der Offenbarung, die er erhalten hat) vieles von der Schrift klarzumachen, was ihr (bisher) geheim gehal-ten habt.“

Al-Ālūsī betont, dass mit den „Leuten der Schrift“ nicht nur die Ju-den, sondern auch die Christen gemeint seien, die die Verkündung des Propheten Muhammad im Evangelium verborgen hätten. Er be-zieht sich aber nicht auf irgendwelche christlichen Quellen, sondern auf den Koran selbst, der an einer anderen Stelle erwähnt, dass Jesus den islamischen Propheten Muhammad verkündet hatte (vgl. Sure 61:6).18 Der oben erwähnte Vers kommt in einem, aus drei Versen bestehenden, Kontext vor, in dem die Juden dafür kritisiert werden, dass sie die Schrift entstellt und ihre Verpflichtungen Gott gegenüber gebrochen hätten. Im zweiten Vers wird die Kritik an den Christen geäußert, dass sie einen Teil der Lehren Gottes vergessen hätten. Der dritte Vers befasst sich mit den beiden Religionsgemeinschaften. Sie hätten vieles von der Schrift geheim gehalten. Bemerkenswert ist, dass der Koran im zweiten Vers (5:14) nicht über die Christen allgemein spricht, sondern nur über einige von ihnen: „Und (auch) von denen, die sagen: ‚Wir sind Christen.‘“ Hier muss darauf hingewiesen werden, dass der Koran bei seiner Kritik den Christen gegenüber immer jede Verallgemeinerung vermeidet. Zusammenfassend können wir sagen: Der Koran enthält keinen Text, in dem den Christen die Verfälschung des Evangeliums ausdrücklich vorgeworfen würde.

2.2 Ist mit Wort „Evangelium“ (inǧīl) im Koran ein von Gott Wort für Wort geoffenbartes Buch gemeint?

Der von den Christen anerkannte und benutzte Text des Neuen Tes-taments enthält keine Offenbarungen, die auf Jesus Wort für Wort herabgesandt wurden. Die Christen glauben nicht, dass Gott, der Va-ter, seinem Sohn, Christus, eine Schrift gab. Jesus selbst ist nach dem christlichen Glauben das heilige Wort Gottes: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“ (Joh 1,14). Gott offen-

18 Vgl. ĀLŪSĪ, Rūḥ al-maYānī, Bd. VI, S. 96.� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

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bart sich im Christentum nicht als Buch, sondern, so seltsam es für die Muslime klingen mag, als Mensch. Dieser Satz ist die Gegenformulie-rung zu: „Gott offenbart sich im Islam nicht als der Sohn, sondern, so seltsam es für uns klingen mag, als Buch“ (R. Leuze).19 Die Musli-me glauben aufgrund des Wortlauts des Koran jedoch daran, dass das Evangelium in Form eines Buches offenbart wurde. Die muslimischen Theologen beschäftigten sich in der Vergangenheit – und tun es auch heute noch – eher mit den Fragen danach, wo dieses Buch verschwand, und wie und wann dieses Buch verfälscht wurde, als mit der Frage, ob ein himmlisches Buch wirklich existierte.

Wie oben erwähnt, findet sich der Satz „und Wir gaben ihm das Evangelium“ zweimal im Koran (5:46; vgl. auch 57:27). Al-Ālūsī be-tont in seinem Kommentar zur Sure 5:46, dass Jesus das Evangelium in Form von herabgesandten Worten erhielt. Diese himmlische Schrift enthält, so al-Ālūsī, keine rechtlichen Urteile und keine Lehren über die verbotenen bzw. erlaubten Dinge, sondern nur rumūz wa-amṯāl wa-mawāBiẓ (Symbole, Sprichworte und moralische Mahnreden).20 Al-Ālūsī weist in diesem Zusammenhang auf den Kommentar von Abū al-Fatḥ YAbd al-Karīm al-Šahrastānī (gest. 1153) hin, demzufolge Je-sus sich betreffs der rechtlichen Entscheidungen auf die Tora bezogen habe und die Juden deshalb an ihn geglaubt hätten.21 An der anderen Koranstelle verdeutlicht unser Autor, dass das offenbarte Evangelium verschieden sei von den vorhandenen, von den Christen benutzten Evangelien. In den letzteren stünden falsche Geschichten über Jesus, v. a. die Kreuzigungsgeschichte.22 Obwohl seine Exegese sich einge-hend mit philologischen und morphologischen Fragen beschäftigt, stellt al-Ālūsī die Frage nicht, ob mit dem Wort „Evangelium“ etwas anderes als ein „Buch“ gemeint sein könnte. Er befasst sich außerdem nicht damit, was der Begriff „Evangelium“ im Christentum bedeutet.23 Darüber hinaus ignoriert er den bekannten Streit der jüdischen Ge-lehrten mit Jesus hinsichtlich seiner Kritik des jüdischen Verständ-

19 Reinhard LEUZE, Christentum und Islam, Tübingen 1994, S. 57.20 ĀLŪSĪ, Rūḥ al-maYānī, Bd. VI, S. 151.21 Vgl. ebd.22 Vgl. ebd., Bd. XXVII, S. 190.23 Das Wort „Evangelium“ findet sich 76-mal im Neuen Testament; davon 48-mal in

den Briefen des Paulus. Das Evangelium bezeichnet die Frohe Botschaft oder das Heilshandeln Gottes an Jesus (vgl. Detlev DORMEYER, Einführung in die Theologie des Neuen Testaments, Darmstadt 2010, S. 27).� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

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nisses vieler Lehren und Gesetze der Tora, wie die des Sabbats (vgl. Mt 12,1–8; 12,9–14; Mk 2,23–28; 3,1–6; Lk 6,1–5; 6,6–11) und der Reinheit (vgl. Mt 15,1–20; Mk 7,1–23). Der Koran weist selbst auf das schlechte Verhältnis zwischen Jesus und der jüdischen Gemeinde hin (vgl. Sure 4:156–157).

Der Koran sagt also nicht, was er mit „Evangelium“ meint, und be-schreibt es auch nicht. Wenn wir einen Blick auf die Suren werfen, in denen der Koran andere himmlische Schriften thematisiert, dann fin-den wir die klare Aussage, dass es sich um offenbarte Worte handelt, die die betreffenden Propheten niederschrieben bzw. niederschreiben ließen. Über die Tora heißt es beispielsweise in der Sure 7:150: „Und er [Mose] warf die Tafeln (zu Boden).“ Mit den Tafeln sind allen Exegeten zufolge Teile der Tora gemeint. Al-Ālūsī stellt seinerseits die Frage, wie Mose diese heiligen Tafeln auf den Boden warf und ob seine Wut auf sein Volk diese verachtenswerte Tat rechtfertigt.24 In einer anderen Sure verweist der Koran auf wirklich existierende Bücher bei Mose und Abraham (87:18–19): „Das steht auf den ersten Blättern (der Offenba-rungsschrift), den Blättern von Abraham und Moses.“ Auch erwähnt der Koran an keiner Stelle bestimmte Lehren des geoffenbarten Evan-geliums, während er im Fall der Tora und des Psalters einzelne Lehren nennt:

„Wir haben ihnen darin vorgeschrieben: Leben um Leben, Auge um Auge, Nase um Nase, Ohr um Ohr, Zahn um Zahn, und Verwun-dungen (ebenso. In allen Fällen ist) Wiedervergeltung (vorgeschrie-ben)“ (5:45).„Wir haben doch im Psalter im Anschluß an die Mahnung geschrie-ben, daß meine rechtschaffenen Diener (dereinst) die Erde erben werden“ (21:105).

Diese Art und Weise des Koran, im Fall der Tora und des Psalters ein-zelne Lehren anzugeben, während er dies im Fall des Evangeliums nicht tut, impliziert m. E. einen Unterschied zwischen diesen Schriften und dem Evangelium. Das Wort „Evangelium“ bedeutet im Koran nicht unbedingt eine herabgesandte Schrift. Die Frage, ob mit „Evangelium“

24 Vgl. ĀLŪSĪ, Rūḥ al-maYānī, Bd. IX, S. 66 f.� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

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im Koran die Frohe Botschaft Jesu gemeint sein könnte, ist also eine gerechtfertigte Frage, die offenbleibt.

3 Verfälschung der christlichen Lehren – koranische Kritik an wem?

Im Folgenden gehen wir auf bestimmte Lehren bzw. Glaubenssätze der Christen ein, wie sie im Koran dargestellt und kritisiert werden. An der Trinitätslehre, der Kreuzigung Jesu und dem Glauben an ihn als Sohn Gottes wird im Koran häufig harte Kritik geübt, da sie nach koranischem Verständnis dem islamischen Grundprinzip des Eingott-glaubens widersprechen. Der Koran behandelt diese Glaubenssätze im Zusammenhang mit der Geschichte Jesu an vielen Stellen. Im Folgen-den sollen die relevanten Stellen rein exegetisch behandelt werden, d. h. die koranische Stellungnahme wird dargelegt, ohne dass auf die christlichen theologischen Einzelheiten und die islamische Apologetik eingegangen wird.

3.1 Die Christologie (Sure 5:17 und 5:72)

Im Koran wird, wie erwähnt, die Verbindung zwischen Jesus und Gott nicht bezweifelt; er wird als Prophet Gottes angesehen und durch den Titel „Gesandter“ in eine Reihe mit Mose und Muhammad gestellt. Der Koran bezeugt darüber hinaus die Messianität Jesu und über-nimmt den Messias-Titel.25 Doch werden zwei verschiedene Lehren zur Person Jesu kritisiert und als Verfälschung der wahren christlichen Botschaft Jesu betrachtet: einerseits dass er Gott sei (Sure 5:17; 5:72; 5:116) und andererseits dass er, wie es in der christlichen Lehrentwick-lung dogmatisch bereits fixiert wurde, Gottes Sohn sei (2:116; 10:68;

25 Jesus wird im Koran elfmal al-masīḥ (der Messias) genannt. Damit ist „der Gesalbte“, „von der Sünde Gereinigte“ oder „Gesegnete“ gemeint; vgl. ṬABARĪ, ǦāmiY, Bd. IX, S. 417. Mehr zu den koranischen Titeln Jesu Christi bei Adel Theodor KHOURY, Der Islam und die westliche Welt: Religiöse und politische Grundfragen, Darmstadt 2001, S. 76.� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

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18:4; 19:88–93; 21:26). Dies hat seine Ursache darin, dass der Koran zwei verschiedenen theologischen Formen der Christologie begegnet, wobei er an anderer Stelle darauf hinweist, wie sehr christliche „Partei-en“ in diesem Punkte untereinander zerstritten sind (19:37).

Gemäß Sure 5:17 sind diejenigen ungläubig, „die sagen: ‚Gott ist Christus, der Sohn Marias.‘“26 Diese Auffassung wird in den Koranex-egesen zumeist den „Jakobiten“27 zugeschrieben.28 Al-Ālūsī berich-tet, einige muslimische Theologen seien der Meinung, keine christli-che Gruppe sage ausdrücklich, dass Gott Jesus sei.29 Allerdings soll der Vers – so al-Ālūsī – darauf verweisen, dass dies im Endeffekt ein zwangsläufiges Ergebnis der christlichen Lehre von der Inkarnation, d. h. der Fleischwerdung Gottes in Jesus von Nazareth ist. Das erinnert an die Auffassung des Exegeten al-Rāzī (gest. 1210), demzufolge die im Vers erklärte Meinung nicht explizit von den Christen behauptet wurde. Jedoch „wenn sie dies ausdrücklich nicht äußern, mündet ihre Auffassung [der Inkarnation] definitiv darin“.30 Den beiden Exege-ten zufolge lehnt der Koran daher die Vereinigung des Göttlichen und Menschlichen in Jesus ab. Der Koran sieht in diesem Glauben die Be-hauptung impliziert, dass Gott Jesus sei und hält dies letztendlich für Unglauben gegenüber Gott. Das Urteil zum Unglauben wird im weite-ren Verlauf des Verses noch mit der Frage kommentiert:

„Wer könnte Gott daran hindern, wenn er den Messias, den Sohn der Maria, und seine Mutter und wen auch immer auf Erden ver-nichten wollte?“31

Mit dieser Ergänzung stellt der Vers Jesus Christus und jeden anderen Menschen insofern gleich, dass sie alle Geschöpfe Gottes sind, die über

26 Ebenso Sure 5:72; vgl. auch 5:116.27 Jakobiten sind Anhänger der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien und nach

Jakob Baradai (gest. 578), dem Begründer der Kirche, benannt. „Heute lehnt die Kirche den Namen Jakobiten ab und nennt sich (im Sinne eigener Rechtgläubigkeit) syrisch-orthodox“ (Bertold SPULER, Jakobiten, in: Kurt GALLING (Hrsg.), Die Reli-gion in Geschichte und Gegenwart: Dritte Auflage Bd. 3, Tübingen 1959, S. 523.

28 Vgl. Abū YAbdallāh Muḥammad al-QURṭUBĪ, al-ǦāmiY li-aḥkām al-qurmān, Beirut: Dār Iḥyām al-Turāṯ al-YArabī 1985, Bd. VI, S. 249.

29 Vgl. ĀLŪSĪ, Rūḥ al-maYānī, Bd. VI, S. 98.30 Abū YAbdallāh Muḥammad Faḫr al-Dīn al-RĀZĪ, al-tafsīr al-kabīr, Beirut: Dār Iḥyām

al-Turāṯ al-YArabī, 3. Auflage (o. J.), Bd. XI, S. 189.31 Übersetzung nach Henning.� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

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keine Macht gegenüber Gottes Willen verfügen oder sich gegen den Tod verteidigen können. Darüber hinaus impliziert diese Frage am Ende des Verses eine Zusammenfassung der koranischen Christologie, dass Jesus der Messias und der Sohn Marias ist.

Ebenso wird die Auffassung, Jesus sei der Sohn Gottes, vom Koran kritisiert. Zu dieser Frage werden von den muslimischen Gelehrten zwei Arten von Versen behandelt: eindeutige Verse, in denen explizit von den „Christen“ und dem „Sohn Gottes“ die Rede ist, und zweideu-tige Verse, die nicht speziell über die Christen, sondern über „diejeni-gen, die … behaupten“ erzählen. Für die erste Kategorie ist nur eine Koranstelle zu finden (9:30):

„Und die Juden sagen: ‚Esra ist Allahs Sohn.‘ Und die Christen sa-gen: ‚Der Messias ist Allahs Sohn.‘ So spricht ihr Mund. Sie führen eine ähnliche Rede wie die Ungläubigen vor ihnen. Allahs Fluch über sie! Wie sind sie doch völlig ohne Verstand!“32

Der Vers informiert über den Glauben der Juden und Christen an die Gottessohnschaft, verflucht sie wegen dieser Behauptung und wirft ihnen am Ende Unverstand vor. Auf der Seite der Juden ist die Aus-sage, Esra33 sei Sohn Gottes, schwer zu beweisen, was auch die Mei-nungsverschiedenheit der Exegeten verdeutlicht.34 Was den Glauben der Christen daran, dass Jesus Gottes Sohn sei, betrifft, gilt er als be-reits verankertes christliches Dogma, das in vielen Stellen des Neuen Testaments zum Ausdruck kommt. Al-Ālūsī führt für dieses Dogma

32 Übersetzung nach Henning.33 Esra war eine anerkannte, aus priesterlichem Geschlecht stammende Persönlichkeit.

Er ordnete Priestertum und Tempeldienst, organisierte die Rückkehr weiterer Juden aus dem Exil und trug auf Verlangen des Volkes das Gesetz vor (vgl. Kurt GALLING, Esra, in: DERS. (Hrsg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart: Dritte Auflage Bd. 2, Tübingen 1958, S. 693.

34 Zur Erläuterung dieses Versteiles werden verschiedene Überlieferungen aufgeführt. Nach Ibn YAbbās wurde berichtet, dass eine Gruppe von den Juden, zu der ŠaYs b. Qais und Mālik b. al-Ṣaif gehörten, dies im Gespräch mit dem Propheten Muḥammad sagte (vgl. ṬABARĪ, ǦāmiY, Bd. XIV, S. 202). Riḍā schließt in seinem Kommentar nicht aus, dass es sich um eine Aussage früherer Juden handelt, die damit nur ihre Hochschätzung Esras zum Ausdruck bringen wollten, indem sie ihn als Sohn Gottes bezeichneten, genau wie Israel, David und andere Propheten im Alten Testament als Söhne Gottes bezeichnet werden (vgl. Muḥammad Rašīd RIḍĀ, Tafsīr al-manār, Kairo: al-Haima al-Miṣrīya li-al-Kitāb 1999, Bd. X, S. 286 f.� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

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dreierlei Gründe an: Die Christen glauben an die Sohnschaft Jesu, entweder weil es unmöglich wäre, dass ein Mensch ohne einen Vater geboren wird, oder weil die Wunder Jesu nicht von einer normalen Person gewirkt werden können, oder weil die Christen die Sohnschaft Jesu im Text des Neuen Testaments falsch verstanden. Al-Ālūsī hält die zuletzt erwähnte Annahme für das Höchstwahrscheinliche.35 Die Gelehrten des 20. Jahrhunderts vertreten die Meinung, dass die Chris-ten die neutestamentlichen Stellen, die von der Sohnschaft Jesu erzäh-len (Mt 4,3 und 6; 16,13–16; Mk 16,33; Joh 3,35–36; 5,19–21; 5,43), falsch interpretiert haben. Die muslimischen Gelehrten stellen diese Verse anderen biblischen Stellen gegenüber, in denen die Propheten oder auch die Jünger Jesu selbst als Söhne Gottes bezeichnet werden (Ex 4,22; Ps 89,27; Jer 31,9; Mt 5,44), und kommen zum Schluss, dass mit der Sohnschaft hier „die Unterstützung, Fürsorge, Sympathie und Barmherzigkeit Gottes“36 gemeint sind. Nach Riḍā ist nicht zu leugnen, dass der Anteil Jesu an dieser Hochschätzung im Vergleich zu David, Jakob und Salamo zwar größer ist, jedoch dies nicht dazu führen soll, Jesus als leiblichen oder als Adoptivsohn Gottes zu betrachten.37

In den zweideutigen Koranstellen wird indessen nicht das arabische Wort ibn (Sohn), sondern das Wort walad (Kind) verwandt, das im Arabischen sowohl Sohn als auch Tochter bedeuten kann.38 Aufgrund der Tatsache, dass die Heiden zur Zeit Muhammads die Engel als Töch-ter Gottes bezeichneten (vgl. Sure 17:40; 37:150 und 43:19), sind die Koranexegeten bei der Auslegung der fraglichen Stellen, in denen von „denjenigen, die sagen …“ bzw. „Kind“ die Rede ist, darin uneinig, ob der Vers sich mit den Christen oder mit den Heiden auseinandersetzt. Als Beispiele werden hier die Suren 2:116 und 10:68, die im jeweiligen ersten Teil identisch sind, aufgeführt:

35 Vgl. ĀLŪSĪ, Rūḥ al-maYānī, Bd. X, S. 274.36 YAbd al-Karīm al-ḪAṭĪB, al-masīḥ fī al-qurmān wa-al-taurāh wa-al-inǧīl, Kairo: Dār

al-Kutub al-Ḥadīṯa 1965, S. 220; vgl. auch RIḍĀ, Tafsīr, Bd. X, S. 295 und Aḥmad ŠALABĪ, al-masīḥīya, Kairo: Maktabat al-Nahḍa al-Miṣrīya 101998, S. 152.

37 Vgl. RIḍĀ, Tafsīr, Bd. X, S. 295.38 Vgl. Muḥammad b. Makram Ibn MANẓŪR, Lisān al-Yarab, hrsg. von YAbdallāh YAlī

al-Kabīr u. a., Kairo: Dār al-MaYārif 1980, Bd. VI, S. 4914; Muḥammad b. Abī Bakr b. YAbd al-Qādir al-RĀZĪ, Muḫtār al-ṣiḥāḥ, hrsg. von Maḥmūd Ḫāṭir, Beirut: Lubnān Nāširūn 1995, Bd. I, S. 740. Im Gegensatz zu Henning übersetzen Khoury und Paret das Wort walad mit „Kind“.� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

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„Und sie (d. h. die Christen?) sagen: ‚Allah hat sich ein Kind zuge-legt.‘ Gepriesen sei er! (Darüber ist er erhaben.) Nein! Ihm gehört (ohnehin alles), was im Himmel und auf Erden ist. Alle (Geschöpfe) sind ihm demütig ergeben.“„Sie sagen: ‚Allah hat sich ein Kind zugelegt.‘ Gepriesen sei er! Er ist der, der reich ist (und so etwas nicht nötig hat). Ihm gehört (ohne-hin alles), was im Himmel und auf Erden ist.“

Al-Ālūsī versteht beide Verse im gleichen Sinn. Sie beziehen sich beide sowohl auf die Christen als auch auf die Heiden.39 Eine genaue Lektüre der meisten Korankommentare ergibt, dass die Exegeten be-züglich der zweideutigen Stellen (mutašābihāt) den Titel „Gottes Sohn“ bzw. „Gottes Kind“ weniger in seiner philosophischen Dimension ver-stehen als vielmehr im Hinblick auf die heidnischen Vorstellungen, auf die Muhammad in Mekka stieß. Unter diesem Gesichtspunkt ist zwar die Ansicht, dass der Koran diese Sohnschaft als genealogische Her-kunftsbezeichnung betrachtet, zu berücksichtigen.40 Jedoch wird außer der genealogischen jede andere Vorstellung der Sohnschaft indirekt dadurch abgewiesen, dass Jesus immer als „Sohn Marias“ im Koran ge-nannt wird und er sich selbst seiner Gemeinde als „BAbdallāh“ (Diener Gottes) vorstellt (Sure 19:30).

3.2 Trinitätslehre (Sure 5:73 und 4:171)

Die Trinitätslehre ist das wichtigste Element im christlichen Gottesver-ständnis. Gemäß dieser Lehre vereinigen sich drei zu unterscheidende, getrennte Personen zu einer göttlichen Einheit: Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist. Es handelt sich folglich um eine Gottheit, die aus drei Personen besteht. So wie der Koran in Sure 5:72 den Glauben an die Göttlichkeit Jesu zurückweist, werden im nächsten Vers (5:73) noch diejenigen, die sagen, Gott ist „Dritter von Dreien“, als „ungläubig“ be-trachtet; dies lehnt der Koran deshalb ab, da „es nur einen Gott gibt“. Die Kritik steigert sich, wenn am Ende des Verses diese „Ungläubigen“

39 Vgl. ĀLŪSĪ, Rūḥ al-maYānī, Bd. I, S. 366; Bd. XI, S. 155.40 Vgl. Olaf H. SCHUMANN, Der Christus der Muslime: Christologische Aspekte in der

arabisch-islamischen Literatur, Gütersloh 1975, S. 30.� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

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mit „schmerzhafter Strafe“41 am Jüngsten Tag bedroht werden. Eine andere Koranstelle (4:171) betont diesen Punkt, indem die Christen aufgefordert werden: „Sagt nicht ‚drei‘. Lasst davon ab, dies ist für euch besser. Allah ist nur ein einziger Gott.“£

Zu diesen Versen führt al-Ālūsī zwei unterschiedliche Auslegun-gen an: Entweder sind mit den drei Göttern Gott, der Vater, Jesus, der Sohn, und Maria, die Mutter, gemeint.42 Für diese Auslegung bezieht er sich auf eine Koranstelle (5:116), wonach neben Jesus auch Maria als Göttin verehrt wurde43; oder die Verse verweisen auf die Lehre der Dreifaltigkeit. Hierzu behandelt unser Autor die Meinungsverschie-denheit zwischen Jakobiten, Nestorianern und Melkiten zur Frage der Inkarnation und der Trinität und kommt zum Schluss, dass die-se verschiedenen Meinungen Irrtümer (abāṭīl) sind, mit der Vernunft in Widerspruch stehen (muḫālifa li-al-Buqūl), dem äußeren Sinn der Wörter folgen (aḫḏ bi-ẓawāhir al-alfāẓ), jeder evangelischen Quelle entbehren (lā aṣla lahā fī al-inǧīl) und keinen Bezug auf die Aussagen Jesu oder die seiner Schüler nehmen (lā macḫūḏa min qaul al-masīḥ wa-lā aqwāl talāmīḏih).44 Al-Ālūsī weist aber nicht auf eine Tatsache hin, die al-Qurṭubī (gest. 1273) in seinem Korankommentar erwähnt, nämlich dass die Christen sagen: „Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist sind ein Gott, und sie nicht sagen: drei Götter.“45 Dass der Koran in diesen zwei Stellen wirklich die theologisch entwickelte christliche Lehre der Dreieinigkeit widerspiegelt, ist nicht sehr wahrscheinlich. Die Verse erzählen nicht von der Einheit dreier Personen im Wesen Gottes, sondern von drei Göttern. Darüber hinaus wird der Vers, in dem den Christen die Verehrung Marias und Jesu vorgeworfen wird (Sure 5:116), von anderen Exegeten als Auslegung der zuerst erwähn-ten zwei Stellen betrachtet. Ibn Kaṯīr (gest. 1373) vertritt z. B. diese Auslegung und betrachtet sie als „die Richtigste“ (al-aẓhar).46 Bemer-

41 Übersetzung nach Henning.42 Übersetzung M. Abdel Rahem.43 Vgl. ĀLŪSĪ, Rūḥ al-maYānī, Bd. I, S. 364; Bd. VI, S. 207.44 „Und als Gott sprach: ‚O Jesus, Sohn Marias, warst du es, der zu den Menschen

sagte: »Nehmt euch neben Gott mich und meine Mutter zu Göttern?«‘ Er sagte: ‚Preis sei Dir! Es steht mir nicht zu, etwas zu sagen, wozu ich kein Recht habe …‘“ (Übersetzung nach: Der Koran: Übersetzung von Adel Theodor Khoury unter Mit-wirkung von Muhammad Salim Abdullah, Gütersloh 1987).

45 ĀLŪSĪ, Rūḥ al-maYānī, Bd. VI, S. 27.46 Vgl. QURṭUBĪ, ǦāmiY, Bd. VI, S. 249.� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

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kenswert ist, dass für die Vergöttlichung Marias gar keine bestimmte christliche Gruppe genannt wird. Diese Maria vergötternde Verehrung scheint auf die ketzerischen Lehren der Kollyridianer hinzuweisen.47

Trotz der Meinungsunterschiede und der Uneindeutigkeit der be-troffenen Verse bezieht sich die allgemeine islamische Beurteilung, die die Trinitätslehre für vollkommen abwegig und für eine Verfälschung der christlichen Botschaft hält, v. a. und ausdrücklich auf die zwei oben erwähnten Stellen (Sure 5:73 und 4:171), wobei erklärt wird, dass das Trinitätsdogma der christlichen Kirche zum monotheistischen, im Ko-ran verankerten Glauben völlig in Widerspruch steht. Für den Glauben der großen christlichen Kirchen widerspricht der Glaube an die Drei-einigkeit Gottes aber nicht dem Glauben an die Einheit Gottes (dem Monotheismus).

3.3 Die Kreuzigung Jesu

Gemäß dem Neuen Testament endet die Leidensgeschichte Jesu mit seinem Tod am Kreuz. Die jüdische Führung in Jerusalem bemächtigt sich seiner mithilfe eines der Jünger (Judas Iskarioth) und liefert ihn dem römischen Prokurator Pontius Pilatus aus, der gerade in der Stadt weilt. Jesus wird vor dem Synedrium verhört, zum Tode verurteilt und am Ende von den Römern gekreuzigt (vgl. Mk 14,1–15,39).

Die Kreuzigung, eines der bereits im Neuen Testament verankerten Ereignisse der Geschichte Jesu, bestreitet der Koran: Sure 4 erzählt, dass Gott die Juden wegen ihrer Verfehlungen (u. a. wegen des Brechens ih-rer Verpflichtung, der Verleugnung seiner Zeichen, der Tötung seiner Propheten und der Verleumdung Marias) verflucht (4:155–156). Die letzte in diesem Kontext erwähnte Verfehlung ist ihre Behauptung, sie hätten „den Messias Jesus, den Sohn der Maria“ getötet (4:157).48 Der Vers entgegnet „Aber sie haben ihn (in Wirklichkeit) nicht getötet und (auch) nicht gekreuzigt. Vielmehr erschien ihnen (ein anderer) ähn-

47 Abū al-Fidām IsmāYīl b. YUmar b. KAṯĪR, Tafsīr al-qurmān al-Yaẓīm, hrsg. von Sāmī b. Mu£ammad al-Salāma, Riad: Dār £ība 1999, Bd. III, S. 158.

48 Eine häretische Bewegung, die nach Epiphanius von Salamis (gest. 403) im 4. Jahrhundert im Ostjordanland und auf der Sinai-Halbinsel existierte (vgl. Patrick MADRID, Collyridianism. Trinity Communications 1994, unter: www.ewtn.com/library/HOMELIBR/COLLYRID.TXT [14.01.2014]).� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

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lich (so dass sie ihn mit Jesus verwechselten und töteten).“ Der Koran behandelt nicht, ob und inwieweit Jesus unter den Juden gelitten hat und er streitet ebenfalls nicht die im Neuen Testament berichtete Ver-folgung Jesu und seiner Jünger ab. Er erkennt zwar das Ereignis der Kreuzigung selbst an; nach ihm ist der am Kreuz Getötete jedoch nicht Jesus.

Die Koranexegese behandelt den Vers nur im Kontext der Ausein-andersetzung mit den Juden. Diesen wird die Absicht, Jesus zu töten, vorgeworfen. In seiner These, dass der Gekreuzigte nicht Jesus war, be-zieht sich der Koran weder auf eine jüdische noch auf eine christliche Konfession. Für die Christen ist es ein historisches Faktum, dass Jesus von Nazareth den Tod durch Kreuzigung erlitten hat. Sie glauben fest daran, dass Jesus für die Erlösung der Menschen freiwillig den Tod auf sich genommen hat, was sich nicht nur in den Briefen des Paulus, sondern auch in den Leidensgeschichten der synoptischen Evangelien widerspiegelt.

Die islamischen Exegeten sind sich auch nicht darüber einig, wie das Ereignis, dass den Juden durch Einwirkung Gottes ein anderer als Je-sus ähnlich erschien, genau ablief. Al-Ālūsī führt insbesondere die zwei verschiedenen Überlieferungen al-Ṭabarīs (gest. 923) an49: Die eine be-sagt, dass alle Jünger, die mit Jesus waren, den Juden ähnlich wie Jesus erschienen und dass dieser selbst zu dieser Zeit in den Himmel erho-ben wurde. Die Juden konnten wegen dieser Täuschung Christus nicht erkennen, hielten einen seiner Jünger fest und kreuzigten ihn. Gemäß einer anderen Überlieferung nach Ibn MiYqal berichtet al-Ṭabarī, dass die Jünger Jesu das Haus vor der Ankunft der Juden verließen, außer einer, auf den die äußere Erscheinung Jesu übertragen und der anstel-le Jesu von den Juden gekreuzigt wurde. Al-Ālūsī erwähnt noch eine dritte Überlieferung, nämlich dass einer der Jünger, dessen Verrat laut Neuem Testament (vgl. Lk 22,21; Joh 13,21) von Jesus selbst prophezeit wurde, Jesus, dem Christus, ähnlich gemacht wurde, sodass die Juden ihn anstelle von Jesus kreuzigten.50 Für diesen Bericht bezieht sich der Autor allerdings auf keine bestimmte historische Quelle. Die späteren

49 Die ganze Passage stellt eine Auseinandersetzung mit den Juden dar. Es geht dem Koran nicht in erster Linie darum, gegen die Christen zu polemisieren, indem er eine ihrer wichtigsten Heilslehren in Zweifel zieht. Vielmehr will er die Verfehlun-gen der Juden aufzeigen.

50 Vgl. ĀLŪSĪ, Rūḥ al-maYānī, Bd. VI, S. 10; ṬABARĪ, ǦāmiY, Bd. IX, S. 375.� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

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Theologen betonen auch, dass die islamische Geschichtsliteratur keine bestimmte Person nennt, denn Judas Iskarioth soll nach dem Kreuzi-gungsereignis gelebt und seinen Verrat bereut haben (Mt 27,3–5).51 Im Kontext seiner Auslegung dieses Verses schneidet al-Ālūsī noch die Frage an, ob – wie einige christliche Konfessionen behaupten – zwar der menschliche Teil Jesu gekreuzigt worden sei, nicht aber der gött-liche. Al-Ālūsī lehnt diese Auffassung völlig ab, denn in Jesus habe es überhaupt keine göttliche Natur gegeben.52

An dieser Stelle stellt sich die Frage, warum der Koran die Geschich-te der Kreuzigung Jesu ablehnt, obwohl er ihn als normalen Menschen betrachtet. Die Antwort besteht darin, dass Gott sich im Koran ver-pflichtet, seine Gesandten nicht töten zu lassen (vgl. Sure 58:21). D. h., die Kreuzigung oder irgendeine Art Tötung ist ein schmähliches Ende, das der in besonderer Weise mit Gott verbundene Mensch nicht er-leiden kann. Auf diese islamische Einstellung weist al-Ālūsī in seinem Kommentar zur christlichen Auffassung über die Kreuzigung des menschlichen Teils Jesu hin: „Und deshalb betrachten sie die Tötung nicht als Schmähung, da der göttliche Teil ihnen zufolge davon nicht angetastet wurde“ (wa-li-hāḏā lā yaBuddūna al-qatla naqīṣa ḥaiṯu lam yuḍīfūhū ilā al-lāhūt).53

Zwar handelt es sich hier im Vergleich zu den anderen vom Koran kritisierten christlichen Dogmen nur um ein historisches Ereignis. Je-doch hat die Leugnung dieses Ereignisses notwendigerweise die Ver-neinung der christlichen Erlösungslehre zur Folge, wonach Jesus sich für die Gläubigen am Kreuz geopfert und sie so von der Sündenschuld erlöst hat. Die Christen sind demzufolge frei von der Erbsünde. Zwar behandelt der Koran die Lehre der Erlösung nicht, doch weist er in einem anderen Zusammenhang die Auffassung zurück, dass die Sünde vererbt werde (vgl. Sure 6:164; 17:15; 35:18; 39:7; 53:38). Was die Sün-de Adams betrifft, berichtet der Koran, dass Adam seine Sünde bereute und dass Gott sie ihm vergab (vgl. 2:37; 20:122). Al-Ālūsī thematisiert, wie fast alle anderen Exegeten, im Zusammenhang der oben genann-ten Sure 4 und ihrer Verneinung der Kreuzigung die Erlösungslehre nicht.

51 Vgl. ĀLŪSĪ, Rūḥ al-maYānī, Bd. VI, S. 10. Nach dem Neuen Testament ist der Verrä-ter Judas Iskarioth; vgl. Lk 2,3; Joh 13,2 und 27.

52 Vgl. ŠALABĪ, al-masīḥīya, S. 55.53 Vgl. ĀLŪSĪ, Rūḥ al-maYānī, Bd. VI, S. 10.� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

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4 Schlusswort

Es gibt also keinen ausdrücklichen koranischen Vorwurf an die Chris-ten, dass sie das Evangelium bewusst verfälschten. Die Verse, die expli-zit über einen taḥrīf sprechen, weisen auf das Verhalten der Juden ge-genüber ihrer eigenen Schrift hin. Auch wenn der Koran über das Jesus „geoffenbarte“ Evangelium spricht, stellt sich die Frage, ob er damit, wie im Fall des Koran, eine Wort für Wort herabgesandte Schrift oder aber die Frohe Botschaft selbst meint. Im Gegensatz zum Umgang des Koran mit den anderen Schriften, z. B. der Tora (taurāh) und den Psal-men (zabūr), fehlt im Koran merkwürdigerweise eine klare Beschrei-bung dieser Schrift oder eine Zitierung aus ihr. Al-Ālūsī erwähnt, ge-nauso wie fast alle anderen muslimischen Exegeten, nicht die Tatsache, dass das Evangelium, wie es der christliche Glaube versteht, eine Jesus nachgeordnete Rolle spielt. Und Jesus ist ja nach der Lehre des Koran sowie der Lehre des Neuen Testaments das Wort Gottes (innamā al-masīḥ BĪsā ibn Maryam rasūl Allāh wa-kalimatuhu, Sure 4:171).

Die vom Koran kritisierten christlichen Dogmen, v. a. das der gött-lichen Sohnschaft Jesu und das der Dreieinigkeit, stehen nach Ansicht des Korans in krassem Widerspruch zum Prinzip des Monotheismus und werden von al-Ālūsī als Verfälschung der wahren christlichen Botschaft betrachtet. Al-Ālūsī bietet uns aber keine klare Antwort auf die Frage an, wen genau der Koran meint, wenn er sagt: „diejenigen unter den Christen, die sagen“. Der Koran präsentiert diese Dogmen, besonders in Hinblick auf die Trinität, in einer Form, die sich von der Form unterscheidet, die bereits im Christentum fest verankert ist. Die Koranverse, in denen die Christen wegen des Glaubens an drei Götter heftig kritisiert werden, nehmen auf die heutige Lehre der Kirche kei-nen Bezug: Entweder – und dies ist meine Meinung – weisen sie auf bestimmte heidnische Dogmen hin, wie die sogenannte planetarische Götterdreiheit, wobei von Bedeutung ist, dass die Araber in der voris-lamischen Zeit den Mond als Gottvater, die Sonne als Gottmutter und die Venus als Gotttochter verehrten. Oder aber sie erzählen von irrigen Lehren, denen frühere häretische Sekten anhingen. Al-Ālūsī weist sei-nerseits darauf hin, dass die Christen nicht ausdrücklich sagen, sie ver-ehren drei Götter, wie der Koran erzählt. Es kann also kaum verneint werden, dass das Christentum aus islamischer Sicht die wahre Religion verfälscht, denn es gibt einen klaren Unterschied zwischen dem islami-� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

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schen Prinzip des Monotheismus und der christlichen Gottesvorstel-lung. Allerdings fehlte bis 19. Jahrhundert ein Korankommentar, der die koranischen Suren, die das Christentum kritisieren, historisch kri-tisch auslegt. Das Verdienst, dies getan zu haben, kommt al-Ālūsī zu.

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