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»Ein erzählerisches Meisterwerk über Blüte und Zerfall eines islamischen Reiches.« »Mit unablässigem und souveränem poetischen Charme überwindet Dževad Karahasan die Grenzen von Ländern, Zeiten, Kulturen und Religionen.« Aus der Jurybegründung zur Vergabe des Ehrenpreises der Heinrich-Heine-Gesellschaft »Ein großer europäischer Schriftsteller, der auf die Kraft des Erzählens vertraut.« www.suhrkamp.de/karahasan

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»Ein erzählerisches Meisterwerküber Blüte und Zerfall

eines islamischen Reiches.«

»Mit unablässigem und souveränem poetischen Charme überwindet Dževad Karahasan die Grenzen von Ländern,

Zeiten, Kulturen und Religionen.«Aus der Jurybegründung zur Vergabe des Ehrenpreises der Heinrich-Heine-Gesellschaft

»Ein großer europäischer Schriftsteller, der auf die Kraft des Erzählens vertraut.«

www.suhrkamp.de/karahasan

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»Mit der Geschichte will man immer etwas«, schrieb Alfred Döblin über das Verfassen historischer Roma-ne. Die Zweideutigkeit des Begriffs Geschichte ist be-absichtigt. Auch Dževad Karahasan, der bedeutendste bosnische Schriftsteller der Gegenwart, will etwas, wenn er den persischen Dichter, Mathematiker und Astronomen Omar Chayyam zur Hauptfigur seines neuen Werkes macht und uns in den Vorderen Orient des 11./12. Jahrhunderts entführt. Rasch gesagt sei, was Karahasan nicht will: eine Romanbiographie, eine nacherzählende, ausschmückende Lebensgeschichte. Er hat die persischen und arabischen Quellen und die maßgebliche historische Forschung studiert. Doch er lässt dieses Wissen nur ahnen, versteckt seine Quellen. Außer zwei Chayyam-Gedichten und Lektüren seines Helden – zum Beispiel das Buch der Genesung von Ibn Sina, den der Westen als den Aristoteliker Avicenna kennt – wird nicht direkt zitiert.Auch den Großwe-

sir Nizam al-Mulk lernen wir nicht als den herausra-genden Staatsmann der islamischen Welt und Autor einer Schrift über die Staatskunst kennen, sondern als Chayyams Freund aus Schultagen: als klugen Ge-sprächspartner und vorausschauenden ›Reichskanz-ler‹, der seinem Sultan vergeblich rät, einen Nachrich-tendienst zu gründen, um einer Gefahr von innen zu begegnen. Mit den Augen seiner Figuren lässt Kara-hasan uns die Welt sehen, in der diese Leute zu Hause waren, und vielleicht ist es einfach dieses geniale er-zählerische Verfahren, das uns tief hineinzieht in eine Epoche, die hinterrücks eine unheimliche Ähnlichkeit mit unserer eigenen offenbart.

In Isfahan verliebt sich Omar Chayyam in die Toch-ter eines Mannes, dessen rätselhaften Tod er aufklä-ren sollte. Er kommt zu dem Schluss, dass er vergiftet wurde. Aber durch wen? Chayyams akribische Re-cherchen erzeugen eine Atmosphäre obsessiver Ver-dächtigungen, erweisen sich als menschlich zerstöre-risch, aber erfolgreich. Würde er seiner Liebsten sagen, wer ihrem Vater das Gift verabreicht hat, wäre ihre ge-rade aufkeimende Liebe am Ende. Wie also weiterle-ben? Ein typisches Dilemma Chayyams. Er behält die Wahrheit für sich.

Karahasan ist ein hinreißender Erzähler von Liebes-geschichten. Das kurze Glück, das den beiden und ihrer kleinen Tochter beschieden war, durchstrahlt den gesamten Roman. Ihr tragisches Ende, der Zer-fall des Staates, der um sich greifende religiöse Terro-rismus treiben Chayyam in die Einsamkeit. Er zieht sich nach Nischapur, in seine Geburtsstadt, zurück. Nach Jahrzehnten der Trauer taucht ein junger Bos-nier auf, Vukac, der am Kinderkreuzzug teilgenom-men hatte. Der alte Mann nimmt ihn zu sich, lehrt ihn die Sprache – und am Ende erweist sich Vukac als Erzähler all dessen, was wir bisher gelesen haben. Oder doch nicht? Sein Manuskript existierte jahr-hundertelang in der Bibliothek von Sarajevo, bis es im August 1992 den Flammen zum Opfer fiel. Über-dauert hat es im Gedächtnis eines Emigranten, der sich in Norwegen an die Arbeit der Rekonstruktion macht.…

Literatur kommuniziert mit ihrer Zeit, ob sie will oder nicht. Zwischen dem Zerfall des Nahen Ostens, den wir heute erleben, und dem Zerfall des Seldschu-kenreiches gibt es verblüffende Parallelen. Man spürt, dass das Buch in Sarajevo entstanden ist, dieser fra-gilen europäisch-orientalischen Stadt, wo die Spuren einer sich radikalisierenden Religiosität beängstigend sichtbar werden – ausgerechnet in der bosnischen Hauptstadt, die einmal als Inbegriff eines liberalen europäischen Islam galt.

Katharina Raabe: Die Hauptfigur deines Romans heißt Omar Chayyam. Was hat dich an ihm fasziniert? Wann und wo bist du ihm und deinen anderen Pro-tagonisten zum ersten Mal begegnet?

Dževad Karahasan: Schon in meiner Studienzeit hat mich Chayyams Poesie fasziniert. In den Vierzeilern, den Rubayyat, gelingt es ihm, die tiefste Verzweiflung auszudrücken, die man überhaupt empfinden kann, aber fast immer mit so viel Humor, dass den Leser zu-gleich das Grauen und das Lachen überkommt - jenes Lachen, von dem Platon spricht, ein Lachen, das in Selbsterkenntnis aufgeht. Ein Gedicht von Chayyam richtet sich zum Beispiel an einen Töpfer mit der Bit-te, den Ton, aus dem er einen Krug formt, zärtlicher zu kneten, weil der Ton einmal ein Mädchengesicht war, dem junge Männer nachge-seufzt haben und dessentwegen sie gestorben sind. Nicht einmal bei Shakespeare, in der Friedhofs-szene im Hamlet, findet sich ein so konzentrierter Ausdruck, der Verzweiflung und Humor, der Lachen und Aufschrei eins wer-den lässt. Damals habe ich auch die wunderbare Legende von den drei Schulfreunden gehört, die kurz nach Chayyams Tod entstanden sein muss. Sie erzählt, Nizam al-Mulk, Omar Chayyam und Hassan-i Sabbah seien die bes-ten Absolventen der berühmten Schule von Muwaffak in Nischa-pur gewesen. Vor dem Ende ih-rer Schullaufbahn schworen sie,

einander im weiteren Leben beizustehen: Der Erste, der zu Macht, Einfluss und Reichtum käme, wäre verpflichtet, den beiden anderen seinen Möglich-keiten entsprechend zu helfen. Als Nizam al-Mulk,

der Älteste von ihnen, Großwesir des Seldschuken-reichs geworden war, erinnerte er sich an seine Schul-freunde, rief sie zu sich und fragte, was er für sie tun

könne. Chayyam wünschte sich ein Observatorium und ein Stipendium, das ihm ermöglichte, in Ruhe Astronomie und Mathematik zu studieren. Beides be-kam er. Hassan-i Sabbah wünschte sich die Macht in der unzugänglichen Festung Alamut, um dort die Ver-einigung zu gründen, von der er träumte. Der Groß-wesir erfüllte auch ihm seinen Wunsch. Chayyam, so erzählt die Legende, bedankte sich bei seinem Wohl-täter mit einer Reihe von Büchern, u.a. zur Mathema-tik, vor allem aber mit dem besten Kalender, den die Welt je gesehen hat. Der dritte Schulfreund, Hassan-i Sabbah, gründete in der Festung Alamut den ismailiti-schen Orden der Nizariten, der sich mit seinen Atten-taten auf herausragende Persönlichkeiten verewigte. Er dankte es seinem Freund und Wohltäter, indem er ihn zum ersten Opfer seiner Attentäter erwählte. Ich glaube nicht, dass diese Legende viel mit den Tatsachen zu tun hat. Der Altersunterschied zwi-schen den Personen ist zu groß. Aber seit ich sie ken-ne, fasziniert mich ihre innere Wahrheit. Sie zeigt mir drei Grundformen, drei Prinzipien des menschlichen Daseins. Nizam al-Mulk kann als Vertreter des kon-servativen Prinzips gelten. Er nimmt an, dass die Welt gut ist, und sieht die Aufgabe des Menschen darin,

möglichst viel in dieser Welt zu bewahren, zu verbessern und zu veredeln. Hassan-i Sabbah, der Jüngste der drei, steht für das re-volutionäre Prinzip. Er will eine völlig neue Welt schaffen. Das Prinzip, das Omar Chayyam ver-tritt, könnten wir das philosophi-sche oder künstlerische nennen: Er will die Welt nicht beherrschen und fühlt sich auch nicht dazu be-rufen, sie zu verbessern oder neu zu formen. Er bemüht sich, die Welt zu verstehen. So ist es auch mit den Menschen – der Konser-vative bemüht sich, sie zu ver-bessern, der Revolutionär richtet über sie, und Chayyam, der Dich-ter und Gelehrte, bemüht sich, sie zu verstehen.

»Mich interessiert die innere Wahrheit meiner Figuren.« Ein Gespräch zwischen Dževad Karahasan und seiner Lektorin Katharina Raabe

Die Vijecnica, Prunkstück der österreichischen Architektur im pseudomaurischen Stil. Das Rathaus war seit 1947 Sitz der Nationalbibliothek in Sarajevo. Ein Bild aus der Spätzeit Jugoslawiens, Ende der 80er Jahre.

»In einer Welt, in der man nicht einfach seine Meinung sagen darf und Spontanität als gefährlich gilt, war es besonders wichtig, auch mal Momente der Vertrautheit zu finden, Humor, Überraschung.«

Der arabische Philosoph Ibn Sina (Avicenna), 980-1037, und der persische Dichter Omar Chayyam, 1048-1131.

Die Mongolen unter Hulagu-Khan erobern 1256 die Festung Alamut, einst Zentrum der Nizariten, der ersten Suizidattentäter der Geschichte. Marco Polo nannte ihren Anführer Hassan i-Sabbah den »Alten vom Berg«, seine Sekte die Assassinen.

Am 25. August 1992 ging die Bibliothek unter dem Beschuss durch die bosnischen Serben in Flammen auf. Mehr als 2 Millionen Manuskripte und Bücher verbrannten.

Über das BuchVon der Kraft der Liebe, der Ohnmacht der Vernunft

und dem Versuch, das Verlorene in die Erinnerung zu

retten. Elf Jahre lang hat der bosnische Autor an sei-

nem Roman über Omar Chayyam und den Niedergang

einer blühenden islamischen Kultur gearbeitet. Manche

Passagen nehmen auf verstörende Weise Schreckens-

szenarien vorweg, wie sie sich heute in Irak und Syrien ab-

spielen. Dennoch: Ein beklemmend schönes Buch, voller

Humor und funkelnder Intelligenz. Ein großer europäi-

scher Schriftsteller, der auf die Kraft des Erzählens

vertraut.

Dževad Karahasan1953 in Duvno/Jugoslawien geboren, Erzähler, Drama-

tiker und Essayist. Die Belagerung Sarajevos war The-

ma seines in zehn Sprachen übersetzten Tagebuchs der Aussiedlung (1993), des Essaybands Das Buch der Gärten (2004) und seiner beiden Romane Schahrijârs Ring (1997) und Sara und Serafina (2000; st 4521). Es

folgten der Roman Der nächtliche Rat (2006), der Erzäh-

lungsband Berichte aus der dunklen Welt (2007) und der

Essayband Die Schatten der Städte (2010). Für sein Werk

wurde der Autor vielfach ausgezeichnet. Karahasan lebt

in Graz und Sarajevo.

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Dževad KarahasanDer Trost des NachthimmelsRomanAus dem Bosnischenvon Katharina Wolf-GrießhaberEtwa 724 Seiten. Gebundenca. € 26,95 (D)/€ 27,70 (A)(978-3-518-42531-2)

Ab 2. Februar 2016 im Buchhandel!

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Der neue Roman des bedeutendsten bosnischen Autors der Gegenwart Ein erzählerisches Meisterwerk über Blüte und Zerfall eines islamischen Reiches

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dass die Lösung des Rätsels auf den physiologischen Kenntnissen seiner Epoche basieren muss (die Instru-mente zur Lösung des Rätsels müssen ihm die Schrif-ten seiner Lehrer Ar-Razi, Ibn Sina und anderer lie-fern). Außerdem muss Chayyam am Ende begreifen, dass seine Entdeckung keinerlei Nutzen bringt, weil sie reine Information ist und niemandem hilft. Aber das Vergiften selbst war ein unlösbares Problem für mich. Wie wurde Mirchond vergiftet? Womit? Über einen Monat lang suchten Hans Konrad und ich nach einem Gift, das ein Nahrungsmittel ist. Er schlug mir Pfirsichsamen vor, ein Kraut, das beinahe genauso aussieht und duftet wie ein populäres Gewürz, Safran ... Er konsultierte auch seine Kollegen vom Institut, an dem er arbeitet, so dass ein ganzes Team von Wissen-schaftlern darum bemüht war, den armen Mirchond zu vergiften. Am Ende gelang es uns. Mirchond starb an Botox, einem Gift, mit dem die Leute im Westen heutzutage ihre Falten bügeln. Ich erinnere mich noch lebhaft an unsere Freude, als wir diese konnotationsreiche, aktuel-le und kulturhistorisch verbürgte Lösung gefunden hatten.

KR: Am Ende stellt sich der Roman als der irrwitzige Ver-such heraus, etwas über Jahr-hunderte Verlorenes aus dem Gedächtnis wiederherzustellen. Verstehst du das Erzählen als Ars memoriae?

DK: Ob und wieweit dieses Er-zählen etwas Verlorenes wie-derherstellt, ist eine schwierige, ich fürchte, unbeantwortbare Frage. Oft denke ich, mein Er-zählen kann gar nichts anderes sein als Gedächtniskunst, eine spezifische Art des Erinnerns. Was ist das Erzählen anderes als ein Denken und Erinnern in Formen? Einzig durch Erzählen können wir gewisse komplexe Phänomene verstehen und voll-ständig behalten, deshalb erklären wir uns zum Bei-spiel die Entstehung grundlegender Existenzformen immer mit einem Mythos.

Gelingt es dem Erzählen wenigstens teilweise, das Verlorene zu rekonstruieren? Ich weiß es nicht. Zu-mindest rettet es das Verlorene vor dem Vergessen, und zwar ohne Vereinfachung, in seiner ganzen Komplexität. Unlängst fragte mich ein Freund, ob das Trauma des Zerfalls Jugoslawiens und der Zerstörung des bosnischen Kulturmosaiks in diesen Roman ein-

gebaut sei. Ich sah ihn bestürzt an, als hätte er den Verstand verloren. Doch heute würde ich ihm recht geben, ich glaube, diese Traumata sind in den Roman eingezogen und haben bei seiner Gestaltung mitge-wirkt, wie wenig ich mir dessen auch bewusst war.

KR: Bereits in deinem Roman Schahrijars Ring (1997) bestimmte die Rekonstruktion eines verlorenen bzw. zerstörten Manuskripts die Architektur des Werkes. Hier ist das wieder der Fall. Es ist, wie du

sagtest, ein Lieblingsmotiv aller Manieristen und Postmodernisten. Doch deine Bibliothek brennt wirklich, die Zerstörung deiner Manuskripte ist kein Motiv, sondern du hast diese Katastrophe am eigenen Leibe erfahren. Ist deine Besessenheit von der Form eine Antwort auf diese Zerstörung?

DK: Ich bin tatsächlich besessen von der Form, wie alle Leute, die die klassische Literatur lieben und im Kopf tragen. Ich habe nichts gegen Literatur, die auf Form verzichtet oder sie absichtlich zerstört. Sie inte-ressiert mich nur einfach nicht. Wie könnte jemand, der wie ich vom Theater besessen ist, etwas gegen das Spiel haben?! Aber weder das Theater noch mich in-teressiert ein Spiel, das keine Emotionen weckt und an sich bindet. Gute Kunst hat ja immer etwas von einem Spiel. Aber es ist ein Spiel, in dem wir uns selbst befragen, in dem wir uns sogar selbst in Frage stellen.

Ein Spiel hingegen, das des Risikos und der Emoti-on entbehrt, interessiert mich nicht, es mag Spaß und

Vergnügen sein, aber ich habe niemals geglaubt, dass es sich lohne, das Leben um des Vergnü-gens willen zu ertragen. Deshalb muss ich die Motive meiner Er-zählkompositionen mit Emotion und Leidenschaft, Erinnerung und Schmerz aufladen ... Warum sollte ich mich mit einem Manu-skript befassen, das mir nichts bedeutet, warum sollte ich nach ihm suchen und über ihm ver-recken?! Wenn es mir etwas be-deutet, kann es nicht Gegenstand eines Spiels bar jeder Leiden-schaft und jedes Risikos sein. Ein Spiel ist eine zu ernste Ange-legenheit, als dass es jemals ganz harmlos sein könnte. Mir ist klar, dass auch mein Erzählen nicht ganz von seiner Entstehungszeit losgelöst blei-ben konnte. Eine starke Leiden-schaft unserer Epoche ist die Zerstörung der Form, und diese Zerstörung wird auch in mei-

nem Erzählen reflektiert. Sosehr ich mich um die Form meiner Romane bemüht habe, sie zeigen den Zerfall, die Zerstreuung der Form, sie parodieren den klassischen Roman nahezu. Meine Romane sind keine Monolithen, aufgebaut um einen großen Hel-den, um ein Ereignis, mit dem sich das Erzählen befasst, solange es jenes nicht aus allen Perspektiven beleuchtet, um eine große Idee ... Sie sind ein Mosaik, zusammengefügt aus den Steinchen, zu denen die einstigen Monolithen zerfallen sind. Dagegen hilft weder Wissen noch Wollen, die Literatur spricht mit ihrer Zeit, auch wenn der Autor es nicht will.

Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber

Hier Chayyams unvergleichliche Dichtung, dort die Legende von den drei Schulfreunden – dieser dop-pelten Faszination muss das Bedürfnis entsprungen sein, irgendwann darüber zu schreiben.

KR: Wie verlief die Arbeit?

DK: Ich denke, der Roman begann während der Bela-gerung Sarajevos Gestalt anzunehmen, als ich durch die unmittelbare Erfahrung entdeckte, wie nah La-chen und Verzweiflung beieinanderliegen. Sie sind in unserem Leben unauflösbar ineinander verwirkt und verflochten. Damals habe ich mit Schauspiel- und Re-giestudenten gearbeitet, wir mussten Theatervorstel-lungen unter ganz besonderen Bedingungen auf die Beine stellen – ohne Wasser und Strom, ohne Schmin-ke und Kulissen, ohne speziell für diese Inszenierung genähte Kostüme und ohne Beleuchtung, die gehol-fen hätte, eine eigene Stimmung zu erzeugen. Es galt zu arbeiten, zu polemisieren, zu diskutieren, Anwei-sungen zu geben, und all das nach der wahnsinnigen Freude, die ich jedes Mal empfand, wenn ich sah, dass die Studenten zum Unterricht erschienen waren. Das Warten auf sie war ja von der panischen Angst erfüllt, sie könnten auf dem Weg zur Schule getötet werden. Ich redete den Studenten zu, Komödien auszuwäh-len – unter den Bedingungen, unter denen wir lebten und arbeiteten, das einzig Sinnvolle. Warum hätten wir auf der Bühne die unerträgliche Wirklichkeit wiederholen sollen? Die Kunst kann sich gegen die Wirklichkeit auflehnen, zu der wir verurteilt sind, sie kann ein Mittel sein, das uns hilft, unserer Begegnung mit der Welt Form zu geben, sie kann ein Instrument sein, durch das wir uns selbst und andere Menschen verstehen und erkennen, aber sie soll keine pleonasti-sche Wiederholung der Wirklichkeit sein, das darf sie nicht, wenn sie relevante Kunst sein will.Nachdem wir einige Monate so gearbeitet hatten, be-griff ich, dass ich mich die ganze Zeit um genau das bemühte, worauf es Chayyam in seiner Poesie ange-kommen war: Mit Humor versuche ich Distanz zu mir selbst und zu der unerträglichen Welt herzustel-len, weil sich dank dieser Distanz das Leben und die Welt leichter ertragen lassen, und gleichzeitig gebe ich

der Verzweiflung Ausdruck, von der wir alle erfüllt sind, ich, die Leute um mich herum, die Welt, zu der wir verurteilt sind... Die Distanzierung durch Humor hilft mir, dem Entsetzen eine Form aufzuzwingen,

ohne die Unmittelbarkeit des Aufschreis zu verlieren. Chayyam war die ganze Zeit da, bei uns, mit uns, er sprach zu uns und sprach über uns. Damals war mir das nicht bewusst, aber heute zweifle ich nicht daran, dass Der Trost des Nachthimmels schon damals in mir zu arbeiten begann.

KR: Kannst du etwas zu deiner Erzähltechnik sagen? Wer erzählt da überhaupt?

DK: Ich denke, die Erfahrung, die ich während der Be-lagerung Sarajevos gemacht habe, hat mir geholfen, den Grundton des Romans zu finden, seine Atmo-sphäre zu erahnen. Aber sie hat auch die Erzähltech-nik bestimmt. Ich musste eine Technik finden, die die Unmittelbarkeit des Ausdrucks, wie sie das Erzählen in der ersten Person erlaubt, bewahrt; der Aufschrei muss etwas von seiner Aufrichtigkeit und Kraft be-halten, gleichzeitig muss ich Distanz zu den Gestalten und zum Geschehen aufbauen. Anders sind Humor und (Selbst-)Erkenntnis im Lachen nicht möglich. All diesen Anforderungen kann ein auktorialer Erzähler

natürlich nicht genügen. Ich brauchte eine in sich pa-radoxe Erzählinstanz, die ich während der Arbeit für mich »skeptischer allwissender Erzähler« genannt habe. Er muss etwas vom »allwissenden Erzähler« haben, um das Innenleben der Gestalten ausdrü-cken zu können, muss aber zugleich ausgesprochen skeptisch sein, um von außen beobachten, Abstand wahren, verstehen und zweifeln zu können. Das war vor allem für den zweiten Teil des Romans, Der Duft der Angst, wichtig, der ein spezifisches »Anti-Epos« oder ein »umgekehrtes Epos« darstellt. Im Gegensatz zum klassischen Epos, das von der Entstehung einer Gemeinschaft erzählt, geht es hier um den Zerfall einer Gemeinschaft und ihrer Welt. Dennoch muss die Erzähltechnik sich etwas von der Erzähltech-nik des Epos aneignen, weil sie ein breites Bild der Epoche liefern soll, wie es sich für ein richtiges Epos nun mal gehört. Dabei kann unser Erzähler natürlich kein echter »Epiker« sein, weil er kein Angehöriger der Gemeinschaft ist, von deren Entstehung das Epos handelt, er ist auch kein Angehöriger der im Zerfall begriffenen Gemeinschaft. Er ist ein Fremder, ein distanzierter Beobachter, der sich zu verstehen be-müht, was sich vor seinen Augen abspielt, so dass er die ganze Dramatik des Geschehens sieht, aber auch seine komischen Seiten mitkriegt. Dieser Erzähler ist dabei nie sicher, ob er recht hat, ob wahr ist, was er sich überlegt hat, ob alles, was er gesehen und durch

logisches Denken erkannt hat, die einzig mögliche Sicht ist. Er weiß in jedem Augenblick, dass sich al-les, was er sieht, aus einer anderen Perspektive völlig anders darstellt. Dass das, was ihm tragisch erscheint, auf einen anderen Blick womöglich urkomisch wirkt. Aber ich bin bei der Arbeit an einzelnen Episo-den auch auf konkrete Schwierigkeiten gestoßen. Ich erinnere mich zum Beispiel dankbar an die wertvolle Hilfe eines Ernährungswissenschaftlers bei der Lö-sung eines zentralen Problems: die Vergiftung von Mirchond im ersten Teil des Romans. Als mein wer-ter Gesprächspartner Hans Konrad Biesalski und ich uns im Wissenschaftskolleg in Berlin trafen, standen bereits einige Dinge fest: Ich wusste, dass Mirchond vergiftet werden soll, dass Chayyam das Geheimnis der Vergiftung lüften, sprich den Mörder finden muss,

»Die Erfahrung, die ich während der Belagerung Sarajevos gemacht habe, hat mir geholfen, den Grundton des Romans zu finden.«

»Die Kunst kann sich gegen die Wirklichkeit auflehnen, zu der wir verurteilt sind, sie kann ein Mittel sein, das uns hilft, unserer Begegnung mit der Welt Form zu geben.«

»Mein Erzähler weiß in jedem Augenblick, dass sich alles, was er sieht, aus einer an-deren Perspektive völlig anders darstellt.«

»Meine Romane sind ein Mosaik, zusam-mengefügt aus den Steinchen, zu denen die einstigen Monolithen zerfallen sind.«

Das Mausoleum für Omar Chayyam, 1963 errichtet. Nischapur, Iran.

Die Festung Alamut (Adlernest) im unzugänglichen Bergland zwischen den iranische Küstenprovinzen Mazandaran und Gilan und dem Irak.

Erste Seite von Ibn Sinas (Avicennas) Kitab al-Qanun fi’t-tibb, seinem Kanon der Medizin. 1025 vollendet, wurde es zum Grundlagenwerk der wissenschaftlichen Medizin.

Die Kuppel der Imam-Moschee in Isfahan aus dem 16. Jahrhundert.

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Ein unklarer Verlust

Chayyam irrte durch die Stadt, ohne zu wissen, wohin er ging, und ohne wirklich wahrzunehmen, wo er sich befand, aber eiligen Schrittes, als rennte er hinter irgendetwas her,

so dass er irgendwann schweißnass war. Als er erschöpft innehielt, war er in einem ihm unbekannten Stadtteil, offensichtlich einem der neugebauten Stadtviertel, in denen die armen Leute wohnten, die in die Städte strömten, Lohnarbeiter, die mit Leder, Papier und Seife arbeiteten, alte städtische Familien, die verarmt waren und dorthin hatten umziehen müssen, wo das Leben weniger kostete, ausgedien-te Soldaten, die von ihren Ersparnissen lebten und dorthin gingen, wo ihre Ersparnisse am längsten hielten. Jene, die das Glück hatten, anderswo zu wohnen, nannten solche Siedlungen spöttisch Schlaf-zimmer, weil es in ihnen meist nicht einmal Wächter gab, dort gab es außer einer Moschee und mancher neuen, in der Regel armseli-gen Schule nichts, was sie zu einem Stadtteil machen würde. Die Bewohner solcher Siedlungen übernachteten in ihren Häusern, und am Morgen, gleich nach dem Morgengebet, gingen sie in die Stadt, um Arbeit und Lebensunterhalt zu suchen, und ließen in den Häu-sern nur jene zurück, die krank waren, im Sterben lagen oder zu jung waren, um eine Arbeit zu bekommen.

Er blieb mitten auf der Straße stehen, um Atem zu holen und sich zu fassen, wobei er sich auf der Stelle drehte, damit der tro-ckene Wind, ein unerträglicher heißer Wind, der den ganzen Tag nicht einen Augenblick aufgehört hatte, seine Kleidung trocknete. Er versuchte, sich an sein Umherirren in der Stadt zu erinnern. Aus Gewohnheit hatte er sich, wie ein Hund, zur Baustelle des Observa-toriums aufgemacht, war aber vorher abgebogen und einen anderen Weg gegangen. Er erinnerte sich, dass er auch unweit seines Hauses gewesen war, nur etwa fünfzig Schritte entfernt. Der Körper war einfach in die Richtung gegangen, die er gewohnt war, wo ein Ziel oder ein Grund hätten liegen können. Eine Zeitlang hatte er auch vor dem Haus seines armen Freundes Sali gestanden, ziemlich lange übrigens, war aber nicht hineingegangen. Warum, wusste er nicht, genauso wenig wie er wusste, was ihn dort hingeführt hatte. Im Haus hätten ihm keine Begegnungen gedroht, keine Schwierigkei-ten, Sali hatte hier niemanden, so wenig wie er, Chayyam, selbst. Vielleicht war das der Grund für ihre Nähe gewesen, gewiss war es eine der Grundlagen dafür gewesen, dass sie sich so gut verstan-den hatten, was ihnen bereits bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen war – beide waren hier allein, waren Teil eines ungeheuren Hee-res von vereinzelten Menschen, die diese Stadt überschwemmten, Menschen ohne Vorfahren und Verwandte, sie waren derart allein, dass sie manchmal auf die Idee kommen konnten oder sogar muss-ten, sie hätten sich selbst geboren. Die Empfindsameren unter ih-nen erkannten sich auf den ersten Blick, so wie er und Sali sich er-kannt hatten, und zwischen ihnen entwickelte sich eine Nähe ohne wirkliche Freundschaft, eine seltsame Nähe bar aller Gründe und Freuden. Sie wussten nichts übereinander, verstanden sich aber voll-kommen, sie hatten keinen Grund, miteinander zu verkehren, weil sie einander weder Freude noch Nutzen brachten, waren aber viel zusammen, wohl deshalb, weil sie sich ineinander wiedererkannten. Nicht nur diese Stadt, die ganze Welt war überschwemmt von sol-chen Menschen, einsamen Menschen in ständiger Bewegung.

War es die Erinnerung an Sali, die das Gefühl völliger Einsamkeit hervorgerufen hatte, das ihn anbrandete und fast ertränkte, oder war dieses Gefühl von der Erinnerung an den Bruder in der Ein-samkeit ausgelöst worden? Und warum dachte er, dieses Gefühl sei jetzt stärker und tiefer als je zuvor? Hatte sich sein Gefühl nur ver-stärkt, oder konnte die Einsamkeit wirklich größer, tiefer, umfas-sender werden? Ging es darum, dass er jetzt, nachdem ihn Suhrab unabsichtlich ausgelacht hatte, schwächer und verletzbarer war als sonst und auch seine Einsamkeit stärker empfand, oder hatte sich diese Einsamkeit in letzter Zeit wirklich vergrößert, irgendwie ver-vollständigt und offenbarte ihm das jetzt? Wie konnte sich Einsam-keit verstärken, war das logisch überhaupt möglich? Allein bist du, wenn du keinen vertrauten Menschen in deiner Nähe hast, kann sich also die Abwesenheit, das heißt das Nicht-Haben, verstärken und vergrößern? Logisch oder wenigstens mathematisch kann sie es, von Null aus kommt man weiter in die negativen Zahlen, in denen das Defizit bis zur Unendlichkeit anwachsen kann. War das bei ihm der Fall, war er bereits unter den negativen Zahlen? Die Einsamkeit eines Menschen, sagen wir, verstärkte und vervollständigte sich, wenn er anfing, wirklich all jene zu spüren, die er verloren hatte: Es ging nicht darum, dass er niemanden gehabt hätte, sondern darum, dass er jemanden verloren hatte. Und der, den du verloren hast, ist nicht einfach abwesend, er ist negativ anwesend, anwesend wie das starke Gefühl der Leere, des Mangels, des Entzugs. Alle Verluste, die dieser erlitten hatte, spürte er wirklich und konkret, wie seine Haut und seine Nägel, über dieses Gefühl war seine Einsamkeit angewachsen und hatte sich vervollständigt.

Er hatte in der letzten Zeit zuerst Sali verloren, den ersten zu-fälligen Bekannten, dem er sich nach seiner Ankunft in Isfahan angenähert hatte. Und dann hatten seine unseligen Ermittlungen begonnen, die ihm Feridun, die ihm seinen lieben Freund und Kol-legen in der Astronomie, Musaffer Samarkandi, nahmen, den er unlängst in einem Wutanfall beschuldigt hatte, für das Verschwin-den astro-nomischer Instrumente verantwortlich zu sein. Die Er-mittlungen hatten ihm zu Beginn die Sympathie von Suhrab und vor allem Fuzail und vielleicht eine gute Freundschaft mit ihnen in Aussicht gestellt, fast versprochen, aber sie schienen es ihm nur deshalb versprochen zu haben, damit er jetzt spüren konnte, dass daraus nichts geworden war und auch nichts werden würde. Allen Leuten, die er in den Gast- und Teehäusern kennengelernt hatte, mit denen er manchmal auch jetzt am selben Tisch saß, hatte er sich nun entfremdet. Nicht dass er angefangen hätte, die Leute als potenti-elle Verdächtige zu betrachten, aber etwas davon hatte es doch. Er war den Menschen gegenüber offen gewesen, war unter sie gegan-gen, hatte Gedanken und Gefühle empfangen und gegeben, wie er den Körpergeruch empfangen und gegeben hatte, aber das war ihm schon vor einer Weile abhanden gekommen. Während seiner unse-ligen Ermittlungen, genau gesagt. Am schlimmsten war vielleicht, dass er mit allen Menschen, die er verloren hatte, scheinbar normal sprach, dabei aber die Kluft spürte, die sie trennte. Musaffer hatte sich zum Beispiel entfernt, nachdem er ihn angeschrien hatte. Sie wohnten weiterhin im selben Haus, redeten miteinander, nachts be-obachteten sie gemeinsam den Himmel. Aber es gab nicht mehr das,

Foto Dževad Karahasan: © Isolde Ohlbaum. Alle anderen Fotos: Die Besetzung von Alamut 1256, Dschami‘ at-tawarich von Raschid ad-Din (13. oder 14. Jahrhundert), Pictures from History / Bridgeman Images; Imaginäres Porträt von Avicenna, Öl auf Leinwand, Französische Schule / Bibliothèque de la Faculté de Médecine, Paris / Archives Charmet / Bridgeman Images; Omar Chayyãm, Privatsammlung / Bridgeman Images; Kanon der Medizin, Iranische Handschrif t aus dem frühen 15. Jahrhundert, IAM / akg-images / National Institutes of Health / U.S. Department of Health; Das Mausoleum für Omar Chayyãm in Nischapur, Roger Wood / CORBIS. Wolkenmotiv: Vierzeiler von Omar Chayyãm, Abb.: Maksim, lizenziert über Wikipedia. Weitere Nachweise über das Archiv des Suhrkamp Verlags. © Suhrkamp Verlag AG, Pappelallee 78-79, 10437 Berlin. Preisänderungen und Lieferbarkeit vorbehalten. www.suhrkamp.de

Dževad KarahasanDer Trost des Nachthimmels

was er, Chayyam, den Trost des Nachthimmels genannt hatte. Wenn du den Nachthimmel lange genug beobachtest, begreifst du, dass jeder Stern allein und unendlich weit vom nächsten entfernt ist, aber dass sie alle einem Gesetz unterliegen und dass dieses Gesetz ihre Einsamkeit aufhebt. Es verbindet sie, stellt Beziehungen zwischen ihnen her, es beginnt ein Gespräch unter ihnen, selbst wenn sie sich dessen nicht bewusst sind. So muss es auch mit den Menschen sein, hatten er und Musaffer philosophiert. Wir sind tatsächlich allein und jeder für sich, aber wir wissen, dass es ein Gesetz gibt, das uns verbindet, weil wir ihm alle unterliegen. Solange es existiert, solange es uns verbindet, sprechen wir mit unseren unbekannten Brüdern. In letzter Zeit, nach jenem Ausfall von ihm, hatten er und Musaffer zweimal zusammen den Nachthimmel beobachtet, aber sie hatten nicht so miteinander geredet. Sie hatten geredet, aber nicht so.

Das hatte seine Einsamkeit wohl verstärkt und vervollständigt. Er spürte den Verlust eines jeden dieser verlorenen Menschen, wie man die Hand oder das Bein spürt, die man verloren hat. Und alles hatte mit Salis Weggang begonnen. War das die Einleitung zu den Ermittlungen gewesen, die ihn in absolute Einsamkeit hüllen soll-ten, oder waren die Ermittlungen und die Einsamkeit, zu der sie geführt hatten, Teil des Schicksals, das ihm bestimmt war?

Es riecht nach Angst

Eines Morgens tauchten auf dem Großen Platz plötzlich Ver-triebene aus Mazandaran auf. Die Leute, die zum Morgen-gebet gingen, trafen vor der Weißen Moschee eine Gruppe

von etwa fünfzig Menschen an mit einer dicken Staubschicht auf Kleidern, Gesichtern, Köpfen. Einige saßen auf dem Platz, ein paar lagen sogar herum und schliefen, aber die meisten standen da, mit dem Rücken an die Mauer des zur Moschee gehörenden Friedhofs gelehnt. Aber alle waren, ungeachtet der Stellung, in der sie den Tagesanbruch erwarteten, sichtlich erschöpft und am Ende ihrer Kräfte.

Sie erzählten, Hassan-i Sabbah beziehungsweise seine Leute hät-ten sie vertrieben. Diese hätten praktisch die Macht in Mazanda-ran übernommen, vorerst eigentlich nur in der Gegend um Alamut, aber das Gebiet, das sie beherrschten, dehne sich täglich aus. Vor ungefähr einem Monat, vielleicht etwas mehr, hätten sie verkün-det, in den Moscheen sei in der Predigt nach dem Freitagsgebet von nun an als Erstes Hassans Name zu erwähnen. Die Namen des Sul-tans und des Kalifen von Bagdad könnten die Imame der einzelnen Moscheen nennen, das verbiete ihnen niemand, aber sie müssten es nicht, vielleicht sei es sogar besser, sie nicht zu erwähnen, um die Leute nicht zu verwirren. Aber nach jedem Freitagsgebet müs-se man um den Segen und das Glück von Hassan-i Sabbah beten. Diejenigen, die sich aufgelehnt hätten, seien gleich an Ort und Stelle von weiß gekleideten Burschen in Stiefeln und mit Brustgurten, ge-fertigt aus rotem Leder, niedergemetzelt worden. Doch diejenigen, die bereit seien, diese Verfügung zu achten, könnten ruhig in ihren Häusern bleiben, als wäre nichts geschehen. Von nun an würden sie ihre Steuern an die in Alamut residierende Macht zahlen und we-nigstens jeweils einen Sohn zur Ausbildung in die Festung geben, alles andere bleibe, wie es gewesen sei. Alle, die sich diesen Verord-nungen nicht beugen wollten, könnten gerne gehen und von ihrem Besitz mitnehmen, was in eine Tasche passe.

Fast keiner ging im ersten Moment weg, weil die Leute hofften, sie würden sich irgendwie durchschlängeln und einen Mittelweg finden, um die neue Macht zu überlisten. Kein normaler Mensch gibt gern sein Zuhause auf, keiner lässt freiwillig sein von gutem Klima und Fruchtbarkeit gesegnetes Land zurück, wie in den Tä-lern um Alamut, und seit Gott und die Welt bestehen, sind die Men-schen, die ihr Land bestellen, gezwungen, die Macht zu überlisten und einen Weg zu finden, mit ihr zurande zu kommen. Und immer

haben sie sich herausgewunden. Sie bestechen ein wenig, wen man muss, und stellen sich ein wenig dumm, tun, als hätten sie etwas nicht verstanden, wo es ihrer Einschätzung nach helfen könnte, die Macht zeigt sich andererseits ein wenig nachgiebig und entspannt, sobald sie sich gefestigt hat, und ist bereit, ein Auge zuzudrücken. So findet man jenen Mittelweg, den die Menschen vom Land seit eh und je suchen und in der Überlistung der Macht finden, den Weg, der ihnen zu überleben ermöglicht und der Macht, ihre Pläne aus-zuführen. Sie hatten damit gerechnet, dass es auch dieses Mal, mit der neuen Macht, so sein würde, fast alle waren zu Hause geblieben und hatten darüber nachgedacht, wie sie sich arrangieren könnten. Bis sich die neue Macht zurechtgefunden hätte, bis sie die Haus-halte und Besitzungen aufgelistet, die Kontrolle über die Dörfer und Städte erlangt hätte, würden die Leute schon einen Weg fin-den, ihre Söhne in Sicherheit zu bringen und sich mit den Vertretern der Macht über einen Ersatz, eine Strafe oder worüber auch immer zu verständigen. Aber es war nicht so, nicht einmal annähernd. Sie hatten genaue Listen der Haushalte und Besitztümer, die sie offen-sichtlich von jemandem aus der vorherigen Regierung bekommen hatten, so dass sie in jedes Haus mit dem genauen Wissen gingen, was und wen sie haben wollten. Und es gab keine Anzeichen, dass sie nachgiebiger werden und ihre Forderungen mäßigen würden, im Gegenteil, von Tag zu Tag verschärften sie ihren Ton und ihr Verhältnis zu den Untertanen. Die Abgesandten der neuen Macht kamen ins Haus, den Namen dessen kennend, den sie zur Ausbil-dung hinauf in die Festung mitnehmen wollten, wie sie auch auf den Dirhem genau wussten, was und wie viele Steuern sie vom betreffenden Haus eintreiben konnten. War der junge Mann, den sie zur Ausbildung mitnehmen wollten, nicht daheim, und hatten die Hausbewohner keine Ahnung, wo er sich befand und wann er zurückkommen könnte, ermordeten die Burschen in Weiß der Rei-he nach alle Hausbewohner, weil sie ihr Verhalten als Auflehnung deuteten. Die Macht verkündete jeden Freitag nach dem Gebet, wen sie alles wegen Auflehnung oder Verrats umgebracht hatte, wobei sie wiederholte, dass jeder, der nicht hier leben wolle, gerne wegzie-hen könne.

In dem Maße, wie die Zahl der ermordeten Familien wuchs, wuchs auch die Zahl derer, die bereit waren wegzugehen, und sei es unter den schrecklichen Bedingungen, welche die neue Macht diktierte. Aber wohin? Und wie? Am Ende war die Angst so groß, dass sich die Menschen auch das nicht mehr fragten, sondern in die Tasche stopften, was hineinpasste, und sich auf eine Reise ohne Ziel und Rückkehr machten. Ihre Gruppe zum Beispiel, die hier in Isfa-han aufgetaucht war, bestand aus etwa hundert Familien. Die Kin-der und Älteren hatten sie bei Verwandten, Freunden, Bekannten gelassen, überall, wo es überhaupt möglich war, während die Män-ner und erwachsenen Frauen, die noch bei Kräften waren, ja hierher kamen, um die Hilfe und den Schutz des Sultans zu suchen.

Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber

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