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Agrippa von Nettesheim Ungewissheit und Eitelkeit aller Künste und Wissenschaften - auch wie selbige dem menschlichen Geschlecht mehr schädlich als nutzlich sind (De incertitudine et vanitate scientarum et artium et de excellentia verbi dei) Philosophie von Platon bis Nietzsche

Agrippa von Nettesheim - Ungewißheit und Eitelkeit aller Künste und Wissenschaften

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9.566 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 2Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Agrippa von Nettesheim

Ungewissheit und Eitelkeitaller Künste und Wissenschaften

- auch wie selbige dem menschlichenGeschlecht mehr schädlich als

nutzlich sind

(De incertitudine et vanitatescientarum et artium

et de excellentia verbi dei)

Philosophie von Platon bis Nietzsche

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9.567 Agrippa-Eitelk. Bd. 1*, 6Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

»Unter Göttern Momus, der keinen ungeneckt lässt;Unter Heroen Herkules, der alle Ungeheuer verfolgt;Unter Dämonen, der König der Unterwelt wütet gegen

alle Schatten;Unter Philosophen, Demokritos lacht über alles;Entgegen steht Heraklitos, der über alles weint;Nichts weiss PyrrhoUnd alles glaubt Aristoteles zu wissen;Alles verachtet Diogenes.All das vermag hier Agrippa:Verachtet, weiss und weiss nicht, weint, lacht, wütet,

verfolgt und neckt,Er selbst ein Philosoph, ein Dämon, Heros, Gott und

Alles.«

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9.568 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 4Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Vorrede

Mein, sage mir, lieber Leser, scheinet dir diesesmein Vorhaben nicht eine kühne und rechtschaffene,freche, ja weit über Herculis Kräfte sich erstreckendeTat zu sein, indem ich mir jetzo vornehme, wider dengrossen und allgemeinen Riesen-Krieg aller Künsteund Wissenschaften die Waffen zu ergreifen, unddiese starken und mächtigen Jäger aller Gelehrsamkeitrauszufordern? Ich kann mir wohl einbilden, dass derstolze Haufe aller Doktoren, die grosse Gelehrsamkeitaller Lizentiaten, die Autorität und das gravitätischeAnsehen aller Magister, die unterfangende Einbildungaller Baccalaurien und der grausame Eifer aller Schul-füchse, wie auch der Aufstand aller Künstler undHandwerksleute auf mich unerhört schänden und lä-stern werden. Denn, wenn ich diese anjetzo antaste,so wird es ebensoviel und noch mehr sein, als wennich mich unterstünde, den grausamen NemeischenLöwen mit der Keule totzuschlagen, die LernäischeSchlange mit Feuer zu töten, das grosse Erymanthi-sche Schwein zu fällen, den Hirsch, der in dem Mäna-lischen Walde güldene Hörner trägt, zu fangen, dieStymphalidischen Vögel in der Luft zu schiessen, denAntäum mit den Ellenbogen zu erdrücken, Grundsäu-len in der offenbaren See aufzurichten, den

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9.569 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 5Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

dreiköpfigen Geryonem zu überwinden, starke Och-sen zu bezwingen, über den Acheloum im Duell Mei-ster zu werden, des Diomedis Pferde zu entführen,den Höllenhund Cerberum bei der Kette herumzufüh-ren, die güldenen Hesperidischen Äpfel wegzuneh-men, und was dergleichen Sachen mehr sind, welchevon dem Hercule mit grosser Arbeit und nicht gerin-ger Gefahr sind verrichtet worden: fürwahr nicht we-niger Arbeit werde ich hier brauchen und grössererGefahr befinde ich mich unterworfen zu sein, wennich diese akademischen Riesen, und diese grossenSchulenungeheuer zu überwinden mich anjetzo unter-fange.

Denn es deucht mich schon, und ich sehe allbereitfür Augen den blutigen und gefährlichen Krieg, inwelchen ich mich anjetzo einlasse, indem ich miteinem mächtigen und schrecklichen Heer vielwissen-der Leute umgeben bin, ei, mit was für Rüstungenwerden sie mir entgegenkommen, wie werden sie aufmich lästern und schmähen? Da werden erstlich diesuperklugen Grammatici herfürtreten und mir Wider-part halten, auch mit ihren Etymologien meinen ehrli-chen Namen vergessen; da werden die frechen Poetenmich für ein Lästermaul oder Ägyptischen Bock hal-ten, und mich in ihren Versen durchziehen; die fabel-haftigen Historienschreiber werden mich über Pausa-niam und Herostratum entheiligen und ausschreien;

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die grosssprecherischen Rhetores oder Redner werdenmit zornigen Augen, schrecklichem Gesichte, mark-schreierischer Stimme und üblen Gebärden mich einerVerletzung der Majestät beschuldigen; die wunder-same Memoriographi oder Gedächtnisschreiber wer-den mir mein Gehirne mit einer überzogenen Larvesuchen stumpf zu machen; die zänkischen Dialecticioder Vernunftkünstler werden unzählige syllogisti-sche Pfeile auf mich schiessen.

Die hin und wieder sich kehrenden Sophisten oderWeltweisheitskünstler werden mich mit Wort-Stricken zu binden und mir ein Gebiss ins Maul zulegen suchen; der ungeschliffene Lulliste, oder dervon allen Dingen was herzuschwatzen weiss, wird mitgroben, ungehobelten Reden mir den Kopf wüste ma-chen; die Mathematici oder diejenigen, so von derGrösse einer Sache Wissenschaft geben, werden michim Himmel und auf Erden in die Acht erklären; dieverwirrten Rechenmeister werden mit ihren wucheri-schen Konzepten mich zur Rechnung zwingen; derhartnäckige Spieler wird mir den Strick an den Halswünschen; der unverschämte Pythagorista oder Weis-sager des Pythagorischen Loses wird mir unglücklicheZahlen vorlegen.

Der künstliche Geomanticus oder Weissager ausder Erden wird mir alles Böse weissagen und allenDampf antun; bei den vieltonigen Musicis werde ich

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in allen Schenken die gemeine Fabel sein; sie werdenmir mit ihren knarrenden Pfeifen, Posaunen undWaldhörnern mehr als sie auf den Verlöbnissen undHochzeiten zu tun pflegen, den Kopf vollpfeifen. Diestolzen und prächtigen Weiber werden mich wohlnicht zum Tanze bitten, und die jungen Mägdlein mirschwerlich ein Mäulchen geben; die verwaschenenMägde werden ein Gespötte aus mir machen, derspringende Gaukler und lasterhafte Komödiant wirdmich in ein Nach- und Possenspiel mit hineinbringen.

Der hunderthändige Fechter wird mich linkisch undrechtisch anfallen; der verwirrte Geometra oder Feld-messer wird mich mit seinem Triangel und vierecki-gen Zirkeln, gleich als mit dem Gordischen Knoten inVerwirrung bringen und gefangen nehmen; der vor-gebliche Bildschnitzer und Maler wird mich garstigerals einen Affen und hässlicher, als der Thersites ge-wesen, schnitzen und abmalen; der herumschweifendeWeltbeschreiber wird mich über die Sauromatas unddas glazialische Meer relegieren; der kunstreiche Bau-meister mit seinen trefflichen Maschinen und Werk-zeugen mir heimlich den Fuss unterschlagen und michvieler Irrtümer bezichtigen.

Der teuflische Bergmann wird mich in die Goldgru-ben hinunterstossen, dass ich weder Sonn' noch Mondwerde zu sehen bekommen; die wahrsagerischenAstrologi oder Sterngucker werden mir den Galgen an

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9.572 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 7Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

den Hals prognostizieren und mit ihrer rumdrehendenSphära den Weg zum Himmel verwahren; die drohen-den Wahrsager werden mir alles Böse prophezeien;der unerträgliche Physiognomus, oder, der von der äu-sserlichen Statur des Leibes judizieret, wird mich hinund wieder austragen, und der närrische Metoposco-pus, oder der es einem am Gesichte ansehen kann,wird mich für einen gehirnlosen Esel ästimieren; derwahrsagerische Chiromantes oder der aus der Handjudizieret, wird mir nicht viel Gutes wahrsagen; derzuvorsagende Aruspex oder, der aus dem Vogelge-schrei seine Taten beweist, wird mir einen traurigenAnfang in meinen Sachen prognostizieren; der wun-dersame Spekulator oder Spiegelkünstler wird mir desJupiters Blitz und Flammen zuschicken; der finstereOniropola oder Gespenstvertreiber wird mich mitNachtgespenstern erschrecken.

Der wütende Vates oder Wahrsager wird mich miteinem zweideutigen Orakel betrügen; der zauberischeMagus wird mich entweder wie den Apulejum, oderwie den Lucianum in einen Esel, jedoch nicht wiejener, der von Golde gewesen, suchen zu verwandeln;der schwarze Goetius oder Teufelsbanner wird michmit lauter Nachtgeistern verfolgen.

Der kirchenräuberische Theurgus, oder der göttli-che Reinigungsbefleissiger wird mir den Kopf in dieKloake hineinstecken; der abgemessene Kabbalista

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oder jüdische Ausleger der Wörter durch gewisseZahlen, oder durch Versetzung der Buchstaben wirdmir meinen Abgang wünschen; der altväterische Prä-stigiator oder Verblender wird mir den beschnittenenAcephalum vor die Augen malen. Und, mein, wiewerden doch die zänkischen Philosophen mit ihrenwider sich selbst streitenden Meinungen in michwüten und toben; die landstreichenden Pythagoriciwerden mich zwischen dem Hund und Krokodil gehenheissen.

Die schändlichen und bissigsten Cynici, oder Phi-losophi, deren Obermeister der Antisthenes gewesen,werden mich gar in ein Fass einschliessen wollen; diepestilenzischen Academici werden mir eine böse Frauan den Hals wünschen; die verschwelgerischen Epi-kureer werden mich mit ihrem Verschwelgen zu Todesaufen; die grundlosen Peripatetici werden mir nachder Seele stehen und mich aus dem Paradies zu ver-stossen suchen; die ernsthaftigen Stoiker werden miralle menschlichen Affekte benehmen und mich ineinen Stein verwandeln; die vergeblich redenden Me-taphysici oder die Sitten-Tugendlehrer werden mir mitihrem demogorgonischen (?) Chaos, der doch niemalsgewesen ist und auch nicht werden wird, meinen Sinnganz verkehrt zu machen suchen.

Der politische Legislator oder Gesetzgeber wirdmir alle Ämter versagen; der wollüstige Fürst wird

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9.574 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 8Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

mich vom Hofe wegschaffen, und die Grossen da-selbst werden mich von ihrem Tische verjagen; dasverhärtete Volk wird mich auf den Gassen mit lauterScheltworten plagen, und der grausame erschrecklicheTyrann wird mich zu wilden Tieren einschliessen; diezusammengerotteten Regenten werden mich ins Exi-lium verjagen; der ungestüme gemeine Mann, der wieeine Bestia mit vielen Köpfen ist, wird mich ungehörtins Verderben jagen; die Republik oder das gemeineWesen wird mich einer Verräterei beschuldigen.

Die geizigen Pfaffen werden mir den Altar undBeichtstuhl verbieten; die verfluchten Heuchler, näm-lich die Kutten- und Mönchskappenträger, werdenmich von ihrem Predigtstuhl und Kanzel runterwer-fen; die allmächtigen Päpste werden mir meine Sündezum Fegfeuer behalten; die geilen Hurer werden mirdie Franzosen an den Hals wünschen; der räuberischeHurenwirt und die versoffene Kupplerin werden mirmeinen Beutel suchen zu fegen; die voller Schwärenrumstreichenden Bettler werden das Armenhaus vormir verschliessen; die da mit Indulgentien handelnund die Sünde um Geld vergeben, werden mir denheiligen Brand wünschen; der ungetreue Haushalterwird mich in der Garküche verarrestieren. Der gottes-lästerliche Schiffmann wird mich in Scyllam und Cha-rybdin hineinführen; der leichtfertige und gewissen-lose Kaufmann wird mich mit seinem Wuchern selbst

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9.575 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 9Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

verpfänden.Der diebische Schösser wird mir nach meinem

bisschen Brot trachten; die harten Ackersleute werdenmir den Garten und das Feld verbieten; die müssigenHirten werden mir, dass ich dem Wolf möchte inseine Klauen kommen, wünschen; der wasserschwär-merische Fischer wird mir eine heimliche Angel un-terlegen; der schreiige Jäger wird den Stossvogel undHunde über mich schicken; der streitbare Soldat wirdmich plündern und berauben und mir eine Kugelschenken; die purpurfarbigen Edelleute werden michganz degradieren wollen; die schön uniformierten He-raldi werden mir meine sechzehn Ahnen disputierlichmachen und die ritterlichen Exerzitia versagen; auchmich für einen verlaufenen Bauer schelten.

Die dreckfressenden Medici werden mir das Harn-glas oder den Binkelscherben auf den Kopf giessen;einer, welcher von der Krankheit viel vergeblich Dis-putierens macht, wird mir alle Mittel versagen, undder verwegene Empiricus alle gefährlichen Experi-mente an mir versuchen, dass er mich gleich darüberad Patres liefern möge; und der betrügerische Metho-dicus wird mir meine Krankheit zu seinem höchstenNutzen fein lange aufhalten; der unflätige Apothekerwird mich mit seinem garstigen Klistieren besudeln;die knabenverderberischen Barbiere werden mir denKopf mit scharfer Lauge waschen; die greulichen

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Anatomici werden mich zu sezieren begehren.Der unflätige Postillon wird mir die Post versagen

und mit Fuhrmannsstaub die Augen zu verblenden su-chen; der, welcher andern eine Diät vorschreibt, wirdmich Hunger sterben lassen, und der versoffene Kochwird mir einen ungesalzenen Bissen ins Maul stopfen.

Der vertuliche Goldmacher wird mir von seinemReichtum nichts zukommen lassen und mich in seinenBrennofen stecken; der unüberwindliche Jurist wirdmich mit einem Haufen Glossen belästigen, und derunverschämte Zungendrescher wird mich einer Belei-digung der hohen Majestät beschuldigen.

Der prahlende Gesetzlehrer des geistlichen Rechteswird mich exkommunizieren; der zänkische Kausen-macher wird mir unzählige Schmach antun; der betrü-gerische Prokurator wird mit meinem Gegenteil kollu-dieren; der nichtswürdige Amts- oder Gerichtsbotewird Falschheit gegen mich brauchen; der unerbittli-che Richter wird mir ein schlecht' Urteil sprechen undmir bei der Appellation die Apostel, wie man sienennt, versagen; der gebietende Erzschreiber, derKanzler, wird mir keinen Befehl auswirken lassen;der halsstarrige Bibellehrer wird mich einer Ketzereibeschuldigen; unsere hochtrabenden Magistri undLehrer werden von mir einen Widerruf begehren, unddie grossen Sorbonnischen Doctores und Atlasträgerwerden mich mit grossen Siegeln in die Acht erklären.

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Siehst du nun nicht, mein lieber Leser, mit wem ichanjetzo zu tun habe, und was für grosser Gefahr ichentgegengehe? Aber ich habe gute Hoffnung, allendiesen Anfallen zu entgehen, wenn du nur der Wahr-heit zum Besten Geduld haben und alle Parteilichkeitund Missgunst ablegen und mit rechtschaffenem, auf-richtigem Gemüte dasjenige, was ich allhier geschrie-ben, zu lesen dich bequemen wolltest. Überdies habeich für mich Gottes Wort, womit ich mich wehre; dasbrauche ich unerschrocken für meinen Schild und.Schirm, und wenn es ja sein soll, will ich (indem des-selben wegen ich so viel Feinde gegen mir erweckt)gar gerne und viel lieber leiden, als von dieser Sacheabstehen.

Und ich wollte, lieber Leser, dass du es vor allenDingen wüsstest, dass ich dieses zu schreiben wederaus Hass noch aus Ehrgeiz, noch aus einem bösenVorsatz, noch aus Antrieb eines Irrtums bin bewegenworden. Es hat mich auch nicht eine leichtfertige Be-gierde, noch ein Ansehen dadurch zu erwecken, son-dern die gerechte und wahrhafte Sache dazu getrieben,indem ich erfahren und genugsam gesehen habe, undnoch immer sehe und erfahre, dass ihrer viel durchdiese irdischen Wissenschaften so stolz und indolentwerden, dass sie die Sprache der heiligen Schrift undin derselben die Aussage des heiligen Geistes nur des-wegen, weil in denselben keine zierlichen Reden,

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keine anmutigen Beredsamkeiten und keine neue phi-losophische Erudition, sondern nur eine einfältigeOperation der Tugend und des Elendes zu finden, alseine bäurische Unwissenheit vernichten und gänzlichverächtlich halten.

So sehen wir auch andere, die sich ein wenig got-tesfürchtiger zu sein dünken, und zwar Christi heiligeGebote zu billigen sich angelegen sein lassen, jedoch,anderer Gestalt nicht, als wenn sie mit den philoso-phischen Menschensatzungen können behauptet wer-den, und teilen also denselben mehr zu, als Gottesheiligen Propheten, Evangelisten und Aposteln, dadoch diese von jenen mehr als Himmel und Erde ent-fernt sind.

So ist auch über dieses fast in allen Schulen so einverkehrter und leichtfertiger Gebrauch und so eineverdammte Gewohnheit, dass die lernenden Discipulgleichsam durch einen Eidschwur ihren Lehrmeisternzusagen müssen, dass sie dem Aristoteli, oder demBoëthio, oder dem Thomae, oder dem Alberto alsihrem Schulgott in Ewigkeit nicht widersprechen wol-len, ja, welcher nur einen Nagel breit von ihnen dis-sentieret - den halten sie gleich für einen ärgerlichenKetzer, und damit durch denselben züchtige Ohrennicht beleidiget werden möchten, so suchen sie ihngleich auf den Scheiterhaufen zu werfen.

Sieh nun, lieber Leser, mit diesen kühnen RiesenPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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9.579 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 13Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

habe ich jetzo zu schaffen, und mit diesen Feinden derheiligen Schrift muss ich mich in einen Kampf einlas-sen, ihre Schlösser und Festungen muss ich dartunund erweisen, wie gross der Menschen Blindheit seiund wie sie mit so vielen ihren Lehrmeistern und Er-findern aller Wissenschaften und Künste allezeit vonder Erkenntnis der rechten Wahrheit abweichen.

Denn, mein! was ist es doch für eine grausame Un-besonnenheit und für eine stolze Einbildung, die phi-losophischen Schulen den Kirchen Christi vorzuzie-hen, und den Menschentand und ihre ungegründetenSatzungen Gottes heiligem Worte gleich zu achten?Fürwahr, es ist eine unchristliche Tyrannei, die Inge-nia der Studierenden gefangen zu nehmen und denDiscipuln die Freiheit, der Wahrheit nachzuforschen,zu entziehen.

Welches, weil es alles so klar und offenbar ist, dasses nicht geleugnet werden kann. Also werdet ihr mirfür diesmal auch verzeihen, wenn ich etwas freier undvielleicht etwas zu scharf auf eine oder die andereDisziplin, oder auf ihre Professoren meine Rede erge-hen lasse. Gehabe dich wohl.

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Kapitel I.

De scientiis in generalioder

Von den Wissenschaften insgemein

Es ist eine alte und fast aller Weltweisen einhelligeMeinung, dass jedwede Wissenschaft dem Menschen,er mag sein, wer er will, etwas Göttliches bringe,also, dass er durch dieselbe oftmals unter der GötterZahl ist gerechnet worden, dahero sind unterschied-lich, ja fast unzählige Lobsprüche der Wissenschaftenan Tag gekommen, mit welchem ein jedweder die sei-nige, so er geübet, hoch herausgestrichen und fast bisan den Himmel erhoben hat. Ich aber, der ich andersunterrichtet worden bin, halte dafür, dass nichtsSchädlicheres, nichts Giftigeres, auch dem menschli-chen Leben und dessen Wohlfahrt nichts Nachteilige-res erfunden werden könne, als eben die Künste undWissenschaften, daher bin ich der Meinung, dass mandiese Sache ganz umgekehret und mit andern Augenansehen, und die Wissenschaften nicht mit Lob erhe-ben, sondern vielmehr durch Verachtung guten Teilsniederschlagen solle, indem keine auf der Welt ist, siemag so gross sein als sie wolle, welche nicht tadelns-wert, oder für sich einiges Lobes würdig wäre, es sei

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denn, dass solche von des Besitzers Aufrichtigkeithergenommen werden könnte. Jedoch sehe ich gerne,dass diese meine Meinung von euch mit solcher Be-scheidenheit aufgenommen werde und ihr nicht glau-ben möchtet, dass ich dadurch andere, die dieser Mei-nung nicht sind, zu verachten oder mich etwas Son-derliches zu dünken suchte; derohalben werdet ihrmir, der ich mit den andern diesfalls nicht überein-stimmen kann, hoffentlich solange verzeihen, bis ichmit einer sonderlichen Ordnung und Bescheidenheitmeine Meinung antreten, und vielleicht nicht mit ge-ringen Argumenten, sondern mit festgesetzten Be-weisgründen solche behaupte. Nicht zwar will ichhier des Demosthenis oder des Chrysippi arglistigerBeredsamkeit gebrauchen, noch dem schmeichelndenLiebhaber in etwas nachsehen, denn, wer Gottes Wortnachfolgen will, der muss recht und nach der Wahr-heit, nicht aber nach blosser Redenszierlichkeit oderSchmeichelei einem unter die Augen treten. Dennnicht in der Zunge, sondern im Herzen trifft man denSitz der Wahrheit an; auch ist nicht viel daran gele-gen, wie man redet, wenn man nur wahr redet, denndie Lügen darf Beredsamkeit und angestrichenerWorte, die Wahrheit aber, wie Euripides schreibet, istohne Schminke und Gleissnerei. Dannenhero, wennich jetzo mein vorgesetztes Werk schlecht und ohneBeredsamkeit (welche zwar vor mir nicht verdammet

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wird) antreten und etwa eure zarten Ohren beleidigenmöchte, so bitte ich, ihr wollet es mit solcher Beschei-denheit und Geduld vertragen, und es also machenwie jener römische Kaiser, der mit seinem ganzenKriegsheer stille stand und ein altes Weibchen an-hörte; oder, wie der König Archelaus (?), welcher un-terweilen rauhe und unberedsame Leute gerne hörtereden, damit er hernach desto mehr Vergnügungenund Ergötzlichkeiten von einem beredten Mundehaben möchte. Gedenket an die Meinung des Theo-phrasti, dass auch bisweilen mitten unter den Gelehr-ten und vortrefflichsten Leuten Grobe und Unge-schickte etwas Fruchtbarliches reden können, wennsie nur wahre und der Vernunft ähnliche Sachen vor-bringen. Damit ich euch aber nicht lange aufhalte, somuss ich vor allen Dingen bei euch eins erinnern,nämlich dieses, dass ihr glaubt, dass alle irdischenWissenschaften sowohl böse als gut sind, und dasssie nach menschlicher Art und Weise uns keine ande-re Wohlfahrt und Seligkeit bringen können, als viel-leicht diese, welche die alte Schlange unsern erstenEltern versprochen, wenn sie gesagt: Eritis sicut Dii,scientes bonum et malum; das ist: ihr werdet sein wiedie Götter, Gutes und Böses wissen; derowegen magsich dieser Schlange rühmen, der sich rühmete, dasser was wisse. Die Ophitischen Ketzer haben dieseswohl praktiziert, welche die Schlange in ihren

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Kirchen geehrt und vorgegeben haben, dass dieselbeim Paradies die Tugend eingeführt hätte. Diesenpflichtet bei die Platonische Geschichte, welche dafürhält, dass Theutus, ein dem menschlichen Geschlechteschädlicher Teufel, die Wissenschaften sowohl nützli-che als schädliche zuerst erfunden habe, wie hiervonder Ägyptier König Thamus von Erfindern der Buch-staben sehr weislich redet. Dahero kommt, dass diemeisten Grammatici die Teufel für die besten Kennerder Wissenschaften halten. Aber es mag sein! Wirwollen diese Fabeln den Poeten und Philosophis las-sen und unseres Orts auch dafür halten, dass keine an-deren Erfinder der Wissenschaften sind als die Men-schen. Wir wissen aber, dass dieselben böser Art Kin-der, nämlich Kinder des Kains sind, von welchenrecht gesagt wird: Filii hujus seculi prudentiores suntfiliis lucis in generatione hac; das ist: die Kinder die-ser Welt sind klüger, denn die Kinder des Lichts indiesem Geschlechte. Sind nun diese die Erfinder derWissenschaften, so sind sie ja nichts als Lügner, dennes heisst: Omnis homo mendax, nec est qui faciatbonum, usque ad unum: alle Menschen sind Lügnerund ist keiner, der Gutes tue, bis auf Einen. Aber lasses sein, dass auch etliche Gute unter den Menschen-kindern gefunden würden, so haben sie doch ihreWissenschaft nirgends anders her als von ihren Erfin-dern und Besitzern erborgt. Nun bedenke doch, wenn

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die Wissenschaften auf einen bösen Menschen fallen,so tut er Schaden, und machen ihn noch viel ärger alszum Exempel: auf einen verirrten Sprachenlehrer oderGrammaticum, auf einen fabelhaften Poeten, auf einenverlorenen Historienschreiber, auf einen schmeicheln-den Oratorem oder Redner, auf einen prahlenden Ge-dächtniskünstler, auf einen zänkischen Dialecticumoder Vernunftmeister, auf einen verführerischen So-phistam oder Verwirrungslehrer, auf einen waschhaf-ten Lullisten, oder der von allen Sachen was herzu-schwätzen weiss, auf einen verzauberten Arithmeti-cum oder Rechenmeister, auf einen geilen Musicum,auf einen unzüchtigen Tänzer, auf einen ruhmredigenFeldmesser, auf einen irrigen Weltbeschreiber, aufeinen schädlichen Baumeister, auf einen räuberischenSchiffmann, auf einen betrüglichen Kalenderschrei-ber, auf einen schelmischen Wahrsager, auf einenleichtfertigen Kabbalisten, oder auf einen durch ver-blümte Art und mit sonderbaren Geheimnissen un-treuen Ausleger der Wörter, auf einen träumendenNaturkündiger, auf einen abenteuerlichen Metaphysi-cum oder Erforscher übernatürlicher Dinge, auf einenbäurischen oder unhöflichen Ethicum oder Sittenleh-rer, auf einen falschen Politicum oder Weltmann, aufeinen tyrannischen Fürsten, auf eine unterdrückendeObrigkeit, auf einen aufrührerischen Untertan, aufeinen schismatischen Priester, auf einen

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abergläubigen Mönch, auf einen verschwenderischenHaushalter, auf einen falschschwörigen Kaufmann,auf einen geizigen und diebischen Schösser, auf einenfaulen Ackermann, auf einen viehdiebischen Hirten,auf einen lästernden Fischer, auf einen mausendenJäger, auf einen räuberischen Soldaten, auf einenscharfen Exactoren oder Mahner, auf einen tötendenMedicum, auf einen vergiftenden Apotheker, aufeinen verschwenderischen Koch, auf einen betrügeri-schen Goldmacher, auf einen listigen Rechtsgelehrten,auf einen vertrackten und leichtfertigen Zungendre-scher, auf einen unwahrhaften Postträger, auf einenums Geld feilen Richter oder auf einen ketzerischenund verführerischen Pfaffen. Nichts aber ist unseligerals eine von Gottlosigkeit herrührende Kunst undWissenschaft. Denn je grösser der Künstler, je ärgerder Schalk. Wenn aber eine Wissenschaft nicht so-wohl auf einen bösen als närrischen Menschen fällt,so ist nichts Stolzeres und Unerträglicheres als dieses,denn, was ihm die Narrheit noch etwa übrig gelassen,das will er mit seiner stolzen Vielwissenheit bemän-teln, da er sonst als ein einfältiger Narre bei weitemnicht so töricht täte; Plato sagt: Quo erit ineptioratque indoctior, hoc plura narrabit, imitabitur omnia,nihilque indignum se existimabit; das ist: je unver-ständiger und ungelehrter einer ist, je mehr Plappernswird er von einer Sache machen, er wird alles wollen

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nachäffen und meinet nicht, dass ihm etwas unver-ständig sein könne. Dahero ist nichts schädlicher, alsmit der Vernunft unsinnig sein. Wenn aber ein From-mer und Vernünftiger die Wissenschaften besitzt,welche vielleicht auch dem gemeinen Wesen gut undnützlich sein möchten, so werden sie doch den Besit-zer nicht frömmer und seliger machen, denn viel wis-sen bringt keinem keine Seligkeit (wie Porphyrius undJamblicus dafürhalten); ja wenn dieses wäre, somüsse folgen, dass diejenigen, so fast alle Wissen-schaften gefressen hätten, vor anderen die Seligstenwären, und dass ein loser Weltweiser einem frommenPriester in diesem Stück vorgezogen werden müsste.Aber die wahre Seligkeit besteht nicht in blosser Er-kenntnis des Guten, sondern in einem guten untadel-haften Leben: es heisst nichts verstehen, aber mit Ver-stande leben. Denn nicht die Wissenschaft, sondernder gute Wille vereinigt den Menschen mit Gott, unddie Wissenschaften, die äusserlich gebraucht werden,tun nichts anderes, als dass sie uns etlichermassenGelegenheit zu einem besseren Leben geben. Nun istdieses nicht vollkommen, wenn uns nicht das Lebenund die Natur dazu führt und anleitet. Denn man hates zum öftern erfahren, wie Cicero pro Archia saget,dass die Natur ohne Gelehrsamkeit mehr zum Lobeund Tugend diene, als die Gelehrsamkeit ohne dieNatur. Dannenhero ist nicht vonnöten, mit so langem

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und schwerem Nachgrübeln (wie die Averroistendafür halten) die Wissenschaften sich zu irnprimieren,wenn man nur Gott vor Augen hat.

Wo ist nun die Glückseligkeit der Wissenschaften?Wo ist der Weisen Lob und Seligkeit, womit alleSchulen voll sind? Wohin geht der Ruhm derjenigen,die längst zur Hölle gefahren? Dieses hat Augustinusgesehen und gefürchtet, wenn er mit Paulo ausruft:surgunt indocti et rapiunt coelos, et nos cum scientianostra mergimur in infernum. Das ist: die Ungelehrtenkommen und reissen uns den Himmel weg, und wirfahren mit unserer Wissenschaft in die Hölle. Aberdarf ich mich erkühnen, die rechte reine Wahrheit zusagen, so muss ich frei bekennen, dass alle Wissen-schaften sind eine gefährliche und allgemeine Men-schensatzung, also dass es weit sicherer ist, nichtswissen, als was wissen. Adam wäre aus dem Paradiesder Seligkeit nicht verstossen worden, wenn nicht diekluge Lehrmeisterin, die Schlange, ihn hätte lehrenwollen, was gut oder böse sei. So hält auch Paulusdafür, dass diejenigen aus der Kirche zu treiben, dieda mehr wissen wollen, als sichs gebühret; Sokrates,als er in allen Künsten und Disziplinen nachgegrübelthatte, ist allererst von dem Oraculo für den Weisestengehalten worden, da er öffentlich bekannte, dass ernichts wüsste. So ist auch aller Wissenschaften Er-kenntnis so schwer und fast unmöglich, dass eher das

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ganze menschliche Leben, als einer einzigen Wissen-schaft nachdenken, aufhören kann; welches der Predi-ger Salomo bestätigt, wenn er spricht: Intellexi, quodomnium operum Dei nullam possit homo invenire ra-tionem eorum, quae fiunt sub Sole, et quanto plus la-boraverit ad quaerendum, tanto minus inveniat, etiam-si dixerit, sapiens se nosse, non poterit reperire. Dasist: ich merkte auf alle Werke Gottes, aber einMensch kann das Werk nicht finden, das unter derSonne geschieht, je mehr der Mensch arbeitet zu su-chen, je weniger er findet, wenn er gleich spricht: ichbin weise und weiss es, so kann er es doch nicht fin-den. Auch kann einem Menschen nichts schädlichersein als die Wissenschaften; diese sind die rechtenGifte, welche das ganze menschliche Geschlecht aufeinmal übern Haufen werfen, welche alle Unschuldverjagen und zu vielen schweren Sünden uns Anlassgeben, ja den Tod selbst uns zuwege bringen, dasLicht des Glaubens bei uns auslöschen und unsereSeelen in die tiefe Finsternis hinunter stossen, dieWahrheit verdammen und die Lügen und Irrtümerhoch emporheben. Warum sollte derowegen der Kai-ser Valentianus, von welchem man saget, dass er dergrösste Feind der Wissenschaften gewesen, wie auchder Kaiser Licinius, der dafür gehalten, dass sie einGift und allgemeine Pest in der Welt wären, deswegenScheltens wert sein? Es berichtet uns Valerius, dass

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Cicero, der Brunnen der Gelehrsamkeit selbst, endlichdie Wissenschaften verachtet habe. Die Wahrheit aberist allein so gross und frei, dass sie mit keinem Nach-grübeln der Wissenschaft, mit keiner menschlichenVernunft und Nachsinnen, mit keinen Beweistümernder künstlichen Redensarten oder scheinbaren Bei-bringungen, sondern allein mit dem Glauben kann be-griffen werden; wer nun diesen hat, der ist, wie vondem Aristoteles gesaget wird, besser geschickt alswenn er alles wüsste; welches auch Philoponus zuverstehen gibt, wenn er schreibet: Id esse melius co-gnoscentem, quam per demonstrationem, quae percausam fit. Das ist: es sei besser, etwas von sichselbst durch den Glauben lernen und erkennen, alsdurch Beweistümer und gewisse Ursachen. Und derTheophrastus in seinem Buch von übernatürlichenSachen spricht: Usque ad aliquid quidem possumusper causam speculari, principia a sensibus sumentes,quando autem ad ipsa extrema et prima transierimus,non amplius possumus scire, sive, quia non habemuscausam, sive propter intellectus nostri infirmitatem.Das ist: wir können zwar durch gewisse Ursacheneinem Dinge, so weit es menschliche Sinnen und Ver-stand zulassen wollen, etwas nachdenken, wenn wiraber auf das Äusserste und den ersten Anfang dessel-ben kommen, so müssen wir nachlassen und könnennichts ausrichten, entweder weil wir die recht

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9.590 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 21Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

gründlichen Ursachen nicht verstehn, oder weil unserVerstand zu unvermögend dazu ist. Ja, Plato beim Ti-maeo hält dafür, dass man mit dem Glauben mehrausrichte als unsere Kräfte ertragen können. So sindauch diejenigen akademischen Weltweisen in sonder-lichem Werte gewesen, welche gesagt haben, dass aufder Welt nichts könnte bejahet oder bekräftiget wer-den; die Pyrrhonici und andere mehr haben dafür ge-halten, dass nichts Gewisses in der Welt könnte statu-iert werden; sie selbst auch haben nichts Gewissesstatuieret, und hat die Wissenschaft vor dem Glaubenkeinen Vorzug, wo nämlich die Güte des Erfindersden Discipul zu einem freien Willen zu glauben an-mahnet. Dahero haben die Pythagorici diese Präsump-tion von ihrem Lehrmeister gehabt, dass wenn sieihrer Antwort wegen Rechenschaft geben sollten,haben sie dieses geantwortet: Ipse dixit: er hat's ge-sagt. Auch die Peripatetici haben dieses gemeineSprichwort gehabt: unicuique perito in arte sua cre-dendum est. Das ist: Einem jedweden Erfahrenenmuss man in seiner Kunst Glauben beimessen.

Also glaubt man dem Sprachkünstler oder Gram-matiko seine Reden von der Bedeutung der Wörter.Der Disputierkünstler oder Dialektikus entlehnt dieWorte seiner Oration von dem Grammatico, der Red-ner seine Argumente von dem Dialectico, der Poetseine Mensur von dem Musico, der Messkünstler

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seine Proportion vom Arithmetico, der Sternseheraber muss beiden Glauben geben. Die widernatürli-chen Dinge gebrauchen sich der Mutmassung der na-türlichen, und ein jeder Künstler urteilt recht von desandern Entscheidung. Denn jede Wissenschaft hatihre sonderlichen Pincipia, welchen man beipflichtenmuss, ob sie gleich nicht können demonstriert wer-den; mit welchen, wenn er solche negieren wollte, diePhilosophi nichts zu tun haben, sondern bald sagenwürden: der die Prinzipien negiert, mit dem ist nichtzu disputieren; ja sie würden ihn wohl gar wo andershinweisen. Als wenn einer, sagen sie, leugnen wollte,dass das Feuer warm sei; den sollte man nur hinein-stossen und ihn dann fragen, was er davon hielte.Also werden aus den Philosophis Leute, welche unsmit Gewalt zwingen, dasselbe zu bekennen, welchessie erstlich mit Vernunft uns hätten lehren sollen.

Derohalben ist einer Republik nichts schädlicherals die Wissenschaften, denn, findet man bei einemgemeinen Wesen solche Leute, die mit Wissenschaf-ten und Gelehrsamkeiten ein wenig begabt sind, somuss alles nach ihren Köpfen und nach ihrem Willendirigieret sein, und gebrauchen sich wegen des gemei-nen Volks Einfalt aller obrigkeitlichen Autorität, al-lein daher kommt's, dass eine solche Republik in Oli-garchiam sich verwandelt, und auf die letzte, wenn siesich in gewisse Factiones verteilet, zu einer rechten

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Tyrannei gar leicht hinausschlagen kann, welches,dass es geschehen sei, man niemals an so einem Orte,da keine Wissenschaften im Schwange gegangen,wahrgenommen hat; ohne von dem einzigen SyllaDictatore lesen wir, dass derselbe allein eine Repu-blik, darin die Wissenschaften nicht in Wert gehaltenworden, eingenommen habe; dabei aber doch ein gutTeil dem Mangel an Wissenschaften hernach beige-messen worden, dass er endlich seine Tyrannei vonsich selbst abgelegt habe. Überdies sind ja alle Kün-ste und Wissenschaften nichts als Menschensatzungenund dererselben einbildische Gedanken, welche so-wohl schädlich als nützlich, sowohl vergiftet als heil-sam, sowohl böse als gut, niemals aber vollkommen,sondern allzeit zweifelhaft und aller Irrtümer undZänkerei voll sind. Welches ich jetzo bald durch jed-wede Disziplin der Wissenschaften ferner erweisenund insonderheit dartun will.

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9.593 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 23Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel II.

De literarum elementis,oder

Von Ursprung und Erfindung der Buchstabenund Sprachen

Denn, wer sieht nicht vielfältig, dass die Arten zureden, vornehmlich verstehe ich die Grammatica, Lo-gica und Rhetorica, welche der Eingang und dieTüren zu den Wissenschaften, an sich selbsten aberkeine Wissenschaften sind, oftmals mehr Verdrussund Schaden, als Lust und Nutzen zuwege bringen,bei denen doch keine einzige Regul der Wahrheit zufinden ist, als die blosse Nachahmung und Meinungdes ersten Einsetzers und Erfinders, unter welchen dieersten die Chaldäer und ihr vornehmster Erfinder derAbraham, wie Philo uns berichtet, gewesen; die Chal-däer, die Assyrier und die Phönizier haben dieseSchrift gebraucht und hochgehalten. Wiewohl, wieandere sagen, Rhadamanthus ihnen am ersten dieBuchstaben, welche hernach Moses den Juden, ob-zwar vielleicht nicht mit solchen Charakteren wie sieheutiges Tages gebraucht werden, gegeben hätte, wel-che Erfindung dem Esrae will beigemessen werden.Zwar hält man dafür, dass Linus Chalcides die

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9.594 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 24Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Buchstaben aus dem Phönice auf die Griechen ge-bracht, bis Cadmus, des Agenoris Sohn, ihnen aufeine andere Art neue und zwar an der Zahl sechzehn,zu welchen der Palamedes zur Zeit des trojanischenKrieges noch vier hinzugesetzt, und hernach wiedersoviel der Simonides Melicus vorgeschrieben hat.

Den Ägyptern aber hat die Kunst und Wissenschaftzu schreiben am ersten der Memnon, und zwar durchder Tiere Bildnisse, wie in den Obeliscis zu sehen,gewiesen. Die Buchstaben aber haben sie am erstenvom Mercurio, hingegen die Lateiner von einemWeibe Nicostrata, mit dem Zunamen Carmenta ge-nannt, bekommen. Sieben Schriften aber waren füralters in Estime und Gebrauch: Hebräisch, Grie-chisch, Lateinisch, Syrisch, Chaldäisch, Ägyptischund Gotisch, von welchen, wie Crinitus berichtet, ineinem sehr alten Buch diese Verse gelesen werden:

Moyses primus Hebraicas exaravit literas,Mente Phoenices sagaci condiderunt Atticas,Quas Latini scriptitamus, edidit Nicostrata.Abraham Syras, et idem repperit Chaldaicas.Isis arte non minore protulit Aegyptias,Gulfila prompsit Getarum quas videmus ultimas.

Das ist: Moses hat zuerst die hebräische Sprachean Tag gebracht, und die scharfsinnigen Phönizier die

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9.595 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 25Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

griechische; die Nicostrata hat die lateinische erfun-den und Abraham ist ein Urheber der syrischen, chal-däischen, wie auch der ägyptischen, Gulfila aber dergotischen als der letzten unter diesen. Andere Völkerund barbarische Nationes aber haben bei jungem Zei-ten neue Sprachen erfunden. Denn Cardanus, ein Bi-schof, hat den Goten die Sprachen gelehrt, und diealten Franken, welche unter dem Marcomiro und Pha-ramundo die Gallier überwunden, haben ihre gewis-sen Charaktere, welche mit den griechischen überein-gekommen, gehabt, mit welchen der Wastaldus ihreHistorien beschrieben hat.

So sind auch noch andere, und von des WastaldiCharakteren ganz abgesonderte Buchstaben der Fran-ken, welche von dem Doraco sollen erfunden sein,wie auch noch andere von dem Hicho Franco, welchermit dem Marcomiro aus Scythien auf die Mündungdes Rheins gekommen ist, massen denn auch Beda et-licher der Normandier Buchstaben und Sprachen ge-denkt. Und also sind noch viel andere Völker, welcheneue Charakteres der Buchstaben sich gemachet, odervon den Alten gewisse angenommen, welche sie zumTeil verändert, oder zum Teil verfälscht haben. Alsohaben die Dalmatier die griechischen, die Armenierdie chaldäischen, die Goten und Longobardier aberdie lateinischen gleichsam verunehret. Hingegen sindnoch viel andere altertümliche Schriften wiederum

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9.596 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 26Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

untergegangen, nämlich gewisser Völker in Italien,wie die der Etrusker zum Exempel, welche doch voralters, wie Plinius und Livius bezeugen, bei den Rö-mern in grossem Wert sind gehalten worden, wie sol-ches noch heutiges Tages auf den alten, wiewohl unsfast ganz unleserlichen Grabschriften zu sehen ist.Denn von den alten Römern, welche bald die ganzeWelt verwüsteten, wurde überall ihre Schrift einge-führt. Ebenso ist die hebräische Sprache unter der ba-bylonischen Gefängnis verderbet und von den Chaldä-ern verfälschet worden; auf solche Art auch ist deralten Deutschen, der Spanier und anderer VölkerSprachen, nachdem die Römer andere eingeführt, kor-rumpieret worden. Hingegen sind wiederum derRömer Buchstaben und Sprache von den Goten, Lon-gobarden, Franken und andern barbarischen Völkernverändert und verfälscht worden. Denn gewiss ist es,dass die lateinische Sprache heutiges Tages nicht soist, als wie sie vor alters gewesen; so ist auch von derhebräischen unter den Talmudisten kein geringerStreit, und spricht Rabbi Jehuda, dass Adam Ara-meisch geredet, Marsutra aber sagt, dass Moses einGesetz gegeben, welches mit hebräischen Buchstabenwäre geschrieben, hernachmals aber von Esdra in diearameische und assyrische Sprache verwandelt wor-den, und diese hätten sie als eine heilige damals ange-nommen und behalten. Andere hingegen sagen, dass

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9.597 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 27Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

die Gesetze Mosis alsobald anfangs mit den heutigenCharakteren sollten geschrieben worden sein, welchezwar wegen Betruges hernachmals verändert, abernach geschehener Bereuung wieder in den vorigenStand gesetzt worden wären. Rabbi Simon, des Elea-zaris Sohn, hält dafür, dass dieser Sprache wegen nie-mals keine Veränderung wäre vorgegangen. Alsokann man von dieser heiligen hebräischen Sprache,von den Hebräern selbst nichts Gewisses haben, jaalso verändern sich die Zeiten, dass kein Buchstabeoder keine Sprache heutiges Tages, welche der Artund Form der Alten mehr ähnlich wäre, zu finden sei.

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9.598 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 27Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel III.

De grammaticaoder

Von der Sprachenkunst oder Grammatica

Aus diesen so unbeständigen und stets veränderli-chen Principiis der Buchstaben ist die erste die Spra-chenkunst oder Grammatica; denn aus dieser entsprin-gen die andern Künste, wohl zu reden. Aber weil eswenig Nutzen bringet, wenn man nur die Buchstaben,dieselben aber nicht mit einer sonderlichen Art undWeise zusammenzusetzen, und aus den BuchstabenSilben, aus den Silben ganze Worte und Reden zuformieren weiss, so haben die Erfinder sich unterstan-den, gewisse Reguln und Konstructiones zu geben,dass was nämlich nach denselben geredet, wohl gere-det sei, und haben diese Kunst Grammaticam ge-nannt; deren erster Erfinder ist gewesen bei den Grie-chen der Prometheus; welche hernachmals der GratesMallotes, der von dem Attalo zum römischen Rat, zurZeit des andern und dritten punischen Kriegs ge-schicket worden, in Rom eingeführt; und ist dieseKunst hernachmals mit einem grossen Gepränge vondem Palämo profitieret worden, dergestalt, dass siesolche die palämonische Kunst genannt haben;

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9.599 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 28Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

welcher aber so ein ruhmrediger Mann gewesen, dasser gesaget, mit ihm wären die Buchstaben geborenund mit ihm würden sie auch wieder sterben und un-tergehen. Dieser hat alle gelehrten Leute zu seinerZeit verachtet, auch den M. Varronem ein Schwein zunennen sich unterstanden.

Aber es ist und bleibet wahr, dass die lateinischeGrammatica so arm und der griechischen Sprache sounterworfen ist, dass, wer von dieser keine Wissen-schaft hat, sich unter die Zahl der Sprachkünstlernicht zählen darf; derowegen bleibet's wohl dabei,dass alle dergleichen grammatikalische Vernunft ausnichts anders, als aus unserer Vorfahrer Gebrauch undAutorität herkomme, denen es gefallen, eine Sache sooder so zu nennen, so zu schreiben, die Worte so zu-sammensetzen, befohlen und gutgeheissen haben. Esrühmet sich die Grammatica, dass sie eine Kunst rechtzu reden sei, aber ganz falsch, weil wir dieses vielbesser von unsern Müttern und Säugammen, als vondenen Grammaticis lernen können. Die Sprache derGracchen, die für die beredtesten sind gehalten wor-den, haben die Söhne von der Mutter Cornelia ge-lernt. So ist auch bekannt, dass in vielen Ländern aus-wärtiger Nationen, wenn Kolonien hingebracht wor-den, die Kinder ihre Muttersprache behalten, daherPlato und Quintilianus gelehret haben, dass man vorallen Dingen bei Auferziehung der Knaben um gute

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9.600 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 29Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Ammen sich bekümmern sollte.Derowegen sei es ferne von uns, dass wir die Ver-

nunft, recht zu reden, den Grammatikschreibern bei-messen wollen, welche, indem sie nur die Grammati-cam profitieren, desto weniger wissen; welche auchPriscianus in seinem ganzen Leben nicht hat lernenkönnen, und wird für gewiss vorgegeben, dass Didy-mus von der Grammatica viertausend oder, wie ande-re wollen, sechstausend Bücher soll geschriebenhaben. Wir lesen, dass der Kaiser Claudius der grie-chischen Sprache so ergeben gewesen, dass er nochdrei Buchstaben erfunden, welche er als Kaiser beibe-halten hat, und Karl der Grosse hat bei Einführungder deutschen Grammatica den Monaten und Windenneue Namen gegeben. So wird auch noch heute zuTag und Nacht in dieser Sache gearbeitet; es werdenCommentaria, Observationes, Scolia und andere Sa-chen geschrieben und ans Licht gebracht, und kom-men auf solche Art soviel Grammatiken, als Gramma-tici sind, an den Tag, und ist doch wohl fast keinerunter ihnen, er mag ein Grieche oder Lateiner sein,der die rechte Ursache und Ordnung in der Konstruk-tion anzuführen und die rechte Principia zu zeigenweiss. Ob fünfzehn Pronomina, wie der Priscianus,oder mehr, wie der Diomedes und Phoca dafür hält,sein sollen, ob das Partizipium allezeit oder nur bis-weilen ein Partizipium bleibe, ob die Gerundia

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9.601 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 30Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Nomina sind oder Verba, warum die Nomina pluralia,welche bei den Griechen neutrius generis sind, mitdem Verbo singularis numeri können konjugiert wer-den. Auch dass etliche gewisse lateinische Wörter miteinem griechischen Diphthongo schreiben, etlicheaber nicht, als zum Exempel Foelix, Qaestio, auch obauf Lateinisch die Diphthongi æ und œ nur geschrie-ben, nicht aber ausgesprochen, oder ob beide Vocales,wie sie geschrieben, nur mit einer Syllaba exprimieretwerden sollen. Gleicher Gestalt, warum bei den mei-sten lateinischen Wörtern gar viel den griechischenBuchstaben y, viel aber nur das lateinische i brau-chen, wie in dem Wort considero. Gleicher Gestaltmachen manche bei etlichen Wörtern einen doppeltenBuchstaben, manche aber nicht, wie in Caussa, Relli-gio; also auch, ob die Seele des Aristotelis soll ge-schrieben werden Endelechia durch ein Delta oder En-telechia durch ein Tau. Ich will jetzt vorbeigehen undnicht berühren den vielen und nimmer aufhörendenZank von dem Akzent, von der Art recht zu schreiben,von der Aussprache der Wörter und Buchstaben, vonden Figuren, Regeln und anderen Bedeutungsarten,von Veränderung der Fälle und Zeiten, der Personen,der Zahlen und viel anderer Sachen mehr.

Ob bei den Lateinern H ein Buchstabe sei odernicht, und viel dergleichen; also streiten sie auch zumöftern über die Buchstaben, Silben und Wörter, und

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9.602 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 30Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

kommen selten miteinander überein. DergleichenStreit hat Lucianus Samosatensis von den BuchstabenS und T in einem absonderlichen Buche artig belacht.Ein Exempel kann uns das Wort Thalassa und Thalat-ta geben; einer auch, Andreas Salernitanus genannt,hat eben von dieser Sache einen grammatischen Kriegmit sonderlicher Beredsamkeit beschrieben.

Dieses alles sind nur kleine Sachen; von mehrerenund die von grösserer Wichtigkeit sind, könnten wirgedenken als von bösen und verfälschten Auslegun-gen und ungleichen Verdolmetschungen, derer dieganze Welt voll ist, aus welchen einer Republik nichtgeringer Schaden entsteht, nämlich, wenn sie sagen,den Gesetzen sich zu unterwerfen ist eine Sklavereiund Servitut; dieses aber sei eine recht bürgerlicheFreiheit, da einem jedweden alles vergönnet ist, unddas nennen sie eine Isonomiam oder rechte Gleichheitund Billigkeit, da ohne Unterscheid ein jedweder glei-ches Recht und gleiche Belohnung hat.

Auf dergleichen Art, sagen sie, wäre das die aller-geruhigste Regierung, wenn alles dem Fürsten zu sei-nem Belieben stünde, die allerglückseligste, wenn dieUntertanen und das Volk mit Pracht und Verschwen-dung und mit guten müssigen Tagen ihre Zeit zu-brächten. Solchen und dergleichen andern Auslegun-gen mehr sind auch unterworfen die Medizin und dieweltlichen und göttlichen Gesetze, mit welchen sie

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9.603 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 31Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

machen, dass die Heilige Schrift und Christus selbervon ihnen dissentieret, indem sie solche Deutungennicht nach des Heiligen Geistes Meinung und zu Er-haltung gemeiner menschlicher Wohlfahrt, sondernnur zu ihrem eigenen Nutzen auslegen, aus welcherSache oftmals viele Gefährlichkeiten sich ereignethaben, wie gemeiniglich ein Irrtum, so nur in einemWorte besteht, einen grossen Irrtum in der Sacheselbst verursachen kann. Auf solche Weise ist betro-gen worden der erste König der Hebräer, der Saul, mitdem Wort sackar, welches heisst ein Mannsbild undauch das Gedächtnis. Als nun Gott sagte: Delebo me-moriam Amalech, das ist: ich will auslöschen das Ge-dächtnis Amalech, da meinete Saul, wenn er diesenGeboten genug tun wollte, dürfe er nur die Mannsbil-der wegnehmen; dergleichen Irrtum hat sich auch beiden Griechen und Welschen zugetragen, mit demWorte phos, welches ein Mensch bedeutet und auchein Licht. Daher haben etliche Beehrer des Saturniwegen des Wortes Zweideutung sich betrügen lassenund haben dem Saturno jährlich einen Menschen ge-opfert, da sie denselben mit einem angezündetenLichte hätten besänftigen können, und ist dieses närri-sche Volk erstlich durch ihren Lehrmeister, den Her-culem, klug worden.

Endlich haben auch die Geistlichen und Brüder mitweiten Ärmeln, die sich in dieses grammatikalische

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9.604 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 32Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Wesen mit eingemischet, von Bedeutung der Wörtermit vielen ketzerischen Anhängen gestritten, unddurch diese Gelegenheit die Heilige Schrift andersausgeleget, auch durch diese Sprachenkunst sichselbst verblendet, und das Licht der Wahrheit vorbei-gangen; denn indem sie allzusehr der Bedeutung derWörter nachgegrübelt, so haben sie den wahren Inhaltder Heiligen Schrift nicht verstehen wollen, und alsodas wahre Wort verkehret und verloren. Wie voneinem, es mag nun wahr oder eine Fabel sein, erzähltwird, der, als er viele Hostien zu konsekrieren gehabt,damit er aber nicht anstosse und wider die Gramma-tica impingieren möchte, hat er mit solchen Worten:Haec enim sunt corpora mea, nicht, das ist mein Leib,sondern in Plurali, das sind meine Leiber, konsekriert.Daher ist entstanden die abscheuliche Ketzerei, derAntidicomarianitarum oder Elvidianorum, welche derheiligen Mutter Christi stets währende Jungfernschaftgeleugnet haben, und nur aus diesem einzigen WorteDonec oder Bis, wenn in dem Evangelio gelesen wird:Qoniam Joseph non cognoscebat eam, donec peperitsuum primogenitum; das ist: Joseph erkennete Ma-riam sein Gemahl nicht, bis sie ihren ersten Sohngebar.

Aber was hat die lateinische und griechische Kir-che für Zank erweckt aus den beiden Wörtlein ex undper, da die Lateinischen behaupten wollen, der

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9.605 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 33Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Heilige Geist ginge aus aus dem Vater und dem Sohn;die Griechischen aber, aus dem Vater durch den Sohn.

Was für Trauerspiele hat das Wort Nisi in dem Ba-silienischen Concilio den Böhmen zuwege gebracht,dass sie die Kommunion unter beiderlei Gestalt statu-iert haben: Nisi manducaveritis carnem filii hominiset biberitis ejus sanguinem, non habebitis vitam invobis, das ist: wo ihr nicht esset den Leib des Men-schensohnes und trinket sein Blut, so werdet ihr dasLeben nicht bei euch haben. Woher kommt der Wal-denser und anderer nachfolgender Ketzerei wegen Ge-brauch des heiligen Abendmahls, aus nichts andersals aus dem Worte est. Es sind auch noch viel andereschädliche grammatische Ketzereien, aber so verbor-gen und subtil, dass, wenn sie nicht von den scharf-sinnigen englischen Geistlichen zu Oxfurt und vonden Sorbonnischen Lehrern zu Paris beizeiten wärenwahrgenommen und mit grossen Siegeln verdammetworden, so hätte man sich vor denselben schwerlichhüten können.

Fürwahr, wenn dieses Ketzereien genannt werdensollten, so müsste der Prophet Esaias und MaleachiKetzer sein. Der erste sagt ad Ezechiam mit diesenWorten: Ecce ego addet super dies tuos, das ist:Siehe, ich will deinen Tagen zulegen. Er sagt nichtaddam, sondern addet. Der andere: Et si Domini ego,ubi est timor meus? Bin ich euer Herr, wo fürchtet

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9.606 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 33Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

man mich? An welchem Ort Gott in Plurali sich einenHerrn nennt. Aber noch mehr würden diejenigen alleKetzer sein, welche durch den ganzen römischen Erd-boden für Geistliche gehalten, sofern sie die allge-meine Lehre der wahren Kirchen mit einer neuen Pro-nuntiation, wider aller Grammaticorum Kunst undRedensart sich vorgetan und unterstanden haben.

Unzählige dergleichen Händel gibt es, und ist zubeklagen, was bei unsern Zeiten für unnötigen Streitund Irrtum die stolzen Grammatici und Sophisten mitihren verkehrten Wortauslegungen erwecket, indemetliche aus den Worten die Meinungen, etliche ausden Meinungen die Worte erzwingen wollen. Daherentstehen in der medizinischen Kunst sowohl auch inbeiden Rechten, als in der Theologie und Philosophie,und dergestalt aus allen Fakultäten täglich unzähligeStreit und Irrtümer. Denn die Grammatici beweisennichts, sondern gründen sich nur allein auf ihre Auto-rität, welche oftmals unter ihnen so variabel und strit-tig ist, dass es nicht fehlen kann: es müssen die mei-sten unter ihnen Lügner sein. Es bestehet ja richtigesReden nicht bei den Grammaticis, sondern bei demVolke, und durch die gemeine Gewohnheit wird dieArt zu reden eingeführet.

Aber der lateinischen Sprache beste Zierat, nach-dem sie bei den barbarischen Völkern abgenommen,muss man nicht von den Grammaticis, sondern von

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9.607 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 34Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

den geschickten und gelehrten Skribenten, als vondem Cicerone, Catone, Varrone, den beiden Plinio,Quintiliano, Seneca, Suetonio, Quinto Curtio, TitoLivio, Sallustio und von andern mehr hernehmen, beiwelchen allein die Zierat der lateinischen Sprachenoch übrig ist, nicht aber bei diesen Buchstabschrei-bern, welche mit ihren Reguln und Kompositionender Latinität viel aufbürden wollen, und oftmals sol-che Worte zusammensetzen, die ein Mensch, welcherLateinisch kann, nicht zu gebrauchen befugt ist, eswäre denn, dass die Parisische Sorbonne solche unterihre Artikul mit gesetzet.

Und wenn man recht hievon reden wollte, so sollteman den Grammatikenschreibern keinen Glauben bei-messen, da diese doch zu Richtern und Judizierernsich aufwerfen, und sich vor andern hervortun wollen;es wird niemals einer so klugen Verstandes gefundenworden sein, der über ihre Zunge nicht hätte springenmüssen, oder den sie nicht getadelt und gescholtenhätten. Sie lästern auf den Platonem, dass er so kon-fus und keine Ordnung gehalten hätte, von dessenMangel der Georgius Trapezuntius ganze Bücher ge-schrieben hat. Bei dem Aristotele suchen sie mehr Er-leuchtung und geben vor, er wäre gar zu obskur gewe-sen, und nennen ihn Sepiam, das heisset, einen allestrübenden Tintenfisch. Sie taxieren Virgilium, dass ereines schlechten Ingenii gewesen, und dass er nur von

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9.608 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 35Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

andern das Seinige zusammengetragen und erborgthätte. Demosthenes gefällt dem Tullio nicht, und dergrösste lateinische Redner wird von den Griecheneines gelehrten Diebstahls bezichtiget und auf aller-hand Arten angeklaget, dass er furchtsam, weitläuftigin Wiederholung, kalt in guten Scherzreden, langsamim Anfang, träge und faul im Fortgang, sparsam imrechtmässigen Eifer wäre befunden worden. Ja, erwird auch von den Unsrigen karpieret, nämlich vonM. Capella, dass er nicht ordentlich geredet, und vondem Apollinari, dass er faul und verdrossen gewesensei. Der Trogus hält des Livii Orationes für Fabelnund ein erdichtetes Werk; dem Horatio hat der Plau-tus nicht gefallen, und dieser verdammt auch den Lu-cilium wegen seiner übel zusammengesetzten Verse;es wird gesagt, dass Plinius zu solcher Verwirrungviel Ursache gegeben und der Ovidius sehr zärtlichgelebet hätte. Von dem Asinio Pollione wird der Sal-lustius für einen, der voller Affektation gewesen, an-gegeben, von dein Labione und dessen Helfer, demScipione, wird dem Terentio beigemessen, dass erDiebstahl und andere Sachen begangen.

Der Seneca wird calx sine arena genannt, welchender Quintilianus mit diesen Worten tadelt: Si nullumaequalium contempsisset, si partem non concupisset,si non sua omnia amasset, si pondera rerum minutis-simis sententiis non fregisset, consensu potius

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eruditorum, quam puerorum amore comprobaretur.Das ist: Wenn er vor seinesgleichen niemand verach-tet hätte und wäre nicht auf alles so begierig gewesen;wenn er nicht nur das Seine allein hochgehalten, unddie Wichtigkeit anderer Sachen nicht so sehr nieder-geschlagen, so wäre er vielmehr von hohen verständi-gen Leuten, als nur von unverständigen Kindern ge-ehrt und hochgehalten worden.

Aber der M. Varro ist ein Schwein, und der h. Am-brosius ein Krählein und Fabeldichter genannt wor-den; Macrobius, einer von den Gelehrtesten, ist einesunverschämten und undankbaren Gemütes gescholtenvon Laurentius Valla, und der, der Allergelehrtesteunter den Grammatisten, ist von dem Mancinello überdie Bank gehauen worden. Wie auch der Servius vondem Beroaldi, und diesen haben die neuen Gramma-tici als einen Barbarum gänzlich gehasset.

Also haben die Grammatici einer in den anderngleichsam zu wüten im Gebrauch gehabt, ja endlichist's durch ihr Tun dahin gekommen, dass die HeiligeSchrift aus Prätext einiger Korrektion etliche Male ge-ändert, und durch ihre Zensur von der OffenbarungJohannis des Apostels, von der Epistel Pauli an dieHebräer, von der Epistel Judä und andern KapitulnNeues Testamentes gezweifelt worden. Sie haben dieEvangelia selber ad problemata zu revozieren, oderzweifelhafte Fragen daraus zu machen, sich

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unterstanden. Nun aber wollen wir uns zu den Poetenwenden.

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Kapitel IV.

De poesioder

Von der Dichterkunst

Die Dichterkunst ist an sich selbst, wie Quintilia-nus lehrt, das andere Stück der Sprachkunst, aber sieprahlt für sich so sehr, dass vor alters die Theatra,Amphitheatra und schönsten Weltgebäude, so unterder Sonne haben können gefunden werden, nicht denPhilosophis oder Weltweisen, nicht den Rechtsgelehr-ten, nicht den Medicis, nicht den Rednern, nicht denMathematicis und Geistlichen, sondern poetischenFabelerdichtern mit grossen Unkosten sind aufgebauetworden.

Ist eine Kunst, die zu nichts anders erfunden wor-den ist, als dass sie mit leichtfertigen Reimen undvorgeblichen Wortzusammensetzungen den Ohrennärrischer Leute schmeichle und mit viel tausendLügen und Fabeln die Gemüter betrüge; daher sie bil-lig die Erfinderin der Lügen und Beehrerin aller nichttauglichen Grundsätze kann genannt werden. Aber,gleichwie wir einem Unsinnigen seine Kühnheit undRaserei gerne vergeben, also wollen wir auch dieLügen der Poeten mit Geduld vertragen; sie lassen

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keinen Winkel leer, den sie nicht mit ihrem unnützenGeschrei und nichtswürdigen Gedichten anfüllen soll-ten.

Ja sie fangen vom Chaos, oder ersten Weltklumpenihre Fabeln an, erzählen des Himmels Abteilung, derVeneris Geburt, der Titani Streit, des Jupiters Wie-gen, der Rheae Betrug, des Saturni Banden, der Rie-sen Rebellion, des Prometheus Diebstahl und Strafe,des Deli Irrfahrten, der Latonae Schmerzen, des Py-thonis Ermordung, des Tyri Arglistigkeit, des Deuca-lionis Überschwemmung, der Menschen Ursprung ausden Steinen, des Jacchi Zerreissung, der Iunonis Be-trug, der Semelis Verbrennung, des Bacchi Herstam-mung, ja unterschiedene Sachen von der Minerva,vom Vulcano, vom Erichthonio, vom Borea und Ori-thia, vom Theseus, vom Aegeo, vom Castor und Pol-lux, vom Raub der Helenae, von dem Tod des Hippo-lyti, und dieses alles in den Attischen Fabeln. Erzäh-len ferner den Irrweg Cereris, die Entführung Proser-pinae, und anderes mehr von dem Minoë, von Cadmound Niobe, von Pentheo, Atreo und Oedipode, vonder Arbeit des Herculis, von der Sonnen und NeptuniStreit, von der Unsinnigkeit des Athamantis, von derJo, wie sie in eine Kuh verwandelt, und ihrem Hüter,dem Argo, wie der von dem Mercurio getötet worden.

Von dem güldenen Vlies, vom Peleo, von Jason,von der Medea, von dem Tode des Agamemnonis,

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und Strafe der Klytaemnestrae, von der Danaë, Per-seo, Gorgone, Cassiopea, Andromeda, Orpheo, Ore-ste, von Aeneae und Ulyssis Irrfahrten, von der Circe,Thelagonio und Aeolo, Palamede, Nauplio, Ajace,Daphne, Ariadne, Europa, Phädra, Pasiphaë, Dae-dalo, Icaro, Glauco, Atlante, Geryone und Tantalo,von Pan, Centauris, Satyris und Syrenibus und vonandern berühmten Lügen, wer hat mit den nichtswür-digen Fabeln den Menschen die Gemüter angefüllt,als eben die Poeten? Ja sie sind nicht mit irdischenDingen zufrieden, sondern sie bringen die Götterselbsten in ihre Fabeln mit ein. Beschreiben ihren Ur-sprung, ihren Untergang, ihren Streit, Hass, Zorn,Krieg, Verwundung, Beklagung, Liebe, böse Lüste,Hurerei, Ehebruch und Zuhaltung mit Menschen undViehe und andere Absurditäten und schändliche Sa-chen mehr, mit welchen sie nicht allein die Gegenwär-tigen betrügen, sondern auch die Nachwelt durch sol-che ihre leichtfertigen Redensarten infizieren, dass siegleichsam als durch eines rasenden Hundes Biss sol-cher leichtfertigen Lügen und Randen von denselbenzur Unsinnigkeit dergestalt angereizt werden, dass siehernachmals stets darinnen verharren müssen.

Denn ihre Lügen sind mit einer falschen Art undKunst geziert, dass man sie unterweilen für wahre Hi-storien halten muss, als wie mit dem erdichteten Ehe-bruch der Didonis mit dem Aenea, und mit dem von

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den Griechen eingenommenen Ilio. Ja, es sind Leutegefunden worden, die durch ihre leichtfertige Erdich-tungen gemeinet haben, sie sässen unter den Göttern.Denn die Teufel haben vor Zeiten in den poetischenVersen Antwort gegeben, dahero die Dichter oft Pro-pheten und Wahrsager sind genennet und ihre verlore-nen Verse für Oracula gehalten worden, und ist beiden Alten von den Homerischen Versen das Homeri-sche Glück, wie von des Virgilii seinem Carmine dasVirgilische genannt worden, davon in der Beschrei-bung des Lebens Adriani von dem Spartiano mit meh-reren gedacht wird. Von welcher Superstition heutigesTages auch die Heilige Schrift selber und die Psalmennicht frei sein können, zumal es von vielen Geistli-chen gutgeheissen wird. Aber damit wir zu dieserPoesie oder Dichterkunst wieder recht kommen, sohat der heilige Augustinus solche von der Stadt Got-tes wegzuschaffen geheissen. Der Heide Plato hat sieaus seiner Republik ausgetrieben, Cicero dieselbeaufzunehmen verboten; Sokrates hat erinnert, dass,wer seinen ehrlichen guten Namen unverletzt behaltenwolle, der soll sich hüten, dass er nicht einen Poetenzum Feinde bekomme, weil er nicht sowohl einen zuloben, als zu schelten und anzugiessen Gewalt hat.

Minos, der von dem Hesiodo für einen gerechtenKönig deswegen gepriesen wurde, weil er mit denAtheniensern Krieg angefangen, hat die Poeten

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dadurch dermassen wider sich erwecket, dass sie ihnzur Hölle relegiert haben. Von der Penelope, welchevon dem Homero wegen ihrer Keuschheit ist rausge-strichen worden, schreibt Licophron, dass sie etlicheMal mit ihren Freiern zugehalten hätte. Ennius derPoet, der des Scipionis Taten gelobt, hat fingiert, dassDido den Aeneam geliebt, welches ihm doch der Zeitnach nicht hat können bekannt sein. Welche Lügenhernachmals der Virgilius so schön geschmückt, dassdieses für eine wahre Historie ist gehalten worden.Endlich ist die Freiheit zu lügen und diese Bosheit soweit kommen, dass es die Not erfordert, ihnen ge-wisse Gesetze vorzuschreiben, damit dergleichenLügen und Leichtfertigkeiten möchten im Zaum ge-halten werden.

Auch ist bei den alten Römern die Erdichterkunstöffentlich für eine Schande, und derjenige, wie Gel-lius und Cato bezeugen, der solche studiert, für einenöffentlichen Lumpen gehalten, auch der Q. Fulviusvon dem M. Catone gestraft worden, dass er, da er alsVizebürgermeister in Aetoliam ist geschickt worden,einen Poeten mit sich genommen hat. Und der römi-sche Kaiser Justinianus hat die Professores dieserKunst keiner Freiheit gewürdiget. Die Athenienserhaben den Homerum, welchen sie den weisesten unterallen Poeten, und unter allen Weisesten den vornehm-sten Poeten genannt haben, als einen Unsinnigen um

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50 Drachmes gestraft, den Poeten Tyrtäum (?) aber,als einen armen Menschen und der seiner Vernunftnicht mächtig wäre, ausgelacht. Ja auch die Lazedä-monier haben des Poeten Archilochi Bücher aus ihrerStadt verwiesen. Sehet, so haben rechtschaffene Leutedie Poesie als die Mutter der Lügen verachtet, undalso haben sie diesen Lügnern, welche sich nämlichbefleissigen, nichts mehreres zu sagen oder an Tag zubringen, als nur mit ihren zusammengeflickten Rei-men und erdichteten Fabeln die Ohren der närrischenLeute zu perstringieren, begegnet; höret, was der PoetCampanus an einem andern Orte hiervon gar artigschreibt:

Vivunt carmine insani Poëtae,Si nugas adimas, fame peribunt.His mendacia sunt opes et aurum,Fingunt quaecumque volunt, putantque palmamMentiri bene gloriosiorem.

Das ist: Es gibet zwar viel närrische Poeten, wennman aber ihre Fabelwerke nicht achtete, müssten sieHungers sterben. Ihr Reichtum und Güter beruhen auflauter Lügen; sie erdichten nur, was ihnen beliebet,und halten für ihre grösste Tugend, wenn sie tapferaufschneiden. Über dieses ist unter den Poeten dergrösste Streit, nicht allein von Art der Verse, von

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ihrer Länge, Akzent und Aussprechung der Silben(denn über dieses streiten auch die gemeinen Gram-matici) entstanden, sondern auch zugleich von ihremunnützen Geschwätz und erdichteten Lügen selbst,nämlich von der Keule des Herculis, vom heiligenBaum, von den Buchstaben Hyacinthi, von den Töch-tern Niobe, von dem Baum, unter welchem Latona dieDianam geboren hat; mehr von des Homeri Geburts-stadt und dessen Grabe, ob Homerus oder Hesiodus,ob Achilles oder Patroclus älter gewesen sei, in wasfür einem Habit Anacharsis der Scytha geschlafen,warum der Homerus dem Palamedi zu Ehren nichthabe ein Carmen gemacht; ob Lucanus unter die Poe-ten oder unter die Historiker zu setzen sei, auch vomDiebstahl des Virgilii und in welchem Monat des Jah-res er gestorben, und dergleichen mehr.

Die Grammatici streiten unter sich, was für einAutor die elegischen Verse zuerst herausgegeben, undist dieser Streit noch die Stunde nicht geendigt. AlleCarmina aber der Poeten sind mit Fabeln angefüllet,welche mit Schmeichelei oder Verleumdung die Leutezu delektieren suchen. Was die Poeten tun, sie mögenloben, mit ihren Fabeln schmeicheln, auch wiederumschelten, beissen, anklagen, und andere Leichtfertig-keiten anziehen, so sind sie doch allezeit unsinnig.Dahero hat der Democritus die Poesie nicht eineKunst, sondern eine Raserei und Unsinnigkeit

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genennet.Und dieses ist des Platonis Meinung davon: Frustra

Poeticas fores compos sui pepulit; das ist: der seinerVernunft mächtig ist, klopft umsonst an der PoesieTüren. Sie meinen, wenn sie so berauscht und unsin-nig sind, dass sie wundersame Dinge vorbringen. Da-hero nennt der Augustinus die Poesie einen Wein desIrrtums, welcher von den trunkenen Lehrern ist ihnenzugebracht worden; und Hieronymus tituliert die Poe-sie eine Teufelsspeise. Überdies ist sie gar eineschlechte und geringe Kunst, und für sich eine unge-salzene Speise, welche, wenn sie nicht mit einer an-dern Disziplin gekocht oder gewürzt, nichts als fürein hungrig Wesen, so sich nach andern sehnt, gehal-ten werden müsse, oder wie eine Maus das fremdeBrot frisset. Ich weiss aber fürwahr nicht, was mittenunterm Geschwätz und Fabeln von des Tithonis Heu-schrecken, von der Lyciorum Fröschen, und der Mir-midonum Fliegen, einer dieser Kunst für einen un-sterblichen Ruhm und Ehre zuzuschreiben sich unter-standen hat, wenn er nachfolgendes schreibt:

Vivite felices, si quid mea Carmina possunt,Nulla dies unquam memori vos eximet aevo.

Das ist: So lebet alle wohl und wenn meine Car-mina bei euch etwas gelten, so werdet ihr ohne

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Zweifel bei der Nachwelt einen unsterblichen Ruhmerlangen. Welches doch wahrlich an sich selber nichtsist und auch nichts werden wird. Aber die Historicilehren uns, dass dieses Amt nicht der Poeten, sonderndas ihrige sei.

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Kapitel V.

De historiaoder

Von der Geschichtschreiberei

Es ist aber die Geschichtschreiberei ein Erzählunggeschehener Dinge, welche entweder gelobet oder ge-scholten werden, auch wichtiger Händel, Ratschläge,Tun und Ausgänge der Könige und grosser LeuteTaten, nach Ordnung der Zeit und Orter, sonderlicheBeschreibung, durch welche uns dieselben dergestaltabgemalet und vor Augen gestellet werden, als wennsie lebendig wären.

Derowegen halten fast alle dafür, dass diese eineMeisterin des Lebens, und zu unserm Tun die aller-nützlichste sei, weil dieselbe durch vieler Sachen Ex-empel uns zu einem unsterblichen Namen und schö-nen Taten anreizet, also, dass sie auch bisweilenleichtfertige und böse Leute aus Furcht der ewigenSchande von den Lastern abhält, obgleich dieses zumöftern einen ganz andern Ausgang genommen hat.

Denn es sind ihrer viel, welches Livius von demManlio Capitolino wahrgenommen, die lieber einengrossen als guten Namen haben und hinter sich lassen

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wollen, auch andere, wenn sie nicht durch Tugendensich bekannt machen können, doch durch Laster undböse Taten in der Welt berühmt zu machen sich be-mühen. Es beschreibt Justinus in seinen Geschichtenvon dem Pausania Macedona, einem Jüngling, denKönigsmord des Königs Philippi; er erzählt auch vondem Herostrato, welcher den Tempel der Dianae zuEphesien, ein unter der Sonne fast schönstes Werk,und daran ganz Asien über 200 Jahre gebaut, ange-zündet, wie Gellius, Valerius und Solinus gleichfallsdavon Meldung tun, und obwohl durch scharfe Geset-ze verboten worden, dass niemand diesen leichtferti-gen Buben nennen, oder dessen in seinen Schriftengedenken solle, so hat er doch seinen Endzweck, undwarum er diese verbrecherische Tat verübt, erlangt,nachdem er durch seinen bösen Nachklang dieses Ge-schrei auf uns durch soviel Secula gebracht.

Aber dass wir zur Geschichtschreiberei wiederkommen, obgleich von dieser eine zierliche Ordnung,Glauben, Einstimmigkeit und Wahrheit der Sachenam meisten erfordert wird, so tut sie doch hierinnichts weniger als dieses. Denn die Historienschreibersind so diskrepant und schreiben so divers und aufunterschiedliche Arten untereinander, dass es unmög-lich scheint, und man fast notwendig dafür haltenmuss, dass die meisten unter ihnen die allerverlogen-sten unter den Leuten sein müssen. Ich will jetzt

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nichts sagen vom Anfang der Welt, von der allgemei-nen Sündflut und Gründung Roms, denn davonschreiben sie, und ist doch das erste ihnen alles ver-borgen, das andere glauben nicht alle, und das dritteist bei ihnen ganz ungewiss. Derowegen, weil diesesSachen sind so weit entfernt, und mit gleicher Ver-nunft von allen nicht können begriffen werden, so ver-dienen sie noch etlichermassen Vergebung ihrer Irrtü-mer, aber von andern darauffolgenden Geschichtenmuss ihnen die Schuld der Lügen beigemessen wer-den. Der Ursachen aber solcher Nichtübereinstim-mung gibet es gar viel, denn die meisten, weil sienicht zu derselben Zeit gelebt oder an demselben Ort,oder bei denselben Personen und Geschichten gewe-sen sind, so haben sie ihre Schriften aus andern Rela-tionen zusammentragen müssen und können daheronichts Gewisses und Beständiges schreiben. DiesesLasters wurde vom Strabone beschuldigt der Erato-sthenes, Metrodorus, Poseidonius und der GeographPatrocles. Andere sind, wenn sie nur ein Teil der Sa-chen und gleichsam nur im Vorbeigehn gesehen, undwie die Bettler das Land und Armenhäuser durchstri-chen haben, die unterstehen sich Historien zu schrei-ben.

Auf solche Art hat vor Zeiten Onosicritus und Ari-stobulus von India geschrieben. Es gibt ihrer auch,die bloss zur Zierat und Belustigung den wahren

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Geschichten Lügen zusetzen, oder die Wahrheit garvorbei gehen, von welchen Diodorus Siculus geden-ket, und den Herodotum deswegen straft, wie auch Li-borianus und Vopiscus den Trebellium, Tertullianusund Orosius den Tacitum, zu welchen wir auch ge-setzt haben den Danudem und Philostratum. Ja, esgibt ihrer auch, die aus wahrhaften Dingen Fabelnmachen, als Gnidius, Cresias, Hecatäus und viel an-dere alte Historienschreiber. Es gibet ihrer auch viel,welche sich für Historienschreiber ausgeben, unddamit sie hohe Wissenschaft an Tag bringen möchten,so schreiben sie von unbekannten Ländern, in welcheniemand lebenslang kommen ist, aber nichts anderesals grausame Lügen; wie zu lesen ist von den Pig-moeen, Arimaspis, Gryphis, Kranichen, Cynocephalisund Troglodytis, und diesen Irrtümern pflichten auchbei, welche so grosse Kälte über dem ArktischenMeere statuieren, gleichwohl aber finden diese nochNarren und einfältige Menschen, welche diesen allen,gleich als wenn es aus dem Oraculo geredet wäre,Glauben beimessen.

Der Arrianus, ein Grieche, hat den Sitz der Deut-schen nicht weit von Ionio statuiert, mit welchemauch in diesem Stück übereinkommt der Dionysius,welcher von dem Pyrenäischen Gebirge ganz falscheSachen geschrieben und an Tag gebracht hat. Wasüber dieses Cornelius Tacitus, Marcellus, Orosius

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und Blondus von vielen Örtern in Deutschland schrei-ben, das kommt von der Wahrheit weit ab.

Also schreibt Strabo ganz falsch, dass die Donaunicht weit von dem Adriatischen Meer entspringe, undHerodotus, dass solche von Abend herfliesse und dasssie bei den Kelten, ist ein Volk in Frankreich, ent-springe und in Skythien hineinginge; und wiederumStrabo schreibt, dass die Lippe (?) und Weser bisnach Hanau fliesse, da doch die Lippe mit dem Rheinsich vermengt, die Weser aber ins Meer fliesst. Alsoauch Plinius schreibet, dass die Maas in den Ozeanoder ins grosse Meer fliesse, da sie doch in den Rheingehet. Mit eben dergleichen Irrtümern aus den neuenHistorien und Weltbeschreibern hat der Sabellicusstatuiert, dass die Alanen, ist ein skytisch Volk, vonden Alemannen oder Deutschen herkämen, und dieHungarn von den Hunnen. Ja dieser konfundiert dieGoten mit den Geten und die Dänen mit den Dacisoder Wallachen, und sagt, dass der Berg Oetiliae inBayern liege, da er doch nicht weit von Strassburg zusehen ist.

Conradus Celtes hält dafür, dass die Dacier mit denCimbern einerlei Volk wären, wie auch die Cheruscierund die Cerusier, auch dass das Riphäische Gebirgein Sarmatia liege, und der Agtstein ein Gummi ausden Bäumen wäre. Es sind noch ehender Historien-schreiber, welchen noch grössere Lügen können

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beigemessen werden. Denn ob sie gleich bei einerSache gewesen, oder dass sie anders geschehen sei,selbst gesehen, so bringen sie doch entweder ausGunst oder aus Liebkosen und Schmeichelei lauterfalsche Sachen wider die Wahrheit an den Tag; vondieser Art sind auch, welche parteilich die Sachen ta-deln oder defendieren, und nur dasjenige vorbringen,was ihrem Vorhaben gutdünkt, das Wahrhaftige abergehen sie entweder gar vorbei oder machen es ganzgering und mangelhaft.

Dieses Lasters beschuldigt Blondus den Orosium,dass er die grosse Niederlage in Italien, da die GotenRavennam, Candanum (?), Aquilegiam, Ferrariamund fast ganz Italien verwüstet, verschwiegen, damiter seine vorgesagte Absicht dadurch nicht geringermachen möchte. So sind auch andere, die entwederaus Furcht oder aus Heuchelei, oder aus Hass derWahrheit derselben etwas abzwacken; andere, indemsie die Taten ihrer Landsleute in den Himmel heben,verkleinern sie der andern ihre und machen sie gering,schreiben also nicht, wie die Sache an sich selber ist,sondern wie sie es gerne hätten, dass sie sein sollte,und wie es ihnen beliebt, und haben dabei die Zuver-sicht, dass diejenigen, welche sie so artig geschmei-chelt haben, ihren Lügen nicht werden widersprechenoder Zeugnis wider sie geben. Dieses Laster, welchesvor Zeiten bei den griechischen Skribenten gemein

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gewesen, ist heutiges Tages fast bei allen Völkerneingerissen, und werden diese Historienschreiber vonden Fürsten zu keinem andern Ende unterhalten, alsdass, wie Plutarchus sagt, sie durch ihre nachsinnigenKöpfe anderer Leute Tugenden unterdrücken, ihreTaten aber mit lauter unnützem Geschwätz und Er-dichtungen durch ihre historische Autorität erheben.Also, wenn die griechischen Historici von Erfindungder Sachen schrieben, so massten sie sich selbst alleErfindung bei. So ist auch eine andere verderbte Artder Historienschreiber und Schmeichler, wenn sie sichunterstehen, den Ursprung ihrer Fürsten auf die älte-sten Könige zu extendieren, und wenn sie mit Dedu-zierung ihres Geschlechtes nicht können fortkommen,so muss ein fremder Urstamm und weithergeholte Fa-beln herhalten, dichten den Königen neue Namen anund lügen nicht wenig dazu.

Überdies gibet es derer auch viel, die solcherlei Hi-storien schreiben, welche nicht das, was wahr ist, anTag bringen wollen, sondern damit sie nur den Lesererlustieren und das Bildnis eines wackeren Fürsten, inwem sie wollen, exprimieren und erdichten mögen.Wenn nun einer gefunden wird, der sie einer Lüge be-zichtigt, so sagen sie, dass sie nicht sowohl auf dieTaten an sich selbst, als auf den Nutzen der Posteritätund Lob eines guten Namens ihr Absehen gehabt hät-ten. Derowegen wäre es nicht ratsam, alles zu

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erzählen, wie es zugangen, sondern wie es zu erzählenfür ratsam könnte befunden werden. So müsste manauch nicht auf die Wahrheit so halsstarrig und erpichtsein, wenn wegen des gemeinen Nutzens viel mehreine Lüge und Erdichtung erfordert würde; sie rufenzum Zeugen an den Fabium, welcher gesagt: »EineLüge, so zur Überredung ehrlicher Sachen gebrauchtwürde, wäre nicht zu tadeln.« Überdies sagen sie,würden diese Sachen alle unsern Nachkommen ge-schrieben, denen wenig oder nichts daran liege, mitwas für Art ein Exempel eines guten Fürsten dem ge-meinen Wesen vorgestellt würde. Dergleichen hatgetan der Xenophon von dem Cyro, welcher densel-ben nicht, wie er gewesen, sondern wie er hat seinsollen, als ein Exempel und Vorbild eines tapferenFürsten, aber ohne Grund der Wahrheit, in seinen Hi-storien uns vor Augen gemalt und beschrieben.

Dahero ist es endlich geschehen, dass viel, die vonNatur oder durch Kunst artig zu lügen gewusst, mitihren scheinbaren Argumenten fabulische Historiengeschrieben, wie sie solche Narrenspossen als derMorganae und Magelonae, Melusinae, des Amadisi,Florandi, Tyranti, Conamori, Arthuri, Dietheri, Lan-celoti, Tristani, oder gar nichtswürdige Fabeln underdichtete Schwärmereien, schlimmer als alle Fabelnder Dichter, an Tag gegeben. Ja auch bei den Gelehr-testen und Vornehmsten als dem Luciano und

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Apulejo, wie auch bei dem Herodoto, dem Grossvaterder Historienschreiber, bei dem Theopompo, wie Ci-cero sagt, sind unzählige Fabeln zu finden, und ihreBücher aller Lügen voll; da lesen wir Wundersachenvon Bergen und Flüssen und was sonst das verlogeneGriechenland in den Historien sich untersteht. Unddieses sind die Ursachen, warum fast nirgends ein hi-storischer Glaube gefunden wird, den man doch aller-dings da suchen sollte, obgleich davon zu urteilen unsschwer fällt. Denn, weil die Beschreibung solcher Sa-chen, welche entweder wahr oder unwahr sind, nichtöffentlich geschieht, und einem jeden seine Meinungzu lassen ist, so haben sie dadurch die Macht, zu irrenund zu lügen, erlanget; dahero bei den Historien-schreibern so eine grosse Uneinigkeit entstanden, dass(wie Josephus sagt wider den Appionen) sie in ihrenBüchern sich selbst des Irrtums überführen; also, dasssie das Contrarium von ihren Sachen schreiben. Wieweit, sagt eben dieser, diskrepieret der Hellanicus vondem Agesilao von der Genealogia, wie oft korrigiertder Agesilaus den Herodotum, und wie artig weist derEphorus, dass der Hellanicus in vielem ein Lügnergewesen sei. Den Ephorum tadelt der Timäus, diesendie nach ihm kamen, den Herodotum aber alle. Sol-ches schreibt der Josephus von andern, diesen abertadelt unser Egesippus. So erzählen auch viel Histori-enschreiber viel Dinge, aber sie beweisen nicht alles,

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oder beweisen oftmals solche Sachen, die ganz nichtzu approbieren; die meisten stellen uns Exempel vordie Augen, die doch böse sind. Denn wenn sie denHerculem, Achillem, Hectorem, Theseum, Epaminon-dam, Lysandrum, Themistoclem, Xerxem, Cyrum,Darium, Alexandrum, Pyrrhum, Hannibalem, Scipio-nem, Pompejum, Caesarem mit trefflichem Lobe ab-malen, so beschreiben sie nichts anderes als diegrössten Strassenräuber und berühmtesten Diebe inder Welt, und lass es sein, dass sie auch gute Regen-ten anfänglich gewesen sind, so sind sie doch dieschlimmsten und ärgsten hernach worden. Und soeiner zu mir etwa sagen wollte, dass man aus demLesen der Historien die beste Weisheit erlangen könn-te, so will ich ihm dieses nicht ganz und gar verleug-nen, wenn er mir nur auch dieses zugibet, dass mandaraus auch den grössten Schaden, ja oft den Unter-gang selbst schöpfen kann. Dahero sagt Martialis aneinem Orte: Sunt bona multa, sunt mediocria multa,sunt mala multa, das ist: Es sind viel gute Sachen,viel mittelmässige, viel böse.

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9.630 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 49Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel VI.

De rhetoricaoder

Von der Redekunst

Ob die Rednerkunst, welche auf die Historie dienächste ist, eine Kunst sei oder nicht, davon wirdunter wackeren Leuten gestritten, und ist der Streitnoch vor dem Richter. Der Sokrates, bei dem Platone,will mit festen Gründen behaupten, dass es wedereine Kunst, noch eine Wissenschaft, sondern nur eineScharfsinnigkeit und Listigkeit sei, die weder löblichnoch ehrbar, sondern vielmehr schändlich und einegarstige servilische Schmeichlerei nach sich zieht.Auch Lysias, Cleanthes und Menedemus haben dafürgehalten, dass die Beredsamkeit aus keiner Kunst,sondern vielmehr von der Natur herrührt, welcheeinem jedweden lehrete, wann es vonnöten wäre, zuschmeicheln und annehmliche Sachen vorzubringen,und dieselben mit Beweistümern zu bekräftigen. Dennder rechte Vortrag und der treffliche Gebrauch desGedächtnisses kommt nirgends anders her als von derNatur, welches man bei dem Antonio, dem vornehm-sten römischen Redner, wahrgenommen hat.

Auch als für alten Zeiten noch niemand von derPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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Rednerkunst geschrieben oder dieselbe gelehrt, so hatman viel der beredtesten Leute gefunden. Weil nundiese Kunst beschrieben wird, dass sie sei eine Zu-sammensammlung gewisser Gebote, die auf ein glei-ches Ende zielen, so streiten die Redner diese Stundenoch, was diese Kunst vor einen endlichen Zweckhabe, ob es Überreden sei oder Wohlreden; und siebrauchen neben den wahren Ursachen auch erdichtete.

Überdieses, so haben sie so viel Sätze und Gegen-sätze, so viel Figuren, Umdrehungen, Charakteres,Strittigkeiten, Lobe und künstliche Überredung erfun-den, die man fast nicht zählen kann, und gleichwohlleugnen sie selbst, dass der rechte Endzweck dieserRednerkunst noch nicht an Tag kommen ist. Ebendiese Kunst improbieren die Lazedämonier und haltendafür, dass eine Rede eines rechtschaffenen Menschennicht von der Kunst, sondern aus dem Herzen notwen-dig müsste herkommen. Auch die alten Römer habenerst gar sehr spät die Rhetores oder Redner in ihreStadt gelassen, als nach vielfältigem Streit Cicero sichunterstanden hat, zu beweisen, dass die Art undMacht, wohl zu reden, nicht sowohl aus der Kunst,als aus der Menschen natürlichem Nachsinnen her-komme. Dahero hat er ein Buch von einem perfektenOratore geschrieben. Dieser Redner aber, den er alldaals ein Muster gleichsam fabriziert hat, ist nicht vonallen gebilligt worden. Ja, dem Bruto selbst, einem

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sonderlich aufrichtigen Manne, ist derselbe sehr ver-dächtig vorkommen, und hat dieser allezeit, dass derRedner Lehre und Gesetze dem menschlichen Lebenmehr schädlich als nützlich seien, behauptet. Ja, end-lich die reine Wahrheit zu bekennen, so ist die ganzeDisziplin der Rhetorica eine Kunst zu schmeichelnund zu überreden, oder dass ich ein wenig freier rede,zu lügen, also dass was man nicht durch die Wahrheitausrichten kann, das muss durch eine angestricheneund gefärbte Rede geschehen, wie von dem Pericle,dem Redner, der Archidamus sagt (davon Eunapiusmeldet) dass, als er gefragt wurde, wer unter ihnen derMächtigste wäre, so hat er geantwortet: Obgleich derPericles im Kriege von mir überwunden worden, soist er doch mit einer solchen Beredsamkeit begabt ge-wesen, dass er scheinbar beigebracht hat, er wärenicht der Überwundene, sondern der Überwinder.

Auch sagt Plinius von dem Carneade, dass, wenner durch seine Rednerkunst argumentiert hätte, sohätte man nicht können unterscheiden, was wahr odernicht wahr gewesen; von diesem saget man, dass, alser von der Gerechtigkeit schön und weislich öffentlichdiskurieret, so hätte er tags darauf nicht mit geringererGelehrsamkeit und Weitläuftigkeit das Contrariumbehauptet. Bei den Syrakusern ist Corax ein Rednerhohen Verstandes und artlicher Zungengeschwindig-keit gewesen, welcher diese Kunst ums Lohn einem

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gelernt; als zu diesem der Thisias gekommen, und denLohn, den er ihm zu geben versprochen, nicht also-bald parat hatte, hat er ihm denselben doppelt ver-sprochen, wenn er ihm die Rhetoricam recht lernenwürde, welches auch Corax mit dieser Kondition an-genommen. Nachdem nun Thisias diese Kunst gelerntund den Meister um seinen verdienten Lohn zu brin-gen gesucht hatte, hat er gefragt, was doch endlich dieRhetorica sei? Hat er geantwortet: sie sei eine Meiste-rin, zu überreden. Da hat er seinem Praeceptori diesesArgument gemacht: Quodcunque igitur de mercededixero, si tibi me nihil debere persuasero, nihil debeo,quia non debere persuasi; si non persuasero, non de-bebo etiam, quia me scire persuadere non docuisti.Das ist: Was ich werde vom Lohne sagen, wenn ichdich werde überredet haben, dass ich dir nichts schul-dig bin, so bin ich dir auch nichts schuldig, weil ichdich so überredet habe. Wenn ich dich aber nichtüberredet habe, so bin ich dir auch nichts schuldig,weil du mir die Kunst, zu überreden, nicht recht geler-net hast.

Darauf hat Corax dieses Argument auf Thisiamgleich retorquiert: Ouodcunque ego quoque de mer-cede dixero, si me accepturum persuasero, accipiam,quoniam persuasi. Si non persuasero, etiam acciperedebeo, quoniam tantum discipulum erudivi, qui prae-ceptorem superaret. Das ist: Was ich werde vom

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Lohn sagen, wenn ich dich werde überredet haben,dass ich solches zu bekommen hätte, so will ich esauch nehmen, weil ich dich überredet habe. Wenn ichdich aber nicht überredet habe, so kann ich es dochauch nehmen, weil ich einem Discipul soviel gelernt,dass er seinen Praeceptorem übertroffen hat.

Als die Syrakuser gehört, dass sie miteinander mitsolchen umgekehrten Argumenten gestritten haben,haben sie laut angefangen zu rufen: Mali corvi,malum ovum. Böse Raben, böse Eier, und damit zuverstehen gegeben: Böse Praeceptores machen böseDiscipul. Dergleichen Historie erwähnt Gellius vondem Redner Protagora und von dem Euathlo seinemDiscipul. Es ist zwar schön, lustig und nützlich, wennman die Worte schön und zierlich führen kann, zu-weilen aber gar unzeitig und schädlich; zum öfterenaber gefährlich und allezeit suspect. Derohalben hatSokrates selber solche in keiner Aestime gehalten,und dass man sie in einer wohlbestellten Republik zukeiner Gewalt und Macht soll kommen lassen, geleh-ret. Plato hat dafürgehalten, dass man die Rhetoresmit den Komödianten und Poeten aus seiner Republikausschliessen sollte, und zwar nicht mit Unrecht; dennbei den bürgerlichen Ämtern ist nichts Gefährlicheresals diese Kunst. Von dieser kommen die Praevaricato-res, oder die bei einer Sache Ausflüchte suchen. DieCalumniatores oder Lästerer, die Sycophanten oder

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betrüglichen falschen Ankläger und andere leichtfer-tige Zungen.

Denn welche dermassen damit begabt sind, die er-wecken gemeiniglich Aufruhr, und betrügen dieseSpottvögel andere mit ihrer künstlichen Wäscherei,andern schmeicheln sie und gebrauchen sich bei denUnschuldigen einer wütenden Tyrannei. Dahero hatder Euripides wohl recht gesagt: viel wissen zu redenist etwas tyrannisch; und der Aeschylus hat die aufsolche Art zusammengesetzten Reden das Schändlich-ste unter allem Rosen genannt. Der Raphael Volater-ranus, welcher sich der Historien und Exempel beflis-sen, hat bekannt, dass, soviel er gelesen und der altenund neuen Exempel zusammengetragen, hätte er unterden beredten Leuten die wenigsten gut befunden.Mein! sind nicht durch dieselben die grössten Repu-bliken oft trefflich geplaget, oder zuweilen gar ausge-rottet worden?

Dieser Sache sind uns Vorbilder und Exempel dieBruti, Cassli, Gracchi, Catones, Cicero, Demosthe-nes, welche, wie sie für die Beredetesten, also sind sieauch für die Aufrührigsten unter allen gehalten wor-den.

Denn der Cato Censorius, welcher, indem er vier-zigmal ist angeklagt worden, hat er siebzig und mehrAngeklagte gemacht, und hat in seinem ganzen Lebenmit seinen unsinnigen Orationen die ganze Ruhe der

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Republik verstöret; und hat der andere Cato, der vonUtica, den Kaiser rausgefordert, die ganze römischeFreiheit von Grund aus umgekehrt.

Nicht viel weniger hat Cicero den Antonium zumSchaden der Republik und Demosthenes den Philip-pum zum Untergang der Athenienser rausgefordert.Endlich ist ja keine Republik, welche nicht durchdiese Kunst ist einmal umgekehrt, oder keine, so aufdiese Kunst gehöret, unangetastet geblieben. Auchkann die Beredsamkeit bei Gericht viel tun; durchdiese Wortrednerin werden viel böse Sachen defen-diert, der schuldig Beklagte wird oftmals losgelassen,und der Unschuldige zum öftern verdammt.

Marcus Cato, der Klügste unter den Römern, hatverboten, die drei Redner zu Athen, als den Carnea-dem, den Critolaum und den Diogenem öffentlich inder Stadt Rom zu hören, welche mit einer so scharfenVernunft, Beredsamkeit und Eloquenz sind begäbetgewesen, dass sie einem gar leicht billige und unbil-lige Sachen haben bereden können. Es ist bekannt,dass der Demosthenes bei seinen Freunden sich be-rühmet habe, dass, wenn er wollte, so könnte er durchseine Rednerkunst die Urteile der Richter nach seinemWillen umdrehen, wie er wolle. Nach dessen Gefallenist bei den Atheniensern mit dem Philippo oft Krieg,oft Friede worden; so eine Macht zu reden hat er ge-habt, dass er der Menschen Affekten stillen und

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wieder erwecken können und hat die Gewalt überseine Bürger gehabt, wie er gewollt.

So ist auch wegen dergleichen sonderlichen Bered-samkeit der Cicero zu Rom von den meisten einKönig genennet worden, weil er mit seiner Redekunstalles regiert und den Rat hingekehrt, wo er hin be-gehrt. Dahero ist es klar genug, dass diese Kunstnichts anders sei als eine Kunst zu überreden, und dieAffekten zu bewegen mit einer subtilen Beredsamkeit,artigem Betrug und Listigkeit, mit welchem sie dieGemüter der Unvorsichtigen auf solche Art zu sichziehen und mit Verkehrung der Wahrheit in das Ge-fängnis des Irrtums führen. Aber wenn durch Güteund Hilfe der Natur keine Sache nicht mit Wahrheitund wie sie an sich selbst ist, soll ausgesprochen wer-den, was ist doch also dann schädlicher, als solcherangestrichenen Worte sich zu befleissigen.

Die Rede der Wahrheit ist an sich selber zwarschlecht, aber lebhaft und durchdringend, welche alseine Herzenserkundigerin gleichsam wie eine Axtoder Schwert alle künstliche und subtile Redner-schlüsse leicht auf einmal abschneiden und übernHaufen werfen kann.

Dahero Demosthenes, als er alle andere künstlicheRedner gering geachtet, fürchtete er sich doch für deneinzigen Phocionem, weil er nur schlechthin und kurzdie Wahrheit aufrichtig gesagt; derowegen er ihn das

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Beil seiner Reden genennet. Vielleicht wussten dieguten alten Römer dieses, als sie die Redner, wie Sue-tonius bezeugt, zweimal aus der Stadt Rom, einmalunter dem Bürgermeister C. Fannio Strabone und M.Valerie Messala, und wiederum einmal unter dem Cn.Domitio Aenobarbo und L. Licinio Crasso durch einöffentliches Edikt weggeschafft; drittens als sie unterdem Kaiser Domitiano durch einen allgemeinen Rat-schluss nicht allein aus der Stadt Rom, sondern ausganz Italia sind ausgetrieben worden. Die Athenienserhaben ihnen als Verkehrern der Gerechtigkeit dasRathaus verboten, und den Thymagoram, weil er denKönig Darium nach Perser-Art gegrüsset, und zu-gleich ihn mit angestrichenen schönen Reden ge-schmeichelt, am Leben gestraft. Die Lazedämonierhaben den Ktesiphonem aus der Ursach weggeschaf-fet, weil er sich gerühmet, dass er von einer jedenSache, sie möchte sein wie sie wollte, einen ganzenTag lang reden könnte.

Denn es ist bei denselben nichts verdächtiger ge-west als die kuriose Rednerkunst derjenigen, welchenkein Ernst gewesen ist, die Wahrheit zu sagen, son-dern eine schlechte Sache vorzubringen, und dieselbemit lauter anreizenden und bravierenden Worten zuerheben, und mit einer Schmeichelei und angestriche-nen Süssigkeit die Gemüter der Zuhörer zu betrügen,und nach ihrer Zunge derselben Ohren zu leiten. So

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ist es ja auch offenbar, dass keiner durch diese Kunstist frömmer worden, viele aber böser und schlimmer.Denn obgleich sie von den Tugenden zierlich redenkönnen, so sind sie auch dabei vielmehr geschickt undbeflissen, Irrtümer zu defendieren, Streit und Aufruhrzu erwecken, Kalumnien und Lästerungen vorzubrin-gen, als etwan Friede, Ruhe, Einigkeit, Glauben undLiebe zu erwecken und zu erhalten. Ferner sehen wirdass viel, die sich auf diese Kunst verlassen, von demwahren Glauben abgewichen, dahero nichts als Irrtumin der Religion, Aberglaube und Ketzereien entstan-den, indem etliche derselben die Heilige Schrift, weilsie nicht mit einer Ciceronianischen Beredsamkeitoder Zierde geschrieben, also verachtet, dass sie mitihren angestrichenen Argumenten und heidnischenÜberredungen oftermals wider den allgemeinen katho-lischen Glauben was statuiert haben, welches für-nehmlich bei den Tatianischen Ketzern offenbar ist;oder auch bei denen, welche die Redner Libanius undSymmachus als Schmeichler der Götzen, wie auchCelsus Africanus und Julianus Apostata, die widerChristum mit ihren rhetorischen Fratzen aufgestan-den, verführt haben; und von dieser schädlichen undblasphemischen Beredsamkeit haben die Ketzer her-nachmals ihre Beweistümer hergenommen, damit dieOhren einfältiger Leute voll gemacht, und sie ganzvon dem Wort der Wahrheit abgeführt.

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Also sind ihrer heutigen Tages1 noch viel, die derBeredsamkeit ergeben; indem sie wollen Ciceronischwerden, so werden sie Unchristen, und indem sie inAristotele oder Platone studieren, so werden sie aber-gläubisch und gottlos. Aber alle diejenigen, welcheüber die schlechten Worte der Wahrheit vergeblicheReden in die Ohren der Menschen auf solche Art ein-geflösst haben, werden dermaleinst für Gericht ste-hen, und von dem, was sie so vergeblich gemutmassetund wider Gott gelogen haben, schwere Rechenschaftgeben müssen.

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Kapitel VII.

De dialecticaoder

Von der Vernunft- und Disputierkunst

Diesen kommt zu Hilfe die Dialectica oder Dispu-tierkunst, welche auch nichts anders ist, als einKunststücklein voller Zank und Ungewissheit, unddurch welche die andern Wissenschaften alle verdun-kelt und schwerer gemacht werden. Diese nennt sichauch die Logica, nämlich die Wissenschaft, einenguten Schluss zu machen. Aber das müssen fürwahrelende und unvernünftige Leute sein, die ohne dieserDisziplin nicht wissen ihre Vernunft zu gebrauchen,obgleich der Servius Sulpitius diese die grösste unterallen Künsten und ein Licht der Aufklärung genennet,weil dieselbe, wie Cicero spricht, alle Sachen weissauszuteilen, und dasjenige, was uns verborgen unddunkel scheint, klar zu machen, von allen Sachen Re-guln zu geben, was wahr oder falsch sei. So verspre-chen nun die Dialectici, dass sie eines jedweden Din-ges wahre und rechte Beschreibung und Definition er-finden können, und wissen doch mit ihren Wortensolches so wenig klar zu machen, dass das Gemütnicht ebensowohl in Ungewissheit bleiben und

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vielmehr sagen sollte: welcher Idiote versteht nicht,dass wenn sie den Menschen ein vernünftig Tier nen-nen, nicht eben das sei, als wenn sie ihn nur einenMenschen schlechtweg nennten! Von diesen Sachenhat unter den Lateinern am meisten Boëthius ge-schrieben, dessen Bücher aber man nicht haben kann;doch geht allen vor dasjenige, was Aristoteles vonPrädikamenten usw. auf die Bahn gebracht; welchenhernachmals die Peripatetici gefolgt und gemeinthaben, man könnte nichts wissen, es könnte auchnichts bestehen, welches nicht durch einen Syllogis-mum könnte bewiesen werden und zwar durch einensolchen, welchen der Aristoteles gelehrt, da doch die-selben von ihnen durch gewisse Präsupposita verführtwerden. Diesem haben auch gefolgt, die durch dieseWissenschaft etwas versprochen, und doch bisher ent-weder keine oder wenig wahre Demonstrationes unsgezeigt haben; und zwar nicht einmal in natürlichenSachen, sondern alle haben ihren Witz in dieser Sachehergenommen von den Satzungen, so ihnen Aristote-les oder ein anderer, der vor ihnen gewesen, gegebenhat; dessen Autorität halten sie vor Principia ihrer De-monstrationes. Die wahre Demonstration aber, welcheuns nach ihrer Meinung eine Wissenschaft bringensoll, lehrt Aristoteles, sei diejenige, welche geschiehtdurch die Quidditates, wie die Dialectici reden, unddurch solche eigentliche Unterschiede der Sachen,

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welche uns ganz unbekannt und verborgen sind.Weil nun der Ursprung solcher Demonstrationen

meistenteils unbekannt ist und die Conversion nichtzugelassen wird, so kann man ja keine gewisse Wis-senschaft haben; denn man muss glauben den Demon-strationen, welche durch Ungewisse und zerbrechlichePrincipia hergenommen sind und welchen nur wegender Autorität des Lehrmeisters geglaubt werden muss,oder welche durch die Erfahrenheit unserer Sinne magapprobiert werden. Denn jedwede Wissenschaft, wieman sagt, kommt von der Vernunft her, und die Er-fahrenheit eines wahren Wortes, wie Averroes sagt,ist, dass sie mit den Sinnen übereinstimmet; je mehrSinne zusammenstimmen, desto wahrer und bekannterdie Sache; denn durch unsere Sinnlichkeit werden wirgleichsam als wie mit der Hand geleitet auf alle dieje-nigen Sachen, welche wir wissen können. Weil abernun uns unsere Sinne oftermals betrügen, so könnensie auch keine reine und wahre Erfahrenheit ausbrin-gen. Wenn überdies die Sinne den rechten natürlichenVerstand einer Sache nicht können begreifen, und dieUrsachen, aus welchen der Natur Wirkungen und Ei-genschaften hätten sollen demonstriert werden, un-serm Verstande ganz unbekannt sind, so ist ja derWeg der Wahrheit den Sinnen ganz verschlossen. Da-hero alle diejenigen Ableitungen und Wissenschaften,welche in unsern Sinnen so harte sind eingepräget, die

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sind alle ungewiss, falsch und betrüglich.Was haben wir denn nun für Nutzen aus der Dia-

lectica? Was für Früchte haben die Demonstrationesaus denen Principiis und Erfahrungen, welchen wirnotwendig Beifall geben sollen? Kann man denn nichtdurch die Erfahrenheit mehr als durch diese Demon-stration wissen und begreifen? Aber wir wollen nundiese Kunst ein wenig weiter herholen. Die Dialecticihaben zehn Praedicamenta, welche sie Genera genera-lissima nennen, und diese werden genennet Substan-tia, Quantitas, Qualitas, Relatio, Quando, Ubi, Situs,Habitus, Actio, Passio, aus welchen, wie sie vorge-ben, muss alles hergeholt und verstanden werden, wasin dem ganzen Umkreise der Welt enthalten ist, undweisen uns dabei noch fünfe, welche von ihnen müs-sen bejahet werden, als da ist: Genus, Species, Diffe-rentia, Proprium und Accidens, welche deswegenPraedicabilia genannt werden.

Mehr haben sie erfunden einer jedweden Sache vierUrsachen: Materialem, Formalem, Efficientem undFinalem, durch welche sie behaupten wollen, dass dieWahrheit und Falschheit aller Sachen könnte erfor-schet werden, und zwar mit einer untrüglichen De-monstration, wie sie meinen, und dieses wird ein Syl-logismus genannt, welchen sie aus drei Terminis her-suchen. Der erste, als das Subjectum, wird genennetMinor; der andere, als das Prädicatum, Major; der

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dritte ist das Mittel oder Medium concludendi, wel-ches von beiden partizipieret, daraus werden zweiPropositiones formieret, welche von ihnen Prämissägenannt werden, und aus diesen allen entsteht endlichdie Konklusion: das ist also ihr Kunststück ganz undgar, und die Grenzsteine, womit sie alle Sachen abzu-teilen, zu dezidieren und gleichsam durch gewisseAxiomata oder glaubwürdige Sprüche zu widerlegengedenken.

Da sehet nun die ungeheuere und vortreffliche Ge-heimnisse der logistischen Kunst, welche sie mit gros-ser Arbeit von ihren betrügerischen Lehrmeistern ge-lernt, auch gleichsam als verborgene Geheimnisse undArcana nicht jedweden als nur etwan diesen, von wel-chen sie grosse Belohnung zu hoffen, lernen wollen.Endlich geben sie vor, dass sie die Hunde wären,womit aller Sachen Wahrheit, der physikalischen, dermathematischen und metaphysikalischen, erjagt wer-den müsste. Da sie doch vielmehr durch dieses ver-meinte Kunststück, nach des P. Clodii und VarronisSprichwort, mit all zuvielem Zanken die Wahrheitverlieren. Und dieses ist vor diesesmal nur in denSchranken der alten Disputierkunst geblieben.

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Kapitel VIII.

De sophisticaoder

Von der betrüglichen Weltweisheit

Aber viel mehr Wunderwerke und grössere Zeichensetzt hierzu die neue Schule der betrüglichenWelt-Weisheit-Künstler, von ihren Terminis de Infi-nito, de Comparativis, de Superlativis usw., mit wel-chen sie alle Sachen, welche an sich selber ganzfalsch und unmöglich sind, für wahr behaupten wol-len, da hingegen die, so wahr sind, dieselben verder-ben diese Leute gleichsam, als wenn sie aus dem Tro-janischen Pferde herausgekommen wären.

Es sind ihrer, die nur drei Praedicamenta, auch nurzwei Figuren bei dem Syllogismo annehmen, und bil-ligen nur acht Arten derselben; die modalischen Pro-positiones aber und die konkretischen und abstrakti-schen Termini werden von ihnen ausgelacht.

So sind ihrer auch, die elf Praedicamenta statuierenund vier Figuren in Syllogismis zählen; diese verver-mehren die Praedicabilia und numeros Causarum, undsinnen so viel unüberwindliche Skotische Subtilitätenaus, dass des Cleanthis und Chrysippi Arglistigkeitenganz grob und bäurisch scheinen, wenn sie gegen

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diese neuen sophistischen Erfindungen gesetzt werdensollten, in welchen nun fast an allen Orten der ganzescholastische Haufe mit elender und verderblicherMühe und Fleiss beschäftigt ist, und nichts mehr zutun zu haben scheinet, als dass sie lernen irren undmit einem kontinuierlichen solchen Federgefechte dieWahrheit verdunkeln, oder gar unleuchtend machen.Ihre ganze Disziplin ist nichts anders als nur ein är-gerlicher Wortfang und ein listig Gespötte, die die ge-meine Art zu reden verkehret und der Zunge Gewalttut, die die Wahrheit nach ihrer schmählichen Ausle-gung unterdrückt und nur ihre Ehre im Lästern sucht.Ihnen ist nicht soviel um die Victorie als um Streit,nicht soviel um die Wahrheit als um Zänkerei zu tun,also dass unter ihnen der Vornehmste ist, welcher nurwacker schreien und unverschämt sein kann; von wel-chen Petrarca saget: entweder es ist die Schande ihrerStilart oder das Bekenntnis ihrer Unwissenheit, dasssie mit der Zunge unversöhnlich sind; sie streitennicht mit der Feder; sie halten sich auch mit ihrenschlechten Fratzen nicht lange auf; derowegen suchensie nach der Parther Gewohnheit den Streit in derFlucht, und reden so was in Wind hinein.

Denn diese sind es, die Quintilianus im Disputierensehr verschmitzt nennet; wenn sie aber mit ihren spöt-tischen Reden aufhören, so haben sie bei einem recht-schaffenen Werke nicht mehr getan als kleine

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Tierlein, welche in engen Klunzen sich aufhalten undnicht auf das platte Feld kommen. Also scheuen siedas Feld, ihre Winkelzüge sind lauter Schwachheiten,welche nicht weit laufen können, sondern bald auf dieKnie fallen. So fürchten sich auch diese Weltbetrüger,für Mitschreibern und mit Büchern zu streiten; mitGeschrei, das nicht haften bleibt, mit der Kraft derZunge streiten sie, nicht aber mit der Feder, damit esdie Ohren bald vergessen möchten, und meinen, es seinichts daran gelegen, ob man die Vernunft zu Rateziehe, wenn man nur eine Instanz geben kann. Manhätte sich nicht darum zu bekümmern, was einermeinte oder redete, wenn es nur geplaudert undwacker gestritten ist, denn wer der Schwatzhaftigsteist, der ist unter ihnen der Gelehrteste. Mit diesenGauklereien gehen sie nach den Schulen, Gassen undStrassen und suchen ihre Gegner; die bitten sie, dasssie möchten zusammenkommen, da bringen sie unge-wöhnliche Sachen vor, machen viel Umschweife, alswenn man in einem grossen Irrgarten wäre; wenn abereiner nicht will oder hat Verdruss, sich mit ihnen ein-zulassen und zu streiten, so kommen sie mit einer be-trügerischen Frage aufgezogen und wollen ihn, wenner antwortet, so unversehens eines Irrtums bezichti-gen, oder wenn er was negiert, so lachen sie ihn ausund wollen auf allen Seiten die Ehre ihrer Wissen-schaft sich beimessen. Aber lasset uns doch sehn, was

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wir in der Kirche Christi für Früchte aus der Dialec-tica und von ihren Weisheitskünstlern haben und er-langen können. Denn indem sie nicht eins sind, wasuns dieselbe lehrt, so wollen sie uns mit ihren betrü-gerischen und verführerischen Rationibus konfundie-ren, durch welche wir ihnen gar zu viel Glauben bei-messen, von dem Licht der Wahrheit abweichen, indie Finsternissen geraten und darinnen so verwickeltund verblendet werden, dass sie Meister und Führerder Blinden werden, und mit ihren falschen Beweistü-mern viel in die Hölle hineinführen, und schwebenalso kontinuierlich auf der Tiefe der Unwissenheit undauf dem Meer des Irrtums herum, und verführen nachArt der Schlange die ungelehrten simpeln Leute mitihren betrügerischen Worten, dass sie ihren erdichte-ten Sachen Glauben geben müssen und erheben dieseoftermals so hoch, dass die Leute überredet werden,als ob die heilige Theologie ohne die Logica und Dia-lectica oder ohne diese zänkischen Weltkünstlereiennicht bestehen könnte.

Ich muss zwar gestehen, dass die Dialectica zurSchriftgelehrsamkeit viel tut, aber ich sehe nicht, wassie zur Theologie nützlich sei, denn es besteht ihrganzes Tun und Wesen in einer zierlichen Rede. DennChristus hat uns nicht vergebens versprochen, wenner sagt: Bittet, so werdet ihr nehmen. Derohalben eheund bevor diese zänkischen Schriftgelehrten die

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Dialectica lernen, so erlangen die RechtgläubigenChristi von ihrem Meister selbst die Wahrheit. Über-dieses so können wir durch die Dialectica nicht höherkommen, als endlich durch viele Umschweife zu derPhilosophie. Aber durch ein gläubiges und andächti-ges Gebet kommen wir durch den rechten und wahrenWeg zur höchsten Weisheit geistlicher und weltlicherDinge. Dahero irren diejenigen sehr, die da statuieren,die Dialectica sei unter allen das stärkste Werkzeug,die Ketzer auszurotten; da sie doch vielmehr einSchutz ist aller Ketzer. Auf diese Kunst haben sichschon längst verlassen Arius und Nestorius, die Ket-zer, und sind so leichtfertig närrisch gewesen, dassjener etliche und durch gewisse Gradus und Zeitenunterschiedene Substantias in der Dreifaltigkeit ge-glaubt; dieser aber, dass Maria die Jungfer Theotokosgewesen, geleugnet, weil sie mit ihren betrüglichenReden die göttlichen Sachen verkehret und mehr denAristotelischen Schwärmereien Glauben beigemessenhaben.

Denn aller Ketzer Lehren, spricht Hieronymus, hatunter des Aristotelis und Crysippi Dornbusch Sitzund Ruhe genommen. Dahero sagt Eunomius, wasaufgekommen ist, das ist nicht gewesen, ehe es ist ge-boren worden. Auch Manichaeus, damit er Gott libe-rierte von Stiftung des Bösen, so hat er einen andernErschaffer des Bösen eingeführt, und Novatianus gibt

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keine Verzeihung zu, damit er die Besserung nichtstatuieren dürfe, und von diesen Brunnen entspringenalle der Ketzer Lehren; denn es wird nichts gesagt,das nicht eine Gegenrede annimmt, noch findet sichein Beweis, der nicht durch einen andern könnte abge-lehnt werden; dahero kommt's, dass die Menschendurch die Sophisterei zu keiner Endschaft einer rech-ten Wissenschaft und zu keiner Erkenntnis der Wahr-heit kommen können, sondern wie es vielen widerfah-ren, dass sie von der Wahrheit in eine Ketzerei gefal-len sind, indem sie geglaubt, dass sie durch falschelogistische Beweistümer den Schein der rechtenWahrheit gefunden hätten. Dahero hat Plato selbst da-fürgehalten, dass man durch diese Kunst allzu spätzur Wahrheit, indem sie auf beiden Achseln trägt,kommen könnte. Und dieses sei von der Dialecticageredet.

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Kapitel IX.

De arte lulliioder

Dass man von allen Dingen zu diskurieren weiss

Aber es hat Raymundus Lullius noch in unsererEpoche eine Wunderkunst, die der Dialectica nichtungleich scheint, erfunden, durch welche er, wie vorZeiten Gorgias Leontinus, von einer jedweden Sache,wie er gewollt, weitläuftig diskurierte. Mit einer artli-chen Verwirrung der Namen und Wörter hat er nichtohne sonderbares Kunststück auf beiderlei Artendurch seine Wissenschaft zu disputieren, und diekleinsten Sachen mit einer Ruhmredigkeit weit auszu-breiten gewusst, auch keinen mit Reden unter ihnenaufkommen lassen. Es ist aber nicht vonnöten, dasswir diese Sachen weit herholen, wir haben dieserKunst schon anderswo weitläuftiger gedacht, gleich-wohl aber will ich nicht, dass einer gross Prahlensoder Wesens davon machen soll, also dass man nichtvonnöten hat, deswegen viel Streitens anzufangen.Nur dieses muss ich erinnern, dass diese Kunst mehrzur Pracht und zum Scheine eines rechtschaffenen ge-lehrten Kopfs, als zu Erlangung rechter Gelehrsam-keit was tue, und dass sie mehr Kühnheit als

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rechtschaffene Wirkung in sich habe, auch dass sol-che mehr für ein grob ungeschicktes Wesen und fastfür ein barbarisch Werk zu halten, wenn sie nicht miteiner schönen und sonderlichen Art der Sprache aus-geziert wird.

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Kapitel X.

De arte memorativaoder

Von der Gedächtnisskunst

Unter diese Kunst wird auch gezählet die Gedächt-niskunst, welche, wie Cicero sagt, nichts anders istals eine Anleitung, welche mit gewissen Örtern, Bil-dern und Charakteren das Gedächtnis gleichsam zu-verlässig wie ein geschriebenes Buch macht; erstlichvon dem Simonide Melitone meistenteils erdacht, dar-nach durch den Metrodorum Scepticum zur Vollkom-menheit gebracht. So gross als sie sein mag, kanndiese Kunst doch ohne das natürliche Gedächtnis kei-neswegs bestehen, welches oftermals durch unzähligeVorstellungen der Wörter und Sachen also beschweretist, dass welche mit ihrer natürlichen Begabtheit nichtzufrieden sind, durch diese Kunst unsinnig werden.

Dahero, als Simonides oder ein anderer diese Wis-senschaften dem Themistocli gewiesen, hat er gesa-get: ich halte es lieber mit der Vergessenheit, denn ichbehalte oft, was mir nicht anstehet, und vergessenicht, wie ich möchte; und Quintilianus saget vonMetrodoro: Es ist nur eine blosse Eitelkeit und einnichtswürdiger Ruhm, den man mit dem Gedächtnis

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führet, wenn man sich einer Kunst mehr rühmet alsder Natur. Hiervon hat geschrieben Cicero (in libr.Rhetoric.), Quintilianus (in Institut.) und Seneca; vonneuen aber Franciscus Petrarca, Matheolus Veronen-sis, Petrus Ravennas, Hermannus Buschius und ande-re; sie sind aber nicht wert, dass sie im Catologo ste-hen. Die meisten sind dunkel, und obwohl heutigesTages ihrer viel sich dieser Kunst befleissigen unddarinnen weit fortzukommen gedenken, so sehen wirdoch, dass sie ihren Lehrmeistern anstatt des Nutzensnichts als Schande bringet; und pflegen diese leicht-fertigen betrügerischen Lehrer mit ihrer Neuigkeit ihrearmen Schüler um ihr bisschen Geld zu bringen. Soist es auch endlich ein recht kindischer Ruhm, sichmit dem Gedächtnis hervorzutun, schändlich aber undunverschämt vor den Türen solche Sachen ums Lohnzu weisen, und das Haus inzwischen leer und öde zulassen.

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Kapitel XI.

De mathematica in genereoder

Von derjenigen Wissenschaft, die von derGrösse der Dinge handelt und sonst Mathesis

genannt wird

Es ist aber nun Zeit, von den mathematischen Dis-ziplinen etwas zu sagen, welche für die gewissestengehalten werden, da doch auch alle diese Wissen-schaften nur bloss in ihres Lehrmeisters Einbildungund Meinung bestehen, welche, dass sie nicht weniggeirrt haben, man zum öfteren gesehen hat. Dieses be-zeuget einer unter ihnen, der Albubater, wenn erspricht, die Alten bis nach Aristotelis Zeiten habenvon der Mathesi im geringsten nichts gewusst. Undobgleich diese Kunst meistenteils in Untersuchungenüber die Kreislinie (in der Figur, in Zahlen oder in derBewegung) bestehet, so müssen sie doch gestehen,dass keine perfekte Runde sei, und weder durchKunst, noch durch, die Natur erfunden werden kann.

Und obwohl diese Wissenschaften gar wenig oderfast keine Ketzerei in der Kirche verursachen, so die-nen sie auch nichts, wie Augustinus spricht, zur Se-ligkeit, sondern sie erwecken mehr Irrtümer, und die,

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die sie lernen, die weichen von Gott ab und sind, wieHieronymus spricht, keine Wissenschaften der Got-tesfurcht.

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Kapitel XII.

De arithmeticaoder

Von der Rechenkunst

Unter diesen ist die erste die Rechenkunst oder dieWissenschaft zu zählen, welche gleichsam bei den an-dern die Mutterstelle vertritt; sie ist mehr ruhmredigals lobwürdig, auch wegen der schlechten Wissen-schaft, so im Zählen bestehet, nur von den Kaufleutenihres Geizes wegen ästimieret. Denn sie handelt vonZahlen und dero Teilung, welche Zahl gleich oder un-gleich sei, welche überflüssig, klein, vollkommen, zu-sammen oder nicht zusammenzusetzen, welche vonsich selbst auf die andern ein Absehen hat, oder wieeine gegen die andere proportionieret oder zuteilen ist,wie sie miteinander übereinstimmen oder zusammen-gerechnet werden können.

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Kapitel XIII.

De geomantiaoder

Von der Weissagung aus astronomischenFiguren

Eben diese Arithmetica hat an Tag gebracht dieGeomantische Weissagung und die Praenestische (istein Ort um Rom), sechsziffrige und vierziffrige Wür-fel und andre derlei Dinge, welche alle Sterngucker,wegen gleicher Art zu judizieren, gleichsam für ihrKind annehmen, indem sie alle Wirkung nicht sowohlaus der Zahl, als aus des Himmels Bewegung hersu-chen, nach des Aristotelis Meinung, welcher spricht:Motus coeli est perpetuus, et est principium et causaomnium motuum inferiorum. Das ist: Die Bewegungdes Himmels ist ewig, und ist der Anfang und dierechte Ursache aller irdischen Bewegungen. Von die-ser Kunst haben geschrieben vor alters Haies, von denneuen Gerhardus Cremonensis, Bartholomäus Par-mensis und Tundinus. Ich selber habe geschriebenvon dieser Kunst, wiewohl ganz anders, jedoch eben-so abergläubisch und betrüglich, oder dass ichs sagenmag, wenn ihr wollt, ganz erlogen.

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Kapitel XIV.

De aleatoriaoder

Von der Würfelspielkunst

Diese Kunst ist an sich selbst gleichsam eine Be-zauberung, und je mehr man sich dieser befleissigt, jeleichtfertiger und unglücklicher kann einer werden;indem durch Begierde, des andern Vermögen zu be-kommen, man das seinige verlieret. Diese Kunst istdie rechte Mutter der Lügen, Falschschwürigkeit,Diebstahls, Zänkereien und der Totschläge, ja eineErfindung von den bösen Geistern, welche bei Ein-nehmung des Reiches Asiae mit der Beute auf aller-hand Art zu den Griechen gekommen ist. Dahero dieTesserae, Calculi, Tricolus, Senio, Monarchus, Orbi-culi, Taliarchus, Vulpes, Octoedron, Duodecaedronund andere Teufelspossen, darinnen etwas Sonderli-ches stecken soll, sind an Tag gekommen. Es wird ge-sagt, dass Attalus Asiaticus diese Kunst erfunden undvon der Kunst zu zählen ausgedacht habe.

Von Römern aber haben wir, dass der Kaiser Clau-dius, welcher Kunst er auch selbst und vor ihm KaiserAugustus, und also beide sehr sind ergeben gewesen,ein Buch davon geschrieben habe. Es ist eine Kunst,

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die ganz unehrlich ist, und bei allen Völkern in ihrenGesetzen verboten. Dahero als Cobilon, ein Lazedä-monier, nach Corinth als ein Gesandter, um ein Bünd-nis mit der Stadt zu schliessen, gereiset, und er gese-hen, dass die Vornehmsten in Corinth im Brette ge-spielt, ist er gleich unverrichter Sachen wieder umge-kehret und gesaget: Er wolle der Spartaner Ehre mitdieser Schande nicht beflecken, dass man nicht sagenkönnte, er hätte mit solchen Würfelspielern ein Ver-bündnis gemacht. Ja diese Kunst ist bei Grossen fürein solche Schande gehalten worden, dass dem KönigDemetrio nur zum Schimpf von dem Parther-Königesind güldene Würfel geschickt worden. Und gleich-wohl ist heutiges Tages dieses Spiel unter Königenund Edlen das gemeinste. Ja, was sage ich ein Spiel,ja wohl eine Weisheit derjenigen, welche nichts an-ders suchen als zu betrügen.

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Kapitel XV.

De sorte pythagorigaoder

Vom pythagorischen Lose

Ich halte auch dafür, dass dieses nicht zu ver-schweigen, was die Pythagorici und andere dafür ge-halten, auch der Aristoteles selbst geglaubet hat, dassdie Buchstaben auch gewisse Zahlen in sich haben,mit welchen sie durch der Menschen Namen weissa-gen; und indem sie die Zahlen der Buchstaben einesNamens zusammengesetzet, so haben sie den Vorzugdemjenigen zugeteilt, dessen Summa die andere über-troffen hat, es sei entweder vom Kriege oder Streit,vom Ehestand oder vom Leben, oder von einer andernSache gefragt worden. Und auf solche Art, sagt man,sei der Patroclus vom Hectore, dieser aber vom Achil-le überwunden worden, wie uns diese Sache der Te-rentianus in nachfolgenden Versen beschreibt:

Et nomina tradunt ita litteris facta,Haec ut numeris pluribus, illa sint minutis,Quandoque subibunt dubia pericla pugnaeMajor numeris qua steterit, favere palmam.Praesagia lethi minima, patere summa.

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Sic et Patroclum Hectoris manu perisse.Sic Hectora tradunt cecidisse mox Achillis.

Das ist: Das ganze Werk beruht auf gewissen klei-nen und grossen Zahlen; und wenn etwa vom Kriegoder Streit, vom Leben oder Tode ist gefraget worden,haben sie den Vorzug dem zugeteilt, dessen Summader Zahlen die grösseste gewesen. Und auf solche Artsoll der Patroclus von dem Hectore, bald darauf aberdieser Hector von dem Achille sein überwunden wor-den. So sind auch, die mit dergleichen Rechnung dieNativitäten erfinden wollen, wie von denselben Al-chandrinus, ein obskurer Philosophus, uns berichtet,der Diszipul des Aristotelis soll gewesen sein. UndPlinius erzählet, dass den Pythagorischen Erfindungenauch dieses zuzueignen, dass aus der ungeraden Zahlder Vokale in einem Eigennamen Blindheit, Bein-bruch und ähnliche Unfälle vorausgesagt werden kön-nen.

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Kapitel XVI.

Adhuc de arithmeticaoder

Wiederum von der Rechenkunst

Aber wir müssen wiederum zu der Rechenkunstkommen; diese, saget Plato, ist von dem bösen Geistenebst dem Würfel- und Brettspiele uns am ersten ge-wiesen worden. Und der berühmte Gesetzgeber beiden Lazedämoniern, der Lycurgus, hat dafür gehalten,dass man diese, als eine gewaltsame und unruhigeKunst, aus einer Republik wegschaffen sollte, dennsie erfordert eine vergebliche und unnötige Arbeit,und hält die Leute von nützlicheren und bessern Ge-schäften ab, erwecket auch oft von schlechten und ge-ringen Sachen grossen Streit. Dahero kommt der un-versöhnliche Krieg der Rechenkünstler, ob die geradeoder ungerade Zahl den Vorzug habe. Welche Zahlunter der dritten, sechsten und zehnten die vollkom-menste sei, oder welche eine rechte gleiche Zahlkönnte genennet werden. Über diese Definition sagensie, habe der Euclides, als der Vornehmste unter ihnenselbst, nicht wenig geirret; so wollte ich auch garleichte sagen, wie sie träumen, dass unter den nacktenZahlen viel Pythagorische Geheimnisse und kräftige

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Weissagungen verborgen wären; wie sie sich unterste-hen zu sagen, dass von Gott die Welt nicht hätte ge-schaffen werden können als mit solchen Instrumenten,und dass die Erkenntnis göttlicher Sachen in Zahlen,gleichsam als in einer gewissen Regul enthalten sei.

Dahero sind entsprungen die Ketzereien Marci,Magi und Valentini, welche ihre Lehren auf gewisseZahlen fundieret und dafür gehalten haben, dass ebendurch nichtswürdige Zahlen die heilige Religion undunterschiedene Geheimnisse göttlicher Wahrheit kön-nen erfunden und ausgesprochen werden. Zu diesemkommet die Pythagorische Tetractys und andere der-gleichen Sachen mehr, welche doch alle vergeblicherdichtet und falsch sind, und bleibt diesen Rechen-künstlern nichts mehr übrig als eine unempfindlicheund leblose Zahl, und meinen doch wohl, dass, wennsie nur wissen zu zählen, sie damit heilige Leute agie-ren können; welches ihnen aber die Musici schwerlichzugeben, sondern es schreiben dieselben diese Ehreihrem lieblichen Gesang und Harmonie vielmehr zu.

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Kapitel XVII.

De musicaoder

Von der Musik

Derowegen müssen wir von der Musik reden, vonwelcher aus den griechischen Skribenten der Aristoxe-nus weitläuftig geschrieben und gesagt hat, die Musikwäre die Seele, und dessen Lehrsprüche hernach vonBoëthio auf die Lateiner gekommen. Ich rede aberletzt von der Musik, welche in der Stimme und Klan-ge, nicht aber von derselben so in Rhythmen und Ver-sen bestehet, welche man die Poesie oder Erdichter-kunst nennet, und die nach Ausspruch des Alpharabiinicht in dem Nachsinnen und in der Vernunft, sondernin lauter Raserei bestehet, wovon wir gedacht haben.Aber die, welche in Modulationen bestehet, weiss dieWörter auf feine Art und nach den Ohren zusammen-zusetzen, denn sie handelt vom Klang, vom Takt undgewissen Weisen oder Melodien. Diese haben dieAlten geteilet in enharmonicam, chromaticam unddiatonicam. Die erste Art haben sie wegen verborge-ner Schwierigkeit recht zu erfinden für unmöglich ge-halten, und sie derowegen verlassen. Die anderehaben sie wegen ihrer Leichtfertigkeit verachtet und

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sich davon losgesaget; die letzte aber, als welche sieden Weltweisen nicht zuwider zu sein erachtet, habensie in ihrem Wert gelassen. Es sind ihrer auch vor al-ters gewesen, welche ihre musikalischen Arten mit derStämme Namen unterschieden und geteilet haben, alsin Phrygium, Lydium, Dorium, und hat die SapphoLesbia die vierte Art hinzugesetzet; nämlich Mixoly-dum, dessen Erfinder meinen andere sei der Thersan-drus, andere der Pfeifer Pythoclides gewesen; der Ly-sias aber hat den Lamproclem, einen Athenienser, fürden Erfinder gehalten; und solche Arten hat die Auto-rität der Alten für die berühmtesten angemerket, undihr Tun ein Corpus aller freien Künste, die gleichsamals ein Umfang der Wissenschaften alle Disziplinenunter sich begreifet, genennet. Dahero sagt Plato, dieMusik kann ohne Gesamtwissenschaft nicht traktiertwerden. Unter diesen vier Arten aber wollen sie diephrygische, weil solche die Gemüter gar zu sehr zusich gezogen und verwirrt gemachet habe, nicht billi-gen, sondern sie wird von dem Porphyrio für barba-risch gehalten, weil sie sonderlich zur ErweckungStreites und Raserei geschickt ist. Dahero nennen an-dere diese Art Bacchicum, nämlich eine tolle, unsin-nige und ungestüme Art. Wir lesen, dass diese die La-zedämonier und Cretenser zum Krieg angereizet habe.Durch diese hat Thimotheus den König Alexanderzum Waffen gebracht.

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Durch diese, nämlich die phrygische Musik, ist einJüngling Taurominitanus, wie Boëthius erzählt, einHaus, darinnen eine Hure verborgen gewesen, abzu-brennen bewegen worden. Die lydische billiget auchder Plato nicht, als welche mit einem Geschrei vonder dorischen Bescheidenheit und Ehrbarheit etwasabweicht, jedoch, wie andere sagen, wäre auch diesesangenehm denjenigen, welche von Natur lustig sind.Dahero haben sich mit dieser die lustigen lydischenVölker sehr delektieret, welche die Tusci, als lydischeAbkommen, mit ihren musikalischen Sprüngen auchgebrauchet haben. Die dorische aber, als die gravitäti-sche und ehrbarste, und welche zu Erweckung guterAffekten und Bewegungen des Leibes am besten ge-schicket und dem menschlichen Leben am meistennützlich ist, haben sie allen andern vorgezogen. Dero-wegen ist diese bei den Cretensern, Lazedämoniernund Arcaden in grossen Ehren gehalten worden. Auchder Feldherr Agamemnon, als er nach dem trojani-schen Kriege gereist, hat er einen dorischen Musicumzu Hause gelassen, welcher mit einem spondäischenRhythmus die Klytaemnestram bei der Keuschheit er-halten, daher von dem Aegystho nicht eher hat könnengeschändet werden, bis dieser den Musicum leichtfer-tigerweise hat ums Leben gebracht. Die myxolidischeaber, sagt man, solle geschickt sein zu Tragödien undTrauerspielen, und soll eine Kraft einer gählingen

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Veränderung und Traurigkeit mit sich führen.Dieses sind die Arten, welchen andere noch mehr,

die sie erfunden haben wollen, an die Seite setzen,nämlich Hypodorium, Hypolydium und Hypophry-gium, dass sie gleichsam an Zahl mit den Planetenüberein kommen sollen.

Und ob man gleich bekennen muss, dass dieseKunst nicht wenig Lieblichkeit in sich begreifet, so istdoch die allgemeinste Meinung und gilt es bei allendie Erfahrenheit, dass es ein Exertitium sei geringerLeute, die von schlechtem Gehirne sind und nichthoch zu steigen gedenken, und die weder im Anfan-gen noch im Aufhören keine Masse halten. Wie vondem Pfeifer Archabio gelesen wird, welchem manmehr geben musste, dass er aufhören als dass er fort-pfeifen sollte. Von dergleichen importunen Musikan-ten schreibet Horatius auf solche Art:

Omnibus hoc vitium est cantoribus, inter amicosUt nunquam inducant animum cantare rogati,Injussi, nunquam desistant.

Das ist: Alle Sänger haben dies Laster an sich;wenn sie von einem guten Freunde zu singen ersuchetwerden, wollen sie es nicht tun, wenn man es abernicht begehret, blöcken sie einem mehr vor als ihmlieb ist oder als er gerne höret. Dahero hat die Musik

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nur bloss ums Lohn und gewissen Sold allezeit in derWelt berumvagieret, und ist ein Schützling der Hu-renherberg, welcher sich niemals ein rechtschaffenerMann beflissen hat. Derowegen die Griechen diejeni-gen, so solcher nachgegangen, insgemein Meister desGottes Bacchi, oder, wie Aristoteles saget, Schmaus-sekünstler genennet haben, welche meistenteils übelgezogen sind, und ihr Leben zubringen teils unmässigund unzüchtig, teils auch armselig und elend, aus wel-cher Kunst diese Laster geboren und vermehret wer-den. Die Könige der Perser und Meder haben die Mu-sicos unter die Schmarutzer und Gaukler gezählet,und haben von ihren Werken sich zwar Lust erwecket,alleine sie selbst sind von ihnen verachtet gewesen.

Der weise Antisthenes, als er gehöret hat, dasseiner ein trefflicher Pfeifer sei, hat er gesaget: das magwohl ein böser Bube sein, denn wenn er fromm wäre,so wäre er kein Pfeifer, und ist diese Kunst nicht fürnüchterne und fromme, sondern für Müssiggänger,Possenreisser und volle Leute. Diese hat der ScipioAemilianus und Cato als eine, so den römischen gutenSitten ganz zuwider, verachtet. Dahero haben sie esdem Augusto und Neroni für eine Schande ausgedeu-tet, dass sie der Musik etwas zu sehr sind ergeben ge-wesen. Wiewohl Augustus, als er sich deswegen ge-straft befunden, davon abgelassen; der Nero aber,welcher derselben immer mehr und mehr

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nachgefolget, ist von dem Volke verachtet und ver-spottet worden. Der König Philippus, als er einstmalsgehöret, dass sein Sohn an einem gewissen Orteschön gesungen, hat er ihn gescholten und gesaget:»Schämest du dich nicht, dass du so wohl singenkannst; denn einem Fürsten ist schon genug und mehrals zuviel, wenn er nur soviel müssige Zeit hat, dasser andere kann singen hören.«

Bei den griechischen Poeten hat der Gott Jupiterniemals gesungen, noch die Zither geschlagen; Pallashat die Flöte verfluchet. Bei dem Homero hat ein Zi-therschläger auf der Zither geschlagen und haben dieAlcyones und Ulysses zugehöret; bei dem Virgilio hatJopas gesungen, Dido und Aeneas aber zugehöret.Als Antigonus, der Hofmeister des jungen AlexandriMagni, den Alexandrum Magnum hat singen hören,hat er seine Zither zerbrochen und von sich geworfenund gesaget: dir kommt zu, zu regieren, und nicht zusingen. Die Ägyptier, wie Diodorus bezeuget, habendie Musik als ein weibisch Werk, welches rechtschaf-fenen Männern nicht anstehet, ihrer Jugend zu lernenverboten; und Ephorus, wie Polybius schreibet, hatdafürgehalten, dass diese Kunst zu keinem andernEnde, als die Leute auszulachen und zu betrügen, er-funden wäre. Aber, die rechte Wahrheit zu sagen, wasist doch unnützlicher, verächtlicher und mehr zu mei-den als die Pfeifer, die Sänger und andere dergleichen

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Art Musici, welche mit allen ihren schwierigen Ge-sangskünsten das Zwitschern aller Vögel übertreffen,auch gleichsam durch eine vergiftete Süssigkeit, wiedie Sirenen mit ihrem leichtfertigen Singen, Scheinge-bärden und Klang der Menschen Gemüter zu bezau-bern und einzunehmen trachten? Dahero haben dertapfern Thrakier Weiber den Orpheum verfolget, weiler mit seinen Gesängen die Männer ganz weibisch ge-machet.

Ist was Sonderliches den Fabeln zuzuschreiben, sosoll der Argus einen Kopf, mit hundert Lichtern oderAugen umgeben, gehabt haben, welche alle dochdurch Klang einer Pfeifen sind ausgelöschet und ver-dunkelt worden. Aber gleichwohl rühmen sich dieMusici, dass sie die Gewalt über die Redner selberhätten und stärker die Affekten der Menschen movie-ren könnten; ja, diese hat die Unsinnigkeit so hochgetrieben, dass sie sagen, die Himmel pflegten selb-sten zu singen, jedoch mit einer solchen Stimme, dievon keinem Menschen jemals wäre gehöret worden,nur aber was ihnen, den Musicis durch ihre Evoe tau-melnd und gleichsam im Schlaf wäre kund gemachetworden. Inzwischen aber ist keiner von den Musicisvom Himmel kommen, der so perfekt gewesen wäre.Sie sagen, diese Kunst sei unter allen die vollkom-menste, und welche alle die andern Disziplinen untersich habe und die ohne alle andern nicht könnte

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traktieret werden. Sie schreiben ihr eine Kraft zu zuweissagen, durch welche man des Menschen Art, Af-fekten und Sitten leicht judizieren könne, ja sie sagenauch, dass solche unendlich sei, und könnte durch kei-nes Menschen Nachsinnen erschöpfet werden, son-dern es kämen täglich neue Weisen und Arten zu sin-gen am Tag. Dahero hat vielleicht der Anaxilas nichtübel geredet, wenn er gesaget hat: Musica per Deosperinde atque Lybia semper quotannis novam feramparit. Das ist: Die Musik bringt jährlich durch dieGötter was Neues, gleich wie Lybien jährlich ein neuwild Tier hervor.

Die Kunst hat der Athanasius wegen ihrer Vanitätin Kirchen verboten. Der Ambrosius aber, der auf diePracht und Zeremonien etwas mehr gehalten, hat sol-che wieder eingesetzet. Der Augustinus, welcher dasMittlere ergriffen, hat bekannt, dass bei ihm dieserSache wegen nicht wenig Zweifel entstanden. Heuti-ges Tages aber ist in den Kirchen der Musik wegen soeine Lizenz und Freiheit, dass auch bei dem Sang derMesse garstige Lieder auf der Orgel geschlagen wer-den, und also, das sie das Gebet und heilige Amtnicht in Ehren halten, sondern mit ihren leichtfertigenund ums Geld gekauften Musikanten nicht zur Auf-merkung und Andacht, sondern zur Hurerei, nicht mitMenschenstimmen, sondern bestialischem GeschreiAnlass geben. Wenn sie rechtschaffen singen sollen,

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so quieken die Knaben den Diskant, teils brüllen denTenor, teils bellen wider den Takt, teils mauen wieein Ochse den Alt, teils knirschen mit den Zähnen denBass und machen, dass zwar ein gross Geschrei undGetöne gehört wird, aber von dem Text verstehet nie-mand nichts, also wird zugleich den Ohren und demmenschlichen Nachsinnen ihre natürliche Art benom-men.

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Kapitel XVIII.

Ue saltationibus et choreisoder

Vom Springen und Tanzen

Zu der Musik gehört auch das Springen und dieKunst zu tanzen, welches sonderlich den jungenMägdlein und Liebhabern angenehm ist und vonihnen mit sonderbarem Fleiss gelernet, und oft mehrals die halbe Nacht ohne Ersättigung zugebracht,auch mit solchem Fleiss in acht genommen wird, dasssie nach der Leier, Trommel oder Pfeife mit ganz son-derlichen Kräften und. Gebärden rumspringen, undnichts als närrische, auch der Unsinnigkeit nicht un-gleiche Possen mit eingebildeter Klugheit verrichten;und wenn diesen nicht der Klang der Pfeife das rechteMass gäbe, auch wie man saget, eine Eitelkeit der an-dern hülfe, so wäre ja auf der Welt nichts Lächerli-chers und Ungereimters als das Springen. Es ist eineErgötzlichkeit der Faulheit, ein Gehilfe aller Laster,eine Anreizung der Wollust, ein Feind der Keuschheitund in Summa eine Sache nicht lobenswert.

Da hat oft ein ehrlich Weib, wie Petrarca spricht,ihre sonst lang erhaltene Ehre verloren, und oft einunglückliches Jüngferlein was gelernt, welches besser

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gewest wäre, dass sie es nicht gewusst hätte. Da sindviel Weibspersonen um ihren guten Namen und Esti-me kommen, viel sind ihrer unzüchtig nach Hausegangen, wenig aber züchtiger und frömmer, sondernbetastet und befühlet. Nächst diesen haben sich dochgriechische Skribenten gefunden, die dafürgehalten,dass, gleichwie sonst mehr schädliche Sachen, alsowäre auch der Ursprung des Tanzens von dem höch-sten Himmel mit Erschaffung der Welt an Tag kom-men, und zwar nach dem Muster der kreisenden Ster-ne. Etliche aber sagen, es wäre eine Erfindung derWeltgespenster, und dass der Gott Bacchus durchdiese Kunst die Thyrrhener, Indianer und Lydier,sonst ein streitbar Volk, überwunden hätte. Also, dassendlich auch aus dieser Kunst ein religiös Werk undvon Corybanten in Phrygia, von den Cureten in Cretadurch die Göttin Rhea geboten worden, und in Delo,wenn sie ihr Heiligtum haben abgewartet, so habensie dabei gesprungen, die indischen Brahmanen auchmorgens und abends gegen die Sonne sich gewendetund ihren Gott tanzend geehret.

Bei den Ägyptiern und Thraciern, auch Skythen istdas Tanzen unter die heiligen Zeremonien gerechnetworden, und solches ist von dem Orpheo oder Museo,den besten Tänzern, hergekommen. Es waren auch beiden Römern Priester, Salii genennet, die haben demGott Mars zu Ehren Tänze angestellet. Die

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Lazedämonier als die Vornehmsten unter den Grie-chen, als sie vom Castor und Pollux tanzen gelernet,haben alles mit Tanzen verrichtet. In Thessalien istdas Tanzen in solchem Wert gehalten worden, dassdie Vornehmsten mit dem Namen Vorspringer sindtituliert worden; auch Sokrates selbsten, welcher vondem Oraculo für den Weisesten ist gehalten worden,sich nicht geschämt, als er in reiferem Alter, dieseKunst zu lernen, und hat sie dergestalt rausgestrichen,dass er sie unter die ernsthaften Disziplinen gezähletund dafürgehalten, dass diese als ein trefflich Werkmit Erschaffung der Welt am Tag kommen wäre.

Aber was ist es Wunder, dass die Griechen alsophilosophieret haben, indem auch, dass Ehebruch,Hurerei, Totschlag und andere böse Taten mehr vonden Göttern kommen wären, sie dafürgehalten haben.Viele haben vom Springen Bücher geschrieben, darin-nen alle Arten, Spezies und Namen, was sie für Auto-res gehabt, zu finden, dahero ich anjetzo nicht für not-wendig erachtet, viel Dicentes davon zu machen. Diealten Römer, welche wegen ihrer Weisheit in grossemAnsehen gewesen, haben alle das Tanzen verworfen,und ist von keiner ehrbaren Matrone, wenn sie getan-zet hat, etwas gehalten worden.

Dahero hat es Sallustius der Semproniae verübelt,dass sie mehr als sonst einer ehrbaren Person zukäme,gesungen und gesprungen. Ja auch Gabinio dem

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Bürgermeister und dem Marco Caelio ist es für eineSchande gehalten worden, dass er allzusehr in derSpringkunst ist erfahren gewesen; der M. Cato hatsdem Murena, dass er in Asia getanzet, für übel ausge-deutet, und dass er unrecht getan, will Cicero also amTag geben. Niemand, spricht er, tanzt nüchtern, ermüsste dann nicht wohl bei Sinnen sein; und ist die-ses Springen nichts anders, als aller Schmausereienund Gelagen, auch ungebührlicher Scherzreden undgarstiger Wollüste nächster Gefährte, dahero folget,dass das Tanzen aller Laster letztes Tun und Wesensei, und ist nicht leicht zu sagen, was hieraus dasSehen und Hören für Böses schöpfet, und was fürschandbare Reden und Taten daraus entstehen. Eswird gesprungen mit garstigen Gebärden und wunder-lichem Geräusche der Füsse nach dem süssen Takt,nach leichtfertigen Liedern und schändlichen Reimen,die jungen Mägdlein werden betastet, und ehrbareMatronen mit unzüchtigen Händen, mit Küssen undhurischen Umfangen begriffen, und was sonst dieNatur verborgen und die Ehrbarkeit bedeckte, daswird durch diese Leichtfertigkeit aufgedeckt, oderdurch dieses Spieles Decke mit einer Leichtfertigkeitüberzogen. Dieses ist fürwahr kein Exertitium, dasvom Himmel herkommen, sondern es ist von bösenGeistern und zur Verachtung des Höchsten erdachtworden. Als das israelitische Volk in der Wüsten sich

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ein Kalb aufgerichtet und ein Opfer gebracht hat, sohaben sie angefangen zu essen und zu trinken, undsind hernach aufgestanden zu spielen, zu singen undum den Kreis herum zu tanzen. Und das mag vomTanzen für diesmal genug sein.

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9.680 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 91Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel XIX.

De gladiatoriaoder

Von der Fechterkunst

Ich weiss aber gar wohl, dass noch viel andereArten der Tänze von den alten Skribenten sind be-schrieben worden, davon der grösste Teil abgeschaffetund nur noch etwas übriggeblieben ist; als da ist dergewaffnete Tanz, der Fechtertanz, der Faust- undKriegertanz. Fürwahr eine erbärmliche und traurigeKunst, da es für ein Spiel gehalten wird, wenn mandie Leute ums Leben bringet, und für eine Schande,wenn man eine tödliche Wunde nicht standhaft auf-nahm. Verflucht sei bei jedermann diese Kunst, beideren Torheit eine Gottlosigkeit ist; gleichwie allediese Arten ganz eitel und unverschämet sind, alsosind sie nicht sowohl zu schelten als ganz zu verflu-chen, weil sie den Menschen nichts anders als wun-derliche Gebräuche und, wie man närrisch tun soll,lernen.

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9.681 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 91Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel XX.

De histrioncaoder

Von der Gaukler- und Komödiantenkunst

Das gauklerische Tanzen ist eine Kunst, nachzuah-men, und eine Sache mit Gebärden an Tag zu geben,wodurch die Sitten und Affekten so klar und deutlichpräsentieret werden, dass der Zuschauer, obgleich derGaukler nichts redet, ihn aus seinen Sitten und Gebär-den klar verstehen kann. So viel kann diese Kunstwirken, dass man keinen Dolmetscher nötig hat; denndurch ihre artige Stellung repräsentieren sie einenAlten, einen Knaben, ein Weib, einen Knecht, einenTrunkenen, einen Zornigen, ja aller Menschen Unter-scheid und Affekten stellen sie also vor, dass aucheiner, der von weitem steht und zuschaut, ob er siegleich nicht reden hört, doch aus ihren Mienen undSpringen vernimmt, was sie haben wollen.

Dahero lesen wir, dass die Komödianten nicht ingeringem Wert sind gehalten worden und ist aus demMacrobio bekannt, dass Cicero mit dem Komödian-ten, dem Roscio, welcher auch dem Syllae Dictatorilieb gewesen, habe pflegen zu disputieren, wer vonihnen beiden eine Idee besser darstellen könnte, ob

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der eine durch sein Spiel oder der andere durch seineRedekunst; welches den Roscium dergestalt bewogen,dass er ein Buch geschrieben, darinnen er die Bered-samkeit mit der Komödiantenkunst verglichen hat.Aber die Massilier, wie Valerius Zeugnis gibt, habenüber ihre Gravität und Ansehen so gehalten, dass siesolchen Leuten bei ihnen keinen Zutritt verstattethaben, und zwar nicht unbillig, weil durch ihr Wesennichts als meistenteils Hurenaktus repräsentieret wer-den, damit sie nicht, indem sie solches sehen, derglei-chen Sachen zu exerzieren Anlass bekommen möch-ten. Überdieses, so ist ja diese Kunst zu exerzierennicht allein schändlich und ein leichtfertiges Werk,sondern auch lasterhaft dasselbe anzusehen und sichdaran zu delektieren, weil die Belustigung eines soleichtfertigen Gemüts meistenteils auf Sünde undSchande hinausläufet. Endlich hat vor Zeiten nichtsUnehrlichers können genennet werden, als der Nameeines Gauklers oder Komödianten, und wurden dieje-nigen zu keinen Ämtern genommen, die diese Kunstgetrieben und auf dem Theatro agieret und rumge-sprungen hatten.

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9.683 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 94Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel XXI.

De rhetorismooder

Von Gebärden und Bewegungen beim Reden

Ja, es war auch eine rhetorische Springkunst, diesernicht gar ungleich, jedoch etwas gelassener, welcheSokrates, Plato, Cicero, Quintilianus und die meistenunter den Stoikern sehr für nützlich und denen Red-nern für notwendig gehalten, nämlich daferne dieselbein einer feinen geschickten Gestalt des Leibes, undzugleich in einer hübschen Miene des Gesichtes be-stehet, also wenn dasjenige, was vorgebracht, miteinem sonderlichen Blick der Augen und gravitäti-schem Gesichte durch die Aussprache der Stimme art-lich akkommodiert wird.

Diese Kunst aber ist endlich bei den Rednern sohoch gestiegen, dass der Augustus den Tiberius erin-nert, er sollte mit dem Munde und nicht mit den Fin-gern reden, dahero sie nunmehr ganz abgeschaffet undnur noch von etlichen Pfaffenkomödianten (ob schonfür Zeiten Schauspieler von der Kirche zu dem heili-gen Abendmahl nicht sind zugelassen worden) geeh-ret wird, welches wir doch noch heutiges Tages sehen,dass viele von den Kanzeln mit einer sonderlichen

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Stimme, mit veränderlichem Gesicht, mit rumvagie-renden Augen, mit erhobenen Armen, mit springendenFüssen und leichtfertig zuckenden Lenden und andernSitten, mit Umdrehungen und Verkehrungen, Beugun-gen und Bewegungen des ganzen Leibes und Gemütesdie gemeinen Predigten zu dem Volke abgehen lassen;und gedenken vielleicht an den Schlusssatz des De-mosthenis, welcher, als er gefragt wurde, welches imReden das Kräftigste wäre, hat geantwortet: die Heu-chelei. Und als er zum andern und drittenmal gefragtworden, hat er geantwortet: die Heuchelei, welche hie-rin die meiste Kraft hat. Aber damit wir von derMesskunst nicht zu weit abkommen, so wollen wirwiederum zur Geometrie eilen.

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9.685 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 95Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel XXII.

De geometriaoder

Von der Feldmesskunst

Die Geometrie, welche Philo Judaeus die vornehm-ste und Mutter aller Disziplinen nennet, hat für an-dern dieses Lob, dass weil unter den Sekten oder Dis-ziplinen immer ein grosser und unzähliger Streit ent-standen, so sind doch die Erfahrenen dieser Wissen-schaft noch ziemlich eins miteinander und erweckenkeinen sonderlichen Streit, es müsste denn der sein,dass sie von Punkten und Linien miteinander dispu-tierten, ob diese zu teilen oder nicht zu teilen; wegender Doctrin aber an sich selber sind sie nicht streitig,und suchet einer den andern mit neuen und subtilenErfindungen, welche niemals keiner hat ersonnen, zuübertreffen; doch hat noch keiner unter ihnen die Qua-dratura des Zirkels, noch die den Bogen gleiche Lini-en erfunden, und obgleich Archimedes, dass er solcheerfunden hätte, in denen Gedanken gestanden, auchviel Nachkommen bis auf diese unsere Zeiten, solchesaber vergebens sich unterstanden, ob sie schon nahedazu gekommen sind; so ist doch ihr Ehrgeiz sogross, dass sie bei den alten Traditionen nicht

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bleiben, sondern dass sie mehr, als ihre Lehrmeistererfunden hätten, sich gerühmet und sich damit so när-risch gebärden, dass in der ganzen Welt nicht Niese-wurz genug wäre, sie zu purgieren.

Aus dieser Kunst kommen her alle Handwerksin-strumenta, Maschinen, die zum Kriege und andernNutzen gebrauchet können werden, als da sind dieMauerbrecher, die Schilde und Schanzkörbe, Feuer-mörser, Armbruste, bewegliche Brücken, Geschütze,Sturmleitern, die Türme auf Rädern, Schanzen,Schiffbrücken, Mühlen, wie auch viel andere Instru-menta mehr, womit man mit wenig Kraft grosse La-sten an sich ziehen und in die Höhe bringen kann,überdieses auch alles, was mit Gewichten, Wasser,Luft und andern dergleichen arbeitet, als wie dieUhren, welche durch das Gewicht fortgetrieben wer-den, oder was durch den Wind ein Getöne gibet, oderdurch Wasser getrieben oder Wasser bewegt, wiePumpen, Mühlen, oder auch was sonst aus diesen zurLust und Ergötzlichkeit oder Verwunderung gemachetwird, als springende Bälle, künstliche Laternen, dieihren Docht von selbst in die Höhe ziehen, Kürbse sovon sich selber brennen, und was Politianus voneinem Tier gedenket, das, indem man es auf der Tafelaufgeschnitten, so hat es geseufzt und geschrien undgetan, als wenn es lebendig wäre.

Durch diese Kunst, erzählet Mercurius, hätten diePhilosophie von Platon bis Nietzsche

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Ägypter die Bildnisse ihrer Götter so artig verfertiget,dass sie reden und fortgehen können. Auch der Ar-chytas Tarentinus, der hat auf solche Art eine höl-zerne Taube gemacht, dass sie sich in die Höhe ge-schwungen und weggeflogen ist. Ja wir lesen, dassder Archimedes, so einen künstlichen ehernen Him-mel gemacht habe, dass der Lauf aller Planeten hatkönnen vollkommen wahrgenommen werden, derglei-chen Werk wir noch für wenig Tagen gesehen haben.Von dieser Kunst kommen her unterschiedene ArtenGeschütze und Büchsen, Raketen und andere feuer-speiende Instrumenta, von welchen ich neulich unterdem Titel Pyrographia ein absonderlich Buch ge-schrieben habe, welches mich aber nun gereuet, weiles nichts anders als ein schädlich Meisterstück in sichhält. Endlich, was da ist künstlich im Malen, imWeltmessen, im Ackerbau, in der Kriegswissenschaft,Baukunst, Töpferkunst, Bergwerkkunst und andernSachen, das kommt meistenteils von der Geometrieher.

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9.688 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 99Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel XXII.

De optica vel perspectivaoder

Von der Perspectivkunst

Auf die Geometrie ist die nächste die Perspektiv-kunst, hernach die Weltmesskunst. Aber von der Artzu sehen, sind viel und unterschiedene Meinungen.Plato hält dafür, dass das Licht, das aus den Augenströmt, dem Lichte begegnet, das von dem Körperausgeht, und so das Sehen zustande kommt. Galenusist mit dem Platone einig; Hipparchus aber spricht,dass die Strahlen der Augen, so auf sichtbare Dingeeingerichtet, gleichsam als wenn sie sie betastet hät-ten, sie zu dem Gesicht zurückbringen.

Dahero dienet diese Wissenschaft, wenn man be-greifet den Unterscheid, die Distanz, die Grösse undBewegung der corporischen Sachen, die über unssind. Sie hilft auch den Baumeistern im Abmessen derHäuser, am nächsten aber gibt sie viel Zierat der Ma-lerei und Perspektivkunst, ohne welche diese nichtkönnen exerzieret werden. Denn sie weiset, mit wasfür einer Art die Ungestalt in Bildern vermieden wer-den kann.

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Kapitel XXIV.

De picturaoder

Von der Malerkunst

Derohalben ist die Malerei eine recht wunderlicheKunst, welche bestehet in einer fleissigen Nachah-mung der natürlichen Sachen, und Darstellung der Li-neamenten mit allerhand Farben. Diese ist vor Zeitenin solchem Wert gewesen, dass ihr der erste Grad derfreien Künste ist zugeteilet worden, und hat mit derPoesie gleiche Freiheit, wie der Poet Flaccus gesaget:

Pictoribus atque PoetisQuaelibet audendi semper fuit aequa Potestas.

Das ist: Die Maler und Poeten haben allezeit glei-che Macht gehabt, sich etwas zu unterstehen. Daherwird auch die Malerei eine stillschweigende Er-dichterkunst, die Erdichterkunst aber eine redendeMalerei genennet, also sind sie miteinander verwandt.Denn gleich wie die Poeten also auch die Maler er-dichten Historien und Fabeln, und exprimieren alleSachen durch Ähnlichkeit, Schatten und Licht. Über-dieses hat die Malerkunst auch dieses aus der Optica,

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dass sie das Gesicht betrüget und dass sie in einemBilde unterschiedene Entfernungen nach dem Stand-punkt für Augen stellet, und was die Bildhauerkunstnicht verrichtet, dazu kann diese kommen.

Sie malet das Feuer, Strahlen, Licht, Donner,Hagel und Blitz, den Untergang, Morgenröte, Däm-merung, Nebel und repräsentiert der Menschen Ge-mütsbewegungen und Affekten, ja bald die Stimmeselbsten und stellt mit ihren erdichteten Ausmessun-gen und Gleichförmigkeiten die Sachen, die da nichtsind als wären sie, und die da sind als wären sie nicht,uns für Augen; wie von dem Maler Zeuxi und Parrha-sio die Historienschreiber erzählen, welche, als siemiteinander wegen des Vorzugs gestritten, und dererste so ähnliche Weintrauben, dass die Vögel davonzu fressen dazu geflogen, der andere aber einen Vor-hang gemalt; als nun der, so die Vögel hierzu fliegendgemacht, begehrte, man sollte das Tuch wegnehmen,dass man das Gemälde sehen könnte, so ist dieser ge-zwungen worden, jenem den Vorzug zu lassen, weiler die Vögel, jener aber den Künstler selber betrogenhätte. Und Plinius erzählet, dass in des Claudii Gema-che ein solch admirabel Bild gewesen, dass die Rabenwären zugeflogen und betrogen worden. So hat manauch zur Zeit des berühmten Triumvirats erfahren,wie eben Plinius schreibt, dass man durch einen ge-machten Drachen den Vögeln den Gesang hat

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verbieten können.Überdieses hat die Malerkunst auch dieses an sich,

dass mehr unter derselben verstanden als gesehenwird, wie solches der Plutarchus fleissig in seinen»Bildern« erforschet und gesaget hat: obgleich dieseKunst gross ist, so ist doch das Judicium darübernoch grösser.

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Kapitel XXV.

De statuaria et plasticaoder

Von der Bildhauereikunst

Der Malerkunst Gefährte ist die Bildhauerei, ge-gossen oder gehauen, eine Kunst eines ungestümenNachsinnens, welche auch unter die Baukunst kanngezählet werden. Diese Kunst macht aus Holz, Steinund Elfenbein Götzen, und aus Erdenklössen gewisseFormen.

Aber alle diese Künste nebst der Malerei, welchezu nichts anderes als zur Pracht, Üppigkeit und Aber-glauben dienen, sind eine rechte Erfindung von bösenGeistern; deren Meister sind gewesen, welche erstlichnach S. Pauli Worten die Ehre des unsterblichen Got-tes verwandelt in ein Bild eines sterblichen Men-schen, in Vögel oder vierfüssige Tiere und Schlangen,welche wider Gottes Gebot die geschnitzten Götzenund Bildnisse, sowohl derjenigen Sachen, welche aufErden als im Himmel sind, zu setzen, als einenschändlichen Götzendienst eingeführet haben, vonwelchen der weise Salomon saget: Idolum ipsum ma-ledictum est et qui fecit illud et quod factum est, tor-menta patientur. Das ist: Des Fluches wert ist das, so

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mit Händen geschnitzet wird, sowohl als der, der esschnitzet. Denn Gott ist beiden gleich feind, und wirddas Werk samt dem Meister gequälet werden. Dennder Menschen Eitelkeit, wie er saget, hat diese Kunsterfunden zur Versuchung der Menschen und zur Falleder Unweisen, und ihre Erfindung ist ein Verderbendes Leidens. Nichts aber desto weniger sind wir Chri-sten vor andern Heiden so närrisch, dass wir zumhöchsten Verderb unserer Sitten und guten Lebens inallen Sälen, Häusern und Kammern solche zu setzenuns nicht schämen, damit ja durch dergleichen leicht-fertige Bilder unsere Weiber und Töchter zur Wollustangereizet werden möchten; ja wir führen auch solchein unsern Kirchen, Kapellen und Altären mit grössterEhrerbietung, nicht ohne Gefahr des Götzendienstesein. Aber von dieser Materie wollen wir bei dem Ka-pitul von der Religion weitläuftiger reden und dispu-tieren.

Dass aber in den Bildern und Statuen etwas Son-derliches stecke, welches nicht zu verachten, das habeich in Italien gelernet. Denn als die Augustinermön-che mit den Canonicis Regularibus vor dem römi-schen Papste selbst von des heiligen Augustini Klei-dung heftig stritten, nämlich, ob er einen schwarzenRock überm weissen Leibrock, oder einen weissenüber den schwarzen hätte angezogen, und man ausden Schriften diese Sache zu schlichten nichts finden

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konnte, so ist es für gut befunden worden, diese Sacheden Malern und Bildschnitzern zu übergeben, undwas diese den alten Gemälden und Statuen nachsagenwürden, dabei sollte es bleiben.

Durch dieses Exempel bin ich auch konfirmiertworden. Denn als ich einstmals mit sonderbaremFleisse den Ursprung der Mönschskappen erforschenwollte, und in den Schriften nichts finden konnte, sobegab ich mich endlich zu den Malern, und ging inder Mönche Kreuzgänge, da meistenteils das Alte undNeue Testament abgemalet ist, und dachte der Sachenach, und als ich im ganzen Alten Testament keinenPriester noch Propheten, noch den Eliam selbst, wel-chen die Karmelitaner zu ihrem Patron gemachet, dereine Mönchskappe hätte, sahe, so betrachtete ich dasNeue Testament, da funde ich Zachariam, Simonem,Johannem den Täufer, Josephum, Christum, die Apo-stel und Discipul, die gelehrten Pharisäer und Hohen-priester, den Caipham, Hannam, den Herodem, Pila-tum und viel andere mehr. Ich fand aber noch bei kei-nem eine Kutte oder Mönchskappe, da dachte ich denSachen weiter nach und funde bei der abgemalten bi-blischen Historie den Teufel in einer solchen Kutteoder Mönchskappe abgemalet, nämlich diesen, derden Herrn Christum in der Wüste versuchet. Da ent-stunde bei mir eine sonderbare Freude, dass ich das,was ich in den Schriften nicht finden konnte, bei

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diesem Gemälde gefunden hätte; nämlich, dass derTeufel der erste Erfinder einer solchen Mönchskappesei, von welchem hernach die andern Mönche undBrüder diese, nur mit andern Farben, entweder ge-borgt oder dieselben als ein Erbteil von ihm vermachtworden wäre.

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Kapitel XXVI.

De speculariaoder

Spiegelkunst

Aber nun kommen wir wieder auf die Optik, wel-che zu der Spiegelkunst nicht wenig hilft, indem siedie Wirkungen und Betrügereien anzeiget, welche ausvielen Arten der Spiegel entstehen, als da sind diehohlen, die runden, die platten, die hohen, die pyrami-dalischen, die spitzigen, die erhöheten, die eckigten,die umgekehrten, die durchsichtigen und dergleichenmehr. Also lesen wir bei dem Coelio, dass zu Zeitendes Augusti Hostius, sonsten ein unflätiger Mann,eine Art Spiegel gemacht, der ein Bild viel grösser re-präsentiert hat, also, dass ein Finger die Grösse undDicke eines Armes übertroffen; so ist auch ein Spie-gel gewesen, da einer eines andern und nicht seinBildnis gesehen hat, auch wieder ein anderer, dernichts präsentieret hat, wenn er nicht an einen gewis-sen Ort ist getragen worden; wiederum eine andereArt, die von einer Sache viel Bilder vorgestellet, nocheine andere, die wider des Spiegels Eigenschaft, wasrechtisch gewest ist, auch rechtisch, und was linkischgewesen ist, linkisch gewiesen hat. Es sind auch

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Brennspiegel hinten und vorn, und welche die Strah-len weit in die Luft werfen, und dergleichen noch vielandere, welche wir heutigen Tages, dass sie verfertigwerden, zu sehen bekommen.

Es haben auch die Perspektivspiegel ihre Betrüge-reien, nämlich, dass sie eine kleine Sache gross undeine grosse klein, nahe und weit, über und unter sichzu unterschiedlichen malen, mit allerhand Farben,einem Regenbogen gleich, repräsentieren. Und ichverstehe mich darauf, Spiegel zu machen, in welchenbei hellem Sonnenschein alles dasjenige, was damitüberstrahlet wird, über drei oder vier Meilen vollkom-men kann gesehen werden; und dieses ist in den ebe-nen Spiegeln zu verwundern, dass sie eine Sache,wenn sie klein sind, wohl kleiner, aber wenn sie nochso gross sind, niemals grösser als sie selbsten ist, re-präsentieren, welches der Augustinus bei sich be-trachtet hat, indem er an den Nebridium geschrieben,dass hierunter etwas Sonderliches verborgen liegenmüsste. Aber was es ist, es ist doch eitel und nichtsnütze, auch nur zur Pracht und Belustigung erfunden.Von Spiegeln haben sowohl viel Griechen als Latei-ner geschrieben, unter welchen allen Vitellius derbeste ist.

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Kapitel XXVII.

De cosmimetriaoder

Von der Weltbeschreibung

Hierauf wollen wir nun von der Weltbeschreibungein wenig reden, welche an sich selbst geteilet wird inCosmographiam und Geographiam; beide teilen dieWelt auf gewisse Masse ab. Aber die erste nach Lageder Sterne, sie misset nach derselben Distinktion derErde Umkreis, und was für Orte in derselben zu fin-den, mit gewissen Graden und Minuten, und erweisetden Unterschied der Klimatum, Tag und Nacht, derGestirne Aufgang und Untergang, Elevation des Poli,den Schatten der Uhr und andere Sachen mehr, welchesie mit mathematischen Gründen und Ursachen be-weiset. Die andere aber misset der Welt Umkreisdurch gewisse Meilen und Stadien, durch Berge, Wäl-der, Flüsse, Meer und Ufer, und weiset uns die Völ-ker, Königreiche, Länder und Städte und was sonstenhierbei denkwürdig ist, nach dem Vers:

Ac patrios omnes cultus habitusque locorum,Et quid quaeque ferat regio, et quid ferre recuset.

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Das ist: Die gewöhnlichen Trachten und Sitteneines jedweden Orts, auch was eine jegliche Land-schaft vor Beschaffenheit und was allda zu befindensei oder nicht. Sie zeigt uns, wie der Maler, nach geo-metrischer und perspektivischer Art die ganze Weltauf einem Globo oder auf einer ebenen Tabella reprä-sentieret:

Pingens in parvo totum volumine mundun.

Das ist: Auf einer kleinen Tafel wird die ganzeWelt vorgestellet. Unter diese Art wird von vielen ge-zählt die Beschreibung eines Landes insonderheit undderen Örter.

Ornatu vario partes distincta per omnesVitibus et sylvis, pratorum fontibus agrisAequora, quaeque rigent humentia flumina, corpus.Inque humiles premitur valles, ubi surgit in altum,Verticibus celsis tollens ad sidera montes.

Das ist: Es wird vorgestellet, was an einem jedenOrte absonderlich vor Trachten, was vor Weinge-wächse, Wälder und Wiesen, auch was vor Strömeund Wasserflüsse allda sind, ingleichen, was überallvor tiefe Täler und hohe Berge zu befinden. Diesesalles und was wir jetzo gesagt haben, verspricht uns

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die Weltbeschreibung; aber die uns solche lehren sol-len, unter denen entstehet mancher Streit, sie streitenvon Grenzen, von den Längen, von den Breiten, vonder Grösse, von Mass und Distanz der Climatum undderselben Bewohnung, welche anders Eratosthenes,anders Strabo, anders Marinus, anders Ptolomäus, an-ders Dionysius, anders die jetzigen Neuen auslegen.So sind sie auch nicht einig wegen des Centri derErden, welches Ptolomäus in den Aequinoctialzirkulsetzet, Strabo aber hat dafürgehalten, dass solches aufdem Berg Parnasso in Griechenland anzutreffen sei,welchem Plutarchus und Lactantius beipflichten, diedafürgehalten, dass zur Zeit der Sündflut dieser zumUnterschied zwischen den Himmel und Wasser wäregemachet worden, wie Lucanus dieses beschreibt:

Hoc solum fluctu terras mergente cacumenEmicuit, pontoque fuit discrimen in astris.

Das ist: Dessen Spitze hat in der Sündflut alleinhervorgeraget und ist der Unterscheid zwischen demHimmel und Wasser gewesen. Wenn aber diese Ratiogelten sollte und genug wäre, so wäre ja das Mittelder Erden nicht auf dem Berge Parnasso, sondern aufdem Gordico, einem Berge in Armenien anzutreffen,welcher, wie Berosus Zeuge ist, der erste gewesen,welcher bei der Sündflut hervorgestossen und die

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Archa Noae zu sich genommen hat. Andere bringenandere Sachen für und sagen, wie durch den Flug desAdlers das Mittel der Erden sei erfunden worden; sosind auch Theologi, welche sich darum bekümmernund wollen, dass zu Jerusalem das Mittel der Erde zufinden sei, weil durch den Propheten geschrieben ist:Deus operatus est salutem in medio terrae. Gott hatdas Heil zuwege gebracht im Mittel der Erden.

Dieser Meinung pflichten bei Lucretius, Lactantiusund Augustinus, welche die Antipodas beständig ne-gieren, und die, welche geleugnet haben, dass ausserEuropa, Asia und Afrika noch eine bewohnte Welt zufinden sei, welches wir aber durch der Spanier undPortugieser Schiffahrten anders erfahren haben, dieauch den ganzen Umkreis der Welt, wider der PoetenGeschwätze und des Aristotelis falscher Meinung, unsals bewohnt gewiesen haben. Andere Irrtümer dieserWissenschaft betreffend haben wir eben bei der Hi-storienbeschreibung erzählet; aber indem diese Kunstdie ganze Erde und das unerforschliche Meer, die Ge-legenheit und Grenze der Insuln und Länder, unzähli-ger Völker ungewisse Ursprünge, Sitten und Artenuns zu lernen sich unterstehet, so haben wir keinenandern Nutzen davon, als dass wir, indem wir begie-rig sind, fremde Sachen zu erforschen, uns selbstnicht lernen erkennen. Wie Augustinus in seinen Con-fessionibus saget: Eunt homines admirari alta

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9.702 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 110Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

montium, et ingentes fluctus maris, et latissimos lap-sus fluminum, et Oceani ambitum, et gyros siderum,et relinquunt seipsos. Das ist: Die Menschen verwun-dern sich über die Höhe der Berge, über die er-schrecklichen Meereswellen, über den Abfall derStröme, über den Umfang des weiten OzeanischenMeeres und über den Kreis und Umlauf der Gestirne,vergessen aber hierüber ihrer selbsten.

Es saget auch Plinius: Insaniam esse metiri terram,quam dum metimur saepissime mensuram egredimur.Das ist: Es sei eine Torheit, die Erde zu messen, weilwir, indem wir sie messen, oftmals das Mass über-schreiten.

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9.703 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 110Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel XXVIII.

De architecturaoder

Von der Baukunst

Es ist kein Zweifel daran, dass die Baukunst, so-wohl den gemeinen öffentlichen als Privatgebäudenviel Nutzen und Zierat schaffe, Wände und Dächern,Mühlen und Wagen, Brücken und Schiffe, Tempelund Kirchen, Mauern und allerlei Art Gebäude, mitwelcher des Menschen Tun für sich und insgemeinkann gezieret werden. Eine Kunst, die sonst an sichselbst zwar sehr nötig und ehrlich ist, wenn sie nichtder Menschen Gemüt zu sehr einnähme und bezauber-te, also, dass fast niemand gefunden werde (wenn nurdie Mittel nicht ermangelten), der nicht, ob es schonzuvor gebauet, nicht wieder anders zu bauen Lusthätte; und durch diese unersättliche Begierde zubauen ist es dahin gekommen, dass in dieser Sachekein Ziel, Mass, noch Ende ist gesetzet worden. Da-hero sind Berge abgetragen, Täler vollgefüllt, Hügelgleichgemacht, Steinfelsen durchgraben, daher desMeeres aufgetane Vorgebirge, ausgehöhlte Erden-klüfte, ausgegrabene und in das Meer geleitete Flüsse,ausgeschöpfte Seen, ausgetrocknete Sümpfe und

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9.704 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 111Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Lachen, zusammengebrachte Meere, ersonnene See-tiefen, neu formierte und wieder mit dem Festlandeverbundene Insuln am Tag gekommen.

Welches alles, und dergleichen noch vielmehr, obes wohl mit der Natur selbsten streitet, doch bisweilender ganzen Welt nicht wenig Nutzen gebracht hat.Aber wir wollen dieses gegen dasjenige halten, wel-ches den Menschen gar keinen Nutzen bringet, unddas nur bloss zum Anschauen und zur Verwunderung,oder, wie Plinius saget, zur Pracht und Ostentation,dass einer oder der andere Geld hat, mit grossen Un-kosten aufgebauet wird, dergleichen sind der Ägyp-tier, der Griechen, der Italiener, der Babylonier undanderer Völker übernatürliche und wundersame Ge-bäude, als die Irrgärten, die Pyramides, Obelisci, Co-lossi und Mausoläi, des Rhampsinit, Sesostris undAmasis übernatürliche Statuen und der wunderlicheSphynx, in welchem der König Amasis begraben lie-get, welcher, wie Plinius saget, von natürlichem Steinausgehauen, wovon der Umkreis vorn an der Stirneauf hundertundzwei, die Länge hundertdreiundvierzigFuss gezählet wird. Aber es gibt noch viel grössereGebäude, als da ist des Memnonis und Semiramidisauf dem Bagisianischen Berge, ein Bild von siebzehnStadien. Welches Werk doch lange übertroffen hättederjenige Baumeister, er mag gewest sein, wer erwolle, entweder Stesicrates, wie Plutarchus meinet,

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9.705 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 112Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

oder Dinocrates, wie Vitruvius dafürhält, welcher ausdem Berge Athos des Alexanders Bildnis zu machenversprochen hatte; und Alexander hätte eine Stadt vonzehntausend Einwohnern zwischen den Händen gehal-ten. Wir wollen zu diesen auch rechnen die Babyloni-sche Warte, deren Grund, wie Herodotus bezeuget,auf allen Orten hundertfünf- und zwanzig Schritte insich begreift; jenen Turm, welcher in der Tiefe desMeeres auf gläsernen Säulen überbauet gewesen.Hierzu kommen die Gordianischen Häuser, die Arcustriumphales, der Götter Tempel, und sonderlich derDianae zu Epheso, daran ganz Asien zweihundertJahre gebauet hat, und die in Ägypten bei der latoni-schen Kirche von einem Stein aufgebaute Kapelle,welche vierzig Ellen lang, und mit einem Steine be-deckt war, auch des Assyrischen Königs Nabuchodo-nosors Bild aus Gold, welches sechzig Ellen an derGrösse gehalten und kapital gewesen, wer es nicht an-gebetet; auch noch ein anderes von vier Ellen lang auseinem grossen Topas, zu Ehren einer ÄgyptischenKönigin gemacht.

Hierher gehören auch unsere stolzen und prächtigaufgebauten Kirchen und Glockentürme, dadurch dasgeistliche Geld und Almosen verschwendet wird, da-durch viel Arme (Christi wahre Kirche und Gliedmas-sen) inzwischen hungern, dürsten, frieren, krank sindund Not leiden müssen, welches viel besser wäre,

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9.706 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 113Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

dass diese unterhalten würden.Aber was auch oftermals für Schaden und Verderb-

nis diese Kunst dem Menschen zuwege gebracht hat,das weisen die feindlichen Schlösser und Kriegs-festungen aus, und geben uns die Steinhaufen genug-sam Zeugnis, und das nicht allein auf der plattenErde, sondern wir sehens auch, dass sie Schiffe wieSchlösser und Läger gebauet haben, mit welchen siewie Piraten nicht allein auf dem gefährlichen Meereschiffen, sondern auch gar darauf wohnen; und ob wirschon von Natur selbsten in tausenderlei Gefahr aufdem Meere eingewickelt sind, so bringen sie uns dochdurch dieses Schiffen in viel grössere Gefahr, indemman eben auf dem Meere so stiehlet, raubet und Kriegführet, wie auf der festen Erde.

Von dieser Baukunst haben geschrieben erstlichAgatharchus, ein Athenienser, hernach Democritusund Anaxagoras; wiederum Silenus, Archimedes, Ari-stoteles, Theophrastus, Cato, Varro, Plinius, endlichVitruvius. Von den neusten aber Leo Baptista, Lucasund Albertus Durerius.

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9.707 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 113Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel XXIX.

De metallariaoder

Von der Bergwerkswissenschaft

Dieser Baukunst ist auch unterworfen die metalli-sche Bergwerkswissenschaft, eine Kunst, die nichtwenig Nachsinnens bedarf. Denn durch diese mussman erkennen lernen, wo eines jedweden Ortes Adernliegen, wo sie hingehen und wo sie aufhören und zubesteigen sind. Von dieser hat bei den Alten StraboLampsacenus ein Buch geschrieben, welches er »Vonden metallischen Maschinen« titulieret hat. Aber wieaus den Ungeheuern mineralischen Steinen und flie-ssendem Feuer das Erz gekocht, und wenn es sie mit-einander vermenget, dann von einander unterschiedenwird, so haben wir doch sonst keine oder gar wenige,die uns diese Kunst bisher recht gelernt haben; viel-leicht, weil es eine servilische und Handwerkskunstist, so wird sie von den Gelehrten und subtilen Gemü-tern verachtet.

Aber, als ich vor etlichen Jahren von Ihro Kaiserl.Majestät über etliche Bergwerke gesetzet wurde, habeich allen Sachen, so viel ich gekunnt, nachgegrübeltund hernach angefangen, ein sonderlich Buch davon

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9.708 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 114Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

zu schreiben, welches ich auch noch diese Stundeunter Händen habe und noch kontinuierlich vermehre,der Hoffnung lebend, dass ich nichts, was zu desErzes Erfindung, zur Erkenntnis der Adern und Bau-ung der Berge, oder was sonst bisher dieser Kunstwegen unbekannt gewesen, diene, unterlassen will.Von dieser Kunst rühret all der Menschen Reichtumher, dessen Geiz die Menschen so eingenommen hat,dass sie lebendig fast zur Höllen fahren und auf denTrümmern der Natur in den Sitzen der teuflischenGeister den Reichtum suchen, wie der Poet Ovidiussaget:

Itum est in viscera terrae,Quasque recondiderat, Stygiisque admoverat umbris,Effodiuntur opes, irritamenta malorum.Jamque nocens ferrum, ferroque nocentius aurumProdierat, cujus dira Cupidine tandemOmne nefas, fugere pudor, verumque fidesque;In quorum subiere locum fraudesque doliqueInsidiaeque et vis et amor sceleratus habendi.

Das ist: Man hat die Erde durchsucht, und die irdi-schen Güter und Reichtümer, so fast unter der Höllenverborgen liegen und eine Anreizung zu allem Bösensind, ausgegraben. Dadurch das schädliche Eisen unddas noch schädlichere Gold am Tag gekommen,

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9.709 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 115Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

welches die Menschen mit einer so verfluchten Be-gierde entzündet, dass sie alles Recht, Ehrbarkeit,Treu und Aufrichtigkeit verjaget, an deren Stelle lau-ter List und Betrug, Hinterstellungen und böse Be-gierden sich eingeschlichen. Auch wie ein andererPoet saget:

Auro pulsa fides, auro venalia jura.

Das ist: Durch das leidige Gold Ist alle Treue undGlauben verjaget, und das Recht und Billigkeit da-durch feil gemachet worden. Derowegen hat der einrecht schändlich Stück erfunden, der am ersten dieGoldgruben und die andern Erzadern erfunden hat,und, wie Plinius sagt, haben sie uns die Erde destoschädlicher gemachet, dass sie nicht weniger für ver-wegen zu achten seien, als die, die Perlen aus derTiefe des Meeres hervorsuchen. Es ist eine Erfindung,welche vielen, jedoch worüber die Historienschreibernicht einig sind, zugeteilet wird. Meistenfalls wird da-fürgehalten, dass erstlich das Blei in den Cassiteri-schen Insuln, so gegen Celtiberiam liegen, erfundensei; das Erz aber in Zypern, das Eisen in der InsulKreta, und das Gold und Silber bei dem Pangaeo,einem Berge in Thrazien, endlich aber ist hiermit dieganze Welt infizieret worden.

Die Skythen allein, wie Solinus uns berichtet,Philosophie von Platon bis Nietzsche

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9.710 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 116Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

haben die Benutzung des Goldes und Silbers verdam-met; damit haben sie sich in Ewigkeit von dem öffent-lichen Geiz wollen abtun. Von dem Überfluss desGoldes ist bei den Römern ein alt Verbot rausgangen,durch welches, wie Plinius sagt, ist verboten worden,dass in dem Vercellischen Gebiete von einem Gold-grubenpächter nicht über fünf Leute sollen gehaltenwerden.

Aber wollte Gott, dass die Menschen mit solchemFleiss nach dem Himmlischen trachteten, mit wel-chem sie die Eingeweide der Erde durchgrübeln undsich Reichtum dadurch zu erlangen gedenken, welcherdoch niemand so glückselig machen könnte, dass ihmnicht oftermals die Mühe, so er darauf verwendethätte, gereuen sollte.

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9.711 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 116Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel XXX.

De astronomiaoder

Von der Sternseherkunst

Nun aber gibet sich an dem höchsten Orte dieSternseherkunst an, eine ganz betrügliche Kunst vol-ler schwätzhafter Fabeln der Poeten, deren Erfinderfürwahr schier freche Leute und Urheber von Unge-heuerlichkeiten sein müssen, welche mit einer leicht-fertigen Kuriosität nach ihrem Gefallen und über-menschliches Vermögen uns den Umkreis der Him-mel vorstellen, und der Gestirne Masse, Bewegung,Figur und Gestalt, gleich als wenn sie nur neulichvom Himmel herunter gefallen und droben lange ge-wesen wären, uns abmalen, durch welche, wie sie da-fürhalten, alle andere Sachen gezeiget und erforschetwerden könnten, und sind doch untereinander so un-eins, so contrar und streitig, dass ich mich nichtscheue, mit Plinio zu sagen : Hujus artis inconstan-tiam palam arguere, ipsam esse nullam. Das ist: Die-ser Kunst Unbeständigkeit bezeuget öffentlich, dasssie an sich selbsten nichts ist. Indem auch von ihremUrsprung und Principiis anderer Meinung gewesensind die Indianer, anderer die Chaldäer, anderer die

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9.712 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 117Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Ägyptier, anderer die Mauritianer anderer die Jüden,anderer die Araber, anderer die Griechen, anderer dieLateiner, anderer die alten, anderer aber die neuenSkribenten.

Sie traktieren von der Zahl der Sphären oder Ku-geln; Plato, Proclus, Aristoteles und alle Astrologi,bis fast auf gar wenige vor den Alphonsum, haben nuracht Sphären oder Runde gezählt. Averroes undRabbi Isaac aber haben derselben neun statuiert. Die-ser Meinung ist auch gewesen Azarcheles Maurus,auch Tebith und der gelehrte Rabbi Isaac und Alpe-tragus, welchen zu seiner Zeit beigepflichtet bat Al-bertus Teutonicus, den man sonst, ich weiss nicht umwelche Tat, den Grossen genannt hat, und fast alle,die der Bewegungen Zu- und Abnahme gebilligthaben. Die neuesten Sternseher aber zählen zehnSphären oder Runde, welche auch nach des AlbertiMeinung selbst der Ptolemäus statuieret hat; auchAverroes hat dafür gehalten, dass deren neun gewesensind. Alphonsus hat anfangs der Meinung des RabbiIsaac, welcher mit dem Zunamen Bazan ist genanntworden, gefolget, und gleichfalls neun Sphären statu-ieret, nach Verfliessung vier Jahre aber hat er in sei-nen Tabellen der Meinung Albuhassen Mauri und desAlbategni adhärieret, und ist bei acht verblieben.

Der Rabbi Abraham Avenazra selber auch, und derRabbi Levi, wie auch Rabbi Abraham Zacutus haben

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9.713 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 118Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

dafürgehalten, dass über die acht keine beweglicheSphäre wäre, doch haben sie von Bewegung der Ster-ne und von den Fixsternen unter sich grossen Streitgehabt. Die Chaldäer und Ägyptier aber haben nureine Art der Bewegung affirmieret, denen haben bei-gepflichtet Alpetragus, und von den neuen AlexanderAquilinus; die andern Astronomen aber, von demHipparcho an bis auf unsere Zeiten, die schreiben die-ser Sphäre zu, dass sie durch viele Bewegungen rum-getrieben würde; die Talmudischen Juden die teilenderselben einen zweifachen Motum zu; Azarchelesund Tebith, wie auch Johannes de Monte Regio, eineArt Trepidation, welches die Zunahme und Abnahmewäre, über die kleinen Zirkel des Stiers und derWage, aber auch in diesen differieren sie; denn Azar-cheles spricht, dass das Bewegliche von dem Unbe-weglichen über zehn Grade nicht erfernet sein könnte,Tebith aber nicht über vier, jedoch mit neunzehn Mi-nuten, Johannes de Regio Monte nicht über acht. Da-hero dieser dafür hält, dass die Fixsterne nicht allezeitnach einem Teile der Welt gingen, sondern, dass siedahin immer wiederum umkehrten, wo sie wären her-kommen.

Aber Ptolomäus, Rabbi Levi, Avenazre, Zacutus,und unter den neusten Paulus Florentinus und Augu-stinus Ritius, mit welchem ich in Italien sonderlichfamiliar gewesen, halten dafür, dass die Sterne nach

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9.714 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 119Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

ihren zugeteilten Zeichen stets gleichmässig bewegtwürden.

Die allerneusten Astronomi aber schreiben der ach-ten Sphäre eine dreifache Bewegung zu, und eigent-lich eine, welche wir oben die zitternde oder Trepida-tionis genennet haben, welche in siebentausend Jahrennur einmal rumkomme; die andere, welche sie die zir-kelrunde oder Gyrationis nennen, von der neuntenSphära an, deren Lauf nicht weniger als in neunund-vierzigtausend Jahren geendiget wird; die dritte vonder zehnten Sphära, welche sie Motum primi mobilis,oder die geschwinde und stete Bewegung nennen,wäre, welche in Tag und Nacht ihren Lauf vollbräch-te, und täglich wiederum ad suum principium, oderihren Anfang käme. Diejenigen aber, die der achtenSphäre einen doppelten Lauf beimessen, die sind auchnicht alle untereinander eins, denn die Neuen, welcheden Motum trepidationis, oder zitternden statuieren,die schliessen, dass sie in der höchsten Sphära ge-zwungen würde. Aber Albategni, Albuhassen, Alfa-granus, Averroes, Rabbi Levi, Abraham Zacutus undAugustinus Ritius meinen, dass die tägliche Bewe-gung, welche andere die geschwinde nennen, mit kei-ner Sphära zu tun hätte, sondern geschähe von demganzen Umkreis des Himmels, ja der Averroes selb-sten saget, dass der Ptolomäus (in seinem Buch derErzählungen) den Motum Gyrationis negieret hätte,

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9.715 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 119Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

und dass der geschwinde Motus vom ganzen Himmelentstünde, aber da kommen sie wiederum nicht über-ein wegen der Grösse und Masse des Motus der ach-ten Sphära und der Fixsterne. Denn Ptolomäus hältdafür, dass die Fixsterne um einen Grad in hundertJahren fortschreiten; nach Albategni geschieht das inSechsundsechzig Jahren; dem pflichten bei RabbiLevi, Rab, Zacutus und Alphonsus in der Korrektionihrer Tabellen. Azarcheles Maurus aber ermahnetfünfundsiebzig Jahr, Hipparchus achtundsiebzig, dieHebräer, als Rabbi Josue, Moyses Maymonus, RabbiAvenarra, und nach ihnen Haly Benrodam siebzigJahr, Johannes de Monte Regio achtzig, AugustinusRitius, der fast das Mittel unter des Albategni und derHebräer Meinung statuiert, hält dafür, dass die Fix-sterne nicht geschwinder als in Sechsundsechzig Jah-ren, und nicht langsamer als in siebzig Jahren fort-schreiten.

Aber Rabbi Abraham Zacutus bezeuget, dass amHimmel zwei Sterne wären, welche ganz und gar demordentlichen Lauf zuwider wären, und nicht eher alsin hundertvierundvierzig Jahren den ihrigen vollende-ten; so hält auch Alpetragus selbsten dafür, dass nochviele Gänge und Bewegungen in dem Himmel zu fin-den, welche den Menschen noch ganz unbekanntwären, welches, wenn es also wäre, so können ja auchSterne und Corpora sein, mit welchen diese

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9.716 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 120Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Bewegungen übereinkommen, die entweder die Men-schen wegen der grossen Höhe nicht haben sehen oderdurch ihre Kunst nicht observieren können. Diesempflichtet bei Favorinus, ein Philosophus bei dem Gel-lio, in seiner Rede wider die Genethliacos Derohalbenbleibt nichts übrig, als dass noch kein Astronomusvom Himmel kommen ist, welcher uns die rechtewahre Bewegung der Fixsterne gelehret hätte, so ist jaauch noch nicht des Martis wahrer Lauf auf den heuti-gen Tag uns recht bekannt, worüber auch Johannes deMonte Regio, welcher in einer Epistel ad Blanchinumden Irrtum dessen Laufes gewiesen, geklagt; auchGuilielmus de Sancto Clodoaldo, ein berühmterAstrologus, in seinen Observationibus schon fürzweihundert und mehr Jahren eine Schrift, welche kei-ner von den Nachkommen noch bishero hat korrigie-ren können, uns hinterlassen hat; und dass der rechteEintritt der Sonnen in den Aequinoctialpunkt zu erfin-den, unmöglich wäre, welches Rabbi Levi mit vielenGründen und Anmerkungen auch gebilliget hat.

Aber was wollen wir von dem sagen, was wir her-nach erfahren haben, und wie die Ersten und unsereVorfahren müssen geirret haben. Denn viel haben mitdem Tebith dafür gehalten, dass die Deklination derSonnen kontinuierlich variiere. Andere Gedanken hatvon derselben gehabt Ptolomäus andere der Albateg-nus, Rabbi Levi, Avenazra und Alphonsus; so haben

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9.717 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 121Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

sie auch von der Bewegung der Sonne und des JahresAusrechnung andere Meinung, als Ptolomäus undHipparchus uns gelehret haben.

Von des Himmels Zeichen und der Fixsterne Sitzhaben andere Meinung geführet die Indier, andere dieÄgyptier, andere die Chaldäer, andere die Hebräer,andere die Araber, andere der Timotheus, andere Ar-satilis, andere Hipparchus, andere Ptolemäus, anderedie neusten Skribenten. Hier will ich nicht berühren,was sie von dem Ursprung des Himmels linkisch undrechts vor närrische Händel vorgebracht, von welchendoch der Thomas Aquinas und Albertus Teutonicus,als abergläubische Theologi, indem sie etwas Ernst-haftes davon haben sagen wollen, nichts, dass sie unsgewiesen hätten, erfinden können. Ja, auch was dieGalaxias oder Milchstrasse sei, das wissen die Astro-logi diese Stunde noch nicht. So will ich mich auchnunmehro nicht bekümmern oder länger aufhalten indem, was sie von den Eccentricis, Concentricis, Epi-cyclis, Retrogradationibus Trepidationibus, Accessi-bus, Recessibus, Raptibus und andern ihren Mensu-ren und Zirkeln hersagen, weil solches alles kein gött-liches oder natürliches Werk, sondern der Mathemati-corum Ungeheuer und erdichtetes Geschwätze ist,welches von der verderbten Philosophie und der Poe-ten Fabeln herkommen ist, aber welchen doch, alswahrhaftigen und von Gott herrührenden oder der

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9.718 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 122Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Natur ähnlichen Sachen ihre Meister sich nicht schä-men dergestalt Glauben beizumessen, dass, was untenauf der Erde geschieht, notwendig von oben her durchdieses Geschwätze müsse hergenommen werden undmeinen, dass solche Bewegungen ein Anfang allerBewegungen, was unten geschieht, sein müsste. Der-gleichen Sterngucker hat eine Magd mit einer artli-chen Rede begegnet und gestraft; denn als sie einst-mals mit ihrem Herrn, dem Anaximene, rumspazierte,und er die Gestirne betrachten wollte, auch dessent-wegen gar sehr frühe aus dem Hause ging und nachden Sternen guckete, ist er in eine Grube gefallen. Dahat die Magd zu ihm gesaget: Herr, ich wundere mich,dass Ihr wissen wollet, was oben im Himmel ist, undwisset nicht, was unter Euch für den Füssen ist. Undmit dergleichen Scherz sagt man, sei auch Thales Mi-lesius von der Magd Tressa verlacht worden. Fastdergleichen saget von diesen Leuten Tullius, wenn erspricht: Astrologi, dum coeli scrutantur plagas, quodante pedes est, nemo eorum spectat. Das ist: DieAstrologi, indem sie sich um das Gestirne beküm-mern, so siehet niemand unter ihnen, was unter denFüssen ist. Ich selbst habe diese Kunst als ein Knabevon meinen Eltern studieret, und habe nicht wenigZeit und Arbeit darauf gewendet; endlich bin ich ge-wahr worden, dass diese Kunst auf nichts anders be-stehe und ganz und gar auf keinem andern Fundament

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beruhe, als auf lauter Geschwätze und erdichtetenEinbildungen, und hat mich hernach die Mühe undArbeit, so ich daran gewendet, gereuet. Und wolltenur wünschen, dass ich nicht mehr daran gedenkensollte. Ich wollte es auch nicht tun, wenn nicht bis-weilen hoher Leute Bitte, welche anstatt der Befehlesind, und die zu solchen Sachen Lust haben, mich of-termals wiederum darzu brächten und wenn nicht derhäusliche Nutzen mir geraten hätte, dass ich mich un-terweilen ihrer Narrheit gebrauchen und ihrem unnüt-zen Geschwätze (weil sie doch Geschwätze habenwollen) gehorchen müsste. Ich sage Geschwätze; dennwas begreift die Sternguckerkunst anders in sich, alslauter poetische Fabeln und Märchen, und solche un-geheuere Erdichtungen, womit sie den ganzen Him-mel vollmachen? Es schicket sich auch keine Art derMenschen besser zusammen, als die Astrologi undPoeten, nur dass sie wegen des Morgen- und Abend-sterns nicht miteinander einig sind, indem die Poetenbejahen wollen, dass an demselben Tage, da der Mor-genstern vor Aufgang der Sonnen erschienen, an dem-selben müsste er auch wieder nach Untergang derSonnen untergehen, welches aber die Astrologi fastalle leugnen, ohne nur diejenigen, welche die Venusüber die Sonne setzen, weil die Sterne, welche vielweiter von uns sind, eher auf- und später untergehen.Aber diesen Streit vom Sitz der Sterne und Planeten,

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wenn er mir eben nicht eingefallen wäre, hätte ich mitStillschweigen vorbeigehen lassen, indem er mehr zurPhilosophie als Astrologie gehöret. Denn Plato setzetnach dem Mond die Sonne, und das tun auch dieAgyptier, die die Sonne zwischen den Monden undMercurium stellen; Archimedes aber und die Chaldäersagen, dass die Sonne die vierte in der Ordnung sei;Anaximander und Metrodorus Chius, wie auch Gra-tes, die setzen die Sonne über alle am höchsten, undnach ihr den Monden. Der Xenocrates meinet, dassalle Sterne in der gleichen Fläche zusammen bewegetwerden. So sind sie auch nicht wenig discrepant vonder Sonnen, Monden und der Sternen Grösse und Di-stanz, und ist unter ihnen keine Beständigkeit undWahrheit; es ist aber auch kein Wunder, denn ebendasjenige, was sie durchgrübeln, das ist ja selbstendas Unbeständigste und aller Fabeln und Mährleinvoll, denn die zwölf himmlischen Zeichen selbst imNorden und im Süden sind nichts als Fabeln. Nur die-ses ist der Unterschied unter den Astrologis und Poe-ten, dass jene davon sich unterhalten und werdenreich, diese aber, die Erfinder der Fabeln, leiden dabeiHunger und Kummer.

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9.721 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 124Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel XXXI.

De astrologia iudiciariaoder

Von der Wahrsagerkunst

Es ist noch übrig eine andere Art von der Astrolo-gie, welche sie die wahrsagerische Kunst nennen, unddie da von Rechnung der Jahre der Welt, von Nativi-täten, von gewissen Fragen und Gedanken, von Wir-kungen und andern zukünftigen Sachen, die doch dergöttlichen Disposition allein auch eingestellet sind,den Ausgang wissen und zuvor sagen wollen; auchwie man sich dafür hüten könne und solle.

Dahero holen die Astrologi die Wirkung der himm-lischen Gestirne, von undenklichen Jahren und weitüber Menschengedanken, ja über Prometheus Zeiten,ja noch für der Sündflut her, und halten dafür, dassaller Tiere, Steine, Kräuter, kurz was unten auf Erdenist, ihre Wirkung und Kräfte der Sternen Influenz zu-zuschreiben sei. Fürwahr recht abergläubische undgottlose Leute, welche nur dieses einige bedenkensollten, dass Gott die Kräuter, das Gewächse undBäume schon vor dem himmlische Gestirn geschaffenhat; ja auch die vortrefflichsten Philosophi als der

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Pythagoras, Demokritus, Bion, Favorinus, Panaetius,Carneades, Possidonius, Timäus, Aristoteles, Plato,Plotinus, Porphyrius, Avicenna, Averroes, Hippocra-tes, Galenus, Alexander Aphrodisäus, wie auch Cice-ro, Seneca, Plutarchus und andere mehr, welche miteiner sonderbaren Kunst und Wissenschaft der SachenUrsachen zu erforschen bemühet gewesen, die habenuns niemals auf dies astrologische Wesen gewiesenund gesetzet; angenommen aber, die Bewegungen derSterne wären solche wahre Ursachen, so können siedoch nichts Gewisses davon judizieren, weil sie denLauf der Sterne und ihre Wirkung niemals recht inne-gehabt, welches von allen Weisen nicht anders dafürgehalten worden; so sind auch unter ihnen selbstendie erfahrensten Mathematici und viel andere neue be-rühmte Autores, die da bekennen müssen, dass es un-möglich sei, dass man hierinnen wegen der andernUrsachen, die mit dem Gestirne übereinkommen undzugleich mit in acht genommen werden müssen, wasGewisses finden könnte. Und dieses gebeut auch Pto-lomäus, dieweil viel Ursachen im Wege stehen, als dasind die Gewohnheit, Sitten, Auferziehung, dieFurcht, der Ort, die Geburt, das Geblüt, die Speise,der Menschen Libertät oder Zucht, indem die Gestir-ne, wie man zu sagen pfleget, nicht necessitieren, son-dern nur inklinieren.

Die nun gewisse Reguln, wie man von dieser SachePhilosophie von Platon bis Nietzsche

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zu judizieren, vorgeschrieben haben, die irren dermas-sen unter sich selbst, dass es unmöglich ist, dass derWahrsager aus so vielen veränderlichen und widersich selbst streitenden Meinungen etwas Gewissesstatuieren könne, wenn er nicht innerlich einen Wahr-sagergeist bei sich hat, oder vielmehr eine heimlicheEingebung von dem bösen Feinde, damit er eines unddas andere unterscheiden, oder auf eine andere Artden Leuten seine Meinung beibringen kann. Welcheraber damit nicht begabet ist, der kann, wie Halysaget, kein Wahrsager in der Astrologie sein, daherorühret solches nicht sowohl von der Kunst, als voneiner verborgenen Zauberei her. Die Astrologie be-steht in dem, dass man was zuvor sagen kann, undgleich wie man gelegentlich ein Buch aufschlagen undzufällig auf einen Vers treffen kann, der wie eine rich-tige Prophezeiung aussieht, so geschiehts bisweilen,dass man dadurch ohngefähr was Wahres hersaget,und solches nicht aus der Kunst des Wahrsagers, son-dern nur bloss aus dem Glücke. Das bezeuget auchPtolomäus, wenn er spricht: Scientia stellarum, ex teet illis. Das ist: Die Wissenschaft der Sterne ist ausdir und aus ihnen.

Womit er anzeigen wollen, dass die Wahrsagungder verborgenen und zukünftigen Sachen nicht sowohlherkomme aus der Observation der Sterne, als aus desGemütes Affekten. Derowegen bleibet es dabei, dass

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bei dieser Kunst keine Gewissheit sei, sondern siekann nach Befindung auf alle Sachen gedrehet wer-den, welche entweder aus den Mutmassungen oderaus des Teufels unerforschlichen Eingeben, oder ausdem abergläubischen Schicksal herkommen. Derowe-gen ist diese Kunst nichts anders, als eine abergläubi-sche und betrügliche Mutmassung, welche nach lan-gem Gebrauch der Zeit sich eine Wissenschaft vonUngewissen Dingen zugeeignet, dadurch deren Mei-ster die Ungelehrten ums Geld putzen, und sie selb-sten werden zugleich mitbetrogen. Denn wenn ihreKunst wahr wäre und von ihnen recht verstandenwürde, so kämen nicht in ihren Wahrsagen soviel Irr-tümer herfür; weil es aber nun also ist, so ist es ja um-sonst, närrisch und ungeräumet von solchen Ungewis-sen Sachen, und welche sie nicht verstehn eine Wis-senschaft zu profitieren. Aber diejenigen, die unterihnen vorsichtig gehen wollen, die bringen alle zu-künftige Sachen ganz obskur für und also, dass sie esauf eine jedwede Sache, auf jedwede Zeit, Fürsten undLand applizieren können, welches sie mit einem zwei-felhaften, wahrsagerischen, künstlichen Betrug artlichzu praktizieren wissen. Wenn es nun geschieht, dassonngefähr was eintrifft, so sammeln sie deswegen dieUrsachen zusammen und stabilieren ihre alten Weis-sagungen mit neuen Rationibus, aber post factum,damit sie dafür gehalten werden möchten, als wenn

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sie es zuvor gesehen hätten; wie die Ausleger derTräume, wenn sie den Traum gesehen haben, und ver-stehen doch nichts Gewisses, wenn aber hernachihnen etwas widerfahren ist, so muss das, was ihnenwiderfahren, der Traum bedeutet haben.

Über dieses, weil es ja unmöglich ist, in einer sol-chen Menge nicht Sterne zu finden, welche böse odergut gesetzet stehen, so nehmen sie daher Gelegenheitzu sagen was sie wollen, und wem sie wohl wollen,dem sagen sie mehr, nämlich Leben, Glück, Ehre,Reichtum, Macht, Sieg, Gesundheit, Kinder, Freunde,Ehestand, priesterlich und oberkeitlich Amt oder an-dere Sachen mehr. Denen aber, denen sie übel wollen,Tod, Galgen, Schande, Elend, Verlust und lauter Un-glück, und solches nicht sowohl aus dieser betrügli-chen Kunst als aus leichtfertigen Affekten, und setzenalso die gottlosen, kuriosische und abergläubischeLeute vollends ins Verderben, ja dass sie unter Für-sten und Herren, Land und Leuten oftermals nurschädlichen Krieg und Aufruhr erwecken. Wenn nunihnen das Glück wohl will, dass eines oder das andereohngefähr eintrifft, da siehet man Wunder, wie sie denKamm in die Höhe heben und wie sie sich mit ihrenWahrsagen so stolz gebärden; wenn sie aber lügenund werden der Lügen überzeuget, so wollen sie eineLüge mit der andern zudecken und bemänteln undsagen: der Weise herrschet über das Gestirne; da doch

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fürwahr weder die Gestirne über den Weisen, wederder Weise über das Gestirne, sondern Gott über bei-des herrschet; oder sagen, die Ungeschicklichkeit desEmpfängers hätte der himmlischen Influenz oder Ein-fluss widerstanden; wenn man nun Glauben und Ge-währ von ihnen fordert, so werden sie zornig. Undfinden doch wohl diese Landstreicher bei Fürsten undObrigkeit Glauben, und die beschenken sie nochdarzu stattlich, da doch fürwahr in einer Republikkeine schädlicheren Leute gefunden werden können,als welche aus dem Gestirne, aus der Hände Zeichen,aus den Träumen und aus andern Wahrsagerstückenzukünftige Dinge zu wissen versprechen und Wahrsa-gungen aussprengen; und sind doch Leute, die Chri-sto, und allen die an ihn glauben, feind sind, überwelche Cornelius Tacitus geklaget hat, wenn er saget:Mathematici, genus hominum principibus infidum,credentibus fallax, a civitate nostra semper prohiben-tur sed expelluntur nunquam. Das ist: Die Mathema-tici, denn also nennet man sie, ist eine Art der Leute,welche den Fürsten untreu, den Leichtgläubigen be-trüglich, denen unsere Stadt verboten, aber darausniemals getrieben werden.

Ja auch Varro, ein trefflicher Autor, bezeuget, dassdie Vanität des Aberglaubens aus dem Schoss derAstrologie herkommen wäre. In Alexandria war eingewisser Zoll, den die Astrologi geben mussten,

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Blacenominon, von der Torheit so genannt, weil siedurch diese sinnreiche Narrheit Gewinst suchten; espflegen auch nichts als närrische Leute sie zu konsu-lieren und um Rat zu fragen. Denn, kommt des Men-schen Leben und Glück von dem Gestirne her, wasfürchten oder bekümmern wir uns dann? So lasset unsja vielmehr dieses Gott, welcher nicht irren nochBöses tun kann, anheim stellen, und weil wir Men-schen sind, so lasset uns doch über menschliche undnicht über hohe, obere und göttliche Sachen, und überunsere Kräfte und Vermögen klug sein.

Ja weil wir auch Christen sind, so lassen wir billigChristo die Stunden, und Gott dem Vater alle Zeitenund Augenblicke, welche er zu seiner Macht und Ge-walt gesetzet hat. Wenn aber unser Glück und Lebennicht von dem Gestirne kommt, so läuft ja alle Astro-logie auf nichts hinaus.

Aber es ist die Art der Menschen so furchtsam undabergläubisch, die, wie die Kinder, für die Fabelge-spenster sich mehr fürchten als für was Wahres, undglauben alles, es mag wahr sein oder nicht, haltenauch mehr von demjenigen, was unmöglich, als wasder Wahrheit ähnlich ist; und die Astrologen müsstenHungers sterben, wenn nicht diese Leute wären. Die-ser närrischen Leute Leichtgläubigkeit vergisset dasVergangene, verachtet das Gegenwärtige, und ist be-gierig auf das Zukünftige. Also sind sie günstig ihren

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Betrügern, dass, wenn etwa eine Unwahrheit bei an-dern Leuten mit unterläuft, so meinen sie, es wärealles erlogen; dahingegen, wenn bei diesen Lügenmei-stern ja was Wahres sich ohngefähr befindet, so mes-sen sie im übrigen allen ihren Lügen Glauben bei; diesind fürwahr, welche ihnen allzusehr trauen, unterallen Leuten die Unglückseligsten, und pflegen end-lich durch solche abergläubische Geschwätze ihrenUntergang zu holen.

Welches an dem Zoroastre, Pharaone, Nabuchodo-nosore, Caesare, Crasso, Pompejo, Diotharo (?), Ne-rone und Juliano Apostata die Alten bezeugen, die,gleich wie sie dem unnützen Wesen sind ergeben ge-wesen, also haben sie durch diese ihre Confidenz einunglücklich Ende genommen; und denen sie allesFröhliche prognostizieret haben, denen ist das aller-traurigste widerfahren, wie dem Pompejo und demCäsari geschehen ist, denen sie durch ihre Astrologieversichert, dass sie beide alt und mit höchster Ehresterben sollten, da sie doch beide geschwind undelend sind umkommen.

Fürwahr ein recht halsstarrig und betrügerischVolk, die da zukünftige Sachen wissen wollen, da siedoch nicht wissen, was geschehen oder gegenwärtigist, und indem sie von allem Verborgenen Professionmachen, so wissen sie oft nicht, was in ihrem eigenenHause oder in ihrem Ehebette geschieht, wie einen

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dergleichen Astrologurn der Engelländer Morus mitdiesen Versen artlich beschrieben hat:

Astra tibi aethereo pandunt sese omnia vati,Omnibus et quae sint fata futura, monent.

Omnibus ast uxor quod se tua publicat id teAstra (licet videant omnia) nulla monent.

Saturnus procul est, jamque olim coecus, ut ajunt,Nec prope discernens a puero lapidem.

Luna verecundis formosa incedit ocellis,Nec nisi virgineum virgo videre potest.

Juppiter Europen, Martem Venus, et Venerem Mars,Daphnen Sol, Hercen Mercurius recolit.

Hinc factum, Astrologe, est, tua cum capit uxoramantes,

Sidera significentur nihil inde tibi.

Das ist: Du gibest vor, die Sterne zeigen und erin-nern einem alles dessen, was ihnen begegnen solle.Wie kommt es aber, dass dir die Sterne nicht kundtun, wenn deine Frau mit andern ihrer Lust pfleget, obsie es gleich alle sehen? Allein, der Saturnus ist zuweit davon, und schon vorlängst nach gemeiner Aus-sage gar blind gewesen. Der Mond ist allzu scham-haftig, solches an Tag zu geben. Der Jupiter aber pfle-get selbst seiner Lust mit der Europa. Die Venus

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liebet den Martern, und der Mars die Venerem; dieSonne die Daphnen und der Mercurius die Hercen;dahero kommt es, mein lieber Sternseher, dass dir dieSterne nichts davon anzeigen, wenn gleich deine Frauungehindert andere aus und einlässet.

Überdies so ist ja allen bekannt, wie die Jüden,Chaldäer, Ägyptier, Persier, Griechen und Arabervoneinander in den Reguln dieser Kunst dissentieren,und wie Ptolomäus alle der Alten ihre Astrologie ver-worfen, und diesen der Abenroda defendieret. Alsohat Albumasar diesen wieder angegriffen, alle dieseaber hat Abraham Avenazre, ein Hebräer, vernichtet.

Endlich ist Dorothäus, Paulus Alexandrinus, Ephe-stion, Messahalla und fast alle die andern in der Mei-nung, dass, was in dieser Wissenschaft gelehret wird,für wahrhaftig nicht kann gesaget werden, indem siesich alleine auf die Experienz fundieren, und kommendoch auch in diesem nicht alle überein; wie sie dannnicht wenig von Eigenschaften der astrologischenHäuser daraus sie die Wahrsagung aller Begebnisseerhaschen wollen, untereinander uneinig sind, dennanders judiziert davon Ptolomäus, anders Heliodorus,anders Paulus, anders Manlius, anders Porphyrius,anders Abenragel, anders die Ägyptier, anders dieAraber, anders die Griechen und Lateiner, anders dieAlten und anders die Neuen.

Denn gleich wie unter ihnen noch auf keinemPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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gewissen Fusse stehet, wie der Ursprung oder der An-fang und das Ende der Häuser, und auf was für Art esmuss gesetzet werden, indem solches anders dieAlten, anders Ptolomäus, anders Campanus, andersJohannes de Regio Monte, formiert haben; daher ge-schiehts, dass sie oftmals selbst ihren Observationi-bus nicht trauen, wenn sie mit den Ortern ihnen ganzunterschiedene Eigenschaften, Anfang und Ende zu-schreiben. Fürwahr eine gottlose Art der Menschen,welche das, was Gottes alleine ist, dem Gestirne zu-schreiben, und die uns, als Freigeborne, zu Knechtenund Sklaven der Gestirne machen wollen; und da wirdoch wissen, dass Gott alles gut erschaffen hat, sowollen sie doch schädliche und böse Sterne, welcheUrheber der bösen Influenzien wären, uns für dieAugen malen, und tun Gott und dem Himmel unrecht,wenn sie statuieren, dass droben in dem himmlischenRat böse Sach zu tun wäre beschlossen worden, undwas von uns durch unsern eigenen bösen Willen be-gangen wird, oder sonsten uns Böses begegnet, dasschreiben sie alles dem Gestirne zu; ja sie bekennenauch mit einer leichtfertigen Unbesonnenheit die Ket-zereien und den Unglauben, dass das Geschenke derProphezeiung, die Kraft der Religion, Heimlichkeitdes Gewissens, Gewalt über die Teufel, Wirkung derWunderwerke und des Gebets, ja der ganze Stand deszukünftigen Lebens von den Sternen herkomme und

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aus den Sternen erkennet werden könnte. Denn siesagen, wann das Gestirn, der Zwilling genannt, auf-steiget und sich mit dem Saturno und Mercurio unterdem Wassermann konjungieret, so würde droben inder neunten Himmelsplaga ein Prophet geboren, da-hero, wäre Christus der Herr der Tugend so voll, weiler an seinem Hause den Saturnum in den Zwillingengehabt hat; auch den Gott Jupiter machen sie zu demvornehmsten Patron über alle Religionen und Sekten,durch Vermischung und Konjunktion der andern Ster-ne; also gebe dieser, der Jupiter mit dem Saturno diejüdische Religion, mit dem Marte die chaldäische, mitder Sonne die ägyptische, mit der Venus die sarazeni-sche, mit dem Mercurio die christliche, mit dem Mon-den aber diejenige, welche die Antichristen sagen,dass sie noch zukünftig wäre; auch dass Moyses denJüden den Sabbath zu heiligen aus der Astrologie undderen Gründen gewiesen hätte; daher irreten die Chri-sten gar sehr, dass sie den Sonnabend nach jüdischerArt nicht feiern wollten, da dieses doch der Tag Sa-turni wäre. Sie meinen, dass die Treue gegen Gott undMenschen, die Religion und die Geheimnisse des Ge-wissens von der Sonne, und also von des Himmelsdritten, neunten und elften Wohnungen könnte herge-nommen werden; und dass sie zu dem Erkennen vondes Menschen Intention, wie sie sagen, viel Regulngeben, auch die wunderbare Werke göttlicher

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Allmacht, nämlich die Sündflut, die Gesetze Moses,das Gebären einer reinen Jungfrau auf die Wirkungder Sterne zurückführen; ja sie schwatzen so leichtfer-tig, dass Christi Tod ein Werk des Martis gewesensei, und dass Christus selbst bei seinen Wunderwer-ken sich des Unterscheids der Stunden gebrauchethätte, in welcher ihn die Jüden nicht hätten angreifenoder verletzen können, indem er nach Jerusalem ge-gangen und zu seinen Jüngern gesaget hat: sind nichtzwölf Stunden des Tages? Ferner sagen sie, wenneinem der Planete Mars im neunten Hause des Him-mels glücklich stehet, derselbe kann mit seiner Ge-genwart die Teufel von den Besessenen austreiben,derjenige aber, der den Monden und den Jupiter mitdem Kopfe der Schlange mitten in seinem Hause bei-sammen gesetzet hat, der kann alles erhalten, warumer Gott anrufen wird. Ferner sagen sie, dass demMenschen die Glückseligkeit seines künftigen Lebensvon dem Jupiter und Saturno mitgeteilet würde; wie-derum, wenn einer in seiner Nativität den Saturnumim Löwen glücklich beisammen gesetzet hätte, dessenSeele würde nach diesem sterblichen Leben frei vonvielen Plagen in den Himmel, und wiederum in vori-gen Stande, da sie erst gewesen, gesetzet.

Und gleichwohl finden sich ihrer noch, welche die-sem verfluchten Geschwätze und abscheulichen Ket-zereien nicht ohne Schande und Sünde beipflichten,

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als da ist Petrus Apponensis, Rogerius Bacon, GuidoBonatus, Arnoldus de Villa nova, alles Philosophi,ferner Alyacensis ein Theologus und Kardinal undviel andere Doctores des christlichen Namens, welchebezeugen, dass sie dieses alles wahr befunden hättenund defendieren solches aufs Äusserste. Aber widerdiese Astrologos hat jüngsten Johannes Picus Miran-dola zwölf Bücher geschrieben, mit einem solchenNachdruck, dass kein einig Argument vergebens, son-dern von solcher Wirkung ist, dass noch bis dato Lu-cius Bellancius, sonsten der ärgste Streiter für dieAstrologie, noch sonsten ein anderer, der diese Kunstdefendieret, diese des Pici rationes hat übern Haufenwerfen können; denn dieser beweiset mit stattlichenGrundsätzen, dass diese Kunst nicht eine Erfindungder Menschen, sondern der bösen Geister sei, undeben dieses saget auch Firmianus, dass durch dieseKunst bei ihme alle Philosophie, Medizin, Gesetzeund Religion verjaget worden wäre.

Denn erstlich benimmet sie den Glauben zur Reli-gion, machet alle Wunder gering, verachtet die göttli-che Vorsehung, indem sie lehret, dass alles von derWirkung der Konstellation und von der Notwendig-keit des Gestirns dependire, ferner entschuldiget dieseKunst die Laster, und als wenn es dem Menschen sovon dem Gestirne eingegeben worden wäre; sie ver-achtet und verkehret andere Wissenschaften, und

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absonderlich die Philosophie, und weiset uns von denwahren Ursachen der Dinge auf nichts anders als aufFabeln und Geschwätze, führt die Medizin von natür-lichen Mitteln nichts als auf eitele Observationes derGestirne, und auf leichtfertige und sowohl dem Leibeals der Seele schädliche Superstitiones.

Ferner suchen sie zu verkehren und zu vertilgen dieGesetze, gute Gebräuche und was sonsten die Ver-nunft weislich geordnet hat, indem sie sagen, dassman alles nach Influenz der Gestirne in gewisser Zeitund durch sonderliche Mittel tun, und deswegen dieAstrologie um Rat fragen solle, welche eine Herrsche-rin und Regiererin unseres Lebens und Wandels undaller gemeiner Privatsachen wäre; da suchen sie alledie ganze Autorität her und meinen, dass alle das an-dere, was nicht diese Kunst für ihren Patron erkenne,lauter Phantasie wäre. Es ist fürwahr eine so würdigeKunst, welche vor Zeiten die Teufel die Menschheitzu betrügen und der Gottheit Gewalt zu tun, profitie-ret haben. Woher kommt der Manichäer Ketzerei, dieallen freien Willen aufgehoben hat? Aus nichts andersals aus dieser astrologischen Wahrsagung und ausihrer falschen Meinung und Lehre. Aus diesem Brun-nen ist auch des Basilides Ketzerei entsprungen, wel-cher, dass dreihundertfünfundsechzig Himmel nachund nach, und die einander ähnlich gemachet wordenwären, dafür gehalten, und dass nach der Zahl der

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Tage einem jedweden ein Prinzip, eine Kraft und einEngel müssen assignieret werden; darunter aber istder, welchen man den Abraxas nennet, der Vornehm-ste, welcher Name nach dem Griechischen die drei-hundertfünfundsechzigste Zahl in sich hält, denn so-viel sind Orter und Plagae im Himmel von ihnen er-dichtet worden. Dieses erzähle ich zu dem Ende,damit ihr sehet, was die Astrologie für eine Gebärerinder Ketzerei ist; ferner aber beruhet die Astrologie nurim blossen Mutmassen und Raten, welches die vor-nehmsten Philosophi wahrgenommen. Also hat auchMoses, Esaias, Job, Jeremias und andere Prophetendiese Kunst verfluchet, und hält St. Augustinus ausden katholischen Lehrern dafür, dass sie gar bei derchristlichen Religion soll ausgetan und vertriebenwerden.

Hieronymus hält es für eine Art der Idolatrie, Basi-lius, Cyprianus, Chrysostomus, Eusebius, Lactantius,Gregorius, Ambrosius und Severianus verlachen die-selbe, und das heilige Konzil zu Toledo verdammetsie; so ist auch dieselbe in dem Synodo Martini undvon Gregorio dem Jüngern und Alexandro Tertio denPäpsten anathemazieret und in den Kaiserl. weltlichenRechten verworfen, bei den alten Römern unter demTiberio, Vitellio, Diocletiano, Constantino, Gratiano,Valentiniano und Theodosio den Kaisern aus derStadt verbannt, und von dem Justiniano selbsten,

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9.737 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 136Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

welches wir aus seinem Codice sehen, capitaliter ge-strafet worden.

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9.738 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 136Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel XXXII.

De divinationibus in genereoder

Von den Wahrsagungen insgemein

Hier an diesem Orte gibet es auch von andern Kün-sten der Weissagungen Gelegenheit zu reden, welchenicht sowohl aus der Observation der himmlischenGestirne kommen, als aus denjenigen Sachen, welcheunten bei uns sind und mit den Himmlischen eineGleichheit haben; und wenn wir jene verstehen, sokönnen wir desto besser den astrologischen Baum,von welchem die Früchte herkommen, wahrnehmen.

Unter diese Künste, so auf nichts als auf einen Ge-winst ihr Absehen haben, wird gezählet die Physio-gnomia, Metoposcopia, die Chiromantia, von welcherwir droben etwas gesaget haben, auch die Aruspicia,Speculatoria, und die Onirocritica oder die Auslegungder Träume, zu welchen auch können gesetzet werdender Wütenden oder Rasenden Oracula und Wahrsa-gungen.

Aber alle diese Kunststücke kommen nicht auseiner rechtschaffenen Doctrin her, bestehen nicht aufguten und gewissen Gründen und Rationen, sondernsind blosse Mutmassungen aus verborgenen Sachen,

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zufälligem Glücke oder des Geistes Eingebungen,welche aus täglichen und von langer Zeit wahrgenom-menen Observationen hergesuchet werden. Und pfle-gen alle diese Wunderkünste nichts als mit dem Vor-wand der Erfahrung sich zu defendieren und dadurchsich rauszuwickeln, so oft sie etwas statuieren, daswider die Vernunft oder den Glauben ist, von welchenallen in der Heiligen Schrift geboten ist: Non invenia-tur in te, qui collustret filium ducens per ignem, ario-los sciscitetur, aut observet somnia atque auguria, necsit maleficus, nec incantator, quoniam haec abomina-tur Dominus. Das ist: Es soll nicht unter dir gefundenwerden, der seinen Sohn oder Tochter durchs Feuergehen lasse, oder ein Weissager, oder ein Tagewähleroder der auf Vogelgeschrei achte, oder ein Zauberer,oder Beschwörer, oder Zeichendeuter, oder der dieToten frage, denn wer solches tut, der ist dem Herrnein Greuel.

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Kapitel XXXIII.

De physiognomiaoder

Von der Weissagung aus der äusserlichen Staturdes Leibes

Unter diesen hat die Physiognomie der Natur alsihrem Führer gefolget, welche dafür hält, dass nachdem Ansehn des ganzen Leibes man des MenschenGlück mit scheinbaren Zeichen und Signis erforschenkönnte, nämlich, ob einer saturnisch oder jovialischoder martialisch oder solarisch oder venerisch odermerkurialisch oder lunarisch wäre; aus dessen Gestaltdes Leibes stellen sie dem Menschen die Nativität,und aus den Affekten, wie sie sagen, kommen sie all-mählich zu den Ursachen und astrologischen Weissa-gungen, aus welchen sie hernach herschwatzen, wasihnen beliebet.

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Kapitel XXXIV.

De metoposgopiaoder

Von der Weissagung aus dem Gesichte

Diese Kunst rühmet sich, dass sie alleine aus demGesichte oder aus der Stirne alle des Menschen An-fang, Fortgang und Ausgang durch einen weisen Ver-stand und gelehrte Experienz erforschen könnte, unddiese wird von der Astrologie erzogen und ernähret.

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Kapitel XXXV.

De chiromantiaoder

Von Weissagung aus den Händen

Die Chiromantie erdichtet sieben Berge, nach derZahl der Planeten, in der flachen Hand des Menschenund aus den Linien, welche da gesehen werden, judi-ziert sie, was der Mensch von Complexion sei, was erfür Affekten habe, ob er glückselig sei; das alles,sagen die Chiromantici, könnte man erkennen durchdie Korrespondenz der Lineamenten, gleich als durchhimmlische Zeichen, welche Gott und die Natur inuns gepflanzet, und welche Gott, wie Hiob spricht:posuit in manibus hominum, ut inde noscat unusquis-que opera sua. Oder: gesetzet hat in die Hände derMenschen, dass daraus ein jedweder seine Werke er-kennen kann; obgleich der Prophet daselbst nicht vonder Chiromantischen Eitelkeit, sondern von der Liber-tät und freien Willen geredet hat. Überdieses so be-scheinigen diese Wahrsager ihr Tun, und sagen, obsie gleich nicht nach den wahren Ursachen urteilten,so judizierten sie doch nach den Signis und nach derBedeutung, die aus solchen entstünden, und die mitihnen überein kämen, der Sachen Effekt und Ausgang

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und geben vor, diese Kunst hätte vor Zeiten der Py-thagoras gebrauchet, welcher der Knaben Sitte, Naturund ihr Ingenium aus der Beschaffenheit ihres Mun-des, ihres Gesichtes und Gestalt des ganzen Leibeshätte judizieren können, und welchen er also dann ge-schickt befunden, den hätte er zu seinem Diszipul an-genommen. Dieses hätte auch der König Pharao, wiePhilostratus erzählet, im Gebrauch gehabt. Aber demIrrtum dieser Kunst können wir nicht mit bessererVernunft widerstehen, als dass wir sagen, dass sie auskeiner Vernunft bestehe.

Hiervon haben geschrieben von den Alten vielwackere Leute, als Galenus, Avicenna, Julianus, Ma-ternus, Loxius, Philemon, Palämon, Constantinus undAfricanus. Aus den vornehmsten Römern ist L. Syllaund Cäsar Dictator in dieser Kunst curieus gewesen.Aus den Neuesten aber ist Petrus Apponensis, Alber-tus Teutonicus, Michaël Scotus, Antiochus, Bartholo-mäus, Michael Savonarola, Antonius Cermisonus, Pe-trus de Arca, Andreas Corvus, Tricassus Mantuanus,Johannes de Indagine und viel andere vornehme Me-dici. Aber alle diese insgesamt halaen uns nichts an-ders hinterlassen als blosse Konjekturen und einigeUngewisse Observationes. Dass aber aus diesen allenkeine gewisse Reguln gemachet werden können, er-hellet daraus, weil dergleichen Gedichte aus ihrem ei-genen Willen herrühren, und über welche auch die

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Vornehmsten unter ihnen nicht einig sind. Daherosind sie recht närrisch und irren diejenigen alle mit-einander, welche durch diese Signa über des Men-schen Komplexion und natürliche Disposition, überdessen Sitten und Affekten des Glückes und des Ge-mütes etwas wollen zuvor sagen, welches bei dem Iu-dicio des Zopyri von dem Sokrates gnugsam bewiesenist. Noch kann uns zu einigem Glauben bewegen desAppioni hinterlassene Schrift, welcher berichtet, dassein gewisser Alexander so ähnliche Bildnisse gemalethabe, dass der Wahrsager aus ihnen die Zeit des ein-getretenen oder des zukünftigen Todes hätte judizie-ren können, welches nicht sowohl unglaublich als un-möglich ist.

Aber es pfleget diese tandhändlerische Art dieserLeute auf Anregung des bösen Feindes so närrisch zutun, dass sie aus dem Irrtum zur Superstition, und ausder Superstition zu dem schädlichen Unglauben ge-führet werden.

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Kapitel XXXVI.

Iterum de geomantiaoder

Wieder von der Weissagung, davon wir im XII.Kapitel gehandelt haben

Die Geomantie, davon wir bei der Arithmetica auchgeredet haben, ist diese, welche nach den Punkten, soohngefähr oder aus Vorsatz zusammengesetzet wer-den, und durch gleiche oder ungleiche Zahlen gewisseFiguren, welche den Himmlischen zugeteilet, unsetwas Gewisses weissagen wollen, dahero alle Scrip-tores diese für eine Tochter der Astrologie erkennen.

Es ist aber noch eine andere Art, die AlmadalArabs eingeführet hat, welche sich selber durch ge-wisse Mutmassungen, so von Ähnlichkeiten herge-nommen, und aus der Erden Hall, Bewegung undAufspaltung, entweder von sich selber oder aus derHitze verursachet (oder aus dem Donner), die Weissa-gungen uns am Tag bringet, welche gleichfalls auchauf die vergebliche Superstition der Astrologie ge-gründet ist, und diese ist es, welche die Stunden, desMondes Auf- und Niedergang und der Gestirne Figu-ren und Aufgang in acht nimmet.

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Kapitel XXXVII.

De aruspigiaoder

Von der Weissagung aus dem Vogelgeschrei

Die Weissagung aber, welche aus dem Vogelflugund Vogelgeschrei herkommet, hat viel Species undOrden, und ist diese Kunst vor alters in grosser Esti-me gehalten worden, auch so, dass ohne derselbennichts, sowohl in publicis als privatis hat glücklichkönnen vollbracht werden. Es ist eine uralte Kunst,wie Pomponius Laetus uns berichtet, und von denChaldäern auf die Griechen gebracht, bei welchenAmphiaraus, Tyresias, der eine Mopsus und Calchasfür die besten Wahrsager sind gehalten worden. Vonden Griechen ist sie hernach auf die Etrusker und so-fort auf die Latiner kommen, und ist Romulus selb-sten dergleichen Wahrsager gewesen und hat den Ma-gistrat gelehret, wie sie mit den Auguriis oder solchenWahrsagungen sollten umgehen; auch bezeuget Dio-nysius, dass diese Art zu weissagen eine alte Kunstgewesen sei der Aboriginer, und dass Ascanius, ehe ersich mit dem Mezentio in eine Schlacht einliess, die-ses Wahrsagungsmittel ergriffen hätte, und nachdemes glückselig gefunden, so habe er mit dem Feind

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geschlagen und denselben überwunden.Endlich haben auch diesem nachgefolget die Phry-

gii, Pisidae, Cilices, Arabes, Umbri, Thusci und vielandere Völker. Die Lazedämonier haben auch ihrenKönigen dergleichen Wahrsager zu einem Rat an dieSeite geordnet und die Römer ein ganzes Kollegiumvon solchen Leuten konstituieret. Dieser Kunst habenbeigepflichtet diejenigen, welche gelehret, dass obenaus den himmlischen Corporibus etliche Lichter derWahrsagungen über alle Tiere unten auf Erdenkämen, und die gleichsam gewisse Signa und Anzei-gungen wären, welche wir hernachmals aus des Men-schen oder eines Tieres Bewegung, Gestalt, Tritte,Flug, Stimme, Speise, Farbe und Ton erkennen, undden Ausgang wissen könnten, welche durch ein heim-lich Wesen oder sonderbare Vereinigung mit demHimmlischen, dadurch sie ihre Kräfte bekommen,miteinander übereinkommen, also, dass man dadurchalles zuvor wissen und wahrsagen kann, was diehimmlischen Corpora haben in Willen gehabt zu tun.

Aber aus diesem allen erhellet klar, dass dieseWeissagungskunst nichts als blossen Mutmassungenfolge, welche teils, wie sie sagen, aus Influenz der Ge-stirne, teils aus ihren Gleichnissen hergenommensind, da doch nichts Betrüglicheres als dieses kanngefunden werden. Dahero lachen diese Kunst aus Pa-naetius, Carneades, Cicero, Chrysippus, Diogenes,

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Antipater, Josephus und Philo, auch wird sie durchdas Gesetz und die Kirche verdammet. Und derglei-chen sind auch der Chaldäer und Ägyptier ihre Ge-heimnisse, welche vor Zeiten die Etrusker, hernachdie Römer und andere Völker, dem gemeinen Mannnoch bis auf den heutigen Tag als Oracula anbieten.

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Kapitel XXXVIII

De speculatoriaoder

Von Weissagung aus dem Donner

Eben aus diesem Fundament kommt auch die Spe-culatoria, welche den Donner und Blitz und andereImpressionen, ferner die Wunder und Ungeheuer aus-deutet, jedoch durch keinen andern Weg als durchMutmassungen und Gleichnisse, welche aber, dass siezum öftern geirret haben, helle genug am Tage ist,weil die natürlichen Sachen nicht alsobald Progno-stica sind, oder uns was Sonderliches bedeuten müs-sen.

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Kapitel XXXIX.

De somnispiciaoder

Von Traumdeutungen

Hierzu gehöret auch die Ausdeutung oder Ausle-gung der Träume, deren Ausleger mit einem sonderli-chen Namen Conjektores oder Traumdeuter genennetwerden, wie der Poet Euripides saget:

Qui bene conjectat, is vates optimus esto.

Das ist: Welcher wohl raten kann, der soll derbeste Wahrsager sein. Dieser Kunst schreiben vielgrosse Philosophi nicht wenig zu, und besonders De-mocritus, Aristoteles und dessen Nachfolger Themi-stius, wie auch Synesius Platonicus, welche so erpichtsind auf die Exempel der Träume, die etwan ein zufäl-liger Kasus hat wahr gemacht, dass sie sich unterstan-den, die Leute zu überreden, dass einem nichts um-sonst träumen könnte.

Denn sie sagen, gleichwie die himmlischen Influen-zien in einer korporalischen Materie unterschiedeneGestalten hervorbrächten, also entstünde auch aussolchen Influenzien des Menschen Phantasie und

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Einbildung, welche ein Instrument ist, dadurch für-nehmlich nach der himmlischen Disposition die Ge-sichter oder die Gestalt produzieret und ähnlich gema-chet würden, und dieses geschehe meistenteils imSchlafe, weil zu derselben Zeit des Menschen Gemütevon allen äusserlichen Sorgen des Leibes frei, undalso desto besser solche himmlische Influxus an sichziehen könne. Dahero kommt es, dass denen Schla-fenden beim Träumen viel Sachen bekannt werden,welche ihnen, wenn sie wachen, verborgen sind, undfürnehmlich aus dieser Ursache wollen sie dafürhal-ten, dass dasjenige, was einem träumet, man für wahrhalten sollte.

Doch kommen sie nicht alle überein, sowohl wegender äusserlichen als innerlichen Ursachen der Träume;denn die Platonici rechnen solche unter die Speziesund rechte Erkenntnis der Seelen. Avicenna unter denVerstand, nach dem sich der Monden beweget; denndurch Hilfe dieses Lichts würde des Menschen Phan-tasie, indem er schläfet, bestrahlet. Aristoteles zähletes unter die Sensus Communes, und sonderlich unterdie Phantasie; der Averroës unter die Einbildung, De-mocritus unter die Bilder, so von der Sache herkom-men; Albertus unter die Influxus der himmlischen Sa-chen, jedoch mit gewissen Mediis und Speciebus,welche stets vom Himmel herunterkommen; die Medi-ci messen es bei den Humoren der Menschen, andere

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aber den Affekten und Sorgen, die der Mensch beiseinem Wachen gehabt hat. Die Araber schreiben eszu dem natürlichen Verstand des Menschen, anderesagen, es käme her von der Macht der Seelen und vondem Influxu des Himmels zugleich; die Astrologi abersagen, dass dieses die Constellationes verursacheten,andere geben es der Luft schuld.

Von Auslegung der Träume haben geschrieben derDaldianer Artemidorus, auch werden Bücher gewie-sen unter dem Namen Abrahams, dem Philo in denBüchern von Biesen beigemessen, dass er am erstenerfunden habe, wie man die Träume auflösen solle;andere aber sagen in ihren Büchern, es habe Salomonund Daniel hiezu behilfliche Hand geleistet, in wel-chen sie von Träumen viel gehandelt und uns nichtsals Träume hinterlassen haben.

Aber M. Tullius hat in seinen Büchern von derWahrsagung wider ihre Vanität und Narrheit, womitsie den Träumen Glauben beimessen, mit schönen Ar-gumenten disputieret, welche ich nicht allhier aufzäh-len mag.

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Kapitel XL.

De furoreoder

Von Weissagung der Unsinnigen und Rasenden

Aber zu diesen Träumern, welches ich bald verges-sen hätte, müssen auch gezählet werden diejenigen,welche den Deutungen und Wahrsagungen der rasen-den Leute Glauben beimessen und dafür halten, dassdiejenigen, welche alle Wissenschaft, Gedächtnis undmenschlichen Verstand verloren, durch solchen ihrenZufall die göttliche Wissenschaft zu künftigen Dingenerlanget hätten, und dass solche Leute dasjenige, wassonst Kluge und Weise bei ihrem Wachen nicht wüss-ten, das könnten diese Unsinnige und Rasende, wannsie schliefen, sehen und erfahren, also, dass diesen un-sinnigen Leuten mehr als den klugen Wachenden, dieihren vollkommenen Verstand haben, Gott gnädigersei. Fürwahr arme und unglückselige Leute, die die-sen Vanitäten nachhängen, denselben Glauben bei-messen, ihrem Betrug gehorchen, solchen Lehrmei-stern Gehör geben, dieselben ernähren, und ihre Kehleund Bäuche ihrem Verstande unterwerfen.

Denn, was kann anders die Raserei sein und fürwas sollen wir dieselbe halten? Für nichts anders, als

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für eine Entziehung des menschlichen Gemütes, wel-che von den bösen Geistern getrieben, und entwederdurch das Gestirne oder durch andere Instrumenta hierauf Erden von den unreinen Geistern zuwege ge-bracht, welches Lucanus also fein exprimieret hat,indem er den Wahrsager also aufs Theatrum bringet:

Fulminis edoctum motus, venasque calentesFibrarum, et motus errantis in aere pennae.

Das ist: Er wusste von der Beschaffenheit des Un-gewitters, und von den Adern und Eingeweiden desgeschlachten Viehes, wie auch aus dem Vogelflugegar genau zu urteilen. Als nun die Stadt geheiliget,das Opfer geschlachtet und die Eingeweide beschauetgewesen, sei er endlich in diese Worte herausgebro-chen:

O ihr Götter! wollet ihr denn alle euere Grausam-keit anjetzo durch Krieg und Pestilenz an uns sehenund erblicken lassen? Soll denn alles Unglück aufeinem Tag über uns zusammen kommen? Denn, sollteder Saturnus durch das böse Gestirn entzündet wer-den, müsste die ganze Welt durch eine neue Süntflutim Wasser verderben; oder wenn der Mond dem grau-samen Nemeischen Löwen sollte zu nahe kommen,müsste Himmel und Erden im Feuer aufgehen. O,welch ein Unglück muss doch über unsern Kopf

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anjetzo geschmiedet werden! Denn der gnädige Jupi-ter ist ganz und gar verborgen, und der heilsame Ve-nusstern ist in seinem glücklichen Lauf verhindert;hingegen hat der grausame Mars, indem das andereGestirn alles verborgen, allein den Platz und den gan-zen Himmel eingenommen. Nichts anders haben wirzu erwarten, als den schädlichen Krieg, dadurch allesRecht verjaget, und lauter Leichtfertigkeit und andereUntugenden eingeführet werden.

Aber all diese Wahrsagungskünstlereien habenihren Ursprung und Fundamenta aus der Astrologie;denn ob ein Leib, ein Gesichte oder eine Hand ange-sehen wird, oder einem ein Traum vorkommt, oder obeiner ein Vogelgeschrei höret, oder ob einem die Ra-serei ankommet, so beratschlagen sie sich, wie dazueine astronomische Figur aufzurichten, aus deren An-zeigungen und Mutmassungen der Zeichen wollen sieihre Meinung erjagen. Also erfordern alle diese Wahr-sagungen die Kunst und Übung der Astrologie undsind gleichsam der Schlüssel zu dieser WissenschaftGeheimnissen. Dahero alle diese Wahrsagungskünste,wie weit sie von der rechten Wahrheit ab sind, das er-hellet öffentlich daraus, weil sie solche Principia, dieoffenbar falsch sind und die durch der Poeten Temeri-tät erdacht worden, sich gebrauchen, welche, weil siein der Wahrheit nicht sind, noch gewesen, noch je-mals kommen werden, und doch ihre Ursachen und

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Signa sein sollen, so referieren sie endlich den Aus-gang wider die Wahrheit.

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Kapitel XLI.

De magia in genereoder

Von der Zauberei insgemein

Hier an diesem Orte wird es auch erfordert, dasswir von der Zauberei was sagen, denn dieselbe ist mitder Astrologie so genau verwandt, dass, wer sich voreinen Zauberer ohne Astrologie ausgibet, der kann imgeringsten nichts prästieren, sondern irret gar sehr.Der Suidas hat dafürgehalten, dass diese Kunst vonden Magusäis, sowohl den Namen als den Ursprungbekommen habe. Der Meisten Meinung ist, dass esein persianischer Name ist; denen pflichtet auch beiPorphyrius und Apulejus, und dass es nach ihrerSprache so viel heisse, als ein Priester, ein Weiser,oder ein Philosophus; derowegen begreifet die Magiein sich die ganze Philosophiam, Physicam und Mathe-maticam, ferner die Kräfte des religiösen Glaubens,sowie auch die Goetiam und Theurgiam; dahero dieMeisten die Magiam in naturalem und ceremonialemteilen.

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Kapitel XLII.

De magia naturalioder

Von der Wunderkunst durch natürliche Mittel

Diese, sagen sie, sei nichts anders, als die höchsteGewalt natürlicher Wissenschaften, daher sie diehöchste Spitze und der vollkommenste Gebrauch dernatürlichen Philosophie genennet wird, und dass siesei in der Tat ein Stück der natürlichen Philosophie,welche durch Hilfe der natürlichen Wirkungen, unddurch ihre unter ihnen selbsten geschickliche Applica-tiones solche Wundertaten über aller Menschen Ver-wunderung herfürbringt. Die Mohren und die Indianerhaben sich dieser Kunst meistenteils beflissen, allwodie Kräuter, Steine und andere Sachen, die darzudienlich sind, am besten sind zu bekommen gewesen;man gibet vor, dass der heilige Hieronymus, wie er anden Paulinus geschrieben, dieser Kunst soll gedachthaben, indem er saget: Apollonius Tyanaeus sei einMagus oder Philosophus gewesen, wie auch die Py-thagorici welche waren; von dieser Art gewesen sinddiejenigen, welche den neugeborenen Christum be-schenket und angebetet haben, welche die Auslegerdes Evangelli die Weisen aus Chaldäa genennet

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haben; ferner Hiarchas bei den Brachmanis, Tespionbei den Gymnosophisten, Budda bei den Babyloniern,Numa Pompilius bei den Römern, Zamolxis bei denThraciern, Abbaris bei den Hyperboräern, Hermes beiden Ägyptiern, Zoroastes Eromasi Sohn bei den Per-sern; denn die Indianer, Äthiopier und Persianer, diehaben meistenteils in dieser Kunst excellieret, daheroauch die Söhne der Könige in Persien (wie Plato inAlcibiade uns erzählet) darinnen unterrichtet worden,damit sie lernen möchten, wie sie ihrer Regierungvorstehen und dieselbe administrieren sollten. UndCicero in seinen Büchern über die Weissagungspricht, dass bei den Persianern niemand zum Regi-ment kommen können, der nicht zuvor diese Kunstgelernet hätte. Dahero ist die Wunderkunst durch na-türliche Mittel diese, welche aller natürlichen undhimmlischen Sachen Wirkung und Kräfte wohl be-trachtet, und ihrer Zusammenfügung mit einer sonder-lichen Kuriosität nachgrübelt, und ihre verborgeneund heimliche Kräfte kund machet, dasjenige wasunten auf Erden ist, mit denjenigen Gaben, so überuns sind, also miteinander vereiniget und applizieret,dass oft erschreckliche Wunderdinge daraus entstehenmüssen, nicht sowohl durch die Kunst als durch dieNatur, darinnen jene dieser nur an die Hand gehet undeine Dienerin ist. Denn die Magi, als die akkuratestenErforscher der Natur, die borgen dasjenige, was von

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der Natur herkommt, und applizieren dasselbe zuihrem Tun, also, dass sie oftermals für der Zeit einenvon der Natur herrührenden Effektum herfürbringen,welchen hernach der gemeine Mann für ein Wunder-werk hält, da es doch alles natürliche Sachen sind, nurdass man in der Zeit einen Vorzug nimmt. Zum Ex-empel, wenn man im Monat Martio aufgeblüheteRosen vorbringen, oder reife Bohnen und Weintrau-ben aufweisen kann, oder dass in wenig Stunden Pe-tersilie aufwachse; ja was noch mehr ist, dass. Wol-ken, Regen, Donner und allerhand Art Tiere und vie-ler Sachen Verwandlung entstehen, wie sich dessenrühmet Rogerius Bacon. Von diesen Werken habengeschrieben der Zoroastes, Hermes, Evantes König inArabien, Zacharias Babylonius, Joseph Hebräus,Bocus, Aaron, Zenotenus, Abel, Ptolemäus, Geber,Zahel, Kiranides Almadal, Thetel, Alchindus, Naza-barus, Tebith, Berith, Salomo, Astapho, Hipparchus,Alcmäon, Apollonius, Tryphon und noch viele ande-re, von welchen teils noch ganze Bücher, teils nurStücke vorhanden sind, welche ich selbsten gelesenhabe. Aus den Neuern aber haben von dieser Kunstihrer wenig und auch nicht viel geschrieben; da ist Al-bertus, Arnoldus de Villa nova, Lullius, Bacon undAponus, wie auch ein Autor eines gewissen Buches,welches er ad Alphonsum sub nomine Picatricis hatlassen rausgehen, welcher aber zugleich viel

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abergläubische Sachen mit untergemischet hat, wel-ches zwar auch andere mehr getan haben.

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Kapitel XLIII.

De magia mathematicaoder

Von der gleichen Kunst durch mathematischeMittel

Es gibet noch andere spitzfindige und kühne Nach-grübler der Natur, welche ohne natürliche Wirkungund Zutun, allein aus den mathematischen Disziplinenmit Hilfe der Influenz des Gestirnes wunderlicheWerke vorzubringen uns versprechen, nämlich Körperzu schaffen, die da gehen und reden können, und dochkeinen Geist oder virtutes animales an sich haben;desgleichen ist gewesen die hölzerne Taube des Ar-chytae, welche hat fliegen, und des Mercuri Statua,welche hat reden können, wie auch jener eherne Kopf,von dem Alberto Magno gemacht, welcher auch gere-det haben soll.

In dieser Kunst hat excellieret der Boëthius, einMann von grossem Verstand und vieler Erudition, anwelchen dieses Cassiodorus geschrieben bat: Tibiardua cognoscere et miracula monstrare propositumest, tuae artis ingenio metalla mugiunt, Diomedes inaere gravius buccinatur, aeneus anguis insibilat, avessimulatae sunt, et quae vocem propriam nesciunt

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habere, dulcedinem cantilenae probantur emittere.sich dessen rühmet Rogerius Bacon. Von diesen

Werken haben geschrieben der Zoroastes, Hermes,Evantes König in Arabien, Zacharias Babylonius, Jo-seph Hebräus, Bocus, Aaron, Zenotenus, Abel, Ptole-mäus, Geber, Zahel, Kiranides Almadal, Thetel, Al-chindus, Nazabarus, Tebith, Berith, Salomo, Asta-pho, Hipparchus, Alcmäon, Apollonius, Tryphon undnoch viele andere, von welchen teils noch ganze Bü-cher, teils nur Stücke vorhanden sind, welche ichselbsten gelesen habe. Aus den Neuern aber habenvon dieser Kunst ihrer wenig und auch nicht viel ge-schrieben; da ist Albertus, Arnoldus de Villa nova,Lullius, Bacon und Aponus, wie auch ein Autor einesgewissen Buches, welches er ad Alphonsum sub no-mine Picatricis hat lassen rausgehen, welcher aber zu-gleich viel abergläubische Sachen mit untergemischethat, welches zwar auch andere mehr getan haben.

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Kapitel XLIII.

De magia veneficaoder

Von eben dieser Kunst, vermittelst den Arzneienoder Vergiftungen

Es ist noch eine andere Art der Magiae Naturalis,welche man die vergiftete oder die apothekerischenennet, welche durch gewisse Tränke oder Liebes-tränke und vergiftete Arzneien ausgeübt wird; derglei-chen lesen wir, dass Democritus soll gemacht haben,dass gute und glückselige Kinder haben sollen gezeu-get werden, oder dass man der Vögel Stimmen rechthat verstehen können, wie Philostratus und Porphy-rius von dem Apollonio erzählen. Virgilius hat auchvon etlichen Meerkräutern dies geschrieben:

His ego saepe lupum fieri et se condere sylvisMoerim, saepe animas imis excire sepulchris,Atque satas alio vidi traducere messes.

Das ist: Ich habe oft gesehen, wie die Leute ingrausame Wölfe verwandelt werden, dass sie in dieWälder gelaufen und sich allda verborgen, oft sind dieverstorbenen Seelen aus ihren Gräbern

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hervorkommen, und das Getreide, so an diesem Orterwachsen gewesen, ist an einem andern verrücketund versetzet worden. Und Plinius erzählet, dasseiner, Demarchus Parrhasius genennet, in einemOpfer, welches die Arkadier dem Jovi Lyceo als einSchlachtopfer gebracht, eines Knaben Eingeweide ge-gessen habe und in einen Wolf verwandelt wordensei; weswegen Augustinus meinet, dieser Name demPani Lyceo und dem Jovi Lyceo ist gegeben worden.Dieser Augustinus erzählet, dass, als er in Italien ge-wesen, etliche magische Weiber als Zauberinnen denreisenden Leuten Gift im Käse gegeben, und sie da-durch in Vieh verwandelt, und also ihre Last als einVieh getragen hätten, und nach der Hand wären siewieder zu Menschen geworden; und das wäre zuderselben Zeit einem gewissen Prästantio widerfah-ren. Auch damit nicht etwan einer glauben möchte,als wären es Narrenspossen, oder ein erdichtet undunnützlich Werk, so sollte man daran gedenken, wasdie Heil. Schrift erzählet, dass der König Nabuchodo-nosor in einen Ochsen sei verwandelt worden, undhabe sieben Jahre von Heu gelebet, endlich aber sei eraus Gottes Barmherzigkeit wieder zum Menschenworden; dessen Körper nach seinem Tode sein SohnEvilmerodach den Geiern zur Speise gegeben hätte,damit er nicht noch einmal vom Tode möchte aufer-stehn, der von einer Bestia wieder wäre zu einem

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Menschen gemachet worden.Von den Weisen des Pharaonis werden mehr Sa-

chen erzählet in dem zweiten Buch Mosis. Aber vonsolchen Magis oder Giftmischern redet derweiseKönig Salomo, wann er spricht: Exhorruisti illos,Deus, quia horribilia opera tibi faciebant per medica-mina; das ist: Du hast sie geplaget und erschrecket,weil sie durch ihre Zauberei auch schreckliche Dingetaten. Das wollte ich gleichwohl auch, dass ihr es wis-sen möchtet, dass diese Magi nicht allein natürlichenSachen, sondern auch solchen, welche bisweilen derNatur helfen, oder ein wenig davon abgehen, nachgrü-beln, als da sind die Bewegungen, die Zahl, die Figu-ren, der Klang, die Stimme, das Licht, die Wörter undandere Bewegungen des Gemütes; also ruften diePsylli und Marsi die Schlangen zusammen, andereverjagten sie, also hat der Orpheus auf den Schiffender Argonauten das Wetter mit einem Hymno oderLobgesang gezwungen und aufgehalten; und Homeruserzählet, dass des Ulyssis Blut sei von einem Spruchegestillet worden, und in Lege XII Tabularum lesenwir, dass diejenigen, welche die Ernte bezauberthaben, mit grosser Strafe sind beleget worden. Es istalso kein Zweifel, dass die Magi auch nur mit blossenWorten und Affekten, nicht allein von sich selbsten,sondern auch von andern Menschen und Dingengrosse und wunderliche Effekten und Ausgänge

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gewiesen haben. Welches alles bisweilen nicht weni-ger eine innerliche Kraft von sich sehen lässet, oderetwas zu sich ziehet oder von sich stösset, oderaufeine andere Art Wirkung tut, wie der Magnet dasEisen und der Agtstein die Spreu zu sich ziehet, oderwie der Diamant und der Knoblauch den Magnet bin-den.

Also hat Jamblichus, Proclus und Synesius nachder Weisen Meinung uns bekräftiget, dass durch derSachen Sympathie, die gleichsam kettenweise anein-ander hänget, nicht allein die natürlichen, sondernauch himmlischen Gaben könnten von dem Menschenangenommen und verstanden werden, welches Proclusin einem Buche von dem Opfer oder von der Magiabekennet, dass durch den Consensum oder Überein-stimmung der Sachen die Magi Götter haben pflegenzu zitieren. Aber etliche unter ihnen sind auf die Letztso närrisch geworden, dass ihnen aus des GestirnesKonstellationen, und durch derselben Observation einGebilde zu machen gelingen müsste, das Leben undVerstand bekäme und so auf ihren Befehl die Arcanader verborgenen Wahrheit revelieren könnte. Daheroist es offenbar, dass die Magia oder diese natürlicheKunst oftermals in eine Teufelsbannerei und Schwarz-künstlerei durch Betrug und Irrtümer der bösen Gei-ster ist nausgeschlagen und verwandelt worden.

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Kapitel XLV.

De goëtia et necromantiaoder

Von der Teufelsbannerei und Schwarzkünstlerei

Ein Stück, von dieser Magie ist die Teufelsbanne-rei und Theurgia oder wie es genennet wird, die Be-fleissigung von göttlicher Reinigung. Die Teufelsban-nerei wird durch Gemeinschaft der bösen Geister an-gefangen mit leichtfertigen Zaubersprüchen,scheusslichen Gebräuchen und Zeremonien und mitverbotenen Gebeten ausgemacht; sie ist in allen Ge-setzen verflucht und ausgetan. Dieser Art sind welchewir die Schwarzkünstler und Zauberer heutiges Tagesnennen, davon dieses geschrieben ist:

Gens invisa Deis; maculandi callida coeli,Quas genuit natura, mali qui sidera mundi;Juraque fixarum possunt pervertere rerum.Nam nunc stare polos, et fulmina mittere noruntAethera sub terras adigunt montesque revellunt.

Das ist: Es ist ein Volk, so auch denen Göttern ver-hasset, weil sie den Himmel selbst durch ihre Kunstbeflecken, indem sie alle Gestirne nach ihrem

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Gefallen bezaubern, ja ganz verkehren, dass sie auchdas Wetter zwingen, Ungewitter und Donner er-wecken, ja wohl Berge versetzen und umkehren kön-nen. Diese sind's, welche der Verstorbenen Seelen be-schwören, und die die Alten Nachsänger genennethaben, welche die Knaben bezaubern und die Stimmeeines Orakuls aus ihnen machen; welche einen Haus-geist bei sich tragen, wie wir dergleichen von dem So-krate lesen, und welche, wie man insgemein pfleget zusagen, den Teufel in einem Glase füttern und vorge-ben, dass sie durch ihn weissagen können.

Und diese fangen ihre Sache auf zweierlei Art an;denn etliche sind, welche die bösen Geister durch dieKraft des göttlichen Namens suchen zu beschwören;weil jedwede Kreatur fürchtet und ehret den NamenGottes, welcher sie erschaffen hat, so ist kein Wun-der, dass alle diese Schwarzkünstler ungläubige Hei-den, Juden, Sarazenen und dergleichen Art Menschendurch Anrufung Gottes Worts sich an den Teufel ma-chen; andere aber, als die Schändlichsten und die wertwären, dass man sie gleich verbrennete, die ergebensich gar dem Teufel, opfern demselben und beten ihnan, und obschon die zuerst genannten Schwarzkünst-ler diesem Laster nicht ergeben sind, so sind sie dochauch höchster Gefahr unterworfen, denn auch ge-zwungene Geister ruhen nicht, sondern suchen unsVerirrte zu betrügen.

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Von dem Stinkbaume dieser Schwarzkünstler sindherkommen alle verbotenen Bücher der Finsternis,welche der Ictus Ulpianus improbatae Lectionis nen-net, oder die da nicht sollen gelesen, sondern stracksverbrannt und ausgetilget werden. Dergleichen daserste von dem Zabulo rauskommen ist, hernach vondem Barnaba, und werden heutiges Tages noch wohlsolche Bücher herumgetragen unter erdichteten Titelnund falschen Namen wie: Adams, Abelis, Enoch,Abrahae, Salomonis, Pauli, Honorii, Cypriani, Al-berti, Thomae, Hieronymi; derer Torheiten gefolgethaben der König Alphonsus, Robertus Anglicus,Bacon und Apponus und viel andere, die so liederli-ches Gemütes gewesen sind; ja sie haben nicht alleindie Menschen, die Heiligen, die Patriarchen undEngel Gottes zu Autoren solcher verfluchten Lehregemachet, sondern sagen noch, dass solche Büchervon denen Engeln Raziel und Raphael dem Adam undTobiä wären gegeben worden; wenn aber diese Bü-cher recht angesehen und betrachtet werden, so haltensie nichts in sich als unterschiedene Reguln ihrerPraeceptorum, gewisse Gebräuche, gewisse Arten derWörter und Charaktere, gewisse Ordnung in Ausle-gung und gewisse Phrases, welche doch nichts anderssind als unnütz Geschwätze und schädlicher Betrug,und die zu diesen unsern späteren Zeiten von niemandanders sind zusammengeraffet worden, als von

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ungeschickten und betrüglichen Künstlern der altenMagie aus etlichen weltlichen Observationen, die siehernach mit den Zeremonien unserer Religion vermi-schet und den Unerfahrenen mit gewissen Zeichen undNamen eingegeben haben, damit sich die Rauhen undEinfältigen darüber verwundern, und, die nichts stu-dieret haben, darüber bestürzen müssen.

Jedoch muss man es nicht dafürhalten, dass es lau-ter Fabeln sind, denn wenn nicht was Wahres dabeiwäre, und dadurch nicht viel Wunder und schädlicheSachen geschähen, so würden die göttliche undmenschliche Gesetze solche nicht so hart verboten,und dass man sie von der Welt ganz ausrotten solle,geheissen haben. Dass aber diese Schwarzkünstlersich allein der Hilfe der bösen Geister gebrauchen, istdieses die Ursache, weil die guten Engel schwerlicherscheinen, sondern sie warten auf Gottes Befehl, undhaben mit niemand anders Gemeinschaft, als die rei-nen Herzens sind und ein heiliges Leben führen. Diebösen Geister aber präsentieren sich leichter, lassensich gerne anrufen, lügen gerne und sind allzeit ge-schwinde zum Betrug da; sie lassen sich venerierenund anbeten; und weil die Weiber neugieriger undnicht vorsichtig, auch zum Aberglauben geneigt sindund sich leichter fangen lassen, so präsentieren sichdie bösen Geister bei ihnen geschwinder und machenbei ihnen grosse Wunderwerke. Wie die Poeten von

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der Circe, von der Medea und andern singen; es be-zeuget solches Cicero, Plinius, Seneca, Augustinusund andere, sowohl Philosophi als Historici, ja dieheilige Schrift selbsten.

Denn im Buche der Könige lesen wir, dass eine Py-thonissa, eine wahrsagerische Frau, welche in Endorgewohnet, die Seele des Propheten Samuelis heraus-gefordert habe, ob es wohl die meisten so interpretie-ren, dass es nicht die Seele des Propheten, sondern einböser Geist, welcher seine Gestalt hat angenommen,gewesen sei; doch sagen die hebräischen Lehrer (undAugustinus ad Simplicianum kann es nicht leugnen),dass es der wahre Geist des Samuels gewesen sei,welcher vor Ablauf des ersten Jahres nach seinemTode hat leicht können wieder gerufen werden, wiedie Teufelsbanner lehren.

Die Schwarzkünstler halten auch dafür, dass sol-ches ja wohl natürlich könnte zugehen, wie ich selb-sten in meinen Büchern de Occulta Philosophia weit-läuftig davon gedacht habe. Also haben die Altväter,welche in den geistlichen Sachen sind erfahren gewe-sen, nicht ohne Ursache geordnet, dass die Körper derToten an einem heiligen Orte sollten begraben wer-den, auch so lange die Leichen noch über der Erdenund auf der Bahre stehen, sollten Lichter angezündet,die Leichen mit Weihwasser besprenget, geräuchertund durch Gebete entsühnt werden.

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Denn, wie die Lehrer der Hebräer sagen, so wirdunser ganzer Leib und was daran fleischlich ist, daswird den Schlangen zur Speise hinterlassen, undzwar, wie sie reden, dem Azazel, welcher ist der Herrdes Fleisch und Blutes und der Fürst dieser Welt, undwird genennet im dritten Buch Mosis der Fürst derWüsten, dessen auch gedacht wird im ersten BuchMosis: Terrain comedes omnibus diebus vitae tuae.Du sollst Erde essen dein Leben lang, und beim Isaia:dein Brod ist Staub, das ist: unser Leib ist erschaffenaus dem Staube der Erde, so lange er nicht geheiligetund in was Bessers ist verwandelt worden, also, dasser nicht mehr der Schlangen, sondern Gott zuteilwerde, nämlich aus dem geistlichen Fleisch, nach denWorten Pauli: Seminatur, quod animale est, et resur-get, quod spirituale est. Es wird gesät, was fleischlichist, und wird auferstehen, was geistlich ist. Und an-derswo: Omnes quidem resurgent, sed non omnes im-mutabuntur, quia multi remansuri sunt in perpetuumcibum serpentis; das ist: alle werden zwar auferste-hen, es werden aber nicht alle verwandelt werden,denn viel werden bleiben zur ewigen Speise derSchlangen. Also sehet, so legen wir mit dem Tode abdiese garstige und scheussliche Materie des Fleisches,dieses Schlangenfutter, damit wir dermaleins eine an-dere und bessere Gestalt annehmen möchten, welcheswird geschehen bei Auferstehung der Toten.

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Und das ist schon erfüllet in diesen, welche dieErstlinge der Auferstehung gekostet haben, und ihrergar viel haben dieses durch Kraft des Geistes Gottesin diesem Leben erlanget, als Enoch, Elias undMoses, deren Körper also sind verwandelt worden,dass sie die Verwesung nicht gesehen haben, nochwie die andern der Gewalt der Schlangen sind hinter-lassen worden. Und eben dieses ist der Streit des Teu-fels mit dem Engel Michael über den Leib des Moses,dessen Judas in seiner Epistel gedenket; aber von die-ser Schwarzkünstlerei und Teufelsbannerei mag es fürdiesesmal genug sein.

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Kapitel XLVI.

De theurgiaoder

Von göttlicher Reinigungs-Befleissigung

Diese, die Theurgia, halten die meisten vor unver-boten und zulässlich, als wenn sie durch gute Engelund durch das Wort Gottes regieret würde, da dochzum öftern unter dem Namen Gottes und der heiligenEngel leichtfertige Teufelsbetrügereien vorgehen.Denn wir wollen uns nicht allein durch natürlicheKräfte sondern auch durch gewisse Gebräuche undZeremonien himmlische Tugenden zuwegebringen,von welchen uns die alten Magi viel Reguln gegebenund grosse Bücher hinterlassen haben. Aber dergrösste Teil aller Zeremonien besteht in Erhaltung derReinigkeit, fürnehmlich zwar des Gemütes, hernachaber auch des Leibes und was zu demselben gehöret,auch was um ihn rum ist, das ist die Haut, die Klei-dung, die Wohnung, die Geräte, die Opfer und andereSachen mehr, deren Reinigkeit zur Betrachtung göttli-cher Sachen disponieret; solches wird in der Bibel garoft erfordert nach den Worten Esaia: Lavamini etmundi estote, et auferte malum cogitationum ve-strarum. Waschet euch, reiniget euch, tut euer böses

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Wesen von meinen Augen. Die Unreinigkeit aber,welche zum öftern die Luft und den Menschen infizie-ret, die zerstreuet die reinen Einflüsse himmlischerund göttlicher Sachen und vertreibet Gottes reine Gei-ster. Aber auch die unreinen Geister und deren betrü-gerische Kraft, dieweil sie geehret und für Götter an-gebetet sein wollen, die forschen unterweilen auchnach dieser Reinigkeit. Derowegen muss man fürwahrhier recht vorsichtig sein, und haben wir von solchenCautelen in unsern Büchern de Occulta Philosophiaviel gesaget. Aber von dieser Theurgia oder Reinig-keit oder wie sie genennet wird Divinorum Magia hatder Porphyrius viel Disputierens gemachet, schleusstaber endlich also: durch diese Theurgische Konsekra-tionen und Weihungen kann man zwar die Seele desMenschen geschickt machen, dass sie meinet, durchden Geist der Engel Gott zu schauen, aber die Wie-derkehrung zu Gott wird durch diese Kunst niemandzuwegebringen.

Aus dieser Schule kömmt auch die Kunst oder ArsAlmadel, Ars Notoria, Ars Paulina, Ars Revelationumund andere abergläubische Künste mehr, welche umsoviel schädlicher sind, weil sie den Unerfahrenenheilig und seltsam vorkommen.

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Kapitel XLVII.

De cabalaoder

Von der jüdischen Auslegung der Wörter durchgewisse Zahlen, oder durch Versetzung der

Buchstaben

Aber hier fallen mir die Worte des Plinii ein, wel-cher spricht: Est et alia Magices factio, a Moyseetiamnum et Latopea Judaeis pendens; das ist: Es istnoch eine andere magische Faktion, welche allbereitsvon Moyse und Latopea dem Juden herkommt; unddieses erinnert mich an die Cabala der Jüden, die aufdem Berge Sina von Gott selbsten dem Moysi ist ge-geben worden, wie das bei den Hebräern eine bestän-dige Meinung ist, und hernach, trotzdem die Buchsta-ben aufkommen, ist sie bis auf die Zeiten Ezrae denenNachkommenden, jedoch nur mit lebendiger Stimmeübergeben worden, gleichwie die Pythagorische Lehrevor Zeiten von dem Archippo und Lysiade ist vorge-tragen worden; die haben in Griechenland Schulen ge-habt, in welchen die Discipuli die Praecepta ihrerLehrer auswendig gelernet und anstatt der Bücher ge-braucht haben. Also haben gewisse Juden die Buch-staben verachtet und haben alles auf das Gedächtnis

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und die mündliche Tradition gesetzet, daher ist dieCabala von den Hebräern gleichsam ein Behältnis ge-nennet worden desjenigen, was einer von denn anderngehöret hat, eine, wie man sagt, von der ältestenKunst; dem Namen aber nach ist sie erst bei neuernZeiten unter den Christen bekannt worden. DerenWissenschaft ist doppelt oder zweierlei; eine von demBresith, welche auch Cosmologia genennet wird,nämlich welche die Kraft und Wirkung der erschaffe-nen, der natürlichen und himmlischen Dinge explizie-ret, uns die Geheimnisse des Gesetzes und der Bibeldurch philosophische Rationes und Satzungen weiset,welche aber solchergestalt fast nichts von der MagiaNaturali unterschieden ist, in welcher, dass der KönigSalomo der vortrefflichste gewesen, man dafür gehal-ten hat. Denn es wird in den heiligen hebräischen Hi-storien gelesen, dass er habe pflegen zu disputierenvon den Cedern Libani bis auf den Hyssopum, wieauch vom Vieh, von Vögeln, von kriechenden Tierenund von Fischen, welche alle gewisse magische Wir-kungen in sich haben, und diesem haben hernachunter den Nachkömmlingen, als der Moyses Ägyp-tius, in seinen Expositionibus über den Pentateuchumund andere Talmudisten mehr gefolget. Die andereSpeciem aber dieser Wissenschaft nennen sie dieWissenschaft de Mercana, welche ist von hohen gött-lichen Sachen, englischen Tugenden und Wirkungen,

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göttlichen Namen und Betrachtungen gewisser Zei-chen, welche gleichsam ist eine Theologia Symbolica,durch welche die Buchstaben, die Zahlen, die Figuren,die Namen und die Sachen an sich selbsten, die Lini-en und Spitzen der Elemente, und ihre Puncta undAkzente, als tiefsinniger Sachen Vorbedeutungen undgrosser Dinge Heimlichkeiten können verstanden wer-den.

Diese teilen sie wieder in zwei Teile, nämlich inArithmantiam, welche sie Notaricon nennen, als wel-che von Engeln, von Tugenden, auch von Namen undWahrzeichen der bösen Geister und der Seelen Zu-stand handelt; und auch hernach in Theomantiam,welche die Geheimnisse der göttlichen Majestät,deren Emanationen, heilige Namen und Fürtrefflich-keit nachgrübelt; wer diese kann und weiss, von demmuss man sagen, dass er mit Wunderkünsten und Tu-genden begabt ist. Also wenn er will, so weiss er allezukünftige Sachen zuvor, er herrschet über die ganzeNatur und hat der bösen und guten Geister Macht inseinen Händen, und tut Wunder. Durch diese, meinetman, habe Moses soviel Zeichen und Wunder getan,durch diese habe er die Rute in eine Schlange und dasWasser in Blut verwandelt, durch diese habe er Frö-sche, Fliegen, Läuse, Heuschrecken, Käfer, Feuer mitHagel und allerhand Plagen und Krankheiten denenÄgyptern zugeschicket, alle erste Geburt von

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Menschen an bis aufs Viehe getötet, seinem Heer dasMeer aufgetan, Wasser aus den Felsen und Wachtelnvom Himmel hergebracht, das bittere Wasser süssegemacht, den Blitz und die Wolken des Tages, dieFeuersäule des Nachts den seinigen vorleuchten las-sen, die Stimme des lebendigen Gottes vom Himmelauf das Volk herunter rufen lassen, die Stolzen mitFeuer und die Murrenden mit dem Aussatz geschla-gen, die Bösen mit einer geschwinden Niederlage, an-dere mit Verschlingung der Erde gestrafet das Volkmit himmlischer Speise geweidet, die giftigen Schlan-gen versöhnet, unzählig Volk von ihrer Erkrankungkurieret, ihre Kleider von der Verwesung erhalten,und aller seiner Feinde Überwinder worden.

Durch diese Wunderkunst hätte Josua die Sonnestille stehen heissen, Elias Feuer auf seine Feinde fal-len lassen, einen toten Knaben lebendig gemachet,Daniel des Löwen Rachen eingehalten, und dass diedrei Knaben in dem Feuerofen Lieder gesungen, zu-wege bracht. Durch diese Kunst, sagen die perfidenJuden, habe auch Christus soviel Wunder getan,durch diese Kunst habe Salomo gelernet, wie er sichvor des Teufels bösen Tücken habe hüten können, wieJosephus dafür hält.

Aber gleichwie ich nicht zweifele, dass Gott demMoysi und andern Propheten viel von denen in Heilig.Schrift enthaltenen Wunderwerken dem Volke zu

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offenbaren verboten hat, also halte ich diese kabali-sche Kunst, welche die Hebräer so hoch herausstrei-chen, und welcher ich mit vieler Arbeit lange Zeitnachgegrübelt habe, für nichts anderes, als vor eineRapsodia oder für ein zusammengetragenes Werk vol-ler Aberglauben und erkenne sie für eine theurgischeMagie und Weissagung; und wenn sie gleich dieJuden rühmen, sie käme von Gott her und täte viel zurVollkommenheit des menschlichen Lebens, zu dessenHeil und Wohlfahrt, zur Ehre und Dienst Gottes, undzu Erleuchtung der Wahrheit, so kam fürwahr derGeist der Wahrheit nach Verstossung der Synagoge,uns die Wahrheit zu lehren, und es hätte derselbe unssolches auch nicht bis auf die letztere Zeit der Kirchenverborgen gehalten, die wahrlich alles weiss was Got-tes ist, deren Segen, Taufe und andere Sacramenta un-sers Heils uns offenbaret und in allen Sprachen ver-kündet hat. Denn es ist in allen Sprachen die gleicheKraft, wenn nur einerlei Gottesfurcht da ist, und istkein anderer Name weder im Himmel noch auf Erden,dadurch wir sollen selig werden, denn alleine derName Jesu Christi, und in welchem alles verborgenund enthalten ist. Daher können die Juden, so sonstenin göttlichen Namen wollen erfahren sein, wenig odernichts nach Christum Gutes wirken, wie ihre Vorfah-ren.

Wir erfahren und sehens aber, dass durch dieserPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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Kunst Offenbarung oft grosser Geheimnisse Meinun-gen aus der Bibel herausgezogen werden, alleine esist nichts anders als ein Spiel etlicher heimlicher Deu-tungen, welche Müssiggänger, so sich um die Buch-staben, Punkte und Zahlen bekümmern (was nachdem Wesen der hebräischen Schrift leicht ist) nachGutdünken erdichten und fürbringen. Denn ob esgleich scheinet, als ob darunter grosse Geheimnissestecken, so werden sie doch nichts beweisen und kei-nen Nachdruck haben, und können, nach den WortenGregorii, ebenso leicht und eben mit der Mühe, da sieangenommen, wieder verworfen werden.

Der Mönch Rabanus hat durch dieses Kunststück-chen meistenteils seinen Sachen eine Gestalt gebenwollen, aber wer siehet nicht, dass er durch die latei-nischen Charakteres und Verse, indem er viel Bilderund andere Sachen aus der Schrift mit untergemenget,Geheimnisse machen wollen, welche auch aus denProfan-Historien könnten erzwungen werden, sonder-lich wenn einer der Valeriae Probae zusammenge-flickete Bettlermäntel von Christo aus des VirgiliiVersen ansiehet und lieget, welches alles nur Spekula-tiones müssiger Leute sind. Was aber die Hervorru-fungen von Wundern betrifft, so halte ich nicht dafür,dass einer unter euch wird so närrisch sein, der dieserKunst und Wissenschaft Glauben beimessen sollte.

Denn es ist ja diese Cabala der Jüden nichts andersPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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als eine schändliche und schädliche Superstition undAberglauben, womit sie die Worte, die Namen undBuchstaben der H. Schrift hin und wieder kolligieren,teilen und umsetzen; sie zerreissen die Reden, dieSchlüsse, die Gleichnisse, vertauschen miteinanderdie Glieder der Wahrheit, erfinden dazu eigene Mei-nungen, wollen dieselben Gottes Aussprüchen gleichmachen, schreien die Schrift aus und sagen, ihr Vor-bringen wäre alles aus derselben genommen und her-geholet; sie schänden und schmähen das Gesetz Got-tes durch ihre falsche, ausgepresste und erzwungeneDictiones, Syllaben, Buchstaben und Zahlen, undbringen gotteslästerliche Probationes ihrer Treulosig-keit für den Tag, und sind mit ihren nichtswürdigenGeschwätzen so stolz und aufgeblasen, dass sie mei-nen, sie wüssten und hätten nunmehro unaussprechli-che Geheimnisse Gottes erfunden, mehr als in der hei-ligen Bibel stehen, dadurch sie prophezeien und Mi-racul tun könnten. Es ist keine Schande noch Schambei ihnen, und werden nicht rot, wenn sie solche greu-liche Lügen an Tag bringen; aber es widerfähret ihnendas, was dem Hunde bei dem Äsopo widerfahren ist,welcher das Brot hat fahren lassen und nach demSchatten geschnappet, und dadurch seine Speise ver-loren hat.

Also ist dieses hartnäckichte Volk beschaffen, dasssie sich nur um den Schatten der Heiligen Schrift

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bekümmern, und indem sie sich mit ihrer Eitelkeitdurch diese abergläubische Kunst und Cabala wollenherfür tun und damit Tote auferwecken, so verlierensie das Brot und die Speise des ewigen Lebens unddie Weide des Worts der ewigen Wahrheit. Aus die-sem jüdischen Sauerteig des kabalistischen Aberglau-bens sind gebacken worden die Ophitae, die Gnosticiund Valentiniani, alles grausame Ketzer, welche sel-ber mit ihren Schülern eine griechische Cabalam er-dacht haben; sie verkehren die Geheimnisse deschristlichen Glaubens und drehen mit einer argen Ket-zerei die griechischen Buchstaben und Zahlen herum,und gebären daraus ein Corpus, welches sie das Cor-pus Veritatis nennen, dadurch sie lehren wollen, dassniemand ohne das Geheimnis dieser Buchstaben undZeichen die evangelische Wahrheiten finden könnte,denn diese streiten untereinander selbsten; die ge-wöhnlichen Ausleger, sehend sind sie blind, unddurch ihren Verstand verstehen sie nichts, durch ihrHören hören sie nichts; sondern sind blind und irrenimmer in Tag hinein; aber die reine Wahrheit sei denVollkommenen durch Tradition überliefert wordendurch die alphabetische und arithmantische Theolo-gie, welche Christus seinen Aposteln heimlich offen-baret habe, und welche Paulus, wie er spricht, nurunter den Vollkommensten redete.

Denn weil dieses hohe Geheimnisse sind, soPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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werden sie nicht geschrieben, können auch nicht ge-schrieben werden, sondern müssen bei den Weisen inVerschwiegenheit bleiben und von ihnen teuer ver-wahret werden. Bei ihnen ist niemand klug, als der,welcher grosse Monstra dieser Ketzerei auszubrütenweiss.

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Kapitel XLVIII.

De praestigiisoder

Von der Verblendung und Gauklerei

Aber wir müssen wieder zur Magie kommen, derenStücklein eins ist die Kunst der Verblendung undGauklerei; und ist nichts anders als ein Betrug, wel-cher nur unwirkliche Erscheinungen von sich gibt,und dadurch die Magi gewisse Phantasmata und Ge-sichte herfürbringen und viel Wunderwerke durch ihregauklerische Possen uns für Augen stellen, auch dieMenschen träumen lassen, welches nicht sowohl ge-schieht durch Bezauberung oder teufelische Sprüche,als durch Raucherei und Dämpfe, durch Lichter oderVerblendungen, Tränke, Salben, Binden, mit Ringen,mit Bildern, mit Spiegeln und andern natürlichen undzu dieser Kunst geschickten Drogen und Instrumen-ten.

Es geschieht auch viel durch eine subtile Ge-schwindigkeit der Hände und durch listige Emsigkeit,wie wir es täglich bei den Gauklern und Komödiantensehen, welche wir Gelehrten deswegen Chirosophos,das ist: den Händen nach Weltweise nennen.

Von dieser Künstleiei liegen des Hermetis undPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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noch einiger anderer Bücher am Tage. Wir lesenauch, dass Pasetes, ein artlicher Betrüger, denen Leu-ten habe eine fürtreffliche Mahlzeit oder Gasterei ge-wiesen, und gleich in einem Augenblick, wann es ihmgefallen hat, ist alles wieder verschwunden, undhaben die Gäste alle gelegen ohne Speise und Trank.Von dem Numa Pompilio lesen wir, dass er sich auchsolcher Gauklerei gebrauchet habe. Auch der gelehrtePythagoras hat einstmals diesen lächerlichen Possenvorgehabt, dass er, was er gewollt hat, mit Blute ge-schrieben auf einen Spiegel und diesen gegen denVollmond gerichtet; hernachmals aber hat er allediese geschriebene Sachen in der Fläche des Mondesgewiesen.

Hierher gehöret auch, was von der Verwandelungder Menschen ist geschrieben und von den Poeten ge-glaubet worden, welches uns auch von den Historicis,ja wohl gar von etlichen christlichen Theologis ist, alsauf der H. Schrift gegründet, erzählt worden. Alsoscheinen uns Menschen wie Esel, Pferde und andereTiere, nur durch Verblendung der Augen, durch Stö-rung der Luft und durch solche natürliche Kunst. Bis-weilen geschieht solches auch sowohl von guten alsvon bösen Geistern, auch wohl auf Gebet der From-men von Gott selbsten, wie wir in der heiligen Schriftlesen von dem Propheten Elisäo, als er ist umgebengewesen von dem Heer des Königs in Syrien, in der

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Feste Dothain. Fromme Augen aber werden nicht ge-täuschet. Also ist dasjenige Weib, welches insgemeinvor ein Vieh ist gehalten worden, dem Hilarioni nichtvor ein Vieh, sondern für ein Weibsbild vorkommen.Derohalben alle diese Sachen, welche einem auf sol-che Art scheinen und vorkommen, das werden Gauk-lereien und Verblendungen genennet; was aber ganzverwandelt und wahrhaftig eine andere Gestalt be-kommet, als von dem Nabuchodonosor oder von derErnte, so auf andere Acker ist gebracht worden, davonhaben wir droben mehr gesaget.

Von dieser Gauklereikunst redet Jamblichus also:Quae praestigiati seu fascinati imaginantur, praeterimaginativam nullam habent actionis et essentiae ve-ritatem; das ist: Welche Sachen einem durch Verblen-dung eingebildet werden, die haben keine Wahrheiteines Dinges, und es ist keine Wahrheit, sondern eineEinbildung. Denn es ist der Endzweck dieser Kunst,nicht schlechter Dinge was machen, sondern nuretwas scheinend machen, davon hernach weiter nichtsübrig bleibet. Aus diesem allen nun, was wir vorjetzogesagt haben, erhellet klar, dass die Magia nichts an-ders sei als ein Gemisch von Götzendienst, Astrologieund abergläubischer Medizin, und dass von diesenMagis ein grosser Haufe Ketzer in die Kirche kom-men sind, gleichwie sich Jamnes und Mambres demMoysi, also haben sich auch diese der apostolischen

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Wahrheit widersetzet. Der Vornehmste unter ihnen istSimon Samaritanus gewesen, welcher zu Rom unterdem Kaiser Claudio wegen dieser Kunst mit einer Eh-rensäule ist verehret worden, mit dieser Überschrift :Simoni Sancto Deo: Simoni dem heiligen Gott. Des-sen Gotteslästerung erzählet Clemens Eusebius undIrenäus weitläuftig.

Aus diesem Simone sind gleichsam als aus einerBaumschule nach und nach die ungeheuerlichenOphiten, die schändlichen Gnostici, die gottlosen Va-lentiniani, die Cerdoniani, Marcionistae, die Monta-niani und andere Ketzer mehr entsprossen; nur wegendes schnöden Gewinnsts und wegen der eitelen Ehresind sie Lügner worden gegen Gott, haben die Leutebetrogen und dieselben in lauter Irrtum und Schadengeführet; auch werden diejenigen, welche ihnen Glau-ben beimessen, dieses für Gottes Gerichte schwer zuverantworten haben.

Ich als ein Jüngling habe von dieser Kunst drei Bü-cher geschrieben, und zwar sehr weitläuftig und habesie titulieret de Occulta Philosophia, oder von der ver-borgenen Weisheit; was ich darinnen aus Kützel derJugend geirret habe, das will ich jetzo, der ich nunklüger worden bin, revozieret und um Verzeihung ge-beten haben; denn ich habe viel Zeit und Mühe mitdieser Eitelkeit zugebracht, und habe endlich diesesdaraus gelernet, dass ich weiss, wie man andern von

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diesem schändlichen Wesen soll abraten.Welche derohalben nicht durch Wahrheit, sondern

durch Betrug des Teufels nach der Wirkung der bösenGeister prophezeien und weissagen, und durch diesemagische Vanitäten, Bezauberungen, Incantationesund andere teuflische Werke, durch Betrug der Göt-zendienste, Gaukeleien, Phantasmata und andere der-gleichen Wundersachen sehen lassen und sich berüh-met machen wollen, dieselben sollen wissen, dass siemit Jamne, Mambre und Simone Mago zu dem ewi-gen Feuer verdammet sind.

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Kapitel XLIX.

De philosophia naturalioder

Von der Wissenschaft natürlicher Dinge

Aber wir wollen weiter gehen und die Grundsätzeder Weltweisen, welche der Natur selbsten nachgrü-beln und ihren Ursprung und Zweck mit betrüglichenSyllogismis zu erforschen gedenken, betrachten, undfürwahr, es weiss kaum ein Mensch, was für Gewiss-heit bei denenselben ist, sobald sie sich nicht an denGlauben ihrer Lehrmeister halten. Diese Philosophiehaben die Poeten am ersten profitieret, unter welchenist fürnehmlich gewesen Prometheus, Linus, Musaeusund Orpheus, wie auch Homerus. Derohalben beden-ke nur ein jedweder, was für Wahrheit uns die Philo-sophie bringen kann, die aus dem Geschwätze undFabuln der Poeten ihren Ursprung hat. Und dass die-ses nicht anders sei, beweiset Plutarchus mit offenba-ren Gründen, nämlich, dass alle Sekten der Philoso-phorum von dem Homero ihren Anfang genommenhaben; der Aristoteles selbsten bekennet, dass diePhilosophi von Natur auch Philomythi, das ist Fabel-beflissene, sind. Der Philosophorum Sekten haben an-dere in neun, andere in zehn, andere - unter welchen

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ist Varro - in mehr Teile geteilet. Aber wenn mangleich alle Philosophos über einen Kamm scherensollte, so würde man doch nicht wissen, wer unterihnen Koch oder Keller, oder der Vornehmste, undwessen Lehre am meisten zu folgen sei, also sind sieuntereinander uneinig und haben von undenklichenJahren her lauter Zank und Streit angefangen, und(wie Firmianus saget) jedwede Sekte suchet die ande-re zu vertreiben und auszurotten, damit einer für denandern nicht klüger gehalten, oder ihre Torheiten da-durch nicht an Tag kommen möchten; und wenn sienun von allen andern Philosophis disputieret haben,so sind sie hernach von keinem gewiss; dahero steheich noch bei mir an und weiss nicht, ob ich die Philo-sophos unter das unvernünftige Vieh oder unter dieMenschen zählen soll. Sie scheinen zwar besser zusein, als die Bruta oder die unvernünftigen Tiere, weilsie Vernunft und Verstand haben; aber ich kann auchnicht sehen, wie ich sie unter die Menschen rechnenkönnte, denn ihre Ration und Vernunft ist in keinemDinge beständig, sondern schwanket immer hin undwieder, von schlüpferigen und betrüglichen Meinun-gen, und ihr Verstand ist in allen Sachen ungewiss,und wissen nicht, an was sie sich halten und was sieglauben sollen, und dass es nicht anders sei, das wol-len wir anjetzo weitläuftig dartun.

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Kapitel L.

De principiis rerum naturaliumoder

Vom Ursprung der natürlichen Dinge

Denn, vom Ursprung der natürlichen Dinge, wor-auf sich diese Philosophi fundieren, ist unter den Vor-nehmsten der grösste und härteste Streit, welcher nochimmerdar unter dem Richter schwebet: wer von ihneneine bessere Meinung gesagt habe; diese Leute brin-gen in Sachen, die auch einander kontraer sind, treffli-che unwiderlegliche Rationes für.

Der Thales Milesius, der von dem Oraculo zuerstdas Urteil empfing, er wäre ein Weiser, meinete, alleSachen bestünden aus dem Wasser. Dessen Zuhörerund Successor aber, der Anaximander, sagte, dass diePrincipia, woher sie entstünden, unendlich wären,dessen Diszipul aber, der Anaximenes, wollte be-haupten, dass aller Sachen Ursprung die unendlicheLuft wäre, Hipparchus und Heraclitus Ephesius aberdas Feuer, welchen beiden der Archelaus Atheniensisetlichermassen beigepflichtet. Der Anaxagoras Clazo-menius, der hat statuieret, dass unzählige Ursprüngeals kleine und geteilte Stücken wären, welche her-nachmals durch den göttlichen Geist mussten in eine

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9.794 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 183Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

gewisse Ordnung gebracht werden.Der Xenophanes hat gemeinet, es wäre alles eines

und dasselbe, der Änderung nicht unterworfen. Par-menides, es wäre das Kalte und Warme, welches dieErde bewegete und zuwege brächte; Leucippus, Dio-dorus und Democritus, es wäre das Volle und dasLeere. Diogenes die Luft, welche an der göttlichenVernunft partizipierte und derselben fähig wäre. Py-thagoras Samius hat statuieret, dass die Zahl aller Sa-chen Anfang und Ursprung sei, welchem AlcmäonCrotoniates nachgefolget. Empedocles Agrigentinushat gesaget, es wäre der Streit und die Freundschaft,und fürnehmlich die vier Elementa. Epicurus aber dieAtomi im leeren Raume, die Stäublein in der Sonne;Plato und Sokrates hielten für den Ursprung Gott, dieIdeen und die Materie; Zeno Gott, die Materie undElementa; Aristoteles aber, es wäre die Materie nachBegehren der Forma durch die Beraubung, welche erunter den Ursprüngen für die dritte hält, zuwider dem-jenigen, was er zuvor an einem andern Orte gelehrethat, und dass man die Zweideutungen (wie das WortBeraubung) darunter nicht zählen sollte. Daherohaben die neuen Peripatetici anstatt der Privation oderBeraubung einen gewissen Motum oder eine Bewe-gung, die Form und Materie zwingen musste, statuie-ret. Weil aber Bewegung nur ein Accidens oder zufäl-lig Ding ist, so kann es ja der Ursprung und Anfang

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9.795 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 184Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

der Substanz nicht sein. Oder wer wird dieser Bewe-gung Beweger sein? Derohalben haben die hebräi-schen Philosophi statuieret und dafürgehalten, dassdas Prinzip Materie, Forma und Spiritus oder Geistsei.

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9.796 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 185Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LI.

De mundi pluralitate, et ejus durationeoder

Von der Vielheit der Welt, und deren Dauer undWährhaftigkeit

Aber wenn sie von der Welt disputieren, so sind sieerst recht strittig untereinander; Thales hat vermeinet,dass nur eine Welt von Gott geschaffen wäre, inglei-chen auch Empedocles, aber sie sei ein kleiner Teildes Universums; hingegen haben Democritus undEpicurus dafürgehalten, dass unzählige Weltenwären, denen ihr Discipul der Metrodorus nachgefol-get, wenn er saget, es seien unzählige Welten, weilihre Causae und Ursachen auch unzählig sind, und istebenso absurd, wenn man statuieren wollte, dass nureine Welt wäre, als wenn man sagen wollte, es wüch-se nur eine Ähre auf einem Acker. Von der WeltWährhaftigkeit oder Dauer aber hat Aristoteles, Aver-roës, Cicero und Xenophanes dieses gesaget, dass sieewig und keiner Verwesung unterworfen wäre; weilman nicht penetrieren und ausgrübeln könnte (wieCensorius spricht), ob das Ei oder der Vogel erst ge-zeuget, da doch das Ei ohne Vogel und der Vogelohne Ei nicht könne gezeuget werden; so haben sie

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9.797 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 185Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

auch dafürgehalten, dass die Welt eines jedweden er-schaffenen Dinges Anfang und Ende, und durch stets-währende Revolution und Bewegung sei. Pythagorasund die Stoici sagen, sie sei von Gott gezeuget, unddermaleins ihrer Natur nach wieder vergänglich. Die-sen pflichten bei Anaxagoras, Thales, Hierocles, Avi-cenna, Algazel und Philo Hebräus. Plato aber bejahet,dass sie von Gott gemachet sei nach seinem Exempelund nimmermehr vergehen würde. Epicurus, dass sievergeben werde. Democritus lehret, die Welt wäreeinmal geschaffen und müsste auch einmal unterge-hen, und käme niemals wieder herfür; Empedocleshingegen und Heraclitus Ephesius vermeinen, dassdie Welt nicht einmal, sondern allezeit geschaffenwerde und wieder untergehe.

Es mag uns jetzo vergönnet sein, von einer Sachezu handeln, welche sie selbsten sagen, dass sie voneiner natürlichen Ursache herkomme, als zum Exem-pel vom Erdbeben, so werden sie doch ihre natürli-chen Ursachen nicht recht ergründen können, sondernsie werden rum vagieren und nichts Gewisses statuie-ren; der Anaxagoras saget, die Ursache wäre derGlanz des Himmels, den er Äther nennt; Empedoclessaget, das Feuer, Democritus und Thales Milesius dasWasser, Aristoteles, Theophrastus und Albertus derSturm und die Dünste unter der Erden, Asclepiadesder Zusammensturz. Poseidonius, Metrodorus und

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Callisthenes halten dafür, es wären die Parzen oderdie Göttinnen, welche die Lebenszeit und das Glückbestimmten und in ihren Händen hätten. Seneca undandere untereinander Streitende, die haben nach des-sen Ursache und Effekt, wie sie sagen, umsonst sichbekümmert und denenselben nachgeforschet.

Derowegen die alten Römer, wenn sie gehörethaben, dass ein Erdbeben gewesen ist, haben sie zwarFeiertage gehalten, aber sie wussten nicht, wem unterden Göttern sie solche zu Ehren halten sollten, weilman nicht wüsste, durch welchen ihrer Götter oderdurch wessen Kraft die Erde so wäre erzitternd wor-den.

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9.799 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 186Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LII.

De animaoder

Von der Seelen

Aber wenn wir von der Seelen etwas wollten erfor-schen, so würden wir sehen, wie schöne sie miteinan-der würden überein kommen; denn Grates Thebanusspricht, es wäre gar keine Seele, sondern die Leiberwürden also von der Natur beweget; welche aber eineSeele statuieret haben, deren etliche haben dafürge-halten, dass sie das zarteste Wesen und unsern grobenLeibern gleichsam eingegossen sei; etliche aber unterihnen haben verneinet, dass sie ein feurig Wesen sei,wie der Hipparchus und Leucippus, mit welchen dieStoici etlichermassen übereinkommen, wenn siesagen, die Seele wäre ein hitziger Spiritus, und De-mocritus, sie sei ein beweglicher und voller feurigenAtomis erfüllter Spiritus; andere haben gesaget, eswäre die Luft, wie der Anaximenes und Anaxagoras,der Diogenes Cynicus und Critias, ebenso welchenVarro beipflichtet, wenn er spricht: Anima est aërconceptus ore, defervefactus in pulmone, temperatusin corde, diffusus in corpus. Das ist: Die Seele ist eineLuft, welche mit dem Munde geschöpfet, in der Lunge

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erwärmt, im Herzen temperieret und hernach in demganzen Leib ausgeteilet wird.

Andere sagen, sie sei aus Wasser, wie der Hippias,andere aus Erde, wie der Hesiodus und Pronopides,welchen in etwas beipflichten Anaximander und Tha-les, beide Mitbürger des Milesii. Andere, es sei eingemischter Spiritus, aus der Luft und aus dem Feuer,wie der Boëthius und Epicurus; andere aus der Erdeund Wasser, wie der Xenophanes, andere aus derErde und Feuer, wie der Parmenides, andere aus demBlut, wie Empedocles und Circias; andere, sie wäreein subtiler Geist, der sich in den Leib austeilet, wieder Arzt Hippocrates; andere, sie wäre ein Fleisch,das durch die Sinne lebendig würde, wie der Ascle-piades. Viel andere aber haben dafür gehalten, dieSeele wäre kein noch so feiner Körper, sondern eineQualität und eine Zusammensetzung des Leibes, inviel Teile ausgeteilet, wie der Zeno Citticus; und derDicearchus beschreibet die Seele, dass sie eine Zu-sammensetzung der vier Elementen; Cleanthes, Anti-pater und Poseidonius haben gesaget, sie sei eine hit-zige oder eine warme Zusammenfassung, welcherMeinung auch der Galenus Pergamenes anhänget.

Es sind auch andere, welche gesaget haben, dassdie Seele nicht eine solche Zusammensetzung oderQualität wäre, sondern dass sie als ein Punkt in einemgewissen Teile des Leibes sich aufhielte, etwan im

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Herzen oder im Gehirne, und daraus regierete sie denganzen menschlichen Leib; aus welcher Zahl ist ge-wesen Chrysippus, Archelaus und Heraclitus Ponti-cus, welcher die Seele ein Licht genennet hat. So sindauch wieder andere, die noch was freier ihre Gedan-ken gehabt haben, nämlich, es wäre die Seele wie einfreier Punkt an keinen Teil des Leibes gebunden, son-dern von einem gewissen Sitze ganz abgesondert,einem jedweden Teile des Leibes aber zugegen; ob sieentweder des Menschen Komplexion generieret oderGott geschaffen hat, so wäre sie doch aus dem Schossder Materie herfür gebracht worden. Dieser Meinungsind gewesen Xenophanes aus Colophon, Aristoxenesund Asclepiades der Medicus, indem sie sagen, dieSeele sei ein Zusammenarbeiten der Sinne; CritolausPeripateticus, sie sei die Quinta Essentia; auch sprichtThales Milesius, die Seele sei eine unruhige und sichstets bewegende Natur; Xenocrates hat sie eine sichbewegende Zahl genennet; diesem haben gefolget dieÄgyptier, welche die Seele eine Kraft und Gewalt, diedurch alle Teile des Leibes wandere, genennet haben.Die Chaldäer sprechen, dass sie eine Wirkung seiohne eine gewisse oder determinierte Form, undnehme doch alle äusserliche Formen und Gestaltenauf.

Alle kommen sie in diesem Stück überein, dass dieSeele sei eine wirkliche und tätige Kraft zu bewegen,

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oder eine hohe Harmonie oder Zusammenstimmungaller Teile des Leibes, doch also, dass sie von derNatur des Leibes dependierete. Und diesen Fusstapfenhat gefolget der teuflische Aristoteles, welcher ein neuWort erdacht hat und die Seele Entelechiam, das isteine Vollkommenheit des natürlichen, gegliedertenLeibes, genennet, welche eine Macht des Lebens hatund demselben den Anfang zur Vernunft, zum Fühlenund zum Bewegen gibet; und dieses ist die nichtswür-dige Beschreibung der Seelen dieses grossen undmeistverbreiteten Philosophi, welche weder die wahreEssenz noch die Natur und Eigenschaft nach ihremUrsprung, sondern nur etlichen Wirkungen beschrei-bet.

Ferner, so gibets über diese noch andere, welchegesaget haben, die Seele sei eine göttliche Substanzoder Wesen ganz vollkommen und unzerteilet, allenund jeden Teilen des Leibes insonderheit zugegen,und von Gott also herfürgebracht, dass sie bloss ausKraft desjenigen, der sie erreget, nicht aber aus demSchoss der Materie bestimmt wäre. Dieser Meinungsind gewesen der Zoroastes, Hermes Trismegistus,Orpheus, Aglaophemus, Pythagoras, Eumenius, Am-monius, Plutarchus, Porphyrius, Timäus, Locrus undder göttliche Plato, wann er spricht: die Seele sei eineEssenz, mit einem Verstand begabet und sich selbstbewegend. Aber der Bischof Eunomius der pflichtet

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teils dem Aristoteli, teils dem Platoni bei und be-schreibet die Seele, dass sie wäre eine incorporischeSubstanz in dem Leibe entsprossen, daraus er hernachalle seine Lehren gezogen hat.

Wenn Cicero, Seneca und Lactantius sind gefragtworden, was doch die Seele wäre, so haben sie gesa-get, sie wüssten es nicht. Sehet ihr nun nicht, wie sieweidlich miteinander streiten und uneinig sind, wennsie von der Essenz der Seelen und von ihrem Sitz of-termals lächerliche Sachen vorbringen und ganz un-tereinander variieren. Denn Hippocrates und Hiero-philus halten dafür, dass sie in den Höhlen des Gehir-nes ihren Sitz hätte; Democritus im ganzen Leibe;Erasistratus in der Gegend der Hirnhaut; Strato zwi-schen den Augenbrauen; Epicurus in der ganzenBrust; Diogenes in der Herzkammer; die Stoici mitdem Chrysippo in dem ganzen Herzen und in denGeistern, so um das Herz herumschweben; Empedo-cles im Blute, dem Moyses beipflichtet, indem er ver-boten, dass man von dem Blute nicht essen solle, weildie lebendige Seele in demselben anzutreffen wäre;Plato und Aristoteles, wie auch die andern vornehm-sten Philosophi haben gemeinet, sie wäre im ganzenLeibe. Galenus aber meinet, ein jedweder Teil desLeibes hätte seine sonderliche Seele, denn also sprichter im Buch von Nutzbarkeit der Teile des Leibes:Multae animalium etiam particulae, hae quidem

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9.804 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 190Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

majores, illae minores, aliae vero omnifariam in ani-malium speciem indivisibiles, necessario autem iisomnibus anima quaevis indiget; corpus enim hujusorganum; et propterea multum a se invicem anima-lium particulae differunt, quia et animae. Das ist: Eshat ein jedwedes Tier viel Teile und Gliedmassen anseinem Leibe, welche teils gross sind, teils klein, undkönnen manche überhaupt nicht getrennet werden;also muss ein jegliches seine eigene Seele haben;denn der Leib ist Ihr vornehmstes Werkzeug; und dieTiere sind soviel unterschieden nach ihren Gliedmas-sen und Organen, wie auch ihre Seelen verschiedensind. Hier ist auch nicht zu übergehen die MeinungBedae des Theologi, welcher über den Marcum ge-schrieben und gesaget hat, der vornehmste Sitz derSeelen ist nicht nach des Platonis Meinung im Gehir-ne, sondern nach Christi Meinung im Herzen. Aberwas sollen wir sagen von der Dauerhaftigkeit der See-len? Democritus und Epicurus die meinen, sie werdemit dem Leibe untergehen; Pythagoras und Plato, siesei unsterblich, aber sobald sie aus dem Leibe schei-de, so käme sie alsobald wieder zu ihresgleichen. DieStoici, so der mittleren Meinung sind, halten dafür,dass, wenn die Seele den Leib verlasse und gleichwiesie in diesem Leben gleichwohl schwach und mit kei-nen Kräften begabet gewesen sei, so müsste sie auchmit dem Leib zugleich wieder sterben; ist sie aber aus

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heroischen Tugenden formieret gewesen, so geselletsie sich zu andern solchen Naturen und suchet nochhöhere Sitze. Der Aristoteles saget, dass einige Teileder Seele, welche körperliche Sitze haben, nicht könn-ten von denselben separieret werden, sondern müsstenmit ihnen untergehen. Der Verstand aber, welcher kei-nes corporischen Wesens wäre, der bliebe als etwasUnvergängliches stets von diesem Vergänglichen ge-trennt, aber er sagets doch nicht so klar, dass die Dol-metscher nicht noch auf den heutigen Tag darüber dis-putieren sollten. Alexander Aphrodisäus saget offen-bar, dass sie sterblich sei, und dieses saget auch ausden unsrigen Gregorius Nazianzenus; wider dieseaber ist Platon, und aus den unsrigen Thomas Aqui-nas, welche für den Aristotelem streiten und sagen,dass er von der Unsterblichkeit der Seelen recht judi-zieret habe.

Averroës, der den Aristotelem stattlich kommentie-ret hat, der meinet, ein jedweder Mensch habe seineeigene Seele, dieselbe aber sterblich; der menschlicheGeist aber, oder ob wir ihn den Verstand nennen, sosei er unter allen Umständen ewig, aber allen Men-schen oder dem ganzen menschlichen Geschlechte eineinziger, welchen wir nur in unserm Leben zu gebrau-chen hätten. Themistius aber spricht, dass Aristotelesnur einen motorischen Sinn angenommen habe, dochvielfache sensorische; beide Arten aber seien

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9.806 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 191Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

beständig und stetswährend.So ist es nun durch der Philosophorum Arbeit

dahin kommen, dass auch unter den christlichenTheologis von dem Ursprung der Seelen ein Zank undZwiespalt entstanden, davon etliche in denen Gedan-ken begriffen, dass aller Menschen Seelen vom An-fang der Welt in dem Himmel geschaffen wären, unterwelchen ist der gelehrte Origenes; auch Augustinushält dafür, dass die Seele des ersten Menschen ausdem Himmel kommen und viel älter sei, als der Leib,und weil hernach der Seelen diese Wohnung hätte an-gestanden, so wäre sie mit ihrem eigenen guten Wil-len in dem Körper verblieben, wiewohl er auch aufdieser Meinung nicht standhaftig bleibet.

Andere meinen, dass die Seele sich ex traduce oderwie eine Rebe durch Absenker vermehre; und alsoeine Seele von der andern, wie ein Leib von dem an-dern Leibe weiter zeuge; welcher Meinung Apollina-ris Laodiceae Episcopus und Tertullianus, Cyrillusund die Luciferianer gewesen sind; wider diese Ketzerdisputieret heftig Hieronymus. Andere meinen, dieSeelen würden täglich von Gott erschaffen, welchesThomas mit diesem peripatetischen Argument be-haupten will, dass, weil die Seele ist die »Form« desLeibes, so müsste folgen, dass sie nicht droben, son-dern in dem Leib müsste geschaffen werden, welcherOpinion fast der ganze Haufe unserer jungem

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Theologen folget.Ich will jetzo nichts darüber sagen, dass gewisse

Gradus, gewisse Aufstiege und Niedergänge der See-len sind, wie die Origenistae eingeführet, solches abermit der Heiligen Schrift nicht bestärket haben; es istauch solches der christlichen Lehre nicht ähnlich.

Also sehet ihr, dass weder bei Philosophis, nochbei Theologis von der Seele was Gewisses statuieretworden. Denn Epicurus und Aristoteles halten sie fürsterblich; Pythagoras aber spricht, sie kommt wie ineinem Kreislauf wieder rum. Ja es finden sich Leute(wie an seinem Orte Petrarca saget), welche die Seelezu ihrem Leib rechnen, andere, welche sie austeilenunter die Leiber der Lebendigen; andere, welche siedem Himmel wiedergeben; andere, welche sie auf dieErden gebannt sein lassen; es sind ihrer, die sie garder Hölle preisgeben, es sind ihrer auch, die solchesnegieren. Es sind ihrer, die dafür halten, dass eine jed-wede für sich, andere aber, dass sie alle zugleich ge-schaffen wären. Averroës ist gewesen, welcher sichunterstanden hat, hiervon was Wunderliches zu sagen,nämlich, er hat eingeführet, wie gesagt, die Einerlei-heit des Verstandes. Die ketzerischen Manichäi habengesaget, es wäre nur eine Seele in der ganzen Weltund allen gemein, sie wäre in die lebendigen und leb-losen Geister eingeteilet, und dass die Leblosenwenig, die Lebendigen mehr, die Himmlischen aber

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am meisten partizipierten; und machen daraus diesenSchluss, dass die einzelnen Seelen nur Teile der uni-versalen und allgemeinen Seele wären. Auch Platostatuieret, dass zwar nur eine Seele in der Welt wäre,welche sich aber hernach particulariter austeilete unddie einzelnen Menschen so belebete, wie das Univer-sum durch seine Seele belebet würde. Aber da sindandere, welche nur eine Speciem aller Seelen lehren,andere aber nicht eine, sondern zwei, die vernünftigeund unvernünftige; andere aber wollen gar viel Spe-cies, andere soviel als Arten der Tiere behaupten. Ga-lenus bat gemeinet, nach dem unterschiedene Speciesder Tiere wären, nach dem wären auch unterschiedeneSpecies der Seelen, und hat überdies in einem Leibeviel Seelen behaupten wollen.

Es gibet ihrer auch, welche statuieren, dass in demMenschen zwei Seelen wären, eine die sensitiva oderdie empfindliche, welche von dem, der sie zeuget, dieandere intellectualis oder die verständige, welche vondem Schöpfer herkommet, genennet wird; unter wel-chen ist der Theologus, welcher Occam genennet wor-den. Plotinus gibet vor, ein anders wäre die Seele, einanders die Vernunft, welchem auch Apollinaris folget;etliche aber halten beide für einerlei, und sagen, dassdie Vernunft nur das vornehmste Stück der Seelen sei.Aristoteles aber hält dafür, dass die Vernunft nur po-tentia zugegen wäre, actu aber äusserlich dazu käme,

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9.809 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 193Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

und dass sie zur Natur des Menschen oder dessen we-sentlichen Essenz nichts täte, sondern nur bloss zurPerfektion der Erkenntnis und der Kontemplation; de-rowegen hätten dieselbe gar wenig Leute, und nur diePhilosophi, in welchen sie sehr actualiter wäre. Da-hero ist auch ein schwerer Streit unter den Theologisentstanden; ob (welches der Platonicorum ihre Mei-nung ist) in dem Entseelten von denjenigen Dingen,so sie im Leben getan oder überlassen nahen, einDenkmal oder eine Fühle überlei bleibe, oder sie allerErkenntnis mangelten, welches die Thomistae mitihrem Aristotele fast dafür gehalten, und die Karthäu-sermönche mit dem Exempel von jenem Pariser Theo-loge bestätiget haben, welcher, als er aus der Höllenist wiederkommen und sie ihn gefraget, was ihm vonseiner Wissenschaft noch übrig wäre, hat er geant-wortet, er wüsste nichts als Strafen und hat dies Wortdes Salomonis gesaget: Non est ratio, non scientia,non opes apud inferos. Das ist: Es ist keine Vernunft,keine Wissenschaft und kein Vermögen in der Höllen.Daraus haben sie geschlossen, dass bei den Totenkein Verstand noch Erkenntnis überbleibe. Welcheszwar offenbar nicht sowohl wider die platonischeLehre, als wider der Heiligen Schrift Autorität undderen Wahrheit ist, weil die Heilige Schrift saget: Vi-suros et scituros impios, quia ipse Deus est, quin etomnium non modo factorum, sed et verborum

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otiosorum et cogitatuum rationem reddituros. Das ist:Die Gottlosen werden sehen und erfahren, dass einGott sei, denn sie werden nicht nur vor ihre Taten,sondern auch vor ein jedwedes unnützes Wort, ja voralle arge Gedanken müssen Rechenschaft geben.

Es sind ihrer auch, welche von den Erscheinungender abgeschiedenen Seelen viel zu schreiben und für-zubringen haben, aber der evangelischen Lehre unddem heiligen Gesetze ganz zuwider; denn der Apostelverbeut, dass man selbst einem Engel, wann er auchvom Himmel käme, nicht glauben sollte, wann er an-ders würde sagen, als was geschrieben stehet; also istbei ihnen das Evangelium so veralten, dass sie einemeher und mehr glauben, der vom Toten auferstandenist, als den Propheten, Moysi, Aposteln und Evangeli-sten. Das wäre die Lehre und die Meinung des Rei-chen in der Hölle gewesen, welcher dafür gehalten,das? alsdann seine überlebende Brüder es glaubenwürden, wann einer eine Reise von den Toten täte undsolches ihnen zu wissen machte, welchen aber in demEvangelio widersprochen und gesaget worden: SiMoysi et Prophetis non credant, neque si quis ex mor-tuis mittatur, credituros. Das ist: Hören sie Mosenund die Propheten nicht, so werden sie auch nichtglauben, so jemand von den Toten zu ihnen gesandtwürde.

Gleichwohl will ich nicht der selig VerstorbenenPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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9.811 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 195Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Erscheinungen, Ermahnungen und Offenbarungenganz und gar leugnen; aber dabei muss ich doch erin-nern, dass solche oftermals sehr suspekt sind; der Sa-tanas verstellet sich öfters in einen Engel des Lichtsoder in das Bild einer gläubigen Seelen. Derowegenmuss man dieses nicht zum Anker des Glaubens neh-men, sondern nur etwan sich daraus zu erbauen su-chen, wie andere Sachen mehr sind, die ausser derHeiligen Schrift nur unter die Apocrypha gerechnetwerden. Von diesen Geschwätzen werden viel Fabel-bücher des Tundali, welche er Consolationes Anima-rum oder Seelentrost nennet, herumgetragen, so gibetes auch viel Prediger, welche nach diesen Exempelndas unverständige gemeine Volk in der Furcht erhal-ten und kleine Geschenke von ihnen herauspressen.

Es hat auch vor kurzer Zeit ein französischer Proto-notarius, ein Schalk und Betrüger, von einem Lyoni-schen Spiritu etwas Sonderliches geschrieben. Ausden lobwürdigen und berühmten Skribenten aber hathiervon gehandelt Cassianus und Jacobus de Para-diso, ein Karthäusermönch, aber doch nicht von einersolchen Wahrheit und so einer rechtschaffenen ver-borgenen Weisheit, dass es uns zur Charitas undWohlfahrt unserer Seelen dienen und dass wir unsdaraus erbauen könnten; sondern haben nur bloss da-durch Almosen, Wallfahrten, Fasten und Gebete undandere Werke der Pietät erzwingen wollen, welche

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9.812 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 196Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

wir doch aus der Heiligen Schrift und aus demjenigen,was uns die Kirche gebeut, besser lernen können.

Aber von diesen Erscheinungen haben wir weit-läuftiger in unserm Dialogo oder Gespräch vom Men-schen geschrieben und in unsern Büchern von der ver-borgenen Philosophie. Aber lasset uns nur immerwieder auf die Philosophos kommen. Alle Heiden,welche dafür gehalten haben, dass die Seele unsterb-lich sei, die haben auch einstimmig bejahet, dass dieSeele in andere Leiber wanderte und dass die vernünf-tige Seele wieder in unvernünftigen ihren Sitz nehme,ja gar bis zu Kräutern und zu Gewächsen, und zwarin bestimmten Zeitperioden. Und diese Transmigra-tion hat Pythagoras am ersten statuieret; es singetauch hiervon Ovidius in seinen Metamorphosen also:

Morte carent animae, semperque priore relictaSede, novis domibus vivunt habitantque receptae;Ipse ego nam memini Trojani tempore belliPanthoïdes Euphorbus eram, cui pectore quondamHaesit in adverso gravis hasta minoris Atridae,Cognovi clypeum laevae gestamina nostraeNuper Abanteis templo Junonis in Argis.

Das ist: Die Seelen sind allerdings unsterblich undwann sie einmal ihre alte Behausung verlassen, bege-ben sie sich in eine andere. Ich selbsten, wie ich mich

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9.813 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 197Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

erinnere, war zu Zeiten des trojanischen Krieges derEuphorbus Panthoides, welcher von dem jungem Atri-den erstochen wurde, und habe noch neulich dasSchild im Tempel der Juno zu Argus gesehen.

Von dieser pythagorischen Transmigration hat ge-schrieben Timon, Xenophanes, Cratinus, Aristophon,Hermippus, Lucianus und Diogenes Laërtius. Jambli-chus aber und viel andere mehr haben mit dem Tris-megisto solches so weit gebilliget, nämlich dass dieSeelen nicht von Menschen zu dess unvernünftigenTieren und wiederum von den unvernünftigen Tierenzu den Menschen, sondern allezeit zu ihresgleichengingen.

Aber es sind Philosophi, unter welcher Zahl derEuripides ein Nachfolger des Anaxagorae gewesen,wie auch Archelaus Physicus, und nach diesem Avi-cenna, welche dafür gehalten, dass die ersten Men-schen wie das Kraut auf dem Felde aus der Erde her-kämen; welches ebenso lächerlich ist, wie die Fabelnder Poeten, dass die Menschen aus den Zähnen derSchlangen herfürkämen. Ja es gibet ihrer auch, die dieGeneration ganz und gar leugnen, wie Pyrrho Elien-sis; auch welche den Motum oder die Bewegung, wieZeno, leugnen.

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9.814 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 197Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LIII.

De metaphysicaoder

Von der Wissenschaft hoher und übernatürlicherDinge

Aber, wir wollen nun weitergehen und ansehen,wie die Philosophi nicht allein wegen derjenigen Sa-chen, welche uns in rerum Natura erscheinen und vor-kommen, sondern worüber sie nur ihre erdichtetenGedanken führen, sich untereinander katzbalgen; undzwar streiten sie von solchen Sachen, die ganz undgar mit keinen Principiis übereinkommen, von denenman nicht weiss, ob sie sind oder nicht sind, die ohneMaterie und Körper bestehen (wie sie dafür halten);und die nennen sie Formas separatas oder ganz abge-sonderte Formen. Denn weil sie in rerum Natura nichtgefunden werden, sondern über die Natur zu seinscheinen, so werden sie übernatürliche oder Metaphy-sica genennet. Dahero sind unzählige und ganz unter-eineinander streitige, ja recht gottlose Meinungen vonden Göttern entstanden. Denn Diagoras Milesius undTheodorus Cyrenaicus, die haben gemeinet, es wärekein Gott; der Epicurus, es wäre zwar ein Gott, aberer bekümmerte sich nicht darum, was unten auf Erden

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9.815 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 198Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

geschehe; Protagoras hat gesagt, ob einer wäre odernicht, das könne man nicht wissen; Anaximander hatdafür gehalten, die Götter würden ebensowohl gezeu-get, stürben und kämen wieder auf, in langen Zeitin-tervallen; Xenocrates hat vermeinet, es wären achtGötter; Antisthenes, es wären viele Völkergötter, abernur ein natürlicher und höchster Weltbaumeister.

Aber sie sind in eine solche Raserei und Unsinnig-keit geraten, dass sie diejenigen Götter, welche sie an-gebetet, mit ihren eigenen Händen gemachet haben.Also war die Bildsäule Beli bei den Assyrern, welchegemachte Götter auch Hermes Trismegistus in seinemAesculapio noch erhoben hat. Wenn Thales Milesiusvon den göttlichen Wesen geredet hat, hat er gesaget:Gott wäre ein Geist, welcher alles aus dem Wassergemachet hätte; Cleanthes und Anaximenes, Gottwäre ein ganz lüftiges Wesen; Chrysippus, er wäreeine natürliche Kraft mit Vernunft begabet, oder einegöttliche Notwendigkeit; Zeno, er wäre das göttlicheund das natürliche Gesetze; Anaxagoras, ein unendli-cher Geist, der sich von sich selbst bewegete; Pytha-goras, ein Gemüte, welches durch alles, was in derNatur ist, durchginge, und von welchem alle Sachendas Leben empfangen; Crotoniates Alcmäon, der hatdie Sonne, den Mond und die Sterne Götter genennet;Xenophanes, alles, was da wäre, das wäre Gott; Par-menides, der hat den Umkreis des Lichts, welchen er

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9.816 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 199Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Stephanen, das ist eine Krone, nennet, für Gott gehal-ten; Aristoteles hat gemeinet, dass man aus der Bewe-gung des Himmels die Erkenntnis der Götter genug-sam haben könnte, und hat aus deren Eigenschaftendie Götter fingieret, und hat bald der Vernunft dieGottheit zugeschrieben, bald dem Feuer des Himmels,bald die Welt selbsten Gott genennet, bald ihr einenandern vorgesetzet; eben mit dieser Unbeständigkeithat ihm Theophrastus nachgefolget. Ich mag jetzonicht sagen, was Strato, Persaeus, Aristo, des ZenonisDiscipul, Plato, Xenophon, Speusippus, Democritus,Heraclides, Diogenes Babylonius, Hermes Trismegi-stus, Cicero, Seneca, Plinius und andere für Gedankengehabt haben, derer Meinungen von denen, die ichallbereit oben erzählet habe, nicht weit weggehen.

Ich könnte hier den unnützen Streit und die gros-ssprecherischen Worte anführen, welche sie unterein-ander haben, von den Ideen oder Fürbildern, von in-corporischen Sachen; von Atomis oder Sonnenstäu-blein; von der Hyle, von der Materia, von der Forma,vom Leeren, vom Infinito, vom Fato, von der Ewig-keit, vom Transzendenten, von Einführung der For-men, von der Materia des Himmels, ob die Gestirneaus den Elementen bestehen oder ex quinta Essentia,welche Aristoteles eingeführet hat; und von derglei-chen mehr, was närrischen Leuten eines und das ande-re zu denken, zu zweifeln und zu streiten Gelegenheit

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9.817 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 200Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

an die Hand gegeben hat. Aber ich halte dafür, dassich schon genugsam erwiesen und dargetan habe, wiebei den Philosophis nichts mit der Wahrheit überein-komme, und je näher einer zu ihnen komme, destoweiter gehe er ab und irre ab von der katholischen Re-ligion.

Also wissen wir, dass der Papst Johannes derXXII. geirrt habe, wann er gewollt und dafür gehaltenhat, dass die Seelen der Seligen Gottes Angesichtnicht schauen würden vor dem Tage des Gerichts; wirwissen, dass Julianus Apostata Christum aus keineranderen Ursache verleugnet habe, als weil er sich inder Philosophie so hoch verstiegen und daher die Ein-falt des christlichen Glaubens auszulachen und zuverachten angefangen hat. Eben aus dieser Ursachenhaben Celsus, Porphyrius, Lucianus, Pelagius, Arius,Manichäus, Averroës und viel andere wie rasendeHunde Christo und der Kirchen widergebollen. Da-hero ist bei dem gemeinen Mann das Sprichwort ent-standen: Maximos quosque Philosophos maximosesse haereticos solere. Das ist: der grösste Philoso-phus, der grösste Ketzer.

Hieronymus nennet sie Patriarchen der Ketzer, dieerste Geburt Aegypti, und die Türriegel Damasci, undganz richtig; denn was jemals vor Ketzerei auf Erdengewesen ist, das ist aus der Baumschule und aus demBrunnen der Philosophie hergekommen; diese hat fast

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9.818 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 201Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

die ganze Theologie geschändet, und aus den evange-lischen Lehrern sind Pseudo-Phropheten, Ketzer undPhilosophi worden, welche der Menschen Erfindun-gen den göttlichen Oraculis gleich geachtet haben,und mit närrischen und veränderlichen Menschensat-zungen beflecket, und haben die reine und schlechteTheologie (wie Gerson spricht) zu weitläuftigem so-phistischem Geschwätze und zu einer chimärischenMathematica gebracht. Welches der Apostel Pauluswohl zuvor gesehen, und daher oft ermahnet hat, dasswir uns hüten sollen: ne quis nos per philosophiamdepraedetur vel seducat. Das ist: Damit wir nichtdurch die Philosophie beraubet und verführet werden.Augustinus beschützet dafür die Stadt Gottes. Recht-schaffene Theologi und heilige Väter haben gemeinet,man soll sie, nämlich die Philosophie, mit Stumpfund Stiel aus den christlichen Schulen ausrotten. Jawir haben auch heidnische Exempel, dass solchesgleichfalls bei ihnen geschehen sei; denn die Atheni-enser haben den Sokratem, den Vater der Philosophie,abgeschaffet, die Römer, die Messenier und Laconeshaben die Philosophos aus der Stadt getrieben, undniemals wieder hinein gelassen; auch unter dem Do-mitiano sind sie aus der Stadt vertrieben, und ihnenüberdieses noch ganz Italien verboten worden. Esginge auch Antiochi des Königs Befehl an die Jüng-linge, dass sie sich nicht unterstehen sollten zu

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9.819 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 202Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

philosophieren, und an ihre Eltern, damit sie solchesnicht zugeben sollten; und sind die Philosophi nichtallein von Kaisern und Königen verdammet und aus-getrieben, sondern auch von den gelehrtesten Leutenin ihren Büchern gescholten und verdammet worden.Unter andern ist Timon von Phlius, welcher ein Buch,so er Syllos genennet, zu Verachtung der Philosophengeschrieben hat, und Aristophanes hat eine Komödievon ihnen geschrieben, welche er die Wolken genen-net hat, und Dion von Prusa hat eine sehr gelehrteOration wider die Philosophos gehalten. Der Aristideshat auch für die vier Ältesten zu Athen wider den Pla-tonem eine Oration gehalten, und Hortensius, einedler und gelehrter Römer, hat mit starken Beweis-gründen die Philosophie verfolget.

Aber von diesem bis hierher so viel.

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9.820 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 203Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LIV.

De morali philosophiaoder

Von der Sitten- und Tugendlehre

Im übrigen aber, wann ja eine Disziplin oder Philo-sophie (wie manche meinen) von guten Sitten und Tu-gendlehren wäre, so halte ich dafür, dass solche nichtdurch der Philosophorum schwachen Verstand, son-dern durch wechselnden Gebrauch, Gewohnheit undObservanz zu Erhaltung des gemeinen menschlichenLebens könnte begriffen werden; und dass solchenach der Zeit, des Orts und der Menschen Meinungveränderlich sei, woran gar nicht zu zweifeln ist; siewird den Knaben durch Drohungen und Schmeichelei-en, den Erwachsenen durch Gesetze und Strafen geler-net; manches, was nicht gelernt werden kann, hat dienatürliche Tätigkeit der Menschen beigefügt, wasnachher durch die Zeit und der Menschen Conspira-tion bei ihnen veraltert ist, es mag nun geschehen mitRecht oder Unrecht. Dahero geschieht's, dass, waseinstens für ein Laster gescholten, jetzt für eine Tu-gend gehalten wird; und was hier eine Tugend, das istdort ein Laster, was dem einen ehrbar, scheinet demandern hässlich, was bei uns recht ist, das ist bei

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9.821 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 203Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

andern unrecht; und solches nach jedwedes Orts, jed-weder Zeit, jedweder Lage Menschensatzungund -meinung.

Bei den Atheniensern ist einem Manne vergönnetgewesen, seine rechte Schwester zur Ehe zu nehmen,welches aber bei den Römern für eine Schande gehal-ten worden. Vor Zeiten bei den Jüden und noch heuti-gen Tages bei den Türken kann ein Mann viel Weiberund Kebsweiber nehmen, welches aber bei uns Chri-sten für ein Unrecht, ja für ein verdammliches Lastergehalten wird. Die jungen Leute in Griechenlandhaben viel Buhlen haben können; so ist auch beiihnen keine Schande gewesen, wann Manns- undWeibspersonen aufs Theatrum getreten, welches aberbei den Lateinern und Römern nicht für ehrbar ist ge-halten worden; doch haben sich auch nicht die Römergeschämet, ihre Weiber mit auf Gastereien zu neh-men, oder zur Versammlung vieler Leute mitzubrin-gen und ihnen den Aufenthalt in den besten Zimmernder Häuser zu gestatten; hingegen in Griechenland istkeine Frau mit auf eine Gasterei genommen noch beieiner weitläuftigen Versammlung geduldet worden,wann es nicht gar eine nahe Verwandtschaft gewesen;auch hatte die Frau Zutritt nur in den verborgenstenRäumen des Hauses, da niemand als die nächstenVerwandten haben pflegen zusammenzukommen. Beiden Ägyptern und Lazedämoniern ward das Stehlen

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9.822 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 204Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

für ein ehrlich Stück gehalten, bei uns müssen dieDiebe hangen. Gewisse Völker sind von dem Him-mel, wie Firmicus schreibet, so formieret und gestalt,dass sie nach ihren besondern Sitten ganz deutlich zuerkennen sind: die Scythier wüten mit einer un-menschlichen Grausamkeit; die Italiener leuchten her-für mit ihrem königlichen Adel; die Französischensind närrisch; die Sizilianer scharfsinnig; die asiati-schen Völker der Wollust ergeben; die Spanier stolzund hochmütig. Eine jedwede Nation hat ihre gewis-sen Sitten und Gebräuche, dadurch sie voneinanderunterschieden sind; und werden an der Rede, an derStimme, an der Konversation, am Essen und Trinken,an ihrer Hantierung, an Liebe und Hass, im Zorn undim Kriege und andern Sachen mehr voneinander er-kennet. Denn siehest du einen Menschen dahertretenmit stolzen, hohen Tritten, mit einer fechterischenMiene, mit einem unbändigen Gesichte, mit einerOchsenstimme, mit harten Reden, wilden Gebärdenund mit zerrissenen Kleidern, so wirst du gleich judi-zieren können, dass es ein Teutscher sei. Den Franzo-sen erkennen wir gleich an seinem massvollen Gange,an den weichen Bewegungen, an dem freundlichenGesichte, an seiner süssen und leichten Sprache, anseinen modesten Sitten und lockern Habit. Den Spani-er an seinem hochtrabenden Gange und Gebärden, anerhobenem Kopfe, kläglicher Stimme, schöner Rede

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9.823 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 205Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

und prächtiger Kleidung. Den Italiener aber an seinemlangsamen Gange, an gravitätischen Gebärden, unbe-ständigem Gesichtsausdrucke und sanfter Stimme,einschmeichelnder Rede, hohen Sitten und ordentli-chem Habit. So wissen wir auch, wie bei dem Singendie Italiener blöken, die Spanier seufzen, die Teut-schen heulen und die Franzosen dem Gesang artlicheWeise geben. Die Italiener sind in ihren Reden gravi-tätisch aber lustig, die Spanier artig aber ruhmredig,die Franzosen hurtig aber stolz, die Teutschen grobund einfältig. Im Ratgeben ist der Italiener vorsichtig,der Spanier listig, die Franzosen unbesonnen, dieTeutschen tüchtig. Im Essen und Trinken ist der Ita-liener sauber, der Spanier delikat, der Franzose üppig,der Teutsche ungeschlacht. Gegen die Fremden sinddie Italiener dienstfertig, die Spanier verträglich, dieFranzosen sanftmütig, die Teutschen bäurisch und un-gastfrei. In der Konversation sind die Italiener ver-ständig, die Spanier vorsichtig, die Franzosen demü-tig, die Teutschen herrisch und unerträglich. Im Lie-ben sind die Italiener eifersüchtig, die Spanier unge-duldig, die Franzosen leichtfertig, die Teutschenruhmredig; aber im Hassen sind die Italiener tückischund heimlich, die Spanier beharrlich, die Franzosenmit Worten drohend, die Teutschen rachgierig. InVerrichtung ihrer Geschäfte sind die Italiener vor-sichtig, die Teutschen arbeitsam, die Spanier

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wachsam, die Franzosen sorgfältig. Im Krieg sind dieItaliener tapfer aber crudel, die Spanier verschmitzetaber räuberisch, die Teutschen grausam aber feil umsGeld, die Franzosen grossmütig aber unvorsichtig undunbedachtsam. Die Italiener sind berühmt wegen derLiteratur, die Spanier wegen der Schiffahrt, die Fran-zosen wegen ihrer Zivilität, die Teutschen wegen derReligion und der mechanischen Künste. Und hat einejedwede Nation, so klein sie sein mag, ob gesittetoder barbarisch, ihre absonderliche Sitten und Ge-bräuche, nach dem sie ihnen von der Influenz desHimmels sind eingegeben worden, jedoch eine vor derandern ganz divers, welche unter keine philosophi-sche Kunst fallen oder gerechnet werden können, son-dern werden durch die natürliche Kraft ohne einigeDisziplin dem Menschen gleichsam eingepräget.

Aber wir wollen unsere Rede auf dieselben richten,die in ihren Schriften uns dieser Sache gewisse Re-guln hinterlassen wollten. Diese haben recht das Amtder Schlangen vertreten und uns diese Frucht hinter-lassen, durch deren Genuss wir Gutes und Böses zuerkennen lernen sollen. Denn dieses ist ihre erste pe-stilenzische Meinung, man müsste Gutes und Böseswissen; und dadurch sagen sie, würden die Menschenden Tugenden nachfolgen und die Laster meiden.Aber wäre es nicht viel sicherer, ja wir wären auchviel glückseliger, wenn wir nicht allein das Böse nicht

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täten, sondern wenn wir auch von demselben garnichts wüssten. Wer weiss nicht, dass wir alle mitein-ander dadurch elende Leute worden sind, da unsereersten Eltern, was gut oder böse sei, gelernet haben?Und deswegen könnte man denen Philosophis ihrenIrrtum noch in etwas verzeihen, wann sie nicht untermVorwand der Tugenden und des Guten uns die nichts-würdigsten Sachen und schändlichsten Laster lehre-ten.

Ihre moralischen Sectae sind sehr zahlreich; es istdie Academica, Cyrenaica, Eliaca, Megarica, Cynica,Eristica, Stoica, Peripatetica und noch viel andere.Von diesem hat unter andern also philosophieret der-jenige Theodorus, welcher, wie die Skribenten sagen,ein Gott ist genennet worden: ein Weiser, da es dieNot erfordert, mag sich des Stehlens, des Ehebruchsund des Kirchendiebstahls befleissen; denn von die-sen ist von Natur nichts schändlich; und wann der ge-meine Wahn weggenommen wird, der bei dummenund unverständigen Leuten eingewurzelt ist, so würdeein Weiser öffentlich und ganz unstrafbar mit denHuren dürfen zu tun haben. Sehet, das sind die heili-gen Gebote und Satzungen dieses göttlichen Philoso-phi, da fürwahr nichts Schändlicheres kann ausgeson-nen werden. Es wäre denn, was der Aristoteles, wiewir lesen, soll approbieret haben: eine männlicheVenus, die in einem kretischen Gesetze zugelassen

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9.826 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 207Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

worden, welche auch Hieronymus Peripateticus aufsolche Art rausstreichet, wenn er saget: weil dadurchviel Tyrannien sind aus dem Wege geräumet worden;die Worte aber Aristotelis, womit er zu verstehengibet, dass es in einer Republik nützlich sei, wenn dasgemeine Volk nicht viel Kinder hat, sind diese: Adcibi temperantiam, velut perutilem, multa legislatorsapienter ac studiose constituit, et de mulierum divor-tiis; siquidem, ne superfluam parerent multidudinem,cum masculis induxit concubitum. Das ist: Was dieTemperantia oder Mässigkeit im Essen und Trinkenals ein sehr nützlich Tun betrifft, haben die Gesetzge-ber eines und das andere heilsam und klüglich geord-net, wie auch von dem Scheidebrief der Weiber; denndamit sie nicht eine so grosse Menge Kinder herset-zen möchten, hat er die Päderastie eingeführet. Diesesist dieser Aristoteles, dessen schöne Sittenlehre Platoreprobieret hat; daher hat sich der Hass und die Un-dankbarkeit gegen seinen Lehrer entsponnen; er hatsich einer Strafe seines gottlosen Lebens befürchtetund ist er heimlich und geschwind aus Athen geflo-hen; und als der Undankbareste auch gegen den gros-sen Alexander, welcher ihn mit vielen Sachen herrlichbegabet und ihm sein Leben vertrauet und ihn in seinVaterland wieder eingesetzet, doch hat er sich nichtgescheuet, ihn mit Gift zu vergeben; und also hat aucheben dieser Aristoteles auf die Letzt so böse

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Gedanken von der Seelen gehabt, dass er den Ort derFreude nach dem Tode negieret, die Dicta der Altenzusammengeraffet und abscheulich interpretieret, undhat also den Ruhm seines Verstandes durch lauterDiebstahl und Verleumdung gesuchet. Ja, endlich ister in seinem bösen Wesen als alter Mann so verhärtetworden, dass er aus unmässiger Begierde der Wissen-schaft in eine Unsinnigkeit geraten und sich selbstums Leben gebracht hat, und ist also, als ein rechterschöner Teufelsbraten den bösen Geistern, die ihmsolche Wissenschaften gelernet, aufgeopfert worden.Fürwahr, das ist noch heutiges Tages ein würdigerund höchstgelehrter Doktor und Lehrer in unsernSchulen, welchen meine Cölnischen Theologi unterdie Heiligen mitgezählet haben, und ist von ihnen einBuch rauskommen, welches sie titulieret haben »vomHeil des Aristotelis«, auch noch ein Gedicht vomLeben und Tod Aristotelis, welches hernach die theo-logische Glossa noch weitläuftig illustrieret hat; undwird in denselben ganz zuletzt gesaget, dass Aristote-les ein Vorläufer Christi in natürlichen Dingen war,also wie Johannes der Täufer in geistlichen Dingen.

Aber wir gehen von unserm Vorsatz ein wenig zuweit ab; nun wollen wir hören, was die Philosophivon der Glückseligkeit oder dem höchsten Gute fürGedanken führen. Denn andere haben das SummumBonum in blossen Wollüsten gesuchet, wie Epicurus,

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Aristippus, Gnidius Eudoxus, Philoxenes und die Cy-renaici. Andere haben zu den Wollüsten noch die Ehr-barkeit gesetzet, wie der Dinomachus und Calipho.Andere haben sie gesetzet in den ersten Zustand derNatur, wie Carneades und Hieronymus Rhodius; an-dere in die Gleichgültigkeit gegen Schmerzen, wieDiodorus; andere in Tugenden, wie Pythagoras, So-krates, Aristo, Empedocles, Demokritus, Zeno, Clean-thes, Hecaton, Poseidonius, Dionysius Babylonicus,Antisthenes und alle Stoici, und viel von unsernTheologen, die ihnen diesfalls beipflichten. Sie dispu-tieren aber dennoch von dem Zusammenhang der Tu-genden, und dass dieses das rechte Fundament derGlückseligkeit sei, in welchem alle Tugenden zusam-menkommen. Denn wenn sie nicht alle miteinanderihren Zusammenfluss bei einer haben, so kann derMensch nicht glückselig genennet werden, wann ihmnur eine einzige mangelt. Dieweil aber nun die Tu-genden unverträglich, auch bisweilen einander zuwi-der zu sein scheinen, als die Liberalität mit der Spar-samkeit, die Barmherzigkeit mit der Gerechtigkeitund andere mehr, so sind sie ja nicht, wenn sie nichteinträchtig zusammenkommen können, Tugenden,sondern Laster. Dieses aber, in welchem sie alle zu-sammenkommen, wie Ambrosius und Lactantius mitdem Macrobio und nach des Platonis Meinung dafürhält, soll die Gerechtigkeit sein; andere die

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9.829 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 209Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Mässigkeit, andere die Gottesfurcht, wie Plato in Epi-menide, andere die Liebe, ohne welche, wie Paulusmeinet, niemand keine Tugend erlangen kann; undüber die alle streitet noch Thomas, Henricus, Scotusund andere.

Aber lasset uns wieder zur Sache kommen. DasSummum Bonum oder die höchste Glückseligkeit set-zen noch andere in das Glücke, wie der Theophrastus;Aristoteles aber in das Glücke nebenst den ursprüng-lichen Tugenden, ja wohl gar auch der Lust, welchemit den Tugenden geschminket ist, gleich als wennEpicurus nicht eben auch in dieser Meinung gewesenwäre. Die andern peripatetischen Philosophi aber, indie Kontemplation und Betrachtung; der Herillus Phi-losophus, der Alcidamus und viel Schüler des Sokra-tis haben die Wissenschaft für das Summum Bonumgehalten. Aber die tiberinischen Völker, welche denChalybibus nahe wohnen, die haben dafür gehalten,dass der Überfluss und das Lachen das SummumBonum und die höchste Glückseligkeit sei. Es sindihrer, die solches in das Schweigen gesetzet haben;die Platonici aber mit ihrem Platone und Plotino, dieimmer den Geruch nach dem Himmlischen genom-men, haben diejenige Glückseligkeit, die in der Verei-nigung mit dem Summo Bono bestehe, fürs Höchstegehalten. Bias von Priene in die Weisheit; Bion undBerysthenes in den Verstand; Thales Milesius in

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beide zusammen; Pittacus von Mitylene in ehrlichHandeln; Cicero in Vakation oder Freisein von allenDingen, aber diese kann bei niemand als bei Gott an-getroffen werden. Die andern gemeinen Philosophos,welche alle Glückseligkeit geleugnet, die will ichjetzo nicht anführen, unter welchen gewesen ist Pyr-rho aus Elis, Euricolus, Xenophanes; auch die, welchedie höchste Glückseligkeit in die Ehre, Ruhm, Macht,Müssiggang, Reichtum und andere dergleichen Sa-chen gesetzet haben, wie der Periander Corinthius undLycophron, und alle dieselben, von welchen der Psal-ter dieses redet: Quorum os locutum est vanitatem, etdextera eorum, dextera iniquitatis; quorum filii sicutnovellae plantationes in juventute sua. Filiae eorumcompositae, circumornatae, ut similitudo templi.Promptuaria eorum plena, eructantia ex hoc in illud;oves eorum foetosae, abundantes in egressibus suis,boves eorum crassae. Non est ruina maceriae, nequetransitus, neque clamor in plateis eorum. Beatum di-xerunt populum, cui haec sunt. Das ist: Ihre Lehre istkein Nutze, und ihre Werke sind falsch. Ihre Söhnewachsen auf in ihrer Jugend wie Pflanzen, und ihreTöchter wie die ausgehauenen Erker, gleichwie diePaläste. Ihre Kammern sind voll, die herausgebenkönnen einen Vorrat nach dem andern, dass ihreSchafe tragen tausend auf ihren Dörfern; dass ihreOchsen viel erarbeiten, dass kein Schaden, kein

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Verlust noch Klage auf ihren Gassen sei. Und wemdieses widerfahren ist, den haben sie für glückseliggepriesen.

Nun aber sind sie auch wegen der Lust nicht einig,welche (wie wir oben gehöret haben) Epicurus für dasSummum Bonum gehalten hat; hingegen hat ArchytasTarentinus, Antisthenes und Sokrates die Lust für dasSummum Malum, oder das höchste Übel gehalten;Speusippus aber und andere alte Academici haben ge-sagt, die Lust und der Schmerz wären zwei böseDinge, einander gegenüber gesetzet, was aber dasmittelste zwischen diesen wäre, das wäre das Gut;Zeno hat dafür gehalten, dass die Lust weder bösenoch gut, sondern ein indifferent Wesen wäre. Crito-laus Peripateticus und Plato haben die Lust für böseund für eine Mutter und Speise alles Übels gehalten.

Es würde zu lang sein, aller Meinung de SummeBono oder von der Glückseligkeit hier zu erzählen,oder einen Extract zu machen aus dem, wovon sovielBücher vollgefüllet sind. Augustinus gedenket über288 Meinungen hiervon, welche von dem M. Varronesind zusammen gesammelt worden.

Aber lasset uns jetzo sehen, wie dieses mit Christoübereinkommet; da werden wir erfahren, wie dieseGlückseligkeit nicht durch die stoicischen Tugenden,noch durch die akademischen Reinigungen, nochdurch die peripatetischen Speculationes, sondern

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9.832 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 211Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

durch den Glauben und durch die Gnade des WortesGottes kann erlanget werden. Denn ihr habet ja gehö-ret, wie die Philosophi guten Teils die Glückseligkeitin die Lust gesetzet haben; Christus aber in Hungerund Durst; andere in die Ehre, guten Namen und Er-weiterung desselben; Christus aber in Verachtung undHass der Menschen; andere in die angeborenen Sa-chen, als in die Gesundheit, in die Freude und in dieUnempfindlichkeit; Christus aber in Weinen undTrauern; andere in die Klugheit und Weisheit, und inmoralische Tugenden; Christus aber in die Unschuld,in Einfalt und Reinigkeit des Herzens; andere inGlück; Christus aber in die Barmherzigkeit. Anderein den Ruhm des Krieges, und Herrschung über dieLänder; Christus aber in Friede; andere in Ehre undPracht; Christus aber in Demut und Niedrigkeit, undhat Sanftmütige selig gepriesen; andere in die Gewaltund in die Victorie; Christus aber in die Verfolgung.Andere in Überfluss und Reichtum; Christus aber inArmut. So lehret uns auch Christus, dass wir diewahre rechtschaffene Tugend aus blossen Gnaden er-langen; die Philosophi aber, dass wir solcher durchunsere Kräfte und Übung fähig würden. Christus leh-ret, dass alle Begierde der Concupiscentia Sündewäre, die Philosophi aber meinen, es sei ein indiffe-rent Werk, welches weder tugend- noch lasterhaftigwäre. Christus lehret, dass man sich um alle wohl

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9.833 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 213Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

verdienen sollte, man sollte auch die Feinde lieben,freigebig leihen, nicht Rache üben, gerne geben; hin-gegen die Philosophi sagen, man soll niemand nichtsGutes tun, als von welchen man Gutes empfinge;sonst wäre es wohl vergönnet, zu zürnen, zu hassen,zu streiten, zu kriegen und zu wuchern. Und sie habenuns mit ihrem freien Willen und mit ihrer Vernunftdie pelagianischen Ketzer zuwege gebracht.

Aber die ganze moralische Philosophie ist, wieLactantius Zeuge ist, falsch und vergeblich und tutnichts zur Erhaltung der Gerechtigkeit oder der Men-schen Wohlfahrt. Ja endlich ist sie den heiligen Gebo-ten und Christo selbst zuwider, und ihre Ehre gebüh-ret keinem andern als dem lebendigen Teufel.

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9.834 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 213Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LV.

De politicaoder

Von der weltlichen Klugheit

Zu dieser Philosophie gehöret auch die Politica,welche ist eine Kunst, die res publica oder das ge-meine Wesen zu regieren. Derer aber sind drei Spezi-es oder Arten, nämlich die Monarchia oder die Regie-rung nur eines einigen, Aristocratia oder die Regie-rung etlicher wenigen, nämlich der Reichen oder Vor-nehmsten, und Democratia oder die Regierung so vondem Volke und gemeinem Manne geschicht; diesendreien nun sind benachbart Tyrannis, Oligarchia undAnarchia, welche aber unter diesen andern vorzuzie-hen ist, darüber streiten die Skribenten noch auf denheutigen Tag. Denn die der Monarchia den Vorzuggeben, die fundieren ihre Meinung auf die Exempelder Natur; denn sie sagen, wie im Weltall nur ein Gottist, unter den Gestirnen eine Sonne, ein König bei denBienen, ein Hirte bei der Herde, so muss auch in demgemeinen Wesen nur ein König als das Haupt sein,von welchem die andern Glieder alle dependierenmüssen. Diese hat für andern ästimieret Plato, Aristo-teles, Apollonius, welchen von den unsrigen

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beipflichten Cyprianus und Hieronymus.Die aber, so die Meinung der Aristocratienzer

haben, die sagen: Es wäre nichts Besseres, grosse Sa-chen zu administrieren, als wenn die Meisten undVornehmsten darüber ratschlagten und eines würden:denn es kann ja nicht fehlen, dass aus vielen Gutenauch gute Consilia kommen müssen, und einer alleinekann nicht allein klug genug sein, das wäre ein Werk,das Gott alleine zukäme. Dieser Meinung sind auchgewesen Solon, Lycurgus, Demosthenes, Tullius undfast alle die alten Gesetzgeber, auch Moyses selber;dieser Meinung ist auch gewesen Plato, wann erspricht: Diejenige Stadt und Republik scheinet im be-sten und glückseligsten Stande zu sein, welche vonWeisen, wozu wir auch setzen wollen: von den Vor-nehmsten und Edelsten, regieret wird, und diese Mei-nung haben viel Vernünftige bestätigt.

Diejenigen aber, welche die popularem Republi-cam oder die vom Volke exerzieret wird, vorgezogenhaben, die haben solche mit diesen schönen Namengenennet: Isonomiam oder die Billigkeit der Rechte.Denn hier wird alles für gemein gehalten, und alleRatschläge werden von der Menge gefasset und gehal-ten, und es heisset: vox populi, vox Dei; und was vonallen gebilliget wird, das ist gleichsam, als wenn esGott geordnet hätte, und wird notwendig dafür gehal-ten, dass es gilt und gerecht sei. Und dieses Regiment,

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sagen sie, wäre viel besser und sicherer als der Opti-matum oder der Vornehmsten, aus der Ursache, weildasselbe dem Aufruhr nicht leicht unterworfen wäre.Denn das Volk ist selten untereinander uneins, dieGrossen gar oft. So ist auch bei diesem Regiment einegemeine Gleichheit und Libertät; auch hat man sichkeiner Tyrannei zu befürchten, weil es keine sonderli-chen Gradus der Ehren gibet, denn ein jedweder regie-ret wechselsweise und wird wieder regieret. Diese hatfür andern gelobet Othanes Persa, Eufrates und DionSyracusanus; und wir sehen es noch heutigen Tages,dass durch diese Demokratie die Venetianer undSchweizer in der Christenheit am meisten florierenund das Lob der Vorsichtigkeit, der Macht, desReichtums und der Gerechtigkeit, ja des Sieges da-vontragen; auch der Athenienser Republik, welchesich so weit und breit mächtig erstrecket hat, ist allei-ne durch die Demokratie regieret, und alles vomVolke und im Volke getan und verrichtet worden.

Die Römer auch, welche alle drei Arten versuchethaben, die haben die grössten Teile ihrer Macht unterder Demokratie erlanget; und haben sich niemalsschlimmer befunden als unter den Königen und Opti-malen, auch am allerärgsten unter den Kaisern, unterwelchen alle ihre Macht Schiffbruch gelitten hat. Esist aber gleichwohl schwer zu judizieren, welche unterdiesen dreien die beste und vornehmste sei; denn eine

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jedwede hat ihre gewissen Verteidiger und ihre gewis-sen Verfolger. Aber die Könige, welchen nach ihremGefallen und was ihnen beliebet, ungestraft zu tun,frei stehet, die werden selten wohl regieren und oftKrieg erwecken; und führet auch die Majestät diesesgiftige Übel mit sich, dass auch diejenigen, welchesonst fromm und von jedermann beliebt gewesen,wann sie zu der königlichen Dignität und Würde undzum Regiment kommen, so sind sie wegen der Frei-heit, zu sündigen, die Stolzesten und Ärgsten worden.Wir haben es gesehen beim Caligula, Nerone, Domi-tiano, Mithridate und anderen mehr, ja auch beimSaul, David und Salomon, wie auch bei andern Köni-gen in Juda, unter welchen gar wenig sind gelobetworden, ja aus den Königen in Samaria kein einziger.Auch die Kaiser, Könige und Fürsten heutigen Tages,die bekümmern sich nicht sowohl um die Wohlfahrtdes gemeinen Wesens, des Volkes, der Bürger undum die Gerechtigkeit, als um die Erhaltung der No-blesse; und regieren oftermals so, dass die Untertanennicht sowohl des Schutzes, als des Raubes und gänz-licher Verwüstung sich zu versehen haben, saugenihnen die Klauen aus und gehen mit ihnen um nachihrem Gefallen und missbrauchen sich ihrer Unterta-nen, beschweren sie mit grossen Abgaben, Zöllen undAuflagen ohne alle Weise und Ende. Und wann es jageschicht, dass was nachgelassen wird, so kommt es

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nicht dem gemeinen Wesen zum Besten, sondern viel-mehr ihnen zu Nutzen; und lassen zu, dass es denenUntertanen möge besser gehn, nur damit es ihnenselbst besser ist, und dass sie nur was haben, das sieden armen Untertanen können wegnehmen. Und damitsie das Lob der Gerechtigkeit mögen wegtragen, sogeben sie strenge Gesetze und bemänteln ihren Geizmit der Gerechtigkeit; sie strafen oftermals Gesetzes-übertretungen mit entsetzlichen Strafen und Vermö-genskonfiskationen; sind in diesem Stücke nicht bes-ser als Tyrannen, welche haben wollen, dass viel sol-che Übertreter der Gesetze sein sollen. Denn gleich-wie diese Deliquenten den Tyrannen mehr zu Gewaltund Kräften helfen, also ist auch die Menge dieserÜbertreter das Reichtum der Fürsten.

Als ich einstmals in Italien war, habe ich mit einemmächtigen Fürsten sehr familiar gelebet, und als ichdenselben ermahnet, er sollte doch die Faktiones derGibelliner und Guelfer zum Frieden bewegen; da hater mir bekannt, dass er durch Gelegenheit dieser Fak-tionen mehr als zwölftausend Dukaten jährlich Strafein seinen Fiscum bekäme; aber hiervon wollen wirweiter in dem Titul vom politischen Adel reden.

Wo aber bei einer Republik die Optimales oderVornehmsten regieren, da gehet es nicht ohne Zorn,Hass, Missgunst und Eifersucht ab, und werden seilenuntereinander einig im Regiment sein, und indem ein

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jedweder seine Meinung vor die beste hält, auch derVornehmste sein will, da kann es ohne Privatfeind-schaften nicht abgehen; da schläget es oft in Factio-nes, Aufruhr, Todschläge, Bürgerkriege und zu Ver-derben des ganzen gemeinen Wesens hinaus. DerenExempel wir bei den lateinischen und griechischenHistorienschreibern genug zu finden haben; und lie-gen uns noch heutiges Tages vieler italienischer Städ-te elende Spectacul für Augen.

Die Administration aber einer Republik, die durchden gemeinen Mann geschicht, die halten die meistenfür die allerärgste; und diese hat der Apollonius demVespasiano mit vielen Vernunftsgründen widerraten,und saget auch Cicero: bei dem gemeinen Volk istkeine Vernunft, kein Rat, kein Unterschied und keineSorgfalt und Fleiss, wie der Poete spricht: Scinditurincertum studia in contraria vulgus. Das ist: Der wan-kelmütige Pöbel lässet sich leichtlich zu allem bewe-gen und überreden. Und Othanes Persa ist in den Ge-danken gestanden, dass nichts Frechers, nichts Tö-richters und nichts Unvernünftigers wäre, als das ge-meine Volk; es ginge ohne Rat und Vernunft auf seineSache los, wie ein rauschender Fluss. Demosthenesnennet das Volk eine böse und schändliche Bestie,und Plato ein wild Tier mit vielen Köpfen, dessen Ho-ratius gedenkt. Phalaris, wann er an den Egesippumschreibet, spricht: Populus omnis temerarius est,

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demens, desidiosus, promptissimus in quodcumquecontigerit mutare sententiam, perfidus, incertus,velox, proditor, fraudulentus, voce tantum utilis, adiram et laudem facilis. Das ist: All das gemeine Volkist verwegen, närrisch, liederlich und andert alle Stun-den seine Meinung wie das Wetter, untreu, unbestän-dig, hurtig zu allem Bösen, verräterisch, betrügerisch,machen viel Worte, ja es gilt ihnen gleich, ob sieeinen loben oder absprechen. Daher kommt es, dassderjenige, welcher in einer Republik dem Volke willgefallen, der geht an Verleumdungen zugrunde.

Lycurgus, der lazedämonische Gesetzgeber, als ereinstmals gefraget worden, warum er in der Republikden Statum popularem oder die Volksregierung nichteingeführet hätte? hat er geantwortet: Formiere duerstlich in deinem Hause ein popularisch Regiment.Auch Aristoteles in seiner Ethica hat dafür gehalten,die Administration einer Republik, die vom Volke ge-schieht, die sei die ärgste, die aber nur von einem, dassei die beste. Denn das gemeine Volk ist ein Fürstaller Irrtümer, ein Meister böser Sitten und ein gros-ser Haufe alles Übels; es lässet sich weder mit Ver-nunft, noch mit Autorität, noch mit gutem Rat beu-gen; denn von jenem verstehet es nichts, die Autoritätaber verachtet es, und das letzte will nicht in sein Ge-hirne. Es ist obstinat, seine Sitten sind unbeständig;es ist neugierig und hasset, was gegenwärtig ist; es

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kann sich weder durch Rat der Weisen, noch durchZucht der Väter, noch durch Ansehen der Obrigkeit,noch durch Majestät des Fürsten raten lassen. BeimVolke ist niemals ohne Gefahr der Weisen Rat gege-ben worden; sondern es gilt und prävalieret bei ihnenallezeit die Torheit der grossen Menge, wie solchesbekannt ist von dem Sokrate, als er seine Meinungvon den Göttern aussprach; wie es bekannt ist vondem Trojaner Capys, als er sich der Einführung deshölzernen Pferdes widersetzte; von dem Capuaner,der Hannibal nicht in die Stadt einlassen wollte; vonPaulo Emilio, welcher die Schlacht von Cannae nichtzu wagen riet. Ja es wird uns auch gewiesen in so vie-len Weissagungen der Propheten des Herrn, dass dasjüdische Volk nicht auf sie gehöret.

Und wie können doch des gemeinen Volks ihreStatuta und Placita gut sein, weil es selber nichtweiss, was gut ist? Denn der grösste Teil ihrer sindHandwerksleute und Handarbeiter, und ihre Beschlüs-se beruhen mehr in der Zahl als in der Vernunft, oderin der Billigkeit und Gerechtigkeit; wie Plinius derJüngere spricht: Numerantur enim sententiae, nonponderantur. Das ist: Ihre Vota oder Meinungen wer-den gezählet, aber nicht gewogen.

Denn nicht was den Weisen, sondern was demgrössten Teile gut deucht, das halten sie für dasWichtigste; und weil sie einander alle für gleich

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halten, so ist unter ihnen nichts weniger gleich, als dieGleichheit selbsten. Es kann durch ihre impetuosenEinfalle nichts Heilsames eingesetzet werden; wanneinmal etwas ruinieret ist, wird es nicht wieder herge-stellet; und was gut eingerichtet war, was Bestandhaben sollte, das wird eher durch des Volkes Freiheitwieder übern Haufen gestossen.

Jedoch aber unter diesen unterschiedenen Admini-strationen einer Republik haben manche eine vorge-zogen, die aus zwei Arten gemischet war; die nennensie Politiam, dergleichen Solon eine eingerichtet, teilsaus den Vornehmsten, teils aus dem Volke, und bei-den ihre gebührende Ehre gegeben hat. Es sind ihrerauch, die aus allen dreien eine Mixtur machen, der-gleichen der Lazedämonier ihre Republik gewesen;denn der König war bei ihnen stetswährend, aber erherrschete nur zur Zeit des Krieges; dabei war nunauch ein Rat aus den Vornehmsten, Altesten und Rei-chesten; so erwählten sie auch aus dem Volke zehnZunftmeister, die stets blieben und über Tod undLeben Macht hatten, und den gemeinen Rat des ge-meinen Volks repräsentierten. Bei den Römern warvor Zeiten die Democratia vermischet mit der Ari-stocratia; denn viel wurde entschieden bei dem Volkeund einiges bei dem Rate.

Heutiges Tages regieren Könige, Fürsten und Her-ren nach ihrem Gefallen, doch nehmen sie die

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Optimates oder die Vornehmsten im Lande zu Regie-rungsräten an. Daher entspringet diese Frage: welcheRepublik gesicherter sei, ob die, in welcher ein guterFürst, aber böse Räte, oder in welcher ein böser Fürstund gute Räte sind? Marius Maximus und JulianusCapitolinus und andere mehr haben das erste erwäh-let, denen doch andere und zwar wackere Autoresnicht beigepflichtet, sondern widersprochen haben.Denn die Erfahrenheit hat's gegeben, dass öfters mehrdie bösen Räte von einem frommen Fürsten, als einböser Fürst von frommen Räten sind bekehret wor-den. Endlich aber, dass wir zum Zweck kommen, sosage ich, dass eine Republik am besten kann regieretwerden, wann keine Philosophie, keine Kunst undkeine Wissenschaft, sondern die Redlichkeit derjeni-gen, so sie regieren, die Überhand hat. Denn es regie-ret Einer wohl, es regieren ihrer Wenige wohl, es re-gieren auch Alle wohl, wenn sie gut und fromm sind,übel aber, wenn sie böse sind. Aber das überwindetalle Verwegenheit der Bosheit, dass diejenigen, die daackern oder das Vieh hüten oder das Schiff regierenoder ihrem Hauswesen vorstehen oder ihre Kinder er-ziehen sollen, die gestehen oft ganz ungescheut, dasssie einer solchen Aufgabe nicht gewachsen seien, weilsie ackern usw. nicht gelernt haben oder nicht Kräftegenug haben; handelt es sich aber darum, das Amteines Königs, eines Fürsten, eines Staatsdieners

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9.844 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 221Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

auszuüben, handelt es sich um das Schwerste gar,Führer einem Volke zu sein, da gibet es keinen, derglaubte, die Natur hätte ihm solche Kunst versaget.

Was aber die Wissenschaft von den bürgerlichenGesetzen anlanget, durch welche alle Republiken undStädte bestehen, regiert werden, sich erhalten undwachsen, davon wollen wir weiter unten reden.

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9.845 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 221Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LVI.

De religione in genereoder

Von der Religion insgemein

Zu einer rechten vollkommenen Republik gehöretdie Religion, welche ist eine Disziplin äusserlicherheiliger Zeremonien, durch welche wir an die innerli-chen und geistlichen Sachen gleichsam als durch einZeichen erinnert werden; welche Cicero also beschrei-bet, dass sie sei eine Disziplin, durch welche der hei-lige Gottesdienst mit Ehrerbietung, feinen Zeremonienund Diensten exerzieret wird; und diese ist fürwahreiner Stadt sehr nützlich und notwendig, welches Ci-cero und Aristoteles bezeuget haben; denn so sagetdieser in seinen politischen Büchern: Oportet princi-pem prae aliis deicolam videri; minus enim putantsubditi a talibus pati aliquid iniquum, et minus ma-chinantur contra talem, tanquam habeat propugnato-res etiam Deos. Das ist: Es muss ein Fürst vor allenandern gottesfürchtig scheinen; denn die Untertanenhalten insgemein dafür, dass ihnen von einem solchenweniger Leides widerführe; sie führen gegen ihn nichtso leicht etwas im Schilde, gleich als ob die Götterselbsten vor ihm stritten und ihn beschützeten.

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Die Religion aber ist dem Menschen von Natur soeingepflanzet, dass dieselben durch sie mehr als durchdie Vernunft von den unvernünftigen Tieren unter-schieden sind; dass uns aber die Religion von derNatur ist eingegeben, das bekennet Aristoteles selb-sten, denn wir lernen von demselben, dass, so oft derMensch in plötzliche Gefahr und Furcht gerät, also-bald ehe er an was anders gedenket oder nach was an-ders fraget, so wird er seine Zuflucht zu Gott nehmenund dessen Namen anrufen, aus Ursache, weil ihn dieNatur ohne Zuziehung eines Präceptoris gelehret hat,Gottes Hilfe anzurufen. Ja, gleich anfangs bei Er-schaffung der Welt hat Kain und Abel Gott selbstengeopfert; Enoch aber ist der erste gewesen, welcherdie Gebräuche gewiesen, wie man Gott anrufen soll;daher saget die Schrift von ihm: Tunc tandem invocaricoepit nomen Domini. Das ist: Zu derselben Zeit fingman an anzurufen des Herrn Namen. Nach der Sünd-flut sind vielen Völkern viel Religionsgesetze gege-ben worden. Denn Mercurius und Mena der Könighaben den Ägyptiern, Melissus den Kretensern, Fau-nus und vor ihm Janus den Latinern, Numa Pompiliusden Römern, Moyses und Aaron den Hebräern, Or-pheus den Griechen am ersten dergleichen Gesetze ge-geben; Cadmus brachte aus Phönizien die Mysterienund Feierlichkeiten, die Weihungen und Hymnen.Auch den Göttern des Diebstahls und der Verbrechen

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9.847 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 223Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

wurden Namen gegeben und Opfer gebracht. DieRömer haben dem Gott Jupiter, dem Ehebrecher undHurer, und dem Fieber einen öffentlichen Tempel imPalatio aufgerichtet und einen Altar dem Unglückeauf dem esquilinischen Berge; ja sie haben auch inder Hölle gewisse Götter gefunden, die sie geehret,und den Fürsten der Höllen selbsten, den armen Teu-fel, haben sie unter den Namen Ditis, Plutonis undNeptuni geehret und ihm den dreiköpfigten Cerberumbeigesellet, als Hüter und Höllenhund, einen Fleisch-fresser, der da rumgehet und suchet, welchen er ver-schlinge; keinen verschonet er, allen ist er schädlich,alle klaget er an; daher ist der Teufel gleichsam einAnkläger genennet worden, wie der Poet davonschreibet:

Dux Erebi populo poscebat crimina vitae,Nil hominum miserans, iratus omnibus umbris,Stant furiae circum, variaeque exordia mortisSaevaque multisonas exercet poena catenas.

Das ist: Der Höllengott strafet alle Verstorbenewegen ihrer im Leben begangenen Sünden; er erbar-met sich keines und lässet seinen Zorn über alle See-len blicken; die höllischen Furien stehen um ihn her,die Verdammten zu binden und ewig zu martern undzu peinigen.

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Vor Zeiten haben die Ägyptier nebenst ihren Göt-tern auch die unvernünftigen Tiere und die Missge-burten geehret; und es gibet noch heutiges Tages Völ-ker, welche die Götzen und Bilder anbeten. Die Tür-ken, Sarazenen, Araber und Mauritaner, auch sonstein gross Teil der Welt, die ehren den Mahomet alsden Erfinder einer ganz absurden Religion; und dieJuden sind noch bis auf diese Stunde so verstocketund warten noch halsstarrig auf ihren kommendenMessiam.

Auch uns Christen haben zu unterschiedenen Zei-ten und Örtern unterschiedene Päpste gewisse Ge-bräuche vorgeschrieben; wir sehen, wie sie sind selt-sam diskrepant gewesen in Zeremonien, im Gottes-dienste, in Speisen, in Fasten, in Kleidung, in derPracht, in Suchung des Gewinnstes, in Bischofsmüt-zen und Kardinalhüten und in andern Sachen mehr.Aber eines ist über alle Wunder und übertrifft alleWunder, dass sie sich einbilden, sie könnten mit ihrenstolzen Sitten den Himmel ersteigen, da doch Luciferdadurch vom Himmel gestossen worden. Endlich, allediese Religionsgesetze beruhen auf keinem andernFundament, als auf dem Wohlgefallen desjenigen, dersie gegeben hat, und haben keine andere Regul derGewissheit, als die Leichtgläubigkeit. Denket nur zu-rücke vom Anfang der Welt, wieviel sind Zeremoni-en, wieviel Ketzereien, wieviel Satzungen, wieviel

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Gebete und wieviel Gesetze sind gewesen; und dochhaben von so vielen Seculis her die Menschen es ohneGottes Wort nicht zur rechten Religion bringen kön-nen, bis Gottes Wort ist Fleisch worden und an demKreuze über die Feinde triumphieret, bis die Tempelund Götzen sind weggetan, die Macht der Götter ver-störet und die Oracula aufgehöret haben.

Ablata est Pythii vox haud revocabilis ulli,Temporibus longis etenim jam cessat Apollo,Clavibus occlusis silet: ergo rite peractisDiscedas patria et redeas ad limina sacris.

Das ist: Der Wahrsagergeist ist hinweg, dieweil derApollo selbst vorlängst sich nicht mehr hören lassen,und sein Tempel verschlossen gewesen; kannst alsonur deinen Gottesdienst verrichten und dich wiedernach Hause begeben. Denn nachdem Gottes Wortdurch den Boten des Evangelii hat in der Welt ange-fangen zu scheinen, so sind alle der Heiden Göttergleichsam durch den Blitz gerühret und vergangen,wie Christus bei dem Luca spricht: Vidi Satanamsicut fulgur de Coelo cadentem. Ich sahe den Satanals einen Blitz vom Himmel herabfahren.

Aber was zum Glauben, zur Theologie und zumkanonischen Gesetze gehöret, davon wollen wir wei-ter unten handeln. Wir reden hier nur von der

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Religion, so ferne sie zu des Priesters Einkünften, zuder Republik mit ihren Bildern, Statuen, Gemälden,Kirchen, Sakristeien und äusserlichem Zierat gehöret;von welchen ich an einem andern Orte unter denTheologis mit ihrer Genehmhaltung im Jahr 1510 zuCöllen mit einer weitläuftigen Rede disputieret habe;derohalben will ich anjetzo mit diesen kurzen Wortenerweisen, dass auch in denjenigen Sachen, welche nuräusserlich zu Ehren und Dienste der Religion ange-stellet und zum Besten der Menschen sollen erfundensein, oftermals ausser der Eitelkeit eine nicht geringeBosheit gefunden worden ist. Welches, dass es nichtanders sei, das wollen wir jetzo dartun, wann wir voneinem jedweden Stück insonderheit reden werden.

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9.851 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 225Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LVII.

De imaginibusoder

Von Bildern

Den Cultum der Bilder haben schon für alters nichtalle Völker zugelassen, denn die Juden (wie Josephuserzählet) haben für nichts mehr einen Abscheu gehabtals für den Bildern; auch dessen Bildnis, das sie sonstin grossen Ehren gehabt haben, niemals aufgehenket,noch auch derselben, die sie stets in ihrem Gedächtnisgehalten haben. Denn Gottes Gesetz hat ihnen durchMoysen verboten, dass sie nicht Bilder machen oderin die Kirche setzen, viel weniger dieselben anbetensollten.

Bei denen Völkern, welche Seres genennet werden,ist (wie Eusebius Zeuge ist) verboten worden, Bilderzu verehren. In den Kirchen bei den Römern (nachdes Clementis und Plutarchi Schriften) ist aus demRatschluss Numae im Jahr von Gründung Roms hun-dertundsiebzig verboten worden, dass kein Bild ent-weder gemalet oder sonsten fingieret sollte gesehenwerden; und dieses bezeuget auch Augustinus ausdem Varrone, dessen Worte klar bezeugen, wann erspricht, dass kein Götterbild in der Stadt Rom

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9.852 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 226Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

gewesen ist bei hundertsechzig Jahren; hernach aberist es geschehn, dass durch die Menge der Bilder undStatuen die Religion ist verachtet worden. Auch diePerser (wie wir aus dem Herodoto und Strabonesehen) haben keine Statuen aufgerichtet; aber dieseGottlosigkeit und Torheit war äusserst gross bei denÄgyptern, und von ihnen ist das auch hernach auf alleVölker kommen. Dieser der Heiden verderbter Ge-brauch und falsche Religion haben, als dieselben an-gefangen, sich zu dem christlichen Glauben zu bekeh-ren, auch unsere Religion infizieret und in unsere Kir-chen die Bilder und andere Gebräuche, so nur zur un-fruchtbaren Hoffart dienen, eingeführet, davon bei denersten und wahren Christen nichts gewesen ist2. Eskann nicht gesaget werden, was für Aberglauben, ichwill sagen Abgötterei, das grobe und ungehobelte ge-meine Volk aus diesen Bildern geschöpfet, nachdemdie Priester durch die Finger gesehen und ein Nützgendadurch empfunden haben; sie berufen sich auf dieWorte des Gregorius: Imagines esse libros vulgi, utpossit rerum memoria retineri; atque in his legant, quiliteras non didicerunt, illisque conspectis ad Dei con-templationem trahantur. Das ist: Die Bilder sind dieBücher des gemeinen Mannes, dabei sie sich einesDinges erinnern können; und darinnen sollen die Un-gelehrten lesen, so nicht studieret haben, damit siedurch dieses Anschauen zur Betrachtung des wahren

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9.853 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 227Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Gottes mögen gelangen. Aber dieses sind des ent-schuldigenden Gregorii menschliche Schwachheitenund Erdichtungen, ob er schon die Bilder billiget, sobilliget er doch nicht derselben Beehrung; denn unsChristen geziemet nicht aus dem verbotenen Bucheder Bilder was zu lernen, sondern aus Gottes Buche,welches ist die Heilige Schrift. Wer derohalben Gotterkennen will, der muss ihn nicht bei den Bildern undStatuen suchen, sondern wie Johannes spricht: Scrute-tur Scripturas, quae testimonium perhibent de illo.Das ist: Er muss in der Schrift forschen, denn sie zeu-get von ihm. Diejenigen aber, die nicht lesen können,die mögen Gottes Wort hören, denn, wie Paulusspricht: Fides eorum ex auditu est. Ihr Glaube ist ausdem Gehör. Und Christus spricht bei dem Johanne:Oves meae vocem meam audiunt. Meine Schafe hörenmeine Stimme. Auch saget Christus weiter: Nemo po-test venire ad eum, nisi pater traxerit illum, et nemovenit ad Patrem, nisi per ipsum Christum. Niemandkann zu ihm kommen, den nicht der Vater dahin ge-bracht hat, und niemand kommt zum Vater, denndurch Christum.

Warum sollen wir Gott die Ehre nehmen und sol-che den Bildern und Statuen geben, gleich als wenndadurch Gott könnte erkennet werden? Und hierzukommt noch die übermässige Verehrung der Reliqui-en. Wir müssen es zwar erkennen und kann es

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9.854 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 228Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

niemand leugnen, dass die Reliquien der Heiligen hei-lig sind, und dass sie dermaleinst von der Glorie derEwigkeit glänzen werden, derowegen sie von uns bil-lig müssen hochgeschätzt werden3. Damit wir alsonicht auf eine Idolatrie oder Superstition fallen, so istes besser und sicherer, dass wir unsern Glauben nichtan sichtbare Sachen hangen, sondern dass wir dieHeiligen ehren im Geist und in der Wahrheit durchunsern Herrn Jesum Christum. Derowegen müssenuns die Reliquien der Heiligen nicht würdiger und ge-wisser sein, als das Sakrament des Leibes Christi,welches allein als ein Sanctum Sanctorum in unsernKirchen aufgehoben wird, weil wir dasselbe vorChristuni halten und ehren, welcher, ob er schonüberall zugegen ist, so ist er doch allhier corporaliterund dem Leibe nach zugegen.

Aber das geizige Pfaffengeschlecht nimmt nicht al-lein aus dem Holz und Steinen, sondern auch aus denGebeinen der Toten und aus den Reliquien der heili-gen Märtyrer eine Materia zu ihrem verfluchten Geiz,und brauchet es zum Instrument ihres Wuchers undRaubes. Sie treiben Wucher mit den Gräbern der Be-kenner Christi und mit den Reliquien der Märtyrer.Sie lassen sie ums Geld anrühren und küssen, zierenihre Bilder mit einer grossen Pompe und Pracht ausund preisen sie heilig und heben sie im Himmel; aberdass sie sollten so ein Leben führen, das ist ferne von

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9.855 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 229Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

ihnen. Hat nicht unser Heiland zu diesen die Wortegeredet: Vae vobis, qui aedificatis sepulchra Prophe-tarum, similes illis, qui occiderunt eos. Das ist: Weheeuch, die ihr bauet die Gräber der Propheten, ihr seidgleich denen, die sie getötet haben.

Dahero teilen sie nach Art der Heiden den Heiligengewisse Ämter aus und sagen: Der ist Patron übersWasser und kann mit dem Neptuno aus Wassersge-fahr erretten; einen andern machen sie mit dem Jupiterzum Herrn über Donner und Blitz, oder mit dem Vul-cano über das Feuer; einem andern übergeben sie mitCerere die Sorge der Ernte; einen andern setzen siemit Baccho über die Weinlese. Auch haben die Wei-ber ihre Heiligen, von welchen sie, wie vor Zeiten beiden Heiden von der Lucina und Venere, Kinder bit-ten; und wieder von andern lassen sich die Ehefrauen,wie die heidnischen von der Junone, mit ihren Gattenversöhnen oder an ihnen rächen.

So sind ihrer auch, die da machen, dass man ge-stohlene oder verlorene Sachen wiederbekommenkann; und ist auch nach ihren Gedanken keine Art derKrankheit, welche nicht unter den Heiligen ihren Arzthätte; und das ist die Ursache, dass die Medici weni-ger Geld verdienen können, wie auch die Anwälte;denn es ist kein Prozess so klein und so gerecht, dasser nicht sollte einen Heiligen zum Patron bekommenkönnen.

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9.856 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 229Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Aber gleich wie unsere Seele durch unterschiedeneTeile auch unterschiedene Actus auswirket und diesel-be nach Gelegenheit ihrer Disposition unterschiedeneWirkung austeilet, wie dem Auge das Gesichte, demOhre das Gehör zukommet, also teilet unser HerrJesus Christus in seinem mystischen Leibe, dessenSeele er ist, das ist in der Kirche durch seine Heiligen,als hierzu geschaffene Gliedmassen, unterschiedeneGaben seiner Gnade aus in solchen Leuten; und be-kommet ein jeglicher Heiliger ein sonderlich Amt,was zu wirken; etliche teilen gewisse Gnaden ausnach der vielfältigen Austeilung der Gnade, die teilsdem Menschen ist revelieret und offenbaret, teilsdurch gottesfürchtiges Nachsinnen und andächtigesGebet erlanget worden.

Wir meinen zwar, dass, wie Christus mit seinemTode uns von unserm Tode hat errettet, in dessenTode haben der Heiligen Tode angefangen und sindgeheiliget worden. Also hätten die Märtyrer, welchedurch eine gewisse Art der Krankheit oder Peinigungumkommen sind, uns von solchem Übel, das wir hät-ten leiden sollen, erlöset; es hat dieses einiges Funda-ment. Aber sind die billig auszulachen, welche vonGleichheit des Namens des Heiligen und von demKlange der Bezeichnung der Krankheit und durch an-dere dergleichen unnütze Sachen den Heiligen waszuschreiben wollen, wie die Teutsche die fallende

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9.857 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 230Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Krankheit dem Valentino, welcher Name das Wortfallen zu enthalten scheinet, zuschreiben wollen, unddie Franzosen schreiben die Hydropisin oder Wasser-sucht dem Eutropio zu, wegen des Namens gleichemKlang.

Ich will aber hier nicht haben, dass man der göttli-chen Allmacht oder dem Verdienst der Heiligen etwaszu kurz tun solle. Denn der ist gottlos, welcher vonder christlichen Gottesfurcht und von den Wunder-werken der Heiligen falsche Gedanken führet; hinge-gen ist der auch gottlos und abergläubisch, welcheranstatt der Wunderwerke abscheuliche Lügen undgrausame Geschwätze in die Historien bringet, unddenen Einfältigen, als wann es aus einem Oraculo ge-redet wäre, zu glauben aufbürden und mit einem gros-sen Geschrei einbläuen will. Die aber sind die aller-närrischsten, die den Fabeln und Träumen Glaubenschenken.

Aber gleichwohl wollte ich, dass ihr dieses hierwissen möchtet, dass, gleichwie der unmässige Kultusund Gebrauch der Bilder eine rechte Idololatrie ist,also ist auch die vertrackte Verachtung derselben eineKetzerei, weswegen vor Zeiten Philippus und Leo III.,die Kaiser, sind verdammet worden. Denn gleichwieder Missbrauch der Reliquien ein verfluchtes Verbre-chen ist, also ist auch derselben gänzliche Verachtungeine Ketzerei, welche vor Zeiten von dem Vigilantio

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9.858 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 231Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Gallo ist an Tag kommen, und von dem Hieronymoverfolget worden; jetzo aber fänget sie bei den Teut-schen nebenst Verachtung und Abschaffung der Bil-der wiederum aufs neue an, herfür zu quellen.

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9.859 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 232Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LVIII.

De templisoder

Von den Kirchen

Wir wissen, dass vor Zeiten bei den Heiden vonden Tempeln ein greulicher Aberglaube und Supersti-tion gewesen ist, indem sie jedwedem unter ihrenGöttern einen sonderlichen Tempel erbauet und zuge-richtet haben; auf deren Schlag haben hernach dieChristen ihre Kirchen ihren Heiligen zugeeignet undzugeschrieben; jedoch haben auch viel Völker keineKirchen nicht gehabt, und hat vor Zeiten Xerxes aufEinraten der Magier alle Tempel durch ganz Grie-chenland verbrennen lassen, weil sie dafür gehalten,es wäre schändlich und gottlose, die Götter in dieWände einzuschliessen. Aber es hat Zeno Citicus vonden Tempeln auf solche Art philosophieret: Sacella actempla construere nihil quidem necesse est; nihil enimsacrum jure existimandum, neque pro sancto haben-dum est, quod ipsi homines construxerint. Das ist: Esist eben keine Notwendigkeit, Kirchen und Kapellenzu erbauen; denn von Rechts wegen ist nichts heilignoch vor heilig zu halten, was von Menschen erbauetworden.

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9.860 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 232Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Bei den Persiern sind vor Zeiten keine Tempel oderKirchen gewesen; bei den Hebräern aber ist nur einTempel bei der ganzen Nation für religios gehaltenworden; war von dem König Solomon zu Jerusalemgebauet, von welchem wir bei dem Esaia dieses lesen:Haec dicit Dominus. Coelum sedes mea, terra autemscabellum pedum meorum. Quae est ista domus quamaedificas mihi? Also saget der Herr: Der Himmel istmein Stuhl und die Erde meiner Füsse Schemel. Waswollet Ihr mir denn vor ein Haus bauen? Und Stepha-nus Protomartyr saget: Salomon aedificavit illidomum, sed excelsus in manufactis non habitat. Dasist: Salomon bauete dem Herrn ein Haus, aber derHöchste wohnet nicht in Tempeln, die mit Händen ge-machet sind.

Und Paulus der Apostel saget zu den Atheniensern:Deus non in manufactis templis habitat, qui cum sitDominus coeli et terrae manibus hominum non coli-tur, tanquam indigens aliquo. Das ist: Gott wohnetnicht in Tempeln, mit Menschenhänden gemachet,sein wird auch nicht von Menschenhänden gepfleget,als der jemands bedürfe. Gleichwohl lehret er, diemenschliche Natur und die Menschen selber, die darein, gottesfürchtig, heilig, religiösisch und Gott erge-ben, dass sie Tempel Gottes und ihm angenehm sind,denn er schreibet dieses an die Korinther: TemplumDei estis, et Spiritus Dei habitat in vobis; templum

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9.861 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 233Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

autem Dei sanctum est, quod estis vos. Das ist: Ihrseid der Tempel des lebendigen Gottes, denn derGeist Gottes wohnet in euch, darum sollet ihr heiligsein, denn er ist heilig.

Überdieses sind bei unserer ältesten Religion undbei Anfang des christlichen Glaubens, auch langenach Christi Leiden, für unsere Andacht keine Kir-chen aufgebauet gewesen, wie der Origenes (widerden Celsum) selbst bekennet und lehret mit gewissenSchlussgründen, dass solche denen Christen zumwahren Gottesdienste und zur wahren Religion nichtsnütze gewesen sind. Lactantius saget: Non templaDeo congestis in altitudinem saxis struenda sunt, sedsuo cuique conservandus est pectore, in quod se con-ferat, cum adorat Deum.

Non habitat templis manuum molimine factisOmnipotens; aedes aurea verus homo.

Das ist: Man muss Gott nicht eben steinerne Tem-pel bauen, sondern es soll ein jedweder seinen Tempelbei sich im Herzen haben, darein er gehen soll, wanner will zu Gott beten. Denn der Allmächtige wohnetnicht in Tempeln, von Menschenbänden gemachet,sondern sein Tempel ist ein jedweder rechtgläubigerMensch. Auch hat Christus selbsten seine Anbeternicht in den Tempel, noch in die Synagogen gewiesen,

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9.862 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 234Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

sondern hat befohlen, dass sie in ihr Kämmerleingehen und im Verborgenen beten sollten.

Er selber auch, wie bei dem Luca zu lesen, ist nie-mals zum Haufen, oder in die Städte, oder in Tempeloder in die Synagogen gangen zu beten, sondern er istnausgangen auf den Berg, zu beten, und hat allda dieganze Nacht mit Beten zugebracht. Aber gleichwohlwie die Kirche nichts tut, als was sie durch Antriebdes heiligen Geistes tut, als die Sünder bei Vermeh-rung des christlichen Volks mit den Gläubigen, dieSchwachen mit den Kranken, und gleichsam als wiein die Arca Noä die unreinen mit den reinen Tieren indie Versammlung gangen, so haben sie heilige Häu-ser, heilige Örter und Tempel, die ganz und gar vonden weltlichen Gewerken sind frei und abgesondertgewesen, angerichtet, in welchen das Wort Gottes derchristlichen Gemeine ist öffentlich gelehret und dieSacramenta ausgeteilet worden; welches von demchristlichen Volke mit höchster Ehrerbietung ist ge-halten und von den Fürsten mit Freiheiten begabetworden; und das ist nunmehro zu einer solchenMenge und Weitläuftigkeit kommen, dass bei soeinem grossen Haufen von Privatsacellen oder Kapel-len der Betbrüder höchst vonnöten täte, dass diesfallsein Einsehen geschähe, und dass überflüssige undnichtswürdige Membra wieder abgeschnitten würden.

Hierzu kommen die unerträglichen stolzenPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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9.863 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 235Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kirchengebäude, auf welche viel geistlich Geld undAlmosen täglich aufgewendet werden, mit welchen,wie wir oben gesaget haben, viel christliche Arme, alswahre Tempel und Bildnisse Gottes, vor Hunger,Durst, Hitze, Kälte, Schwachheit und Mangel könntenbewahrt werden.

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9.864 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 235Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LIX.

De festisoder

Von Festtägen

Die Festtäge sind sowohl bei den Heiden als beiden Juden mit grosser Devotion feierlich begangenworden, welche sie alle in gewisse Jahreszeiten ausge-teilet und zu gewissen Tagen Gott also geehret haben;gleich als wann es vergönnet wäre, bisweilen vomGottesdienste abzuweichen, oder als wann Gott nurzu gewissen Zeiten wollte geehret sein, welches Pau-lus den Galatern als eine Schande vorgeworfen hat,wann er also an sie schreibet: Dies observatis et men-ses et tempora et annos; timeo ne in vobis frustra etsine causa laboraverim. Das ist: Ihr haltet Tage undMonden, Feste und Jahreszeiten; ich fürchte, dass ichnicht vielleicht umsonst habe an euch gearbeitet.

Und hat auch deswegen die Colosser erinnert undihnen dieses geboten, wann er weiter saget: Nemo vosjudicet de cibo et potu in parte diei festi aut neome-niae aut sabbathorum, quae sunt umbra futurorum.Das ist: Lasset euch niemand ein Gewissen machenüber Speise oder über Trank, oder über bestimmtenFeiertägen oder Neumonden oder Sabbather, welche

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9.865 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 236Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

sind der Schatten von dem, was zukünftig sein wird.Bei rechtschaffenen und wahrhaftigen Christen

aber soll kein Unterschied der Tage sein; sie sollenallezeit in der Feier, auch in Gott ruhig sein und ohneUnterlass den rechten Sabbath begehen, wie der Pro-phet Esaias geweissaget hat über die Väter der Juden:Fore aliquando, ut Sabbatum eorum tolleretur, cum-que venerit Salvator, futurum Sabbatum perpetuum,perpetuasque Neomenias. Das ist: Es wird die Zeitkommen, dass euere Sabbather sollen aufhören, wannda kommen wird, der ist der Heiland und aller HeidenTrost, und wird ein immerwährender Sabbath undNeumonden angehen.

Hingegen dem grossen Volke und einer schwachenGemeine, auch einem unvollkommenen Teile einerKirchen, denen sind dergleichen Täge von den Väternangeordnet und gesetzet worden, an welchen siehaben müssen zusammenkommen, die Predigt GottesWorts anzuhören, den Gottesdienst abzuwarten unddie heiligen Sacramenta zu gebrauchen, jedoch mitdieser Bescheidenheit, dass nicht die Kirche denTagen gedienet, sondern die Tage der Kirchen; undsind diese Tage von den Vätern der Kirche zu demEnde gesetzet, damit sich das gemeine Volk von ihrenäusserlichen Geschäften und Leibesverrichtungenmöchte abtun, Gott freier zu dienen, ihr Gebet undAndacht abzuwarten, die Predigten anzuhören und

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9.866 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 237Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

was sonsten zu ihrer Seelen Seligkeit dienlich ist, zuverrichten.

Aber jener Verkehrer der Billigkeit und Verstöreraller guten Ordnung, der Anfänger alles Übels, derTeufel, der trachtet stets darnach, wie er dasjenige,was der Heilige Geist aufgebauet, wieder übern Hau-fen werfen möchte, der bemühet sich, auch diesesSchloss zu verwüsten. Also wendet der grösste Teildes christlichen Volks diese heilige Feiertäge nicht anzum Beten und Gottes Wort zu hören, oder zu dem,warum diese Festtäge gewidmet sind, sondern viel-mehr der christlichen Lehre zur Schande in Komödienund Gauklereien, in Spielen und Gesängen, in Saufenund Schwelgereien und in andern fleischlichen Lüstenund in irdischen Werken, die dem Heiligen Geiste zu-wider sind; und wie Tertullianus von Solennitäten derKaiser spricht: Solent grande officium agere, focos etchoros in publicum ducere, vicatim epulari, civitatemtabernae habitu abolefacere, vino gulam cogere, certa-tim cursitare ad injurias, ad impudentias, ad libidinisillecebras; sie exprimitur publicum gaudium per pu-blicum dedecus. Das ist: Sie pflegen damit ein gros-ses Werk zu begehen, auf den Gassen herumzutanzenund springen, einer um den andern einen Schmauss zugeben und die ganze Stadt als eine einzige Stube mitgutem Rauchwerk anzufüllen, tapfer zu saufen undschwelgen, miteinander zu schlagen und balgen, und

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9.867 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 238Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Ursache suchen zu Zank und allerhand anreizendenWollüsten. Und also wird die allgemeine Freudedurch öffentliche Schande am Tag gegeben. Sind wirderowegen nicht verdammenswert, die wir auf dieseArt des Herrn Christi und der Heiligen Solennitätenbegehen? Aber von diesen Festtägen haben wir überder Manichäer ihre Unsinnigkeit und Gotteslästerungund der Cataphrygum schändliche Lehre, fast keineoder doch wenig Ketzereien mehr erfahren; jedochhaben diese Sachen in der Kirchen Gelegenheit zurSpaltung gegeben; denn Victor, der römische Papst,hat fast alle Kirchen im Morgenlande von der Ge-meine abgeschnitten und nur bloss aus der Ursache,dass sie bei Zelebrierung des Ostertages andern Ge-bräuchen, als zu Rom sind üblich gewesen, gefolgetund angestellet haben; welche Gebräuche unter an-dern fürtrefflichen Leuten Polykrates, der Bischof inAsien, ihnen wiedergegeben hat; und obgleich Ire-naeus, der Bischof zu Lyon, nach römischem Ge-brauch das Osterfest zelebrieret hat, so hat er sichdoch mit einer sonderbaren Libertät unterstanden, denPapst Victorem deswegen zu schelten, dass er ohneExempel seiner Vorgänger als ein Friedenstörer dieKirchen, die nicht im Glauben geirret haben, sondernnur in gewissen Gebräuchen von der römischen Kir-chen sind different gewesen, alsobald von der Kirchenabgeschnitten hat.

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9.868 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 239Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Nachgehends aber sind über die Observation desheiligen Osterfestes viel Concilia und päpstliche De-creta und Bedenkungen der Väter, welche sie die Kir-chenrechnungen genennet haben, für den Tag kom-men, und gleichwohl haben sie noch bis auf den heu-tigen Tag zu diesem heiligen Osterfest durch dieganze Welt keinen bestimmten Tag setzen können,und wird noch immer von den Astrologis und Kalen-derschreibern gestritten, aber kein Decisum gemachet.Und ist fürwahr eine schöne Sache, dass wegen eineseinzigen römischen Papstes halsstarrigen Eifer dieKirche so grossen Schiffbruch leiden soll.

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9.869 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 240Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LX.

De ceremoniisoder

Von den Zeremonien und Gebräuchen

Es bestehet aber nicht der geringste Teil der Religi-on in Zeremonien und Gebräuchen der Kleider, derGefässe, der Lichter, der Glocken, der Orgeln, derMusik, des Räucherns, des Opferns, der Gesten, derschönen Gemälde, der Auswahl der Fastenspeisenund Ähnlichem, welches von dem gemeinen Mannund von den Leuten, die nichts merken, was sie nichtvor Augen sehen, mit grosser Verwunderung und Ve-neration in acht genommen wird. Numa Pompilius hatam ersten bei den Römern die Zeremonien eingefüh-ret, nur bloss zu dem Ende, damit er das grobe undunbändige Volk, welches mit Gewalt und Unrecht dasRegiment zu sich gezogen hatte, zur Gottesfurcht,zum Glauben, zur Gerechtigkeit und Religion anmah-nen und dadurch glücklicher regieren könnte. Diesesbezeugen die Ancilia und das Palladium, als heiligePfänder des Reichs; ferner Janus, der zweistirnichteHerr über Krieg und Friede; das Feuer der Vestae,deren Flammen von der Hüterin des Reiches bestän-dig in acht genommen wurden. Er selber teilete das

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9.870 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 240Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Jahr aus in Fest- und Werktage durch zwölf Monate,setzte die priesterliche Obrigkeit zu Päpsten ein undteilete sie in gewisse Pontifices und Wahrsager, füh-rete unterschiedene Gebräuche und Wallfahrten ein,davon der grösste Teil hernach (wie Eusebius Zeugeist) von unserer Religion ist angenommen worden.

Aber Gott selbsten, der keinen Gefallen hat amFleische und an fühlbaren Zeichen, der verachtet dieseäusserlichen Zeremonien. Denn Gott will nicht mitsolchem körperlichen Tun, mit fleischlichem Cultusgeehret sein, sondern im Geist und in der Wahrheitdurch Jesum Christum; denn er ist ein Prüfer desGlaubens und betrachtet den innerlichen Geist unddas Verborgene des Menschen; er ist ein Herzenskün-diger und siehet den innerlichen Menschen an, dero-wegen können diese äusserliche und fleischliche Zere-monien den Menschen zu Gott nicht befördern, beiwelchem nichts angenehm ist, als der Glaube anJesum Christum, mit einer inbrünstigen Nachahmungin der Liebe und festen Zuversicht des Heils und derBelohnung.

Und dieses ist der rechte, wahre und mit keinen äu-sserlichen Zeremonien befleckte, sondern unbefleckteGottesdienst, welchen uns Johannes weiset, wann erspricht: Spiritum esse Deum, et eos, qui volunt ado-rare, in Spiritu et veritate oportet adorare. Das ist:Gott ist ein reiner Geist, und wer ihn will anbeten, der

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9.871 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 241Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

muss ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. Die-ses haben auch etliche heidnische Philosophi wahrge-nommen; dahero befiehlet Plato, dass man bei Ehrungdes höchsten Gottes alle äusserliche Zeremonien sollwegtun.

Es ist wie ein Sacrileg, wenn man Weihrauch an-zündet; denn demjenigen mangelt nichts, der alles ist,und gebühret nur mit Danksagungen ihn anzubeten.Denn das ist das höchste Verlangen Gottes, wann ihmvon den sterblichen Menschen Dank gesaget wird;über dieses, so haben wir ja nichts, und das Gott mehrangenehm wäre, als wann wir sein Lob und Ehre mitDanksagung ausbreiten. Wollte aber etwan einer unsdie Opfer des mosaischen Gesetzes entgegensetzen,so ist es weit gefehlet, dass Gott an ihren Gebräuchenund Zeremonien soll ein Gefallen gehabt haben; dennGott hat das Volk nicht deswegen aus Ägypten gefüh-ret, dass sie ihm Opfer bringen und Weihrauch anzün-den sollten, sondern dass sie des ägyptischen Götzen-dienstes vergessen, die Stimme Gottes hören und ihmin Glauben und Gerechtigkeit zu ihrer Seelen Selig-keit gehorchen sollten. Dass ihnen aber Moyses Opferund Zeremonien eingesetzet hat, das hat er darumgetan, dass er ihre Schwachheit und Ihres HerzensHärtigkeit in etwas hat gebrochen, und bei solcherBeschaffenheit dem Irrtum etwas nachgeben wollen,damit er sie dadurch desto besser von verbotenen

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9.872 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 242Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Dingen abrufen könnte, und sie nicht nach Art undWeise der blinden Heiden dem Teufel und nicht GottOpfer bringen möchten. Denn diese Gebräuche undZeremonien sind nicht so schlechter Dinge für sichselbsten, sondern nur per consequentiam und wegensonderbaren Ursachen vergönnet gewesen; und hatdieses Gesetz nicht anders binden können, als nur soferne es von dem Volke ist gebilliget worden. Ja Moy-ses selber, als er diese Ceremonialgesetze gegebenhat, so hat er der Altesten und des Volkes Suffragiaund Stimmen darüber eingeholet, damit sie denselbenmehr unterwürfig sein sollten. Derowegen hat diesesGesetze nach Gelegenheit und Veränderung der Zeitkönnen geändert oder einmal gar abgeschaffet werden.

Gottes Gesetze aber, welches auf steinernen Tafelnist dem Volke übergeben worden, das bleibet ewig.Denn also hat Gott der Herr durch den Jeremiam gere-det: Quo mihi thus de Saba affertis, et cinnamomumde terra longinqua? Holocaustomata et sacrificia ve-stra non delectaverunt me. Holocaustomata vestra col-ligite cum Sacrificiis vestris et manducate carnes, quinon sum locutus ad patres vestros, nec de holocausto-matibus, nec de sacrificiis praecepi eis, qua die eduxivos de Aegypto; sed sermonem hunc praecepi eis di-cens: Audite vocem meam et ero Deus vester et voseritis populus meus. Ambulate in omnibus viis meis,quaecunque praecepero vobis, ut bene sit vobis. Das

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9.873 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 242Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

ist: Was frage ich nach dem Weihrauch, der aus demReich Arabia, und nach den guten Zimmetrinden, dieaus fernen Landen kommen? Eure Brandopfer sindmir nicht angenehm und eure Opfer gefallen mir nicht.Denn, so spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israel:Tut eure Brandopfer und andere Opfer zu Hauf, undfresset Fleisch, denn ich habe euren Vätern des Tages,da ich sie aus Ägyptenland führete, weder gebotennoch gesaget von Brandopfern und andern Opfern,sondern das gebot ich innen und sprach: Gehorchetmeinem Worte, so will ich euer Gott sein und ihr sol-let mein Volk sein; und wandelt auf allen Wegen, dieich euch gebiete, auf dass es euch wohlgehe. Und wie-derum spricht der Herr bei dem Esaia: Non obtulistimihi oves holocaustomatis tui, nec in sacrificiis tuisclarificasti me. Non servisti mihi in sacrificiis, necaliquid laboriose fecisti in thure, nec mercatus es mihiargento incensum; nec adipem sacrificiorum tuorumconcupivi, sed in peccatis tuis ante me stetisti. Superquem igitur, ait, aspiciam, nisi in humilem et quietumet trementem sermones meos? Non enim adipes et car-nes pingues auferent a te injustitias tuas. Hoc enim estjejunium, quod ego elegi, dicit Dominus. Salveomnem nodum injustitiae; dissolve connexus violen-torum commerciorum, dimitte quassatos in requiem,et omnem conscriptionem injustam conscinde, frangeesurienti panem tuum ex animo, et peregrinum sine

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9.874 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 243Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

tecto induc in domum tuam; si videris nudum, adoperieum, et domesticos seminis tui ne despicias, tuncerumpet matutinum lumen tuum, et sanitates tibi citoorientur et praecedet ante te justitia et gloria dei cir-cumdabit te; et adhuc te loquente dicam: Ecce adsum.Das ist: Mir hast du nicht bracht Schafe deinesBrandopfers, noch mich geehret mit deinen Opfern;mich hat deines Dienstes nicht gelüstet im Speiseop-fer, habe auch nicht Lust an deiner Arbeit im Weih-rauch; mir hast du nicht um Geld Kalmes gekauft,mich hast du mit dem Fetten deiner Opfer nicht gefül-let. Ja mir hast du Arbeit gemacht in deinen Sünden,und hast mir Mühe gemacht in deinen Missetaten. Zuwem soll ich denn mein Antlitz kehren, als nur zu denDemütigen und Geringen, die mein Wort fürchten?Denn so spricht der Herr, das ist das Fasten, das icherwählet; lass los, welche du mit Unrecht gebundenhast; lass ledig, welche du beschwerest; gib frei, wel-che du drängest; reiss weg allerlei Last. Brich denHungrigen dein Brod, und die, so im Elend sind,führe ins Haus. So du einen nackend siehest, so be-kleide ihn, und entzeuch dich nicht von deinemFleisch. Alsdann wird dein Licht herfürbrechen wiedie Morgenröte und deine Besserung wird schnellwachsen, und deine Gerechtigkeit wird für dir herge-hen, und die Herrlichkeit des Herrn wird dich zu sichnehmen. Dann wirst du rufen, so wird dir der Herr

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9.875 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 244Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

antworten, wann du wirst schreien, wird er sagen:Siehe hie bin ich.

Ich leugne es nicht, gleich wie vor Zeiten in derJüden Schule Moyses und Aaron, und hernach andereHohepriester, Richter und Propheten bis zu denSchriftgelehrten und Pharisäern, also hernach in derKirche, von den Aposteln, Evangelisten, Päpsten,Priestern und Lehrern geschehen ist, dass sie die Kir-che mit gewissen andächtigen Zeremonien und schö-nen Gebräuchen und Einsetzungen gleichsam als wieeine gezierte Braut ihrem Bräutigam zubringen möch-ten; denn die Nachkömmlinge haben viel Statuta undDecreta nach der Menschen Schwachheit rausgege-ben; aber welches oft pfleget zu geschehen, dass das-jenige, was zum Nutzen abgesehen gewesen, ist her-nachmals zum Schaden nausgeschlagen. Also hatsich's begeben, dass wegen der Menge dieser Zeremo-nialgesetze die Christen mit mehrern Konstitutionenund Verordnungen sind beschweret worden, als dieJüden; und ist solches rechtschaffen zu bejammern,dass diesen Gesetzen, welche doch an sich selbstenweder böse noch gut sind, das Volk mehr Glaubenbeimisset und sie genauer observieret, als denen vonGott selbsten rausgegebenen Geboten, weil die Bi-schöfe und Priester, die Äbte und Mönche durch dieFinger sehen, und nur ihren dicken Wänsten dadurchgar schön geraten ist.

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9.876 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 244Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Und obgleich diese Zeremonien sonderlich widerden Glauben keine Ketzerei eingeführet haben, sosind doch dadurch unzählige Sekten in die Kirche ein-geführet worden, und haben nicht wenig Samen ge-streuet zu grossen Spaltungen. Daher ist erstlich diegriechische Kirche von der unsern abgesondert wor-den, weil jene nicht mit ungesäuertem Brote konse-krieret hat, sondern mit Sauerteige, da wir doch be-kennen müssen, dass jene recht konsekrieren; hernachist auch der Böhmen ihre Kirche von der unsern abge-sondert und separieret worden, weil sie das Abend-mahl unter beiderlei Gestalt ausgeteilet; denn wie derApostel spricht: Circumcisio nihil est, et praeputiumnihil est, sed observatio mandatorum Dei. Das ist:Die Beschneidung ist nichts und die Vorhaut auchnichts, sondern den Befehl des Herrn halten. Alsosind auch die Zeremonien nichts, wann sie nicht dieGebote der Kirchen in acht nehmen; derowegen ist esüberall eine Schande, wann man beiderseits wegen sogeringer Sachen und die dem christlichen Glaubenkeinen Schaden bringen, die Einigkeit der Kirchenaufheben und den Leib Christi teilen will; und das hatunser Heiland und Seligmacher den Pharisäern vorge-worfen: das hiesse Mücken seigen und ein Kamel ver-schlucken, den Kirchenfrieden stören, und nur unnüt-zen Zank anfangen; und auf solche Art schadet dieSpaltung mehr, als was die Aufsicht und die Strafe

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9.877 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 246Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Nutzen bringet.Die römischen Päpste hätten viel Übel aus dem

Wege räumen und die Kirche friedlich und ungeteilterhalten können, wann sie der Griechen Sauerteig,und der Böhmen Kelch tolerieret und unangetastet ge-lassen hätten. Und dieses sind nicht grössere Sachen,als welche der Innocentius Octavus (wie VolaterranusZeuge ist) den Norwegern vergönnet hat, nämlich,dass ihnen beigelassen worden, ohne Wein den Kelchzu administrieren.

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9.878 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 246Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXI.

De magistratibus ecclesiaeoder

Von der Kirchenobrigkeit

So sind ja auch bei der Kirche gewisse Obrigkeitenund unterschiedene Sekten der Menschen, die sowohlzur Zierat der Religion, als zur Konservation dieserheiligen Ordnung dienlich sind, damit keine Konfusi-on daraus entstehe. Was aber bei der Kirche getanund gehandelt wird, es mag entweder zum Zierat oderzu Erbauung der Religion gehören, oder zur Wahloder Einsetzung der Priester, so ist es alles eitel undböse, wann es nicht auf Anreizung des heiligen Gei-stes geschicht, welcher gleichsam die Seele der Kir-chen ist. Denn wer nicht zu diesem grossen Apostel-amt und Dignität durch den heiligen Geist berufen ist,wie Aaron, und wer nicht durch die Türe, welcheChristus ist, eingangen, sondern wo anders in die Kir-che eingestiegen ist wie durchs Fenster, entwederdurch Gunst der Leute oder durch erkaufte Stimmenoder durch die Macht der Fürsten, der ist ChristiStatthalter oder der heiligen Apostel Nachfolger nicht,sondern er ist ein Dieb und ein Mörder und vertritt dieStelle des Judae Ischarioth und des Simonis

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9.879 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 247Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Samaritani. Daher ist es von den Altvätern der Präla-tenelektion wegen (welche der heilige Dionysius dasSacramentum nominationis oder das Sakrament derErnennung nennet) so scharf geboten worden, dassdiejenigen, welche zu Bischöfen oder Aposteln beru-fen werden, Leute sein sollten von guten Sitten, unta-delhaftem Leben und mächtig in der Lehre. Aber wieist man hernach davon abgewichen, und hat man beidem neuen päpstlichen Rechte eine verdammte Ge-wohnheit eingeführet, indem wir sehen, dass die mei-sten Päpste, so auf den Stuhl Christi erhoben worden,solche Leute sind, wie die Schreiber und Pharisäervor Zeiten gewesen, welche viel sagen, aber nichtstun; sie werfen die ganze schwere Last auf das Volk,und sie rühren es nicht mit einem Finger an.

Sie sind Heuchler und tun nichts als damit sie nurwollen angesehen sein; sie stellen sich gottesfürchtig,begehren die erste Stelle in Choro, in Schulen undallen Orten; auf den Gassen wollen sie Rabbi, Meisterund Lehrer genennet sein; sie schliessen den Wegzum Himmel zu, können selbsten nicht hinein undwollen denselben darum andern auch verbieten; sieverzehren der Witwen Häuser, simulieren lange Gebe-te; sie durchwandern Wüsten und Meere, verführenund stehlen die Knaben, und wann sie so einen Prose-lyten bekommen, so mehren sie die Zahl der Ver-dammten, damit diese verfluchten Höllenbrände auch

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9.880 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 248Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

andere mit in die Hölle hineinreissen möchten. Mitihren Erdichtungen und Traditionen violieren sie Got-tes Gebot, verlassen den wahren Tempel Gottes, unddas eigentliche Ebenbild Christi, und den Altar dergläubigen Seelen im Volke, bekümmern sich nur umihren Geiz und machen liederliche neue Gesetze vomZehnten, von Oblationen, von Kollekten und Almo-sen; lassen die Zeremonialgesetze genau befolgen; be-steuern die Früchte, das Vieh, das Geld und auchwohl kleinere Sachen, als Krausemünze, Anis, Küm-mel und sonsten andere Bagatellen und Lumpensa-chen mehr; sie bellen wie die Hunde von der Kanzelrunter auf das Volk. Die wichtigen Sachen aber, alsda sind die Werke des Evangelii und des Gesetzes,die Barmherzigkeit, den Glauben, Recht und Gerech-tigkeit, die negligieren sie ganz und gar; sie seigen dieMücken raus und verschlingen ein Kamel, sie strau-cheln über ein Steinchen und über die grossen Steinespringen sie weg; sind blinde Führer; sind falsch undbetrüglich, sind nichts als Schlangenbruten, blank ge-scheuerte Kelche, übertünchte Gräber, von aussen inMitren, in Hüten, in Kleidung, in Habit und in Kap-pen stellen sie sich, als wann sie die Gottesfürchtig-sten wären und denen Heiligen die Füsse abbeissenwollten. Inwendig aber sind sie voller Unflat, Heuche-lei und Schalkheit, sie sind Hurer, Gaukler, Tänzer,Hurenwirte, Spieler, Schlemmer und Prasser,

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9.881 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 249Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Vergifter und Trunkenbolde, welche etwan zuvor (wieJohannes Camotensis Episcopus wahrgenommen hat)nicht wegen ihrer Meriten, sondern wegen Gift undGeschenke, oder wegen Gunst grosser Herren oderdurch Waffengewalt sind zu den Benefizien oder Bi-schofstümern gelanget; oder sie haben scheinheiligaus den Kirchengütern an sich gerissen, was vielleichtnichts anders als armer Leute saurer Schweiss undBlut gewesen ist und sammeln sich von den Almosenunserer armen Eltern grossen Reichtum und treibenKrämerei und Handlung damit; sie wendens oft an beiden Huren, bei dem Brettspiel oder zur Jagd oder zuandern Ausschweifungen und Unreinigkeiten.

Gaudent equis canibusque et aprici gramine campi.

Das ist: Sie haben ihre Lust an Pferden, Hundenund Jägereien. Sie erpressen dem Volk sein bisschenHabe, vexieren ganze Reiche, erwecken Krieg, verwü-sten Kirchen, die heilige Väter aufgebauet haben; siebauen selber grosse und prächtige Palatia auf, gehendaher im Purpur, Gold und Seiden, nicht ohne grossenSchaden des Volks und zu Schimpf und Schande derReligion, auch mit einer unerträglichen Last für dasgemeine Wesen. Diese Leute hat der gottselige Bern-hardus von Clairvaux in seiner Rede ad GeneralemSynodum Remensem, da der Papst selbst zugegen

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9.882 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 249Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

gewesen, also beschrieben: Non mercenarios pro pa-storibus, non lupos pro mercenariis, sed pro lupis dia-bolos. Sie wären nicht Mietlinge anstatt Hirten, nichtWölfe anstatt Mietlingen, sondern wahrhaftige Teufelanstatt Wölfen. Ja der römische Papst und höchstePriester selber (worüber eben jener h. Bischof Johan-nes geklagt hat), der ist unter allen der unerträglich-ste, dem an Pracht und Hochmut kein Tyranne jemalsgleich gewesen ist. Und gleichwohl rühmen sich dieseLeute und heilige Väter, dass bei ihnen alleine derganze Bestand der Kirchen sei, trotzdem sie die ei-gentliche Last der Religion, das Wort des Evangelii,auf andere abwälzen. Aber was tun sie? Sie machenGesetze zu ihren Gunsten, nehmen den Nutzen fürsich und sind dabei müssig und skandalos; und weil,wie sie sagen, dieser päpstliche Stuhl Heilige auf-nimmt oder heilige Leute machet, so meinen sie, essei ihnen alles vergönnet, also, dass sie auch diechristlichen Kirchenzeremonien, welche die heiligenVäter zu stetswährender Observation mit sonderlicherDevotion eingesetzet haben, mit ihren Wollüsten un-verschämt und recht schmachvoll missbrauchen.

Dergleichen Exempel lesen wir an dem Papst Boni-facio Octavo, bei dem Crinito, der also spricht: »Die-ses ist der grosse Bonifacius, weil er drei grosse undschröckliche Sachen getan hat. Erstlich hat er denClementem durch ein falsch Oraculum betrogen und

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9.883 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 250Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

hat ihn überredet, dass er das Apostelamt abgetretenhat; zum andern hat er in Jure Canonico das sechsteDecretale lassen ausgehen und hat darinnen den Papstzum Herrn über alles gemacht; zum dritten hat er dasJubiläum eingesetzet, den Kram des Ablasses erdachtund diesen zuerst auf das Fegfeuer ausgedehnt.«

Ich will anjetzo die andern Ungeheuer der römi-schen Päpste nicht anführen, wie dergleichen Formo-sus Papa oder der schöne Papst, und nach ihm neunegewesen sind, welche der Kirche schändlich vorge-standen haben; ich will auch die gar späteren ver-schweigen, als den Paulum, Sixtum, Alexandrum, Ju-lium, alle berühmte Turbatores und Verwirrer derchristlichen Welt. Ich will auch vorbeigehen den Eu-genium, welcher wegen seines gebrochenen Eid-schwures, den er dem Türken geleistet, die ganzeChristenheit in viel traurige und blutige Kriege ge-stürzet, und gemeinet hat, man solle dem Feinde nichtsein Wort halten. Es ist bekannt, mit was für unsägli-chen Schaden die Christenheit Alexander Sextus denZizimum, des türkischen Bajazid Bruder, mit Giftvergeben hat. Ja auch die Gesandten der römischenPäpste, wie es Camotensis wahrgenommen und es dietägliche Erfahrung bezeuget hat, die treiben oft sol-chen Unfug in den Ländern, als wenn der böse Feindselber von dem Gesichte Gottes wäre ausgegangen,die Kirche zu peitschen. Sie wickeln den ganzen

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9.884 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 251Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Erdkreis auf, nur dass sie ihn in ihre Kur bekommen,sie freuen sich, wanns böse zugehet und jubeln beigefährlichen Zeiten, und können sich kaum des Wei-nens enthalten, wann sie nichts Weinenswertes an-schauen. Sie fressen die Sünden des Volkes in sichnein, davon werden sie ernähret und gekleidet, und indenselben treiben sie Sünde und Schande; aber siekönnen ihre Laster mit trefflichen Mänteln bedeckenund mit scheinbaren Tituln eine Farbe anstreichen,also, dass ihnen niemand kann was vorwerfen, dasssie nicht mit einem Exempel eines Heiligen könntenexcusieren und verteidigen. Denn wann man ihnenvorrücken wollte, dass sie Idioten wären, das heisstnichts verstünden, da werden sie gleich zur Antwortgeben: solche Leute hat Christus zu Aposteln erwäh-let, welche weder Meister des Gesetzes noch Schrift-gelehrte gewesen, hätten auch niemals Schulen undSynagogen frequentieret. Wirft man ihnen ihre schwe-re und barbarische Sprache vor, sagen sie: wäre dochMoses auch nicht fertiger Zunge gewesen, und Jere-mias hätte nicht zu reden gewusst, ja Zacharias, ob ergleich stumm gewesen, wäre doch deswegen von demPriestertum nicht ausgeschlossen worden. Saget man,sie wären der Heiligen Schrift nicht kundig, sie steck-ten voller Irrtümer und Ketzereien, so antworten sie:Ambrosius wäre noch nicht ein Christ gewesen, unddoch schon als ein Katechismus-Schüler zum

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9.885 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 251Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Bischofe erwählet worden, und Paulus wäre nicht nurals ein Unglaubiger, sondern als ein Verfolger zumApostel-Amt berufen worden; auch der Augustinuswäre vor Zeiten ein Manichäer gewesen, und Marcel-linus der Märtyrer, hätte im Papsttum nach demWeihrauch des Götzendienstes gerochen. Wirft manihnen den Ehrgeiz für, so werden sie gleich mit demExempel der Kinder Zebedäi zu Felde sein. Wirft manihnen die Furchtsamkeit und Kleinmütigkeit für, somuss Jonas und Thomas darstehen; jener hat nichtzum Niniviten, dieser aber nicht zu den Indianern zie-hen wollen. Wirft man ihnen die Treulosigkeit für, sowerden sie des Petri Meineid vorschützen; die Hure-rei, so werden sie sagen, dass Oseas eine Ehebreche-rin und Samson eine Hure mit Liebe umfangen hat.Den Totschlag, Schlägerei oder andere grobe Sünden,da muss Petrus, wie er dem Malcho hat das Ohr abge-hauen, herhalten, da muss Martinus, wie er unter demJuliano gestritten, und Moyses, wie er den ägypti-schen Mann umgebracht und im Sande verborgen ge-halten, angeführet werden.

Also lieget bei ihnen nichts daran, wer zu priester-lichen Ehren erhoben wird, und muss ein jedwederseinen Nacken dem Schwert solcher Leute unterlegen,dem Schwerte, sage ich, nicht dem Schwerte GottesWortes, dessen sie Bewahrer und Diener sein sollen,sondern dem Schwerte des Ehrgeizes, dem Schwerte

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9.886 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 252Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

des Geizes, dem Schwerte der Strafe und des Aus-pressens, dem Schwerte des bösen Exempels, demSchwerte des Blutes und des Totschlages; damit rü-sten sie sich wider alle Wahrheit, Gerechtigkeit undEhrbarkeit.

Sceptrorum vis tota perit, si pendere justaIncipit, evertetque aras respectus honesti.Libertas scelerum est, quae regna invisa tuetur,Sublatusque modus gladii facere omnia saeve.

Das ist: Wann man allenthalben sollte in acht neh-men, was Recht und Billigkeit mit sich brächte,würde es bald um alle ihre Herrschaft geschehen sein.Aber so lässet man die Laster frei und ungestraft hin-gehen, damit wird ihre Herrschaft noch etwas erhal-ten, weil sie nicht alles so genau und scharf abstrafet.

Da darf niemand ungestraft ihren Satzungen wider-sprechen, niemand darf ihren Lüsten widerstehen, ermüsste denn parat sein, die Marter eines Ketzers aus-zustehn, wie auf solche Art Hieronymus Savonarola,ein Prediger-Mönch und zugleich ein prophetischerMann, zu Florenz ist verbrennet worden.

Weil aber alle obrigkeitliche Macht gut ist, nach-dem sie von Gott ist, von welchem Alles und allesGutes kommt, ob sie schon wegen des Missbrauchesden privat Leidenden übel scheinet, so ist sie doch der

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9.887 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 253Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

ganzen Gemeine allezeit gut. Denn, wegen der Mengeder Delinquenten hat Gott Tyrannen kommen lassen,und die Sünde des Volkes machet es, dass die Heuch-ler regieren. Wer derowegen von dem Herrn zum Bi-schofe der Kirchen ist gesetzet worden, dem soll mangehorchen und nicht widersprechen, denn wer demBischof oder dem Priester nicht gehorchet, der verach-tet nicht ihn, sondern Gott selbsten. Gleich wie er sel-ber von den Verächtern Samuelis geredet hat: Non tespreverunt, sed me. Sie haben nicht dich verachtet,sondern mich. Und Moses spricht zu dem murrendenVolk: Non adversus nos murmurastis, sed adversusDominum Deum. Das ist: Ihr habet nicht wider unsgemurret, sondern wider Gott den Herrn. Und denwird der Herr nicht ungerochen lassen, der sich widerseinen Bischof oder Prälaten setzet. Dathan und Abi-ram haben sich Moysi widersetzet, und die Erde ver-schlunge sie lebendig. Viel haben mit Chore widerAaron konspirieret und sind vom Feuer verzehretworden. Achab und Jezabel haben die Propheten ver-folget, und die Hunde haben sie gefressen. Die Kna-ben sind ausgangen, dass sie Helisäum verspotteten,und die Bären haben sie zerrissen; Osias der Könighat wider die Priester sich des Priestertums angemas-set und ist aussätzig worden. Saul, weil er wider Sa-muelen, den Fürsten der Priester, zu opfern sich vor-gesetzet hatte, ist von Gott der königlichen Salbung

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9.888 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 254Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

und zugleich auch prophetischen Geistes beraubetund dem bösen Geist übergeben worden.

Es ist unglaubisch und heidnisch, der HeiligenSchrift nicht glauben, gottlos aber, die Priester ver-achten. Die Priester sind gut, der Bischof besser, überalle aber der heilige Papst, der Fürst der Priester, demvertrauet sind die Schlüssel des Himmelreichs und be-fohlen worden die Heimlichkeiten des Reichs Gottes.Er ist ein Fürst gegen Gott, ein Hohepriester gegenChristum; und wer den ehret, der wird von Gott wie-der geehret, wer ihn verachtet, den verachtet Gott wie-der und wird der Rache nicht entgehen.

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9.889 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 254Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXII.

De sectis monasticisoder

Von Orden der Mönche

Es sind über dieses allerhand Orden: Mönche undFratres Anachoritae, welche das alte Testament nichtgehabt hat. Es hat sie auch die Kirche zu derselbenZeit nicht gehabt, da sie am besten gestanden und vonsolchen zeremonialischen Gebräuchen nichts gewussthat. Diese massen sich heutiges Tages allein des Na-mens der Religiösen an, schreiben sich harte Regulnzu leben für, und profitieren ihr Amt heilig; und nen-nen sich nach den Namen lobwürdiger Männer undheiliger Väter als vom Basilio, Benedicto, Bernhardo,Augustino, Francisco und andern mehr.

Heutiges Tages aber ist unter ihnen selten einGuter, dagegen ein grosser Haufe böser Buben; dennhier fliesset alles zusammen, als wie in ein Asylum,was nicht gut tun will, und bei welchem das Gewissender begangenen Schelmenstücken aufwachet, und diean keinem Orte wegen ihrer verübten Missetaten si-cher sind oder sich deswegen einiger Strafe befürch-ten, welche ihr Vermögen mit Huren, mit Karten undWürfeln, mit Fressen und Saufen haben

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durchgebracht, und die auf die Letzt die höchsteArmut zu betteln zwinget; welche nicht arbeiten, unddie Hände daran strecken wollen, die des Müssig-gangs oder der Wollüste und der guten Tage gewoh-net sind, welche ihre Jugend übel angewendet, denendas Glück nicht wohl gewollt, oder welche eine unge-rechte Stiefmutter oder die schelmischen Vormünderum das ihrige gebracht und in den Orden getriebenhaben. Diesen schönen Haufen nun bedecket diese si-mulierte Frömmigkeit, diese hochgepriesene Mönchs-kappe und diese nahrhafte Bettelei. Und das grosseweite Meer, darinnen der höllische Leviathan und Be-hemoth mit ihren Kreaturen wohnen, diese sind diegrossen Meervögel und hässlichen Tiere, die nicht zuzählen sind, und daraus kommen so viel StoicischeAffen, so viel stolze und aufgeblasene Heller-schlucker, soviel Bettler im Ornat, so viel gekappeteMonstra, so viel grosse Bart-, Seil- und Strickträger,Sackträger, Grapscher, Schlappbeine, Stelzfüsse, Bar-füsse, Schwartzträger, Grauröcke, Weissröcke, Bunt-röcke, Leib- und Lebensfechter, Leute in schmutzigenund in kostbaren Trachten, und viel andere derglei-chen Komödianten.

Diesen nun, welche in dem weltlichen Wesen kei-nen Kredit mehr haben, denen werden wegen ihres ab-scheulichen geistlichen Habits geistliche Sachen an-vertrauet, und nehmen den Namen heiliger und

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9.891 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 256Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

religioser Leute an sich, nennen sich Christi Gesellenund Kameraden der Apostel; und ist doch oft ihrLeben von Bosheit und vom Geiz, argen Lüsten,Schmausen und Saufen, Ehrgeiz, Vermessenheit undandern Lastern angefüllet, aber wegen Prätext der Re-ligion sind sie unbestrafet; denn von der römischenKirche sind sie mit trefflichen Privilegien begabet,und von der Jurisdicton aller Kirchen exemt, damit siealles ungestrafet tun und für keinem andern Gerichtestehen mögen, als zu Rom und zu Jerusalem; da siedoch andere für ihren Gerichten verklagen können.Wann ich dieser Leute Eitelkeiten und Irrtümer an-jetzo mit der Feder beschreiben sollte, so würdennicht der Kuhhäute von Madian (Midian) genug sein;sollte ich, sage ich, die Irrtümer derer aufschreiben,welche nicht aus Andacht oder Eifer der Religion,sondern ihren Bauch zu füllen die Mönchskappe an-gezogen haben.

Die Frommen aber sollen sich an meine Rede nichtkehren und lassen sich nicht ärgern, denn ich rede nurhier von Bösen und Gottlosen, welche unter denSchafskleidern reissende Wölfe sind und unter ihremgeistlichen Habit einen listigen Fuchs verborgenhaben, und diese, welche ihren Betrug künstlich ver-bergen und mit ihrer Heuchelei der Gottesfurcht eineartige Farbe dergestalt anstreichen können, als wannsie die heiligsten Leute wären. Mit ihren bleichen

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9.892 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 257Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Gesichtern simulieren sie das Fasten, mit ihren heuch-lerischen Tränen suchen sie die innersten Herzens-seufzer her, mit ihren beweglichen Lippen und lallen-den Zungen simulieren sie ein fleissig Gebet, mitihren Tritten, demütigen Gebärden und massvollenHaltung geben sie sich für Lichter auf Erden aus undstellen sich, als wann sie die Ehrbarkeit und dieDemut ganz gefressen, unter ihren langen Kutten dieHeiligkeit wohnen hätten; da sie doch verfluchte Sit-ten an sich haben und lauter Schurkereien begehen,und indem sie unterm Vorwande der Religion undunter dem Schild ihrer Mönchskutten von allen weltli-chen und ärgerlichen Beschwerungen frei sind, sonehmen sie das müssig erbettelte Brot denjenigen,denen es in der Welt sauer wird, vor dem Maule weg,und fressen, saufen und schlafen ohne Sorgen, undmeinen, das wäre die evangelische Armut, wann siemit Betteln und Müssiggang anderer Leute Schweissund Blut an sich ziehen; sie wären rechte demütigeLeute, wann sie in geringen Kleidern, barfüssig wieBauern, mit Stricken umgeben wie gefangene Stras-senräuber, mit geschorenen Köpfen wie die Narrengehen; es fehlen nur die Schellen an den Kappen, umsie wie die Fastnachtsnarren aussehen zu lassen. AlleSchmach, Schande und Verachtung um Christi willenmüssten sie leiden und auf sich nehmen, da sie dochvoller Hochmut stecken und prächtige Tituln an sich

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nehmen: sie sind Brautführer, Rectores, Präsides,Priores, Vicarii, Provinciales, Guardiani, Archiman-dritae, und ist kein ehrgeiziger Volk unter der Sonnenals sie.

Hier sollte es mir an Materie nicht ermangeln undich wollte noch viel von ihren bösen Taten sagen;aber es sind ihrer schon gar viel vor mir gewesen,welche von ihren Schandtaten allbereits genug gepre-diget und geschrieben haben.

Sehet, also haben diese lose Leute nicht allein vielfromme und rechtschaffene, ehrliche und religiose Pa-tres geschimpfet, sondern sie haben auch dieser heili-gen Väter heilsame Einsetzungen und Anordnungenverachtet und gleichsam vor ein Schaubhütlein gehal-ten. Derowegen will ich allhier diese gar nicht durch-gezogen haben, welche in die Fusstapfen dieser heili-gen Väter getreten und ihre Profession gut abwarten.Ich muss bekennen, dass ihre Reguln und Professio-nes heilig sind; ich muss bekennen, dass auch nochauf den heutigen Tag es so viel heilige Mönche gibetunter den Bettelmönchen, Einsiedlern und heiligenCanonicis Secularibus.

Aber gleichwohl ist auch nicht zu leugnen, dassUnter ihnen auch viel böse Schelmen, Unglaubigeund Abtrünnige sich befinden, welche diesen Ordengrosse Schmach und Schande antun. Und ist fürnehm-lich allhier unser Vorsatz gewesen, dass kein

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9.894 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 259Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Religionsorden jemals so fromm und züchtig gefun-den worden, darinnen nicht auch ein Irrtum oder son-sten andere Bosheiten gestecket und mit eingeschli-chen wären.

Ja wir lesen, dass bei den Engeln sind Abtrünnigeund Mamelucken, Totschläger bei unsern ersten Brü-dern, verworfene Propheten, verräterische Apostelund untreue Discipul Christi; auch unter den römi-schen Päpsten sind viel Spaltungen-Lehrer und Ketzergewesen. Ja auch ein Weibsbild, welche Johannes Oc-tavus ist genennet worden, und hat den ApostolischenStuhl zwei Jahre, etliche Monat und Tage zu aller Zu-friedenheit regieret; und diese hat, welches sonstendem weiblichen Geschlechte versaget ist, heiligeOrden konferieret, Bischöfe gemachet, Sacramentaadministrieret und andere päpstliche Ämter ausge-übet; und ihre Facta sind nicht revozieret worden.Also machet der gemeine Irrtum ein Recht, und diesehat es so weit gebracht, dass die Kirche ist gezwun-gen worden zu dissimulieren und zu billigen dasjeni-ge, was sonsten die Schärfe des geistlichen Rechteskeinesweges zugelassen hätte. Also sehet ihr, dassman auch in der Kirche und Religionssachen nichtsBeständiges finden kann.

Diejenigen aber, welche in der Kirchen gewisseSekten einführen, und solches ihres Gewinnstes hal-ber, oder wegen simulierter Heiligkeit tun, dieselben

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sollen wie Nadab und Abihu, als sie fremd Feuer aufden Altar Gottes bracht haben, verbrannt werden,welche aber als angesehene stolze Leute mit verruch-ten Lehren und Meinungen wider die Kirche sich auf-lehnen und Ketzereien einführen, die sollen, wie Da-than und Abirom von der Erde verschlungen und le-bendig in die Hölle gestossen werden. Die aber, sodie Einigkeit der Religion aufheben und ChristiGliedmassen teilen und die Kirche Gottes plagen, diesollen mit der Strafe, die Jerobeam angetan ist wor-den, ausgerottet werden.

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9.896 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 261Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXIII.

De arte meretriciaoder

Von der Hurenkunst

Nun ist noch etwas übrig; weil bei den Ägyptiernals ersten Erfindern des Religion-Wesens niemandkonnte zum Priester gemachet werden, welcher nichtin die Mysterien des Priapus war eingeweihet worden,also hat auch unsere Kirche den Gebrauch, dass derje-nige, welcher keine Hoden hat, nicht kann Papst wer-den. Daher kann kein Beschnittener, kein Eunuchusoder Castrate in Priesterorden kommen, und wir sehenöffentlich, dass, wo stattliche Kirchen und prächtigeMönchsklöster und Collegia sind, da werden auchmeistenteils in der Nähe Hurenhäuser sein; ja der mei-sten Nonnen und Beguinen Privathäuserchen werdenHurenhäuser sein, welche die Mönche und Religiösen(damit nicht ihre Keuschheit durchgezogen werde)unter ihrer langen Mönchskutte und männlichen Klo-sterhabit ernähret haben.

Dahero hat es uns gefallen, ob es gleich ausser derOrdnung scheinet zu sein, etwas von dieser Huren-kunst zu schwatzen, welche, dass sie bei einer wohl-bestellten Republik nicht allein nützlich, sondern

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9.897 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 261Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

auch notwendig sei, viel Verständige dafür gehaltenhaben. Denn Solon, der grosse Gesetzgeber der Athe-nienser und einer aus den sieben Weisen (nach demOraculo Apollinis, wie Philemon und MenanderZeuge sind), hat bestimmt, dass man der Jugend Hür-gen kaufen und schaffen sollte; und er ist der Erste ge-wesen, der den Tempel Veneris Pandemi aus demSchandlohn der Huren errichtet und Hurenhäuser ge-ordnet, Ihnen gewisse Gesetze sanzieret und mit Frei-heiten bestätiget hat. Die Huren sind auch in Grie-chenland in solchen Ehren gehalten worden, dass, alsder Perser in Griechenland eingefallen ist, so habendie Huren zu Korinth um Wohlfahrt des Vaterlandesim Templo Veneris öffentlich gebetet. Es war auchder Gebrauch bei den Korinthern, dass, wann sie dieGöttin Venus um eine wichtige Sache anrufeten, sowurde es den teuren befohlen. Viel Hurentempel sindzu Epheso aufgebauet worden und haben einen der-gleichen die Abydeni für sich zu erbauen erlaubet,weil sie ihre verlorene Freiheit durch Huren wiedererlanget haben.

Der weise Aristoteles selber hat dafür gehalten undnicht gezweifelt, dass man den Huren göttliche Ehreantun sollte, wann er seinem Kebsweibe, der Her-miae, gleich wie der Göttin Cereri geopfert hat.

Aber diese Invention wird der Veneri zugeschrie-ben, weswegen sie auch unter die Zahl der Götter ist

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9.898 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 262Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

gerechnet worden. Denn diese, als eine unverschämteund aller bösen Lüste voll, die hat am ersten den Wei-bern in Cypern gewiesen, wie sie mit ihren Leibernhaben können Geld verdienen; also ist bei den Cy-prianern (wie Justinus erzählet) ein Gebrauch auf-kommen, dass ihre Jungfern bei vorstehender Hoch-zeit, und wann sie wollten eine gewisse Mitgift erlan-gen, sich öffentlich bei dem Ufer des Meeres musstenprostituieren und also Geld verdienen, vor ihreKeuschheit aber mussten sie der Veneri ein gewissesOpfer bezahlen. Bei den Babyloniern auch (wie Hero-dotus Zeuge ist) ist der Gebrauch gewesen, dass dieje-nigen, welche das ihrige ganz und gar verzehret ge-habt, ihre Töchter zu solcher Bauch-Nahrung ange-halten haben. Aber Aspasia, eine Sokratische Hure,die hat Griechenland, wie Athenäus schreibet, mitHuren so voll gefüllet, dass wegen ihrer Liebe vondem Pericle, wie Aristophanes saget, und wegen etli-cher durch die Megarenser entraubten Dirnen der pe-loponnesische Krieg ist angefangen worden.

Diese Hurenkunst hat der Kaiser Heliogabalustrefflich rausgestrichen und in Ehren gehalten, alsodass er (wie Lampridius Zeuge ist) seinen Freunden,seinen Vasallen und seinen Knechten gewisse Huren-häuser hat bauen lassen; er hat grosse Gastereien zuzweiundzwanzig Gängen gegeben, aber bei einemjedweden Gerichte haben sich die Gäste mit ihren

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9.899 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 263Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Huren müssen lustig machen und sich hernach wiederwaschen, und haben ein Jurament müssen ablegen,dass sie wirklich miteinander haben zu tun gehabt.Auch hat er oft die Huren von den Hurenwirten gelö-set und losgemacht, und unterweilen für eine schöneHure dreissig Pfund Silber bezahlet; auch wird gesa-get, dass er einsmals auf einem gewissen Tag alleHuren auf die Theatra und Amphitheatra hat kommenlassen, und einer jedweden einen Dukaten geschenket.Einsmals hat er auch alle Huren aus den Komödien,Fechtschulen, Theatris und Bädern in gewisse Häuserkommen lassen und eine militarische Revue gehalten,sie seine Kameraden und Kommilitonen genennet undmit ihnen disputieret von allerhand Unflätereien undbösen Lüsten, hernach hat er einer jedweden alseinem tapfern Soldaten drei Goldkronen zum Donativgegeben. Auch ehrbaren römischen Matronen, diehernach Lust zu huren bekommen, die hat er nicht al-lein ungestrafet gelassen, sondern denselben darzuFreiheiten gegeben und aus dem publico aerario ge-wisse Besoldung geordnet. Er hat gewisse Liebes-und Huren-Senatus-Consulta unters Volk bracht, wel-che man nach seiner Mutter oder nach seinem WeibeSenatus Consulta Semiramia hat heissen müssen.

Ich übergehe nun anjetzo Judam, der Israeliter Pa-triarchen, den grossen Hurer; ich übergehe Samson,den Richter des Volkes Gottes, der nichts als Huren

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9.900 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 263Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

zu Eheweibern gehabt; den weisen Salomon, denKönig der Jüden, der ganze Herden unzähliger Hurengehalten hat; auch Caesarem Dictatorem, der sonstenein vortrefflicher Mann gewesen, aber wegen diesesLasters ein Weibermann genennet worden; ferner denSardanapalum, den Babylonier-Monarchen, und ande-re mächtige unzählige Hurenpatrone mehr. Proculus,der römische Kaiser, hat in dieser Hurenkunst einenicht geringe Ehre weggetragen. Aber das ist nichtsdagegen, was bekanntlich die Poeten vom Herkuleschwätzen, dass er in einer Nacht fünfzig Jungfernsoll zu Weibern gemachet haben.

Sonsten hat diesen schönen Hurenorden auch nichtwenig gezieret die Sapho, und sonsten eine gewisseLeontion, welche in der Philosophie trefflich ist exer-zieret gewesen, also, dass diese wider den Ehestandund zugunsten der Huren gegen den Theophrastumhat ein Buch geschrieben. Zu diesen kann auch geset-zet werden Sempronia, die in Griechenland und in Ita-lien ist gebildet worden; auch nicht zu vergessenLeäna, eine dem Athenienser Aristogiton gar treueHure, welche, als sie von einem Tyrannen, dass sieeinen gewissen Freund verraten sollte, gemartert wor-den, hat sie alle Marter beständig ausgehalten undnicht ein Wort geredet.

Rhodope, die Hure, hat diese Kunst auch edel ge-machet; sie ist des Aesopi des Fabelschreibers

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Stubengesellin und Mitsklavin gewesen, und hatdurch ihr Hurenhandwerk soviel Geld und Gut zu-sammen gebracht, dass sie ein Wunderwerk der Welt,nämlich die dritte Pyramidem, auf ihre eigenen Unko-sten aufgebauet hat. Dieser hat gefolget die Thaïs zuKorinth, welche, wegen ihrer vortrefflichen Schön-heit, nur von Königen und Fürsten hat dürfen geliebetund angerühret werden. Am meisten aber hat dieseKunst erhoben die Messalina, des Kaisers ClaudiiEheweib.

Zu diesen könnten wir noch wohl bei unsern Zeitensetzen Johannam, die bekannte Neapolitanische Köni-gin, und viele Fürstenweiber, auch die PalatinischenHuren, wann es uns nicht Gefahr brächte, dieselbenzu nennen; und ob sie gleich durch das gemeine Ge-schrei so bekannt sind, so sind sie doch in diesem Fallvon andern Huren unterschieden, dass sie wider dasHeliogabalische Gebot nicht in den öffentlichen Hu-renhäusern, wie Messalina die Kaiserin, sondern angewissen Orten sich heimlich haben prostituieren las-sen, und mit einer artigen List ihre Hurerei getrieben.

Wir könnten zwar auch in diese Zahl des KaisersOctaviani Augusti seine Tochter und Tochterkind,beide Julia genannt, wie auch die Populeam und Cleo-patram, die Königin in Ägypten , bringen und andereberühmte hohe Huren mehr, wie auch die Semirami-dis und der Pasiphaës Exempel, unter welchen diese

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9.902 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 265Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

so unzüchtig gewesen, dass sie nicht allein ihren eige-nen Sohn zur Unzucht angereizet, sondern auch in einPferd verliebet worden ist. Ja des Königs MinoisFrau, die hat sich einem Ochsen gesellet. Wir wollenaber gleichwohl hier nicht einen Catalogum über dieberühmtesten Huren rausgehen lassen; doch könnenwir dieses nicht verschweigen, dass die Huren undEhebrecherinnen und ihre Begierden uns die grösstenHelden haben am Tag gebracht, nämlich den Hercu-lem, den Alexandrum, Ismaëlem, Abimelech, Salomo-nem, Constantinum, Clodovigum, der Franken König,und Theodoricum Gothum, Wilhelmum Normannum,Raymirum Arragonensem. Auch die Könige und gros-sen Herren, die heutiges Tages regieren, derer werdenwenig sein, die recht ehelich gezeuget sind. Soschlecht werden heute zu Tage die Rechte des heiligenEhestandes ästimieret, dass nach Belieben die rechtenangetrauten Weiber werden abgeschaffet, verändertund andere an ihre Stelle angeschaffet; und die Söhneund Töchter werden so verheiratet, dass wir nicht wis-sen, ob sie im rechten Ehestande leben oder nicht. Ex-empel genug tun sich herfür, aber wir wollen uns mitwenigen, und die nur unlängst geschehen sind, jetzovergnügen lassen.

Hat nicht Ladislaus, der König in Polen, nachdemer die Beatricem zum Weibe genommen, und dadurchdas Königreich Ungarn erlanget, dieselbe wieder

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9.903 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 266Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

abgeschaffet, und ein Kebsweib aus Frankreich geho-let? Hat nicht Karl VIII., König in Frankreich, Mar-garetham, des Kaisers Maximiliani Tochter, abge-schaffet, des Schwiegervaters Braut geraubet und sichmit derselben trauen lassen? Welche hernach Ludovi-cus XII., als er sein Weib von sich geschaffet, zumWeibe genommen hat; und haben noch wohl die Päp-ste und Bischöfe in diese schöne Tat gewilliget unddazu geholfen, auch es für ratsam gehalten: damitman das Recht an die Bretagne erlangen möchte,könnte man das Recht des heiligen Ehestandes fahrenlassen. Es ist noch heutiges Tages, ich weiss nicht,was für einem Könige, eingeredet worden, dass er dasRecht habe, sein Weib, welches er nunmehro überzwanzig Jahre gehabt, abzuschaffen und ein Kebs-weib zu nehmen.

Aber wir müssen zu unsern schönen Hürgen wie-derkommen und ihre artigen Ränke und Tücke anse-hen; nämlich wie die Keuschheit aufgeopfert wird, mitwas für leichtfertigen Augen, mit was für Winken desGesichtes, mit was für Verstellung des Leibes, mitwas für schmeichelndem Liebkosen und Reden, mitwas für unzüchtigem Betasten und Fühlen, mit wasfür Schminke und unzüchtigen Habiten sie ihre Lieb-haber einangeln. Alle diese ihre Hurenstückgen, Arg-listigkeiten, Fangstricke und Stratagemata werden unsvon den Poeten beschrieben, und wer da will, der mag

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9.904 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 266Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

sie von Ihnen als ein trefflich Geschenk fordern.Wer aber wissen will, wie dieses Hurenspiel recht

zu spielen sei, und was für geschmierte Worte, An-blicke, Reden, Küsse, Anrühren, Anmäulen, traurigeMienen, Hinstreckung aufs Faulbette, gebundene undklagende Mienen; was für listige Hurenränke manbrauchen soll, der muss der Medicorum Bücherdurchstänkern, und da wird er von dieser Materiegenug finden, und oftermals sogar überaus schand-bare Sachen, dass einem die Ohren davon gellenmöchten.

Sonsten haben von Huren gewisse Bücher ge-schrieben Antiphanes, Aristophanes, Apollodorus undCalistratus. Insonderheit aber hat das Lob der HureLaidis artig beschrieben Cephalus Rhetor, und derNaidis ihren Ruhm der Alcidamus. Von der Huren-liebe aber so wohl griechisch als lateinische Autores,als der Callimachus, Philotes, Anacreon, Orpheus,Alcaeus, Pindarus, Sappho, Tibullus, Catullus, Pro-pertius, Virgilius, Iuvenalis, Martialis, Cornelius Gal-lus und viel andere mehr, und haben nicht dadurch so-wohl eines Poeten, sondern eines Kupplers Amt ver-richtet. Aber alle diese übertrifft Ovidius in seinenHeroicis Epistolis und in den Gedichten, welche er adCorinnam geschrieben hat, und sonderlich das Buch»von der Kunst zu lieben«, welches er besser von derKunst zu huren und Huren zu halten hätte intitulieren

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9.905 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 267Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

sollen, weswegen ihm solches, und dass er der Jugendmit schamlosen Lehren ist an die Hand gegangen, vondem Kaiser Octaviano Augusto ausgewiesen und erad Getas relegieret worden ist. Auch der lazedämoni-sche Archilochus selbsten hat vor Zeiten geboten,dass alle Liebesbücher sollten verbrannt werden, undgleichwohl werden sie noch heutiges Tages von unsgelesen, und von unsern Schulmeistern den Discipuln,welches zu bejammern ist, gelehret, und werden auchnoch wohl gar Commentaria darüber gemachet. Ja ichhabe noch neulicher Zeit gesehen und gelesen einBuch sub Titulo Cortisanae, in italienischer Sprachegeschrieben und zu Venedig gedruckt, von der Huren-kunst, wie Manns- und Weibspersonen solche rechtperfekt begreifen und lernen sollen; fürwahr ein rechtschändlich Werk und wäre zu wünschen, dass dasBuch mitsamt dem Autore möchte ins Feuer geworfenwerden.

Ich will hier nicht berühren der Jean Potagen ihreverfluchte Tänze und schändliche Actiones und zwar,solches mit gutem Bedacht, obgleich der grosse Ari-stoteles diese auf gewisse Masse gebilliget und derKaiser Nero sie mit dem Namen einer Ehe geehrethat, zu der Zeit, da Paulus den Römern den Zorn desallmächtigen Gottes angekündiget: denn Gott wirdNetze über sie regnen lassen, dass sie nicht entfliehenkönnen; Feuer, Schwefel und Pech wird ihnen zu

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9.906 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 268Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Lohn werden. Wider diese heisset der christliche Kai-ser alle Gesetze aufwachen, und alle Gesetze sichwaffnen, um die verdiente Strafe ihnen anzutun; heuti-ges Tages werden sie mit Feuer verbrannt. Moyses inseinen Gesetzen will solche Laster weggetan wissen,wie auch Plato in seiner Republik. Die alten Römerhaben solches auch ernsthaft gestrafet (wie Valeriusund andere Zeugen sind); an dem Q. Flaminio, wel-cher von dem Coelio ist getötet worden, haben wir einExempel.

Aber wir wollen unserer keuschen Ohren schonen,und von dieser brutalischen Lust und Unreinigkeitwieder auf die Huren kommen; denn einem jedwedenist diese Lust und Begierde gleichsam angeboren, undwird niemand sein, der dessen Feuer nicht in etwasbei sich fühlen sollte. Aber anders brauchen sich die-ser Lust die Weiber, anders die Männer, anders dieJünglinge, anders die Alten, anders vornehme Leute,anders Arme; und welches denkwürdig und wunder-lich ist, nach Art der Nationen und der Örter: andersdie Italiener, anders die Spanier, anders die Franzo-sen, anders die Teutschen. Also werden wir durch die-ses Lustfeuer angezündet nach Gelegenheit des Ge-schlechtes, des Alters, der Dignität und Unterscheidder Nation, und machen uns unterschiedene Gebräu-che, diese Unsinnigkeit zu begehen. Der MännerLiebe ist heftiger, der Weiber halsstarriger; der

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9.907 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 269Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

jungen Leute leichtfertiger, der Alten lächerlicher. DerArme sucht zu gefallen durch Gehorsam, der Reichedurch Geschenke; der gemeine Pöbel durch Schwel-gen mit Fressen und Saufen; die Hohen durch Prachtund Ansehen.

Der schlaue Italiener der betet Pathicam oder dasLiebessubjektum an, und verbirget seine Brunst miteiner zierlichen Leichtfertigkeit, indem er die Personmit schönen Versen lobet und für allen rausstreichet;ist der Eifer da, der wird sie stets in acht nehmen, undgleichsam gefangen halten; ist er aber in der Liebe be-trogen und desperieret de recuperanda pathica, sowird er sie verfluchen und vermaledeien.

Der unbedachtsame Spanier, der ist in seinerBrunst so ungeduldig und unsinnig, dass er von seinerunruhigen bösen Lust ganz zu Boden fället, und be-weinet mit elendem Lamentieren sein Liebefeuer; errufet Pathicam an und betet sie an; erhält er aber, waser will, so verzehret sich der Eifer bald bei ihm; erprostituieret sie, wann er aber nicht kann darzu kom-men, so verflucht er sich selbsten und will sich denTod antun.

Der leichtfertige Franzose, der suchet alles durchNachgiebigkeit zu erlangen, und Pathicam durchScherze und anmutige Lieder zu ergötzen; wann nunder Eifer zuerst über ihn kommt, so ist er traurig;kann er aber nicht zu seinem Ziel kommen, sondern

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9.908 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 269Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

muss abtreten, so schändet und schmähet er, und dro-het, wie er sich rächen will, brauchet auch wohl garGewalt; hat er erlanget, was er gewollt, so ist sie ihmbald nicht mehr gut genug, sondern er suchet eine an-dere.

Der kalte Teutsche aber der kommt gar langsam zudiesem Brande; ist er aber einmal in Harnisch ge-bracht, so hält er an, und fordert durch Geschenke Ge-währung; ist der Eifer bei ihm, so stellt er seine Frei-gebigkeit ein; krieget er eine Nase, so ist's, als wannihm nichts darum wäre; ist aber der Handel angangen,so lässet die Hitze bald bei ihm nach, und wird baldwieder kalt.

Der Franzose stellet sich verliebet, der Teutscheverbirget seine Liebe, der Spanier überredet sichselbst, dass er geliebet werde, der Italiener aber weissnicht ohne Eifer zu lieben. Der Franzose liebet eineAnmutige, ob sie schon nicht schön ist; der Spanierliebet eine Schöne, wann sie gleich träge und indolentist; der Italiener will lieber eine Schüchterne, derTeutsche begehret eine mehr Kühne und Freche. DerFranzose wird mit seinem halsstarrigen Lieben end-lich gar aus einem Weisen zum Narren; der Teutschevertut das Seinige alles darüber und wird wohl end-lich klug, aber zu spät; der Spanier fänget wegen derLiebe grosse Sachen an; der Italiener, dass er nur derLiebe gemessen mag, verachtet alles.

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9.909 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 270Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Wir erfahren es, dass auch die grössten Männer,die sich in diese Liebesstricke verwickelt haben, vielruhmwürdige Taten oftermals negligieret und mit demRücken angesehen haben, wie in Ponto Mithridates,zu Capua Hannibal, in Alexandria Cäsar, in Grie-chenland Demetrius, in Ägypten Antonius. Der Her-kules ist von seinen trefflichen Taten abgestandenwegen der Jole. Achilleus hat sich nicht in den Kampfbegeben wollen wegen der Briseide; die Circe hat denUlyssem aufgehalten; Claudius ist wegen der Virginiaim Kerker gestorben; der Cäsar wird durch die Cleo-patra zurückgehalten, und diese war auch des AntoniiRuin und Untergang.

Die Heilige Schrift saget uns, dass wegen der Hu-rerei der Söhne Seth mit den Töchtern Cain fast dasganze menschliche Geschlecht durch die Sündflut um-kommen sei. Wegen der Hurerei ist Sichem und dasHaus Emor, und fast der ganze Stamm Benjamin aus-gerottet worden. Wie oft ist das israelitische Volkwegen Hurerei mit ausländischen Weibern geschlagenund in die Dienstbarkeit verjaget worden. Und washat das Land wegen des einigen Königes Davids Ehe-bruch für Niederlagen an Hunger, Pest und Kriege er-litten? Wegen der Hurenliebe und Weiberraub sinddie Thebani, die Phocenses, die Circejenses bekriegetund vertilget worden, und der Peloponnesische Kriegist selbsten - wie gesagt - von dem Pericle

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9.910 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 271Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

angefangen worden; und durch einen zehnjährigenKrieg ist Troja nicht ohne sonderbaren Schaden desganzen Griechenlandes und Asiae erobert worden.Eben dieser Ursachen wegen haben Tarquinius, Clau-dius, Dionysius, Hannibal, Ptolomäus, M. Antonius,Theodoricus Gothus, Rodaldus Longobardus, Childe-ricus Francus, Wencelaus Bohemus und ManfredusNeapolitanus den Tod und des Vaterlandes Ruin lei-den müssen.

Wegen der Canä Julia, einer Tochter des Präfektenvon Tanger, welche der König Rodericus stuprierethat, haben die Sarraceni ganz Spanien eingenommen.Heinrich, der andere, König in Engelland, ist wegenSchändung seines Sohnes-Weibes, die des französi-schen Königs Philippi Schwester war, von seinemSohne aus dem Reiche verjaget worden.

Ihrer Männer Hurerei wegen haben erzürnte Wei-ber, als Klytemnaestra, die Olympia, Laodicea, Bero-nica, Fredegonda und Blancha, beide Königin inFrankreich, und die Johanna Neapolitana und viel an-dere mehr ihre Männerunis Leben bracht. Eben dieserUrsachen wegen haben die Medea, Procne, Ariadne,Althaea und Heristilla ihre mütterliche Liebe in einengreulichen Hass verwandelt, und ihre Kinder getötet.Auch in folgenden Zeiten haben viel Weiber ihrerMänner Hurerei gerochen und solches den Kindernentgelten lassen, und sind aus liebevollen Müttern

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9.911 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 272Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

grausame Medeen, jähzornige Althaeen und unbarm-herzige Heristillen worden.

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9.912 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 272Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXIV.

De lenoniaoder

Von der Hurenwirtschaft oder Kupplerei

Dieweil aber durch Einraten und Hilfe der Huren-wirte und Kupplerinnen die Hurer und Huren ihreböse Tat begehen, so wollen wir die Kunst dieser Hu-renwirte und Kupplerinnen ein wenig genauer be-trachten. Denn, gleich wie die Hurerei eine Kunst ist,seine eigene Keuschheit zu prostituieren, also ist dieKupplerei die Kunst, eines andern Keuschheit zu at-tendieren und einzunehmen, und ist diese um so grös-ser denn die Hurerei selbsten, als sie verruchter ist.Sie ist mächtiger, weil sie mit der Leibgarde vielerKünste begleitet wird, auch schädlicher, weil sie un-terschiedene Disziplinen vieler Künste und Wissen-schaften in sich begreifet, in welche sie, als wie dieSpinnen, hineinkreucht, und was in einer jedwedenDisziplin und Wissenschaft für Gift ist, das zeuchtdiese verfluchte Kunst an sich und machet daraus ihrSpinnenwebe; nicht zwar wie die Spinnen, welche dieVögel fliegen lassen und die Fliegen fangen, auchnicht wie die grossen Jägernetze, welche die grossenTiere behalten, die gar kleinen aber durchschlupfen

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9.913 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 273Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

lassen, sondern sie machet so starke und feste Bande,dass kein Mägdlein, sie mag gleich einfältig oder ver-schmitzt, beständig oder wankelmütig sein, sie maggleich schamhaftig und furchtsam oder hochgemutoder kleinmütig sein, wann sie einmal der KupplerinGehör gibet, so bleibet sie gleich in ihrem Garne han-gen.

Es ist bei ihnen eine so verschmitzte Arglistigkeit,dass keine weibliche Vorsichtigkeit sie überwindenkann; ihren Stricken kann kein Mägdlein, keine Ma-trona, keine Witwe, keine heilige Nonne nicht entge-hen; ihr schwaches Kriegeswesen hat mehrer WeiberSchamhaftigkeit zuschanden gemachet, als sonstenjemals ein grosses Kriegesheer; ihr Betrug, List, Ver-schlagenheit und Witz kann nicht ausgesonnen nochausgesprochen werden. Und obgleich diese Kunst inbeiden Geschlechtern viel Lehrmeister und Unterwei-ser hat, so gibet es ihrer doch wenig, die darinnenausgelernet haben. Es ist aber kein Wunder. Dennweil so viel Arten der Kupplereien als Disziplinenoder Künste und Wissenschaften sind, so kann dochdiese Kunst nicht zur Perfektion gebracht werden,wann man nicht alle Künste, alle Wissenschaften undDisziplinen wohl innen hat.

Derowegen muss ein rechter perfekter Kuppler oderKupplerin alles wissen, und dürfen diejenigen, sodiese Kunst exerzieren, nicht nach einer Disziplin,

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wie nach dem Arktischen Sterne allein sehen, sondernsie müssen sich um alle bekümmern; dieser Kunstmüssen alle andern Disziplinen dienen. Denn diesersind gleichsam alle Wissenschaften Dienerinnen; siemüssen alle der Kupplerei dienen. Denn erstlich kom-met die Grammatica, als eine Disziplin zu reden undschreiben und weiset ihr, wie sie Liebesbriefe schrei-ben soll, wie sie solche Briefe mit amatorischen Grüs-sen, mit Liebesgebetchen, mit Lamentieren und liebli-chen Schmeicheleien anfüllen soll, wie aus den neuenSkribenten, von dem Aenea Sylvio und von JacoboCaviceo und andern mehr dergleichen beschrieben ge-schehen. Aber es ist noch eine andere grammatischeArt oder Art zu schreiben, nämlich eine Art, verblü-met zu schreiben, wie wir von dem Archimede Syra-cusano bei dem Aulo Gellio lesen, von welchemKunststück Trithemius, der Spanheimische Abt, fürwenig Jahren zwei gelehrte Bücher geschrieben unddas eine Polygraphiam, das andere Steganographiamgenennet hat; in dem letzten hat er gewisse Secreta,wie man auf viel Meilen Weges seines Herzens undGemütes Gedanken offenbaren kann, gewiesen, wel-chen weder die allwissende Eifersucht der Junonis,noch der Danaë Aufsicht und genaue Hütung wider-stehen, noch der hundertäugige Argus, der doch sonstalles siehet, mit seiner Wachsamkeit erforschen kann.Fürwahr eine Kunst, nicht sowohl den Königen nötig,

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als solchen Kupplern und allen Liebhabern bequem.Nun kommt auch an die Reihe die Poësis, welche

mit ihren leichtfertigen Reimen und Fabeln, Liebeslie-dern und Hirtengesängen, mit ihren Komödien undLiebeskunstreguln, und also mit ihren schändlichenund aus der Veneris innerstem Zeughause rausgenom-menen garstigen Carminibus dieser Kupplerei dieHand bieten, alle Ehrbarkeit und Schamhaftigkeit aufeinmal übern Haufen werfen, und der Jugend ihre guteSitten und Art in Grund verderben. Derowegen sollendie Poeten unter den Kupplern billig obenan sitzen,derer an der Zahl bei den Alten genug gewesen sindund welcher wir im vorhergehenden Kapitel von derHurenkunst allbereits gedacht haben. So gibet es ihrerauch noch heutiges Tages, welche solche pestilenzi-sche Carmina schreiben, welche unter vieler LeuteHänden herumgehen. Nach diesem müssen wir auchzu ihnen die Rhetores setzen, als Künstler derschmeichlenden Betrügerei und Überredung, und alsnützliche Werkzeuge der Kupplerei, denen die GöttinSuadela gar gnädig ist. Hier müssen wir auch Platzmachen für die Historienschreiber, und fürnehmlichfür die, die Romans oder Liebeshistorien geschriebenhaben, als die des Lancelotus, Tristanus, Eurealis, Pe-legrinus, Callistus und mehr dergleichen, in welchender Jugend die Hurerei und Ehebruch genug gewiesenund beschrieben wird; es ist kein Geschütz so mächtig

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9.916 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 275Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

ein Schloss einzunehmen, als das Lesen solcherleichtfertiger Liebesgeschichten, welches weit eher dieSchamhaftigkeit einer Matrone oder Witwe, und dieKeuschheit eines jungen Mägdleins bezwingen undüberwinden wird. Ja, es wird fast keine ehrliche Frauzu finden sein, welche nicht vom Lesen solcher Lie-besbücher sollte korrumpieret werden; und ich wolltees für ein recht Wunderwerk halten, wann nicht eineFrau, sie möchte so ehrbar und züchtig sein als siewollte, durch das Lesen dieser Liebeshistorien solltevon diesem Liebesfeuer angezündet werden. WelchesMägdlein nun im Lesen solcher Historien sich wohlexerzieret und gewisse Sprüche daraus gelernet hat,und weiss daraus mit andern Schandsäuen und mitihren Liebhabern viel Stunden lang wohl zu schwat-zen, die wird für eine rechte perfekte Hofdame gehal-ten.

So haben wir auch erfahren, dass viel Historiciselbst Kuppler gewesen sind, derer Namen in Ob-scuro geblieben sind. Ja auch viel von sehr berühmtenSkribenten haben sich auf diese Art zu schreiben gele-get, und ist zu unsern Zeiten und aus den Neuen Ae-neas Sylvius, Dante, Petrarcha, Boccatius, Pontanus,Baptista de Campo fregoso und der andere Baptistade Albertis von Florenz, wie auch Petrus Hoedus, Pe-trus Bembus, Jacobus Caviceus, Jacobus CalandrusMantuanus und viel andere mehr; unter welchen aber

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9.917 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 276Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Johannes Boccatius die andern alle übertroffen, derhat das Ehrenkränzchen und Zierdank von den Kupp-lern und Kupplerinnen bekommen, und zwar meisten-teils in denselben Büchern, welche er Centum Novel-larum titulieret hat, worinnen nichts anders zu findenist, als leichtfertige und tiefausgesonnene Stratage-mata für solche Kuppler.

Wann nun eine ehrbare und sonst schamhafte Frauauch in dieses Garn soll gebracht werden, so müssendie Spitzfindigkeiten der Dialectica auch was darbeitun, und diesen Kupplern eine Hilfe sein, wie dieFabel der Myrrhae bei dem Ovidio Zeugnis gibet. Sosind auch die arithmetischen Spiele aus den mathema-tischen Disziplinen den Kupplern sehr dienlich, unddie Musica ist ihnen lauter Zucker und Honig; denndurch deren süsse Stimmen und verfluchte pestilenzi-sche Gesänge und Melodien, welche nichts als Anrei-zung zu den Wollüsten sind, wird das Gemüte zueiner Leichtfertigkeit und Verderben erweichet, alsodass es seine guten und ehrbaren Sitten ableget und insolche leichtfertige Begierden spornstreichs hineinrennet; und da muss auch dabei sein die Gelegenheitzu tanzen und zu springen, da die Leute mit ihrenLiebchen frei reden können, Gelegenheit haben zuherzen, mit ihren unverschämten Händen zu greifenund zu tasten, und endlich gar in dunkle Versteckeoder dahin zu kommen, da das Frauenzimmer, wie

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9.918 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 277Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

man zu sagen pflegt, kein Fundament hat. Hier beidiesen Kupplern muss auch ein geometrischer Bau-meister einen Platz haben, der ein heimlich Fensterweiss zu machen, damit der Liebhaber durch ein solchheimlich Schlupfloch des Nachts zu seinem Liebchenauf einer Leiter einsteigen kann; da muss der Schlos-ser einen verborgenen Haupt- oder vielmehr Huren-schlüssel machen, wie dergleichen einen Dädalus derPasiphaë verfertiget hat. Nun lasset auch die Malerherkommen; denn oftermals lernen Weibsbilder, obsie schon nicht lesen können, doch solche schandba-ren Sachen aus den Gemälden und merken viel mehrdaraus, als andere aus den Büchern, indem sie biswei-len solche garstige Bilder in ihre Kammern setzen undihre Leichtfertigkeit darnach praktizieren und nach-machen; also wird nicht weniger durch das Auge alsdurch das Ohr des Menschen Gemüte korrumpieretund verderbet; denn es gehet sowohl zu Gemüte, wasman höret, und werden die Menschen sowohl durchgarstige Gemälde, als durch gegenwärtige Wirklich-keit zur Wollust angereizet; dergleichen schöne Bil-derchen haben wir genug; da ist die Venus Gnidiavom Praxitele, wie sie in dem Tempel stuprieret wird;da ist der Cupido desselben Künstlers, in den sich einRhodischer Jüngling verliebte, und die Statue der For-tuna, die von einem Athenienser so heiss geliebtwurde, dass er starb, weil er sie nicht kaufen konnte.

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9.919 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 277Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Der Terentius im Eunucho führet einen Jünglingan, der für Liebe brannte, als er das Gemälde gesehen,wie Jupiter durch den güldenen Regen die Danaënkorrumpieret hat. Dahero hat Aristoteles nicht unbil-lig den Malern eine gewisse Strafe gesetzet, die der-gleichen Bilder öffentlich zur Anreizung ausstellen.Und der Weise saget nicht vergebens: die Bilder undStatuen sind zu Versuchung der Seele und zur Schlin-ge des Lebens erfunden. Zu diesen Kupplern kommenauch häufig zugelaufen die Astrologi, die Chiroman-tes und Geomantes oder Wahrsager, die Somniatoresoder Traumausleger, die Ominatores oder Zuvorver-kündiger und dergleichen Völkchen mehr; die vertre-ten alle das Amt eines Kupplers, sie wahrsagen undverheissen den Liebhabern mit einem artlichen Betrugihres Schätzchens inbrünstige Gegenliebe und Affek-tion, schmieden oftermals schändliche und verboteneHochzeiten, die geschlossenen aber bringen sie oft zueiner Trennung und öffentlichen Ehebruch. Bei diesenKupplern nun suchen nicht allein die Weiber, sondernauch, welches Sünde und Schande ist, gar die Män-ner, wie sie sollen ihre Heirat recht antreten, und wiesie ein Schätzchen, das sie recht lieb haben könnten,bekommen möchten; und nach ihrem nicht so sehrnärrischen als vielmehr ruchlosen Einraten schliessensie die Heirat oder lassen sie fahren.

Ja es sind ihrer viel, die auf die Torheit und auf denPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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9.920 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 278Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

verteufelten Aberglauben kommen sind, dass sie mei-nen, dass sie durch diese astrologische Künste undStundenbefolgung eine, die sonst nicht liebet, zurLiebe zwingen könnten, wie hiervon Theocritus, Vir-gilius, Catullus, Ovidius, Horatius, Lucanus und an-dere schwätzhafte Poeten mehr gesungen haben. Auchdie Astrologi, die ebenso grosse Lügner, haben unssolches in ihren Büchern gelehret, womit sie, wanndie Kuppler ihnen nur Folge leisten, grossen Ge-winnst machen. Und hier gibet sich auch für den Tagdie Magia oder Zauberei, welche dieser Kunst auchnicht wenig zu Hilfe kommt, davon wird dieses ge-schrieben:

Quae se carminibus promittit solvere mentesQuas velit, ast aliis duras immittere curas.

Das ist: Sie kann durch Verse und gewisse Reimendie Gemüter der Menschen befreien, und andere nachBelieben in Sorgen stecken. Und dieses findet manbei dem Poeten Lucano:

Carmine Thessalidum dura in praecordia fluxitNon satis adductus amor.

Das ist: Durch Lieder und Zauberei der Thessali-schen Hexen ist eine unrechtmässige Liebe in das

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9.921 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 279Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Herze gezogen. Und bei dem Horatio hat die Canidia,bei dem Apulejo haben die Pamphilae ihre Liebhaberbezaubert, und in des Callisti Trauerkomödie hat dieKupplerin Coelestina Maeliboeam, das junge Mägd-lein, also eingeangelt; hierzu müssen auch kommendie Philtra und Pocula amatoria, oder die Liebes-tränke, welche sehr gefährlich sind, also dass sie of-termals an Stelle der Liebe eine schwere Krankheitoder wohl gar den Tod sich zuwege bringen. Durcheinen solchen Trunk ist Lucullus ums Leben kommen,und Lucretius hat dadurch seinen Verstand verloren.Wir lesen auch, dass ein Weib, welches mit einemLiebestrank einen Menschen ums Leben gebrachthatte, ist von den Areopagiten absolvieret worden,weil sie durch die Liebe zu solcher Tat bewegen wor-den war.

Aber es ist keine Wissenschaft unter allen, die sichzu dieser Kupplerei besser schicket, als die Medizin;die wirfet zu diesem Venusspiel die Würfel am bestenauf, und durch diese kann man ein Liebchen am erstenerhaschen; wie der Poet Lucretius davon singet:

Idque sui causa consuerunt scorta moveri,Ne complerentur crebro gravidaeque jacerent,Et simul ipsa viris Venus ut concinnior esset.

Das ist: Die Huren haben sich ihres VorteilesPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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9.922 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 279Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

halber gewöhnet, auf allerhand Arten und Weisen sichzu bewegen, damit sie nicht mögen schwanger wer-den, sondern den Dienst der Venus gefällig fortsetzenkönnen. Und durch dieses, der Medicorum heilsamesMittel lassen sich viel Matronen, viel junge Mägdleinaus gutem Hause und viel grosse vornehme Hofdamenwacker und sicher brauchen, und bedienen sich nochdarbei der alten Weibergaukeleien und anderer Kupp-lerinnenmittel mehr, welche in den medizinischen Bü-chern unter dem Titul de Decoratione oder von Schän-dung des Ehrentanzes zu finden sind; sie machen da-durch, dass ihre Ware einen guten Abgang habe, wel-che die Heilige Schrift Hurensalbe nennet, holen auchwohl gewisse Arzneien aus den Apotheken, die zu Er-weckung dieser bösen Lust dienlich sind. So kannkein Kupplerhaus bequemer und besser aufgerichtetwerden, als durch Praetext der Medicorum und derMedizin. Denn es ist ja kein Haus so verschlossen,kein Kloster so verwahret, kein Carcer so verriegelt,darein nicht ein kupplerischer Medicus sollte einge-lassen werden; dadurch auch (wie Plinius Zeuge ist)in der Fürsten Häuser sind Ehebrüche begangen wor-den, wie der Eudemus an der Livia des Drusi, und derVectius an der Messalina des Claudii erfahren haben.

Damit man aber auch nicht meinen möchte, alswann die Philosophi bei dieser schönen Kunst derKuppelei nichts zu tun hätten, so höret, was

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9.923 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 280Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Aristippus, der Cyrenaicorum Meister, darzu saget,welcher, als er nebenst andern Mitbuhlern bei derThaide, einer vornehmen Hure gewesen, und er sichberühmet: die Thais hätte die andern, er selbst hättedie Thais; andere gäben der Thaidi Geld und vertätenbei ihr das ihrige, er aber brauchte sich seiner Lustbei ihr umsonst. Also hat diese Hure diesen Philoso-phum für einen Kuppler gehabt; und hätte dieser nochbald Geld dazu bekommen, denn er musste sein Amtin acht nehmen, und die Jugend also anführen. Aber,es ist diesem Aristippo nicht genug gewesen, dass ersich für einen Kuppler ausgegeben, sondern er hatauch hernach angefangen, die Wollust zu rühmen undsie zu einer Angelegenheit seiner Schule zu machen.

Endlich so sind auch dieser Kupplerei fast alleArtes Mechanicae oder Handwerkskünste unterwor-fen, unter welchen die Seidenstickerkunst, die Näh-,Web- und Flickkunst, und andere Weiberkünste dievornehmsten sind, durch deren Vorwand die Kupple-rin, indem sie den Flachs, den Zwirn, Bänder, dieHauben und andere weibliche Zieraten, die Kränze,die Kleider, die Beutel, die Handschuh und anderedergleichen Sachen mehr rumtragen; und weil sie ausjungen Huren alte Kupplerinnen worden sind, so kön-nen sie ja die jungen Mägdlein besser an sich bringenund Gelegenheit mit ihnen zu reden nehmen; zu Ge-hilfinnen müssen sie auch Wäscherinnen haben,

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9.924 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 281Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

welchen vergönnet ist, frei in die Häuser zu gehen unddie Jungfern und Mägde in Abwesenheit der Mütterund Frauen zu besuchen und zu überreden.

Ja es finden sich unter den Kupplern endlich auchBettler, die unterm Prätext einer Almosengabe dieTüren an Häusern und Jungfernstuben in acht neh-men, und Geschenke, Post und Briefe den jungenMägdlein zubringen können.

Et ferunt ad nuptam dona, quae mittit adulter.

Das ist: Sie tragen die Geschenke hin und wider,welche die jungen Frauen von ihren Buhlern bekom-men.

So müssen auch die Kuppler adelige Exercitia ver-stehen und zu ihrem Handwerke gebrauchen, als daist das Turnieren, Reiten und andere Kriegesspiele;durch diese Lust hat Romulus das sabinische Frauen-zimmer weggefischet, und wie oft hat die Jägerei beiden grossen Herren Hurerei und Ehebruch zuwege ge-bracht; und dieses hat artlich beschrieben Virgilius andem Aenea und Didone, wie die Jägerei hierzu Gele-genheit gegeben hat; der Gott Jupiter selber hat dieHirten auf dem Felde zu Kupplern gebrauchet.

Was auch die Schiffer bei dieser Kunst zu tunhaben, das werden diejenigen gesehen haben, die zuVenedig gewesen sind.

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9.925 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 281Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Hier muss auch der Koch das seine tun, denn guteLeckerbissen stehen wohl bei einem Kuppler, wie unssolches Virgilius in seinen Aeneadibus gar fein expli-cieret hat:

Postquam prima quies epulis, mensaeque remotae,Crateres magnos statuunt, et vina coronant.Hic Regina gravem gemmis auroque poposcitImplevitque mero pateram... celebrate faventes.Dixit, et inmensam laticum libavit honorem,Primaque libato summo tenus attigit ore;Tunc Biciae dedit increpitans; ille impiger hausitSpumantem pateram, et pleno se proluit auro.Post allii proceres... Tyrii Troësque sequuntur;Nec non et vario noctem sermone trahebatInfelix Dido, longumque bibebat amorem.

Das ist: Nachdem man aufgehöret zu speisen, unddie Tafel abgeräumet, wurden grosse Becher und Kre-denz aufgesetzet. Da forderte die Königin noch einenandern grossen Becher von Golde mit Edelgesteinengezieret, welchen sie voll Wein geschenket und aufGesundheit aller guten Bekannten ausgetrunken. Nachdiesem überreichte sie ihn dem Biciae, welcher auchdenselben angenommen und mit grosser Behendigkeitausgeleeret, welches auch die andern trojanischenHelden nachtäten; und also brachte die unglückselige

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9.926 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 282Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Dido die ganze Nacht mit einem leichtfertigen Ge-spräch und Liebesübung zu.

Es soll ein Kuppler noch andere Kunststückchen ansich haben, so ich anjetzo nicht berühren will, welchedoch alle durchs Geld überwunden werden. Wann nundie Alchimisten, wie sie versprechen, im Goldmachenkönnten Satisfaktion geben, so würden fürwahr keinebessere und mächtigere Kuppler sein als diese; denndie beste Hurenherberge ist bei Gold und Silber.

Scilicet uxorem cum dote fidemque et amicos,Et genus et formam regina pecunia donat.

Das ist: Wer nur Geld hat, wenn er gleich von kei-nem hohen Stande oder sonderlicher Schönheit ist, sokann er doch nicht nur eine reiche Frau, sondern auchsonst noch viel andere gute Freunde und Schmausbrü-der nach Wunsch und zur Genüge überkommen.Durch Gold wird der eifersüchtige Mann versöhnet,durch Gold wird der Mitbuhler beweget, durch Goldwird eine verschlossene Tür geöffnet, durch Goldwird das Ehebette bestiegen, durch Gold werden diestein- und felsenfeste Bande des Ehestandes aufgelö-set; dahero ist es ja kein Wunder, wann ums Geld dieJungfern und jungen Mägdlein, die Matronen, dieWitwen, und Nonnen feil sind, ist doch Christusselbst ums Geld verkaufet worden.

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9.927 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 283Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

So haben wir auch Exempel, dass durch Anleitungder Kupplerei viele aus dem niedern Volke zu grossenund hohen Leuten sind gemachet worden; einer, derseine Frau andern unterlegen liess, wurde Ratsherr;ein anderer, der seiner Tochter Ehre an den Nagelhing, wurde zum Grafen gemachet; ein anderer, dereinem Fürsten eine Frau in die Arme besorget, wurdewacker salarieret und geheimer Kammerherr; ein an-derer, der sich einer königlichen Hure hat vermälenlassen, ist hoch ans Brett kommen und über grosseÄmter gesetzet worden; und ebenso sind oft fette Kir-chenbenefizien von den Kardinälen und vom Papstevergeben worden und hat man fast heutiges Tages kei-nen bessern und kompendiosern Weg als diesen.

Was auch die religiosische Andacht bei diesemHandel tut, das bezeuget die Historie der keuschenPaulinae, von dem Aegesippo beschrieben, welche diePriester der Isidis einem adeligen Jünglinge, der an-geblich ein Ägyptiergott war, zugeführt haben. Wasauch unsere Ohrenbeichte hierbei tun kann, das weisetdie in drei Teile eingeteilte Historie aus. Es mangelnmir nicht Exempel, und zwar gar neue, wann ich sienur dürfte für den Tag bringen; denn die Priester, dieMönche, die Klosterbrüder und -Schwestern, diehaben in dieser Kupplerei einen sonderlichen Vorzug;denn weil ihnen unterm Prätext ihrer heiligen Andachtvergönnet ist, alle Löcher zu durchgucken, und mit

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9.928 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 283Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

einem jedweden, wann und wo eines will, untermVorwande eines geistlichen Besuches, oder zu tröstenoder Beichte zu hören, alleine heimlich und ohne Zeu-gen zu reden, so sind ihre Kupplerstücke mit einerGottesfurcht bemäntelt. Manche unter ihnen machensich ein Gewissen daraus, Geld anzurühren; aber siefragen nicht nach den Worten Pauli: bonum est mulie-rem non tangere, es ist gut, keine Frau nicht anzurüh-ren; da es doch bei ihnen gar gemein ist, dass sie indie Hurenhäuser gehen, Nonnen stuprieren, schändendie Witwen und ihrer Wirte ehebrecherische Weiber.Ja bisweilen gar, wie ichs selbsten weiss und gesehenhabe, dass sie dieselben gar entführen und nach demplatonischen Gesetze mit andern ihren guten Kamera-den gar gemein haben; und anstatt dass sie ihrerBeichtkinder oder Untergebenen als Beichtväter ihreSeelen dem Höchsten zubringen sollen, so opfern sieihre Leiber dem höllischen Satan, ja sie begehendurch ihre verfluchten bösen Lüste und Begierdennoch wohl schändlichere Sünden, welche wir aberhier billig verschweigen wollen; und meinen nochwohl dabei, wann sie nur auf die Hurerei, auf denEhebruch, auf die bösen Lüste und andere dergleichenSachen weidlich schmähten, so hätten sie das Ihrigegetan. Also sehet, so lügen oftermals die schändlichenKuppler und Kupplerinnen unter einer Religionshautverborgen. Dergleichen Priester und solche hurische

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9.929 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 284Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Ratgeber brauchen gemeiniglich die grossen Hofda-men für ihre Seele und für ihren Leib.

Auch die weltlichen und geistlichen Gesetze gehö-ren zu den Waffen der Kupplerei; sie streiten zugun-sten grosser Herren für sündige Heiraten und gegendie rechtmässigen; sie treiben die Priester in die Hure-rei, indem sie ihnen anständige Ehen verbieten; dieseGesetzgeber wollen lieber, dass die Priester in Schan-de mit Konkubinen leben als in Ehren mit angetrautenFrauen, vielleicht weil die Gesetzgeber aus den Kon-kubinen grössern Profit ziehen. Wir lesen, ein gewis-ser Bischof habe sich beim Weine gerühmet, er habein seiner Diözese elftausend Priester, die im Konkubi-nat leben und deren jeder ihm darum jährlich einGoldstück zahle.

Vor Zeiten stund zu Rom im Templo Veneris einRatschluss auf zwei Tafeln eingegraben, welcher einHurengesetze und den Hurern und Kupplern trefflichfavorabel war; Petrus Crinitus hat uns das auf solcheArt explizieret: auf der ersten Tafel stunden die Rech-te und Freiheiten, die Huren zu besuchen, ihnen nach-zustellen, ihnen in die Ohren zu blasen, Mienen gegensie zu machen, sie zu grüssen, mit ihnen zu schwat-zen, vom Huren zu reden, und das sollte bei Tage nie-mand gewehret sein, sei es im Hause, in der Türe, imGarten, auf dem Hofe oder sonstwo; auf der andernTafel aber stunde, dass einem des Nachts vergönnet

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9.930 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 285Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

wäre, zu seufzen und zu lamentieren, alle Scham aufdie Seite zu setzen, zu bitten, die Zeit, den Ort und dieGelegenheit in acht zu nehmen, einander Briefe zuschreiben und durch solche ihnen die Hoffnung, denWillen, das Verlangen und die äusserste Not an Tagzu geben, es mag nun solches geschehen mit List oderBetrug, mit Gewalt oder Täuschung, wann nur einerdadurch ein Pfand oder einen Zutritt zu seinem Lieb-chen erlangen kann, es mag geschehen auf Art undWeise, wie es nun geschehen könnte. Von dem Ly-curgo ist auch ein Gesetze gegeben, wann einer, derschon zu seinen Jahren kommen, ein jung Mägdleinheiraten wollte, demselben sollte freistehen, einenhübschen Jüngling sich auszuersehen, so in der Fecht-schule der Venus bestanden wäre, der dem Bräutigamvorginge, nur dass der über dasjenige, was hernachgeboren würde, Vater genennet würde. Auch Solonhat ein Gesetz gegeben, dadurch den Weibern zuge-lassen, wann die Männer gar zu faule Reuter gewesen,dass sie einen andern aus seinen Verwandten habenmögen, mit dem sie sich in den Liebeskampf habenkönnen einlassen; aber was geboren würde, das hatdoch müssen ehrlich geboren bleiben. Wieviel giebtes noch heut zu Tag Weiber, und absonderlich beidenen von Adel, welche alljährlich ihren MännernHurenkinder einschieben und wann sie geborenhaben, so gehen sie hernach immer wieder auf ein

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9.931 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 286Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

neues böses Leben los, und sind schlimmer als Julia,des M. Agrippae Weib, welche keinen auf ihr Schiffkommen und aufsitzen lassen, es sei denn, dass dasSchiff voll gewesen ist.

Aus dieser theologischen Schule ist auch heutigesTages einer aufgestanden, der des Lycurgi und desSolonis Gesetze hat wollen in die Kirche einführen,der unbesiegte Ketzer Martinus Luther; ihr sehet also,dass auch Theologen Kuppler sein können.

Die Lobsprüche der Bibel selbsten (wann es nurvergönnet wäre, so zu sagen), die halten etliche Stra-tagemata in dieser Kupplerkunst in sich: an derSchwieger der Ruth und an Jonadab, welchen dieSchrift einen weisen Mann nennet, auch an dem Rats-herrn, dem Achitophel; ja auch Abraham, weil seineFrau Sara schön und jung war, so sagte er zu ihr, dasie in der Ägyptier Land reiseten: Novi quod pulchrasis mulier, et cum viderint te Ägyptii, dicent uxor il-lius est, et interficient me, et te reservabunt; dic ergo,obsecro, quod soror mea sis, ut bene sit mihi propterte, et vivat anima mea ob gratiam tui. Et ita tandemsublata est Sara in domum Pharaonis, et Abrahamobene usi sunt propter illam. Das ist: Ich weiss, das duein schön Weib bist von Angesicht; wann dich nundie Ägyptier sehen werden, so werden sie sagen, dasist sein Weib, und werden mich erwürgen und dichbehalten; lieber so sage doch, du seiest in eine

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9.932 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 286Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Schwester, auf dass mir's desto bass gehe um deinet-willen, und meine Seele beim Leben bleibe. Da wardSara in des Pharao Haus bracht, und er tat AbrahamGutes um ihrentwillen. Mit diesem Stratagemate hater es auch gegen Abimelech, den König im gelobtenLande, gewaget; dieses hat auch Isaak, Abrahä Sohn,getan, und also ist auch diese Kupplerkunst mit Ex-empeln heiliger Leute illustrieret worden; und ist alsoauch diese Kunst von Göttern, von Helden, von Ge-setzgebern, von Philosophis, auch von weisen Leutenund Theologis und von andern Fürnehmen In Ehrengehalten worden, ja sogar von den Häuptern der Reli-gion. Ein Kuppler ist gewesen der Gott Pan und Mer-kurius, und der Knabe Cupido; ein Kuppler ist gewe-sen der Gesetzgeber Lycurgus und der weise Solon,der am ersten Hurenhäuser hat aufgebauet und der Ju-gend Huren hineingeführet; und zu neuern Zeiten hatder Papst Sixtus ein trefflich Hurenhaus zu Rom auf-bauen lassen; auch hat der Kaiser Heliogabalus in sei-nem Hause einen ganzen Haufen Huren ernähret, undsolche seinen guten Freunden und Knechten gehalten.Ja auch noch heutiges Tages sind Königinnen undFürstinnen Kupplerinnen für ihre eigenen Söhne; soschämen sich auch nicht dieses Amtes die Optimatesund Vornehmen in einer Republik. Denn Kupplersind gewesen die Korinthier, Epheser, die Abydeni,die Cyprianer, die Babylonier und andere mehr; die

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9.933 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 287Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Obrigkeitsstelle vertreten, die haben in ihren StädtenHurenhäuser aufgebauet und unterhalten, und habenmit diesem Hurenwucher ihrem Aerario ein Grosseszugewandt. Zu Rom muss eine jedwede Hure wö-chentlich dem Papst einen Julier bezahlen, welcherZoll jährlich mehr als 20 000 Dukaten austräget; unddas ist der Ältesten in der Kirchen ihr Amt, dass sienebenst anderen Kirchen-Einkünften auch diesenKuppelzoll einnehmen und berechnen, wie ich selb-sten bisweilen von ihnen Rechnung gehöret und gese-hen habe. So einer hat, sprechen sie zu Rom, zweiBeneficia; die Curatur von 20 Dukaten und das Prio-rat von 40 Dukaten, und hat dazu noch drei Huren inBurdell oder im Hurenhause, welche ihm alle Wochenzwanzig Julier (ist soviel als ein Achtgroschenstück)geben müssen.

Nichts weniger sind auch die Bischöfe und diegrossen Kirchenofficiales Kuppler, welche von denPriestern, dass sie frei mögen Konkubinen halten,jährlich einen gewissen Zoll erpressen, und zwar soöffentlich, dass bei dem gemeinen Mann ein Sprich-wort worden ist darüber, dass sie diesen Hurenzolleintreiben: er mag die Hure haben oder nicht, so musser jährlich ein Dukaten geben für die Hure; er mag siedann haben, wann er will. Aber in einem solchen Rei-che, wo der Geiz regieret, da wird nichts für schänd-lich geachtet, was Nutzen bringet.

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Ich will jetzo nicht anführen, was die Bischöfe zu-lassen, wann sie um ein gewisses Geld verstatten,dass ein Weib, wann ihr Mann abwesend ist, magohne Sünde des Ehebruchs mit einem andern zu tunhaben; welches alles so kund und offenbar ist, dassman bisher nicht hat wissen können, ob der Bischöfeihre Unverschämtheit grösser, oder des gemeinenMannes Geduld närrischer ist, also dass die teutschenFürsten vonnöten gehabt haben, solche Gravaminaunter andern Beschwerungen, so ihre Nation betrof-fen, aufzuwerfen, aus welchen ihr von denen, die ichhier anjetzo verschweigen will, wohl etliche ausneh-men könnet.

Sehet nun, was diese Kupplerkunst vor Patrone hat,und wie solche von ihnen beschützt und defendieretwird. Gott sei's geklaget, dass bei unserer christlichenGemeine so viel Raum und Platz dieser Hurenwirt-schaft gegeben wird, also dass in den Städten öffentli-che Theatra aufgebauet, stattliche Freiheiten und Be-soldungen gemacht werden, alles wider Gottes Wortund Gebot, nur aus der Menschen närrischen Ver-nunft, und wegen des schnöden Gewinnstes; denn dasagen sie: nur dass die Jugend, welche aller Wollüstevoll ist, nicht noch ärgere Sachen begehen möchte.

Denn da sprechen sie: nimm aus dem gemeinenWesen die gemeinen Huren weg, so wird alles vollsein von Schänderei, Blutschande, Ehebruch; keine

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9.935 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 289Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

ehrliche Matrona wird übrig bleiben, keine Witwewird ihre Keuschheit bewahren können, keine Jungferoder Nonne wird auf der Strasse sicher sein; undschliessen daher, dass kein Periode oder Ruhe in einerRepublik nicht sein könnte, wann man die Huren ab-schaffen sollte. Aber weit gefehlet. Hat denn nicht dasisraelitische Volk vor Zeiten durch soviel Secula beisolcher Kontinenz und Mässigkeit gelebet? Hat nichtGott ihnen befohlen: es soll keine Hure und keinHurer bei den Kindern Israel sein? Nun hat diese Un-reinigkeit unterm Prätext der Religion die Kirche an-gefallen und solche, die nicolaitanische Ketzerei fort-gepflanzet, welche, um die Eifersucht nicht aufkom-men zu lassen, die Weiber, wie nach dem platoni-schen Gesetze, gemein hingegeben hat. WelcherFürst, Richter und Magistrat aber solche Hurenhäuserheget oder nur zulässet, ob er gleich nicht selber mithuret, der soll hören, was der Herr in dem Psaltersaget: Si videbis furem, currebas cum eo, et cum adul-teris portionem tuam ponebas; haec fecisti et tacui;existimasti inique, quod ero tui similis; sed arguam teet statuam contra faciem tuam. Das ist: Wo du einenDieb siehest, da laufest du mit ihm, und hast Gemein-schaft mit den Ehebrechern; das tust du und ichschweige, da meinest du, ich werde sein gleich wiedu, aber ich will deine Missetat am Tag bringen, unddir deine Übertretung unter Augen stellen.

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9.936 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 289Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXV.

De mendicitateoder

Von der Bettelei

Zu einem gemeinen und religiösen Wesen gehöretauch die Unterhaltung der Armen und Kranken, damitnicht einer wegen des Armuts sündige und stehle,oder mit seinem Bettelngehen die Stadt mit der schäd-lichen Pest anstecke, oder gar durch Hunger sterbe,nicht zu geringer Schande des menschlichen Ge-schlechts. Daher sind Armenhäuser aus dem gemeinenFisco mit guter Intention und nicht ohne sonderlichePietät an vielen Orten aufgerichtet worden, und wer-den noch durch Privat- und reicher Leute Almosen er-halten.

Denn öffentlich in der Stadt rum betteln gehen, istschon anfänglich bei allen Völkern verboten worden.Auch ist in dem alten Testament den Juden durchMosen gesagt worden: ein Armer und Bettler sollunter euch gar nicht sein. In den römischen Gesetzenvon gesunden und starken Bettlern, hat Kaiser Justi-nianus hart verboten, dass derjenige, welcher arbeitenkann und betteln ginge, gleich sollte beim Kopfe ge-nommen und in die Dienstbarkeit gejaget werden. Im

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evangelischen Gesetze aber hat Christus befohlen:was überbleibet, das soll man den Armen geben, dasskein Bettler oder Dürftiger unter dem Volke zu findensei, sondern, dass Gleichheit gehalten werde. WiePaulus zu den Korinthern spricht: Vestra abundantiaillorum inopiam suppleat, ut et illorum abundantiavestrae inopiae sit supplementum, et fiat aequalitas,sicut scriptum est: Qui multum habuit, non abundavit,et qui modicum, non minoravit. Das ist: So diene euerÜberfluss ihrem Mangel, auf dass auch ihr Über-schwang hernach diene eurem Mangel, und mag einegewisse Gleichheit im Volke sein. Wie geschriebenstehet: der viel sammlete, hatte nicht Überfluss, undder wenig sammlete, hatte nicht Mangel. Und an dieEpheser schreibet er: Qui furabatur, jam non furetur,magis autem laboret, operando manibus quod bonumest, ut habeat, unde tribuat necessitatem patienti. Dasist: Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondernarbeite und schaffe mit den Händen etwas Gutes, aufdass er habe zu geben dem Dürftigen. Auch befiehleter den Thessalonichiern, dass sie mit den Händen ar-beiten und Sorge tragen sollen, dass sie was für sichbringen, und gibet ihnen die Lehre: qui nolit operari,non manducet. Wer nicht arbeiten will, der solle auchnicht essen; die aber das Widerspiel tun, denen ver-beut er die Gemeine der Gläubigen. Und in der Epi-stel an den Timotheum verdammet er diejenigen,

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9.938 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 291Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

welche ihren Unterhalt durch Betteln verdienen undmeinen, dass Betteln eine Gottesfurcht sei.

Und die päpstlichen Decreta befehlen, dass mannur denjenigen Armen soll Almosen geben, welchenicht arbeiten können; die andern aber, die solchenehmen, die rechnet das geistliche Recht unter dieDiebe, Strassen- und Kirchenräuber. Und hier lernenwir, dass wir nicht sowohl mit der Armut ein Mitlei-den haben, als die Bettelei selbsten verfluchen sollen.Die Kunststückchen aber, die solche Bettler, nureinen Gewinnst davon zu tragen, zu praktizieren wis-sen, die sollen billig von uns allen verflucht sein;denn sie wollen lieber wider Gottes Gebot für denKirchentüren tödliche Kälte und brennende Hitze aus-stehen, ja entsetzliche Schmerzen und selbst den Toderleiden, als in den Armenhäusern leben und mit ihrerGabe zufrieden sein und ihre Krankheiten heilen las-sen. Und was noch ärger ist: als es ihnen gleich ofter-mals so elend gehet, so sind sie doch bei ihremschlechten Zustande Gotteslästerer, Flucher, Veräch-ter Gottes Worts, Schimpfer, Trunkenbolde, und stel-len sich, als wann sie andächtig beteten, da sie dochChristum und sein Evangelium verachten; so gleichensie weniger den Märtyrern Gottes als den Verdamm-ten der Hölle.

Es ist noch eine andere Art nichtswürdiger Bettler,mit welchen billig kein Mitleiden zu haben ist,

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nämlich, die sich mit Vogelleim, Mehl, Blut und Jau-che und sonst anderer unflätiger Materie schmieren,nur dass sie wollen vor wund und aussätzig angese-hen sein; andere stellen sich krank, als wann sie dieschwere Not oder eine andere Krankheit am Halsehätten; andere als wann sie wallfahrten gingen, unddas Brot darzu für den Türen suchen müssten. Diesewürden doch wohl mit Königen nicht tauschen, brau-chen sie sich doch um Krieg und Frieden nicht zu be-kümmern, sind vom Schoss, Steuer, Kontribution undandern bürgerlichen Oneribus befreiet, können wegenBetruges, Diebstahls, Totschlages und anderer bösenTaten nicht fürs Recht gefordert werden, können un-gehindert im Lande rumstreichen, müssig und unge-hindert wie Heilige Gottes. Wir habens auch erfahren,dass aus dieser schlimmen Rotte einem Reiche oderRepublik nicht geringer Schade entstanden ist; indemsie aus Vorwand des Bettels die Heimlichkeiten derLänder und Städte ausforschen, und hernachmalsdurch ihre List und Arglistigkeit oder Gewinnstes hal-ber des Landes Beschaffenheit dem Feinde offenba-ren, und Verräterei, wo sie nur können, anspinnen.Durch diese Brut sind viele Städte im Feuer aufgan-gen, Brunnen vergiftet und die Pest oder andere böseKrankheiten ins Land gebracht worden, wie für wenigJahren Frankreich, und insonderheit die Stadt Triersolches mit ihren grössten Schaden erlitten hat. Zu

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diesen schönen Bürschchen gehöret auch das Volk,welches wir die Zigeuner nennen:

Quas aliena juvant, propriis habitare molestum.Fastidit patrium non nisi nosse solum.

Das ist: Sie durchstreichen fremde Lande, aber vonihrem Vaterlande halten sie nichts, nur dass sie sichnoch davon nennen. Denn diese sind entsprungen ausdem Lande zwischen Ägypten und Äthiopien, ausdem Geschlechte Chus, des Sohnes Cham, eines Kin-des des Noe, welche noch heutiges Tages den Fluchihres ersten Urgeschlechters auf dem Halse haben; sievagieren in der ganzen Welt rum, schlagen im Feldeihre Zelte auf, und bestehet ihr ganzer Haufe in Stra-ssenräubern und Dieben, sie vertauschen oder verkau-fen den Leuten gewisse Sachen, sagen ihnen wahr,und suchen also mit Betrug ihre Nahrung und Unter-halt. Volaterranus hat dafür gehalten, dass es persi-sche Völker wären, und hätten den Namen Uxii, undhat in diesem Stück auf den Scilarem gesehen, wel-cher die konstantinopolitanische Chronica geschrie-ben und gesaget hat, dass der Kaiser Michaël Traulusaus der Wahrsagerkunst der Uxiorum das Reich habebekommen, welche Uxii hernach durch die Donaulän-der sich ausgebreitet und überall den europäischenVölkern wahrgesaget haben. Polydorus hat gemeinet,

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es wären Assyrier oder Cilicier, welches ein Volk inAsien gewesen.

Nun aber hat diese Bettlerseuche nicht allein unterweltlichen und geringen Spitzbubenplatz genommen,sondern sie ist auch unter die geistlichen und religio-sischen Leute, unter die Mönche und Pfaffen einge-schlichen; dahero kommen gewisse Brüder undMönchsorden, aus welchem Klei und Mehl diejenigensind, welche aus Prätext der Religion, wie sie sagen,gewisse Reliquien der Heiligen rumtragen, sich heiligstellen, und mit vielen erdichteten Wundern den Zornder Heiligen ankündigen, Indulgentien und Ablasseversprechen, und also unterm Schein, dass sie deswe-gen Almosen für ihre Brüder sammeleten, scharren sieeinen grossen Reichtum zusammen; sie streichen dasLand durch und nehmen von einfältigen Bauersleutenoder leichtglaubigen Bauersweibern Schafe, Lämmer,Böcke, Kälber, Schweine, Milch, Käse, Eier, Schin-ken, Wein, Öl, Butter, Hühner, Weizen, Wolle,Flachs und Geld; und wann sie nun die Gegend alsogeputzet haben, so kommen sie mit ihrer schwerenBürde nach Hause und schmausen und saufen, bis siewieder was Neues holen. Da werden sie mit grossemFrohlocken von ihren Brüdern aufgenommen und ge-lobet, dass sie das elende und simple Volk, welchessich eingebildet, dass sie Gott dadurch einen angeneh-men Dienst getan, so wacker um das ihrige geputzet

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haben; und meinet noch wohl gar dieser Orden, dasssie Gott und den Heiligen angenehme Opfer brächten,wann sie also mit ihrem Raube beladen, mit grossemSchaden des gemeinen Wesens ihre Trabanten aus-schicken, und solch faule und auf der Bärenhaut lie-gende Mönche mästen. Die Werke der Barmherzig-keit aber, weswegen ihnen diese Geschenke gegebenwerden, die verachten sie und werden ganz von ihnenaus den Augen gesetzet.

Der Apulejus hat ihre Personen artlich wissen dar-zustellen in seinem »Esel«, wo er von den Priesternder Syrischen Göttin redet.

Zu diesen gesellen sich auch die rechte Bettelmön-che und Begharden, wie sie genennet werden, welcheden Gewinnst gegen die Heiligkeit eingetauschethaben und zu keinem andern Ende diesen Religions-orden angenommen haben, als dass sie unter demVorwande der Armut mit einer frechen Bettelei alleÖrter durchkriechen, und mit einer unverschämtenStirne und importuner Heuchelei überall Geld zusam-menscharren, und mit einem artlichen Betrug in Kir-chen und Schulen, an Höfen und in grosser HerrenPalästen, in Beichten und Predigten, von Predigtstüh-len und ihren andern Burgen, solches unter das Volkausbreiten, ihre Ablasswaren verkaufen, von wucher-haftigen Kauf- oder räuberischen Edelleuten Gabenerpressen, oder die gröbern Bürger und das ungelehrte

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gemeine Volk und abergläubische alte Weiber umsGeld putzen, oder nach Art der Schlangen das närri-sche Weibesvolk an sich ziehen, damit sie einen Zu-tritt zu den Männern hätten, um sie ebenfalls zu hin-tergehen. Diese Bettelmönche, indem sie sich durchihre Kleidung also stellen und Armut affektieren, undwie man das Geld nicht achten oder den Ehrgeiz mei-den solle, so suchen sie nichts anderes darunter, alsgross Geld zusammenzuscharren, laufen deswegenüber Land und Meer und klopfen an alle Häuser,Buden und Gewölbe an, ministrieren die heiligenÄmter nur gegen Bezahlung, bitten nicht sowohl umAlmosen, als dass sie vielmehr tyrannisch einen Tri-but fordern; sie mischen sich in allerhand Händel,schliessen unglückliche Heiraten, richten Testamentaauf, und stossen sie wieder übern Haufen, vergleichenRechtssachen, reformieren Klosterjungfrauen, unddieses alles ihres Vorteils und Nutzens halber.

Das sind die schönen brüderlichen Mönchskünste,mit welchen viele unter ihnen sich so ein Ansehen undAutorität gemachet haben, dass Päpste und Monar-chen eine Furcht für sie gehabt haben; sie haben da-durch mehr als bankiermässige oder fürstliche Schät-ze gesammelt, und mit ihren viel tausend DublonenBischofsmützen oder den Kardinalshut gekaufet oderwohl gar um den päpstlichen Stuhl gebuhlet.

Sehet, so viel kann diese Religionsbettelkunst. UndPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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indem sie einen so grossen Reichtum besitzen, meinensie doch, dass sie ihrem Gelübde der Armut gar genugtäten, wann sie kein Geld mit den Fingern anrühren,da sie doch allezeit ihren Judam bei sich haben, derden Beutel träget und Rechnung tut; und dürfen sosich unterstehen mit Petro und Johanne zu sagen: Ar-gentum et aurum non est mecum. Gold und Silber istnicht bei mir. Wann sie aber hier nicht mit Lügen um-gingen und ihre Rede aufrichtig wäre, so hätten sieauch das Recht zu sprechen: Surge et ambula! Steheauf und gehe hin. Und wären mit ihrem Patre, demFrancisco, Geld und Sünden los, geböten den Kreatu-ren, verwandelten das Wasser in Wein, gingen durchdas Wasser mit trockenem Fusse; die wilden Wölfemachten sie zahm, richteten einen Falken ab sie desMorgens zu wecken, verböten den Schwalben dasZwitschern, geböten dem Feuer und täten andereWunderwerke, welche dieser heilige Mann soll getanhaben. Aber alle tun dieses nicht, welche sagen, Herr,Herr, sondern tragen nur, wie die Stoischen Affen, dasZeichen und die Kleider Christi und Francisci; seinenWillen und Meinung nehmen sie nicht in acht.

Wider diese Bettelmönche hat vor Zeiten geschrie-ben Richardus Episcopus Armachanus und MalleolusPraepositus Tigurinus, auch Johannes Episcopus Ca-motensis und viel andere; welche Schriften noch wohlzu erdulden wären, wann sie nicht sowohl diese

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religiosische Bettelkunst als deren Missbrauch ver-dammet hätten. Aber es mag von diesen für diesmalgenug sein, damit wir zu andern auch kommenmögen.

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Kapitel LXVI.

De oeconomia in genereoder

Von der Haushaltung insgemein

Unter eine wohlbestellte Republik gehöret auch dieHaushaltung, weil sie selbsten nichts ist, als einehäusliche Republik und eine Privatmonarchie; ihreArten aber sind mancherlei. Denn manche wird ge-nannt eine königliche oder höfische, manche eineherrliche oder kriegerische, manche wiederum eine öf-fentliche oder allgemeine oder eine gesellschaftige,manche eine private oder klösterliche; und diese Wis-senschaft lehret uns, wie das Weib, Kinder, die Ver-wandtschaft und das Gesinde regieret werden muss,wie das Haus muss beschützet und bewahret werdenund woher die Unkosten dafür zu nehmen sind; auchwas im übrigen schlau gemachet werden muss bei denEinkünften, bei den Zöllen, Steuern, Zehnten, Zinsen,Monopolien und was sonsten zum Gewerbe gehöret;wie auch, was bei den Zünften, Sozietäten, Bündnis-sen, beim Krieg und Prozessen muss beobachtet wer-den. Dieses alles, weil es kein Mass noch Regul insich begreifet, wird für ein Anomalum oder unregel-mässige Sache gehalten. Derowegen kann die

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Ökonomie weder eine Kunst noch eine Wissenschaftgenennet werden, sondern vielmehr eine aus der Men-schen Opinion, Gebrauch, Gewohnheit und Schlau-heit herrührende beständige häusliche Disziplin, zuwelcher die Handwerksstühle und artes mechanicaealle können gezogen werden, welche in Lein, Flachs,Holz, Eisen, Erz und andern Metallen arbeiten, auchdie knechtliche Hantierungen der Barbierer, Bader,Wirte und anderer mehrer Arten kleiner Gewerbe,welche der privaten Lebensnot dienen und mit der Re-gierung des gemeinen Wesens und mit der Leitungder Geschäfte nichts zu tun haben, und welche aufnichts Hohes, Freies oder Heroisches, so da könntegenennet werden, ein Absehen haben.

Dergleichen Leute nun sind so viel, dass sie nichtalle können aufgezählet werden; doch haben sie alleetwas Knechtliches bei sich, die meisten auch sindmit gewissen Lastern besudelt, wie die Fuhrleute,Schiffer, Wirte und mehr solch Völkchen, welche sichnur an Zuträgereien und Fabeln belustigen und ein un-nützes Geschwätze in der Stadt machen; gleicherge-stalt auch die Barbierer, die Bader und Hirten; denndiese machet die Fabel Midae, und jene die FabelBatti infam und nichtswürdig; hierher gehören auchdie Kantores, Pfeifer und Musikanten, welche beidenen Conviviis ums Lohn aufwarten. Unter allenaber ist das Leben der Schiffleute das erbärmlichste

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und elendeste, derer Wohnung wie ein Kerker ist, ihreSpeise ist unrein und grob, ihre Kleider schmutzigund ihr Leben ein ewig währendes Exilium; sie müs-sen allezeit wandern und ohne Ruhe sein, und werdenvom Wind und Wellen hin- und hergetrieben, sind derHitze, Kälte, Regen, Blitz, Hunger und Durst stetsunterworfen; hierzu kommen auch die gefährlichenÖrter im Meere, die Scyllae, Charybdes, Symplegadesund andere Gefährlichkeiten mehr, grosse Sturmwet-ter, über welche nichts Traurigers und Schrecklicherssein kann, und nebenst viel Bösen mehr sehen sieendlich die stetswährende Gefahr des Lebens fürAugen; so wie sie nun unter allen Leuten die unglück-seligsten, also sind sie auch die allerverruchtesten.Aber unter allen mechanischen Künsten sind dieKaufmannschaft, der Ackerbau, der Militärdienst, dieMedizin, der Advokaten Zungendrescherei die vor-nehmsten, von welcher wir unten nach der Ordnungwas sagen wollen. Jetzo wollen wir erstlich die Gene-ralfundamenta der Ökonomie betrachten.

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Kapitel LXVII.

De oeconomia privataoder

Von der bürgerlichen Haushaltung

Das ganze Wesen der bürgerlichen Haushaltungbestehet in dem Ehestande; dahero, wann der CensorMetellus Numidicus zum Heiraten anmahnet, so brau-chet er diese Worte: Si sine uxore possemus Quiritesesse, omnes ea molestia careremus; sed quoniam itanatura tradidit, ut nec cum illis satis commode, necsine illis ullo modo vivi possit, saluti perpetuae po-tius, quam brevi voluptati consulendum. Das ist:Wann wir ohne Weiber Zeit unseres Lebens bleibenkönnten, würde sich niemand diese Beschwerung überden Hals ziehen; weil es aber die Natur also erfordert,dass wir mit denselben zwar nicht alle Zeit nachWunsch, doch ohne dieselben ganz und gar nichtleben können, soll man lieber einen dauernden Vorteilals eine kurze Lust haben. Dies erzählet uns AulusGellius. Denn kein Haus oder Hauswesen kann ohneFrau bestehen und dauern; ohne Frau kann das Ge-schlecht nicht erweitert, kein Erbe berufen und keineErbschaft angetreten werden, noch kann von Ver-wandten, von Familie oder einem Paterfamilias und

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Hausvater die Rede sein. Wer keine Frau hat, der hatkein Haus, weil er sein Haus nicht feste setzet, undhat er gleich ein Haus, so weilet er darinnen wie einFremdling in dem Wirtshause. Wer kein Weib hat, ober gleich sehr reich ist, der hat doch nichts, was seineist; denn er weiss nicht, wem er es hinterlassen odervertrauen soll; alle seine Sachen sind der Gefahr unddem Nachstellen unterworfen, es bestehlen ihn dieKnechte, es betrügen ihn seine Mitgesellen, es verach-ten ihn seine Nachbarn, es vernachlässigen ihn seineFreunde, es stellen ihm seine nahen Anverwandtennach; hat er Kinder ausser der Ehe gezeuget, so hat erSchimpf und Schande davon, sie dürfen auch nichtden Namen des Geschlechtes führen, er kann auchnicht, weil es die Gesetze verbieten, ihnen das Anden-ken seines Namensund seiner Ahnen hinterlassen,nicht sein Vermögen zuwenden; er wird auch vonallen Ehrenämtern, wie die Gesetzgeber vor Zeiten ge-wollt haben, ausgeschlossen. Denn, der ist nicht wür-dig, eine Stadt zu regieren, welcher nicht gelernet hat,ein Haus zu regieren, und wie kann er einer Republikvorstehen, wann er nicht seinem eigenen Hause vor-stehen kann. Das Haus ist ein Bild des Staates.

Das wussten die Griechen wohl, als sie PhilippusMacedo wieder vergleichen wollte, und der LeontinerGorgias hernach von der Griechen Einigkeit ein Buchschriebe. Da haben die Griechen sie alle beide

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ausgelachet und gesaget, sie wollten andere verglei-chen und könnten zu Hause keine Einigkeit stabilie-ren; denn Philippus hatte zwischen seinem Weibe undseinem Sohne Streit; Gorgias aber zwischen demWeibe und der Magd. Sie dachten, wie kann der mitseiner Klugheit auswärtige Streithändel schlichten,der so einen geringen Streit im Hause nicht stillenkann.

Derohalben, wer einer Stadt und Republik vorge-setzet ist, und weiss sich und sein Hauswesen nicht zuregieren, mit dem ist das Regiment übel bestellet;denn hier alleine ist der Zustand, bei welchem sich derMensch in Werthaltung des Weibes, in Auferziehungder Kinder, in Regierung der Familie, in Erhaltungdes Wohlstandes, in Fortpflanzung des Geschlechtesund in Erhaltung seines Stammes sein Leben glückse-lig machen kann. Strauchelt er nun in diesem (es sindihrer aber viel, die darinnen straucheln und irren, dennein jedwedes Leben hat auch sein Kreuz), so ist's umihn geschehen. Dieses ist alleine ein sanft und leichtesJoch, sonderlich wann die Gatten so beschaffen sind,dass sie nicht den Geiz noch Hochmut und Hoffart,noch die Bosheit oder bösen Lüste angenommenhaben. Gott hat sie zusammengefüget also, dass derMann Vater und Mutter, Bruder, Schwester undFreunde verlassen soll, und an seinem Weibe hangen,welche Liebe alle Liebe weit übertrifft.

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Also hat Hektor, wie er die Einnehmung Trojae ge-sehen hat, nicht sowohl für seine Eltern und Brüderund für sich selbst, als für sein Weib Sorge getragen,denn dieses lesen wir bei dem Homero:

Haud equidem dubito, quin concidet Ilion ingens,Et Priamus Priamique ruet plebs armipotentis;Sed mihi nec populi, nec carae cura parentis,Nec Priami regis tantum praecordia rodit,Nec germanorum, quamvis multique probiqueEnse sub hostili vitas in pulvere ponentQuam me cura tui, conjunx carissima, vexat.

Das ist: Ich trage keinen Zweifel, es werde das vor-treffliche Schloss, und der Priamus mit allem seinemVolke darinnen ehestens zugrunde gehen; allein nie-mand ist allda, weder das ganze Volk noch meine El-tern, weder der König noch alle meine Landesleute,derer doch viel werden müssen ihren Geist darüberaufgeben, der mir so viel Bekümmernis machte, oderso sehr zu Herzen ginge als du, mein liebes Ehege-mahl, alleine tust.

Ich muss bekennen, dass unglückselige Heiratenviel Unglück und Böses nach sich ziehen, nämlich:stete Bekümmernis, garstigen Eifer, lauter Klagen,Verfluchung der Mitgift, Verstimmung der Verwand-ten, grosse Unkosten, bisweilen Ungewisse

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Schicksale der Kinder, Untergang des Geschlechtes,fremde Erben, unzählige Schmerzen und Traurigkei-ten; und welches das vornehmste ist, man weiss nicht,wie die Wahl ausfallen werde; die man gewählet hat,wird dem Manne, solange als er lebet, am Halse kle-ben, und lauter Dampf und gebranntes Herzeleidantun. Ist sie schön, ist sie phantastisch, ist sie vonbösen, leichtfertigen Sitten, ist sie stolz, unflätig,hässlich, unzüchtig, oder was dergleichen Untugendenmehr sind, das wirst du wohl nach der Hochzeit balderfahren, aber schwerlich Besserung zu hoffen haben.

Hier könnten wir viel Exempel anführen. MarcusCato Censorius, der sowohl im Kriege als im Friedennicht seinesgleichen hatte, als derselbe alt gewordenund eines armen und geringen Mannes, des SaloniusTochter, zum Weibe nahm, hat sie sich so schändlichbezeiget, dass er dadurch die Autorität und das Anse-hen seines ganzen Hauses verloren hat.

Als Tiberius Juliam die Tochter des Kaisers Augu-sti, welche wegen ihres Ehebruchs genugsam ist be-schrien gewesen, zum Weibe nahm, und er dieselbeweder strafen noch anklagen, noch von sich wegstos-sen konnte, sondern behalten musste, ist er nach Rho-dus nicht ohne Verletzung seines ehrlichen Namenszu gehen gezwungen worden.

Aber alle diese Ungelegenheiten verursachen mehrdie Männer als die Weiber, denn nur böse Männer

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bekommen böse Weiber; wie hiervon Varro bei demGellio artlich philosophieret hat: Uxoris vitium auttollendum aut ferendum est: qui enim tollit, hanc sibicommodiorem praestat, qui fert, ipse sese melioremreddit. Das ist: Der Weiber Laster und Untugendenmuss man ihnen entweder abgewöhnen oder selbigemit Geduld vertragen; denn wer sie ihnen abgewöh-net, der machet, dass sie sich desto besser in ihnschicken lernen, wer aber stille schweiget und es ver-traget, der bessert sich selbsten. Hiervon haben wir inunserm absonderlichen Discurs von dem Ehe-stande(welcher auf die Letzt bei diesem Werke zu fin-den ist) weitläuftiger geredet.

So gehet es auch oftermals nicht glücklich mitAuferziehung der Kinder; da sind sie oftermals denEltern ungehorsam, faul, träge, ungeschickt, schlechtund allen Lastern ergeben, sie bringen das Väterlichedurch mit Verschwendung, Fressen und Saufen,Huren und Buben, ja es finden sich auch wohl Eltern-mörder, wie Alcmeon, Orestes und P. Malleolus der-gleichen Bürschchen gewesen sind; der ArtaxerxesMnemon selbsten, der einhundertfünfzehn Kinder ge-habt hat, aber die meisten, weil sie ungeraten gewe-sen, hat er aus dem Wege geräumet. Darum sprichtEuripides, und hat es auch unser Bernhardus ange-nommen: es wäre gut, wann man nichts von Kindernwüsste. Augustus, der glückseligste Kaiser, hat wegen

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seiner Tochter und Tochter-Kind oft des Homeri Versmüssen ausrufen:

Conjuge non ducta, natis utinam caruissem.

Das ist: Wollte Gott, ich hätte mein Tage keinWeib genommen, dass ich nur keine Kinder gezeugethätte.

Von den Knechten saget auch Euripides: Domi nul-lus major inimicus, neque pejor, neque inutilior servo.Das ist: In einem Hause ist kein ärgerer und schädli-cher Feind, als ein Knecht. Und Democritus spricht:Servus necessaria possessio, non autem dulcis. Dasist: Ein Knecht ist ein notwendiger, aber kein ange-nehmer Besitz. Und Petrarca schreibt an einem andernOrte: Sciebam me cum canibus vivere, verum venato-rem esse nisi admonitus, nesciebam. Das ist: Ichwüsste, dass ich mit Hunden lebete; aber ich mussteerst daran erinnert werden, dass ich Jäger war. DieKnechte werden Hunde genennet, sie sind beissigtund frässigt und bellen. Plautus im Pseudolo der be-schreibet ihre Natur und Eigenschaften mit diesenWorten: Es ist eine schreckliche Art von Leuten; sietun niemals, was recht oder dienlich ist, sondern wosie Gelegenheit haben, rauben, stehlen und verderbensie alles, dass man lieber möchte einen Wolf bei denSchafen, als solch Gesinde in dem Hause alleine

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lassen. Und Lucianus in Palinuro spricht: Servorumin dominos semper prompta maledicta, furta, imposi-tiones, fuga, arrogantia, negligentia, temulentia, eda-citas, somnolentia, tarditas, ignavia. Das ist: DieKnechte sind stets beflissen, auf ihre Herren zuschmählen, sie bestehlen dieselben, betrügen sie, ent-laufen, versäumen ihre Sachen, sind verfressen, ver-schlafen, ja sie sind träge und faul zu allen Sachen.Daher ist ein Sprichwort entstanden: Totidem domihostes habemus, quot servos. So viel Knechte wir imHause haben, soviel haben wir auch Feinde.

Aber wir machen sie oftermals mehr dazu, als dasssie von selbsten unsere Feinde wären; denn wir sindoftermals so ungebärdig und grausam gegen diesel-ben, haben ein tyrannisch Gemüt und gehen mit ihnenum, nicht wie wir sollten, sondern wie es uns beliebet.Von diesen hat Strophilus beim Plauto in Aululariadieses geredet: Die Herren geben nicht recht mit demGesinde um und das Gesinde nicht recht mit den Her-ren; und also geschicht auf keiner Seite, was recht ist.Die Herren, zumal die alten, sind karg und schmutzig,verschliessen dem Gesinde Küche und Keller mit tau-send Schlüsseln, ja, wohl oft ihren eigenen Kindern.Das Gesinde hingegen, so auch auf allen Schelmen-stücken ausgelernet, sehen wir sie den verschlossenenBrotschrank eröffnen; da gehet es alsdann wacker anein Mausen, Fressen und Saufen auch weidlich darauf

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los; und wird auch auf der Folter nichts eingestanden.Darum ist es das beste, ein Herr sei nicht gar zu kargund eigennützig; so ist auch das Gesinde getreuer.

Viel Republiken haben vor Zeiten von den Knech-ten viel Böses erlitten; es bezeigen solches die knech-tischen oder Sklavenkriege, von denen Historicis be-schrieben. Eine vornehme Stadt in Italien, Volsinii,ist uns ein elend Spectacul, welche, als sie denKnechten die Zügel zu lang gelassen und sie in ihrenRat mit eingelassen haben, so haben die Knechte end-lich die Ratsherren aus dem Rat gestossen, die Admi-nistration des gemeinen Wesens an sich gezogen, Te-stamenta nach ihrem Willen gemachet, Zusammen-künfte der freien Leute verboten, die Töchter ihrerHerren geheiratet, und endlich gar ein Gesetze rausge-lassen, dass ihre Hurerei mit Witwen und Jungfrauenungestrafet sein sollte, und dass keine Jungfer miteinem Ingenuo oder Freien sich in Heirat einlassensollte, welche nicht zuvor von einem Sklaven be-schmutzet oder gekostet worden wäre. Also ist auchdie reiche Stadt, und welche das Haupt in Caria war(ist ein Land in Asien gewesen), wegen allzu vielerFreiheit und Gelindigkeit gegen die Knechte ins äu-sserste Verderben und Schmach gesetzet worden.Denn, wann die Disziplin der Knechte, wie Aristote-les spricht, weggenommen wird, so sind die Herrennicht sicher; wie es durch die Helotae in

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Lazedämonien und durch die Penestier in Thessalo-nien geschehen ist.

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Kapitel LXVIII.

De oeconomia regia sive aulicaoder

Von fürstlicher Haushaltung zu Hofe

ES ist noch übrig, dass wir die fürstliche oder höfi-sche Haushaltung auch ein wenig betrachten. Aberfürwahr, der Hof ist nichts anders als ein Rie-sen-Kollegium oder ein Convent vieler adeligenbösen Buben, ein Theatrum loser Herren-Diener und - Trabanten, eine Schule böser Gebräuche und Sitten,und ein Asylum der Freiheit aller schändlichen Laster;und wo nichts anders als Hoffart, Hochmut, Räuberei,böse Lüste, Verschwendung, Neid, Zorn, Fressen undSaufen, Gewalt, Gottlosigkeit, Bosheit, Misstrauen,Betrug, Grausamkeit und andere Laster mehr wohnen,regieren und im Schwange geben. Da werden Hurerei,Ehebruch, Entführung und andere Schlechtigkeitenmehr, so von den Fürsten und Edelleuten begangenwerden, für ein Spiel gehalten, da sind oft der Königeund Fürsten Mütter ihrer Kinder Kupplerinnen, dakommen alle Sturmwinde der Laster zusammen, daleiden die Tugenden unbeschreiblichen Schiffbruch.Der Fromme oder Gute wird unterdrückt und derBöse erhoben und befördert; Schlichte und Gerechte

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werden ausgelachet und verfolget, Kühne und Unver-schämte kommen empor; alleine die Schmeichler, dieOhrenbläser, die Verleumder, die Aufzieher, die Lä-sterer, die Hohlhöpler oder falschen Ankläger, die Eh-renschänder, die Beinunterleger und die Erfinder allerMutwilligkeit, und welche die Bosheiten gleichsam aneinem Schnürchen führen, die können allda ihre For-tune und Glücke machen. Ihr Leben ist unter allen dasSchändlichste, und was nur die Perversität eines greu-lichen Tieres verüben kann, das fleusst hier wie eineHerde in ein Corpus zusammen; da ist die Grausam-keit des Löwen, das Wüten des Tigertiers, dieSchröcklichkeit des Bären, die Vermessenheit deswilden Schweins, die Stolzheit des Pferdes, die Rau-berei des Wolfes, die Obstinatigkeit des Kalbes, derBetrug des Fuchses, die Arglistigkeit des Chamäle-ons, die Unbeständigkeit des Panthertiers, die Beiss-wut des Hundes, die Verzweiflung der Elefanten, dieRache des Kameles, die Furcht des Hasen, das frecheGebaren des Bockes, die Unreinigkeit des Schweines,die Albernheit des Schafes, die Tölpelhaftigkeit desEsels und die Possenreisserei des Affen.

Da sind die wütenden Centauri, die schädlichenChimerae, die unsinnigen Satyri, die hässlichen Har-pijae, die gottlosen Syrenes, und zweigestaltigen Scyl-lae, da sind die greulichen Straussvögel, die fresshaf-tigen Greifen, die gierigen Drachen; und was sonst die

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Natur für ungeheure Monstra mehr herfür gebrachthat, die werden alle da gesehen, und haben daselbstihre Wohnungen. Hingegen finden die Tugenden ihreHenker und Tyrannen dar; in Summa, entweder manmuss die Schalkheit, Bosheit und Gottlosigkeit ansich nehmen, oder muss vom Hofe bleiben.

Non impune licet, nisi cum tätig, exeat aula,Qui vult esse pius.

Das ist: Wer ein fromm und gottesfürchtig Lebenführen will, muss des Hoflebens ganz und gar müssiggehen. Es kann den Städten kein ärger Übel widerfah-ren, als der Hof eines Mächtigen; ist er da, so ist erwie ein Komet, der Böses wahrsaget, und bringet wieeine ansteckende Pest den äussersten Ruin mit sich;der Hof mag hingezogen oder hingelegt werden, wo erhin will, so wird er doch unheilvolle Bisse, als wievon einem tollen und rasenden Hund, hinter sich las-sen. Er machet alle Sachen an Werte teuer, indem einjedweder allda von den Hofleuten Gewinnst holenwill; da steiget alles auf, der Überfluss in Speisen istgemein, alles müssen fremde Gerichte sein, jedwederMann lebet in Schmausen und Sausen, und das Seini-ge muss schmählich durch die Gurgel gejaget werden;der Übermut und der Pracht ist gross, welchen her-nach die Bürger und Bürgers-Weiber auch

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nachahmen, also dass ein jedwedes Haus davon ange-stecket wird, und die Hoffart und Pracht annimmt; dawerden die guten Sitten korumpieret und vielfältigeLaster eingeführet, welches ein schändliches Übel ist.

Wann nun diese Hofleute von der Stadt Abschiednehmen, hilf lieber Gott, was lassen sie für einen gar-stigen Gestank hinter sich. Da hat einer ein Weib zurEhebrecherin gemachet; ein anderer hat ehrlicher undvornehmer Leute Tochter zur Huren gemachet, oderwohl gar mit sich weggeführet; ein anderer hat eineZahl Hurenkinder hingesetzet; was soll ich viel sagen,da entstehet gross Trauern, da wird die ganze Gestaltder Stadt verändert zu der Gestalt einer Hure.

Ich kenne eine berühmte Stadt in Frankreich, wel-che deswegen ganz und gar ist umgekehret worden,dass man fast keine ehrbare Matrone oder ehrlicheJungfer mehr darinnen gefunden hat; ja es achtetsich's noch wohl eine für eine Ehre, wann sie eine be-rühmte Palast-Hure gewesen ist; und die alten Matro-nen sind der Jungen Kupplerinnen und ist dieseSchande also eingerissen, dass fast an keinem Orteweder Scham noch Ehre mehr ist; und fraget derMann nichts darnach, ob sein Weib huret oder nicht,wann nur, wie Abraham zur Sara spricht, es ihmwegen des Weibes wohlgehet, und er in Gnaden ist.

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Kapitel LXIX.

De nobilibus aulicisoder

Von adelichen Hofleuten

Das Hofvolk oder die Hofschranzen sind zweierlei.Von der ersten Partei sind die adelichen Pagen, Hof-und Kammerjunker, diejenigen Thrasones und Bra-marbasse, welche fast für Pracht, Hochmut und Stolz-heit unsinnig sind, die alle Tage in Purpur und köstli-chen Stoffen, in güldenen Kleidern und Federbüschendaher treten, von welchen gesaget wird:

Scorta placent, fracti curvique e corpore gressusEt laxi crines, et tot nova nomina vestis.

Das ist: Sie haben ihre Lust am Huren, wissennicht, wie sie vor Hoffart die Beine setzen sollen,stolzieren mit den Haaren, und verkleiden sich in allenärrische neue Moden. Diese strecken alle ihre Kräftedran, wie sie möchten Venusbrüder sein und täglichim Schmausen und Saufen leben; sie meinen, es seiihnen ein Ruhm, wann sie nur alles das ihrige auf eineGasterei wenden, wann sie hernach drei Monate langan einem fremden Tische schmarutzen sollten. Zu

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diesen sammeln sich stets Pfeifer, Lautenisten und al-lerhand Musici, wie auch Gaukler, Seiltänzer, Komö-dianten, Springer, Jäger, Huren und Kuppler undmehr dergleichen Wundertiere aufwarten. Diese Hof-leute füttern Hunde, Pferde, Wölfe, Hirsche, Stossvö-gel und andere gewaffnete Vögel, Affen, Papageien,Bären, Löwen, Leoparden und Tigertiere. Ihr Ge-spräch ist nichts als blosse Schandpossen, Märchen,unnütze Fabeln und Historien; sie schänden, schmäh-len, lügen, schwatzen in Tag hinein, schrauben undziehen einander auf; da redet eine Partei von Hundenund Jagden, und wie breit oder lang ein Wald ist; eineandere Partei von Pferden, Gewehr und Kriege, undschneiden von ihren Krieges- und Heldentaten auf,und wollen den grossen Alexander über Tische undbeim Gebrauch des Weins ums Leben bringen; einerheisset oft den andern Lügner und kommen mitScheltworten also aneinander, dass sich die Gasterei-en mit Zorn und Unwillen enden; und höret bei ihrenConviviis des Bachi Geschenke nicht auf, bis dass esBlut gibet, und sie mit blutigen Köpfen wieder nachHause kommen, als wann sie zu dem Ende hingebotenworden wären. Da heisset es:

Quod superest laeti bene gestis corpora rebusProcurate viri, et pugnam sperate parati.

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9.965 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 312Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Das ist: Im übrigen machet euch wacker lustig, undwann euch jemand in etwas zu nahe kommet, so weh-ret euch dagegen als tapfere Leute. Überdieses lassensie sich die grösste Tugend sein, dass sie die richtigenZeiten und Stunden bei den Fürsten inacht nehmen,damit nicht etwan was Ungeschicktes ihm in Weg ge-bracht werde; ihre Bemerkungen machen sie nichtüber die Gestirne, den Himmel oder den Kalender,sondern sie schwatzen von der Weinkanne, von derJagd, von Gelagen und Schmausereien, vom Bette;wann der Fürst lustig und bei gutem Humeur ist, dabringen sie ihm erst was lustiges Neues vor, undwann sie ihm die Ohren damit gekitzelt haben, sokommen sie hernach allmählig zu dem, was sie ihmabbetteln wollen; und folgen aus ihrer Natur herausdem Rat, welchen Aristoteles seinem Discipul, demCallistheni, gegeben hat: wann er wollte mit einemKönige reden, so sollte er entweder niemals oder vonlauter lustigen Sachen mit ihm reden; nämlich damiteiner entweder durch sein Stillschweigen sicherer oderdurch seine Reden angenehmer wäre.

Wann nun dieses dem Könige oder Fürsten gefäl-let, und er dadurch lachet, oder das, was er geredethat, billiget und merket, dass er ihm eine Freundlich-keit erweiset oder ihn auf die Seite rufet und à partmit ihm redet, da kommt er in ein trefflich Ansehenbei den Leuten, da wird er sich hernach alles

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9.966 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 312Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

unterstehen, er wird alle anzwacken, alle auslachen,geringe halten, wird heimlich herabziehen, öffentlichtadeln oder strafen, er wird grosse Redensarten vor-bringen und wird sich alles unterstehen, damit er indie andern Furcht einjage; die Geringe wird er unterdie Füsse treten, seinesgleichen neben sich verachten,die Höhern nicht gross respektieren, er aber will son-derlich geehret und angebetet sein, ist stolz und su-chet mächtig zu werden.

Libertas scelerum est virtus et summa potestas.

Das ist: Ihre einzige Tugend ist, dass ihnen alle La-ster vor ungewesen hinausgehen. Die ihm nicht nachseiner Pfeife tanzen und nicht schmeicheln, ob derHofmann gleich nichts Tüchtiges geleistet hat, diemüssen vom Hofe weg, als wären sie neidisch oderwiderspenstig. Auf solche Art ist so ein Hofmenschnicht allein für seinesgleichen gefährlich, sondernauch dem Fürsten sehr schädlich, wie Curio (bei demLucano) den Kaiser instigieret hat: Es ist uns leid,dass dich was hat aufgehalten, deine Macht und Ge-walt zu gebrauchen, da du dich doch auf uns hättestverlassen mögen. Nun wird hinfüro Zeit unsers Le-bens das Volk gegen dem Rat und Herrschaft sich wi-derspenstig erzeigen.

Dergleichen Instigatores oder Hetzer hat AlexanderPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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9.967 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 314Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Magnus gehabt, welche ihn, da er ohne das von Naturwilde war, zu immer neuen Kriegen und Schlachtenangereizet haben. Dergleichen Ratgeber hat Roboam,des Salomonis Sohn, gehabt. Und haben die Fürstenjetzo bei unsern Zeiten auch dergleichen Berater, wel-che ihren Begierden schmeicheln, ihren argen Befeh-len rasch gehorchen oder mit so schwachen Schein-gründen widersprechen, dass der Fürst es leicht hat,auf seinem Willen zu bestehen, und die Schranzendoch sagen können: sie hätten's widerraten. Derglei-chen Räte hat gegenwärtig Franciscus, König inFrankreich, zu solchen bösen Ratschlägen gar willig,welche ihn wider den Kaiser gar gerne aufwiegelnwollten, und gleichwohl gelten sie für die besten undgetreuesten Räte.

Und dieses sei hier genug von adelichen Hofleuten;wer einen davon offendieret, der hat sie alle widersich.

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9.968 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 315Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXX.

De plebejis aulicisoder

Von gemeinen Hofschranzen

Es sind nun auch gemeine Hofleute, Menschen un-redlichen Gemütes, welche nicht frei, sondern stetsSubjekt und andern unterworfen sein wollen; diesegehen in die adelichen Häuser und schmarutzen da,und leben von fremden Tischen.

Et bona summa putant, aliena vivere quadra.

Das ist: Sie halten vor ihre höchste Glückseligkeit,dass sie sich mit Fuchsschwänzen behelfen und lassensich gerne mit der Naschparte werfen. Allen sind siegehorsam, bei allen werden sie schmeicheln undfuchsschwänzen, wollen Allen in Allem gefällig seinund wissen sich auf allerhand Art und Manier zu stel-len, damit sie die Gunst der Grossen erlangen möch-ten. Was über dem Tische geschwätzet wird, das tra-gen sie an dem zu; nach derjenigen Wesen und Tun,welche miteinander uneins sind, fragen sie wie einFuchs listig nach, damit sie auf beiden Achseln tra-gen, und bei beiden sich beliebet machen können; und

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9.969 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 315Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

weil sie beiden untreu sind, so sind sie desto besserzur Verräterei geschickt. Weil nun kein Lasterschändlicher ist als die Verräterei, also ist auch keinesgeschickter und besser, bei Hofe Geld verdienen zumachen, als dieses; diese Leute sind den Hofleutenund den Fürsten selbst angenehm, und deswegengehen sie bei ihnen aus und ein; denn

Carus erit Verri, qui Verrem tempore quovisAccusare potest.

Das ist: Der ist allda lieb und wert gehalten, wel-cher einen andern wacker kann zur Bank hauen.

Deswegen sind sie mit den Edelleuten gemein undfamiliair, damit sie zu demselben, was sie verlangen,desto eher kommen können. Erstlich begehren sie,dass sie in die Matricul der Hofleute möchten einge-schrieben werden, wann sie gleich keine Besoldunghaben; denn durch die Inskription können sie sichauch ohne Besoldung einen Gewinst machen, denn siewissen ihren Raub wohl. Darnach müssen sie sehen,dass sie die Mächtigsten zu Hofe gewinnen können,entweder mit schmeichelnden Worten oder mit Unter-tänigkeit und Gehorsam, mit Geschenken oder miteiner andern Arglistigkeit; sie müssen auf sich neh-men, was andre nicht wagen, sie dürfen keine Gefahrscheuen, keine Mühe und Arbeit sich verdriessen

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9.970 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 316Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

lassen; sie müssen vigilant sein, sie müssen Reisen,Briefe oder Botschaften auf sich nehmen, und allesvertragen können.

Audent quid brevibus Gyaris et carcere dignum.

Das ist: Es ist ihnen nichts zu schwer, dessen siesich nicht unterstehen, und sollten sie darüber in diegrösste Gefahr geraten. Bis sie durch ihre Verdiensteeinem oder dem andern Amte vorgesetzet worden,dass sie entweder Aufsicht über das Aerarium bekom-men oder Urkunden ausfertigen oder Zoll, Steuer undSchatzungen einnehmen. Wann sie nun also übernBerg weg sind, müssen sie niemand mehr umsonstdienen, sondern sich ihre Dienste fein teuer bezahlenlassen, und mit dem neuen Ehrenamt müssen sie auchneue Sitten an sich nehmen; was vorhergegangen ist,daran müssen sie nicht mehr gedenken, sie müssennach höhern Dingen streben, sie müssen mit demGeiz einen Bund machen und müssen all ihr Tun aufden Raub und auf den Gewinst richten, Treu undGlauben zu halten müssen sie sparsam tun, grossePromessen tun, schmeichelnder Reden sich gebrau-chen, jedoch dieselben gleich als aus einem Oraculofein dunkel fürbringen; was sie sehen, was sie hören,was geschicht, das müssen sie allezeit aufs ärgste aus-legen. Sie müssen niemand trauen als sich selbsten,

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9.971 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 317Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

sie müssen alleine sich selbst lieben, auf sich alleinetwas halten, sie müssen sich nicht auf eines andernFreundschaft verlassen, sie müssen es auch mit keinerGesellschaft nicht halten, wann sie nicht Gewinstdavon haben, ihren Eigennutzen müssen sie den an-dern Sachen allen vorziehen; Freunde, Gäste, naheAnverwandten, Kameraden, welche nicht Nutzenbringen, dieselben müssen sie wie unfruchtbareBäume nicht ansehen, sondern verachten; bei denalten Gesellen müssen sie, wann sie ihnen begegnen,fürüber gehen und tun, als wann sie dieselben nichtkenneten.

Suchet jemand Hilfe bei ihnen, den müssen sie mitWorten und Zusagungen abspeisen, und mehr zusa-gen als halten; bringet er nichts mit, so müssen sie ihngar hilflos und die Sache fahren lassen; ihre Gunstund Gnade müssen Allen feil sein; die Tugend istihnen ohne Wert; das Lob anderer müssen sie unter-drücken, und hintern Rücken ihm nichts als Bösesnachreden; sie müssen ohne Unterscheid niemandloben, gleichwie jener Redner von Einem gesaget hat:Ich muss bekennen, er ist ein wackerer Mann, und derviel wackere Taten getan hat; aber auf welche Art erder Verurteilung wegen Raubes entgehen konnte,wäre mir unverständlich, wenn ich nicht von seinerBeredsamkeit gehört hätte. Und wie ein anderer gesa-get:

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9.972 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 317Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Felix et nato felix et conjuge ProteusEt cui, si demas jugulati crimina Phoci,Omnia contigerant.

Das ist: Der Proteus ist samt Weib und Kind rechtglückselig und ist ihm sein Lebtag alles glücklich vonstatten gegangen, ohne das einzige, dass er den Pho-cum hat umgebracht.

Überdieses muss ein Hofmann wie ein Stossvogelauf das Geschenke erpicht sein, rauben, wo er nurkann und weiss; ja er muss dem Phineo die Speisen,wie die Harpyen aus dem Rachen reissen. Er wirdsich freuen, wann's denen übel gehet, die ihm nachseinem Dienste trachten; er wird mit niemand Mitlei-den haben; er wird keinem etwas Dank wissen oder,die ihm wohlgewollt, einige Vergeltung geschehenlassen; er wird alle Wohltaten in Vergessenheit stel-len oder niemand derselben würdig schätzen, sonderndieselben vielmehr mit Hass und Verfolgung beloh-nen. Im beharrlichen Hass wird er Gnade simulieren;niemand wird er ehren oder in acht nehmen als denFürsten oder den König, und zwar auch diese nichtals nur aus Furcht oder seines eigenen Nutzenswegen.

Wenn er nun also bis in sein graues Alter hineinmit Verräterei, mit Betrug und andern dergleichenschmutzigen Arbeiten grosse Ehre erlanget und viel

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9.973 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 319Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Geld und Gut zusammen gescharret, da wird er dasFas und Nefas übern Haufen werfen, dass er seineKinder nicht sowohl zu Erben seiner Ehren als seinesRaubes und unbilligen Reichtums machet.

»Es pfleget ein Storch seine Jungen mit Schlangenund andern, was er auf dem Felde hin und wiederkann davon bringen, zu ernähren, bis sie selbst kön-nen ausfliegen; also pflegen auch die starken Raubvö-gel, die Adler, denen Hasen und Gemsen nachzustel-len, und sie zu fangen, welche sie in ihre Nester tra-gen und sich zusamt ihren Jungen davon ernähren.«

Und das sind die Kunststücke der gemeinen Hof-leute, dadurch viel aus der untersten Hefe auf hoheÄmter, Schösser-Dienste und andere Dignitäten mehrnoch heutiges Tages steigen, und nächst den Königenund Fürsten sich das grösste Ansehen, auch wohl bis-weilen gleichen Reichtum machen, und königliche Pa-latia aufbauen, da inzwischen die adelichen Höflingealles das ihrige auf Huren, aufs Brettspiel, auf dieJagd, aufs Reiten, auf Gastereien, auf Kleidung, Hof-fart und Pracht wenden, und verdestillieren ihreGüter, Schlösser, Häuser und ganzes Patrimonium.Und deren Güter kaufen dann diese plebejischen Hof-schranzen an sich, und mit ihren arglistigen Tausend-künsten und schändlichen Betrügereien nehmen sieder Edlen Stelle und Örter ein.

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9.974 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 319Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXXI.

De mulieribus aulicisoder

Von Hofdamen

Auch die Hofdamen haben ihre Laster und Mängel;denn wir sehen ihrer ja nicht wenig von Leibes-Gestalt schön, anmutig und lieblich, mit Purpur,Gold und Edelgesteinen gezieret; aber wir könnennicht sehen, was oftermals unter dieser schönen Hautfür Monstra der Natur verborgen liegen; dahero ver-gleichet sie Lucianus gar artlich den ägyptischenTempeln, denn dieselben sind von aussen reich undherrlich anzusehen, und mit Quadersteinen prächtigaufgebauet; will man aber inwendig darinnen Gott su-chen, so wird man entweder einen Affen oder einenStorch oder einen Bock oder eine Katze finden. Alsoist es auch mit diesen schönen Hoffräulein und Hof-damen beschaffen, welche alsobald von Jugend auf imweichen Müssiggang, mit Springen und Singen und inallem Überfluss auferzogen, in bösen Disziplinen ausden höfischen Liebesbüchern und Liebeshistorien(welche von nichts anders als von Überfluss, Begier-den, Hurerei, von Ehebruch und andern schändlichenBegebenheiten, Liebes-Komödien, garstigen Reden

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9.975 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 320Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

und Schandliedern voll gefüllet sind) geübt werden,und saugen daraus, gleichwie von einer Säugammenichts als verderbliche Sitten, liederliches, leichtferti-ges Leben, Stolzheit, Übermut, Unverschämtheit,List, Betrug, Halsstarrigkeit, Bosheit, Mutwillen,Rachsucht, Schwätzhaftigkeit und nichts als böseLust und Begierde. Sie haben Zungen, wann sie damitnicht plappern sollten, so ists ihnen eine Strafe; undLippen, wo die Schwätzhaftigkeit ihren Sitz hat, dabringen sie vergebliche, ungereimte, lasterhaftige, undoft denen, die es hören sollen, beschwerliche Redenvor. Denn was meinet ihr wohl, was sie miteinanderoftermals in so vielen Stunden schwatzen sollten?Fürwahr nichts anders, als närrische und müssigeHändel, nämlich: wie die Haare recht auszukämmenund zu flechten, wie dieselben mit einer sonderlichenFarbe oder Wasser anzufeuchten, wie das Gesichteanzustreichen, wie die Kleidung in die Falten zu legenund an dem Leibe recht anzupressen, mit was fürSchritten einher zu treten, mit was für einer Manieraufzustehen, wieder nieder zu sitzen, was die neuesteMode sei, wem man den Vortritt lassen soll, mit wasfür einer Miene zu grüssen, wem die Hand, wem denMund darzubieten; auf was für einer Chaise oder Car-rete die eine oder die andere fahren soll, was für Gold,Edelgesteine, Armbänder, Ketten, Ohrengehänge undRinge die eine oder andere tragen soll, und was solch

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9.976 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 321Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

unnütz Geschwätze mehr ist. Ja es sind auch wohl ält-liche Matronen, welche erzählen, was sie vor diesemfür Liebhaber gehabt, wie sie von ihnen sind beschen-ket worden, was sie von ihnen für Caressen haben ge-habt; da redet eine von dem, den sie liebet, die andereschweiget von dem, den sie hasset; und beide meinen,wie sie von den andern bewundert werden und wollenoftermals ihre Reden mit sonderlichen Lügen bemän-teln und unterstützen.

Jedoch ist unter Ihnen oftermals der ärgste Hassund der grösste Streit; eine ziehet die andere durch,fänget an auf sie zu schmählen, zu schänden und zulästern, und das ist bei ihnen die grösste Tugend. Siehaben ein Gesichte und Augen voller Fallstricke, siehaben Mienen und Gebärden voller Lascivität, siehaben Ränkchen und artliche Reden, dadurch sie ihreLiebhaber betrügen oder sie zu einem Geschenkezwingen können; tragen etwan diese einfältige Lieb-haber einen Ring, ein Armband, ein Edelgestein oderein Kettlein an ihrem Leibe, das schwatzen sie ihnendurch geschmierte Worte ab und betteln so lange, bissie es bekommen, machen dafür eine verliebte Miene,herzen und küssen ihn einmal dafür, und stellen sichmit ihrem Schwatzen gar vertraulich an. Und das istnun der Hofdamen Gewerb und Nahrung. Ich schämemich, hier ferner zu gedenken, was oftermals fürheimliche Schanden und Laster in ihren

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9.977 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 322Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Schlafkammern vorgehen, wie sie dem Hochzeit-Gottihr Opfer bringen, und der Natur Unrecht und Gewalttun, und meinen, wann sie nur ein dünnes Kleid übersich ziehen, dass alles verborgen ist.

Was meinet ihr nun, wie werden sich nur diesekünftig, wann sie Männer nehmen, gegen dieselbe be-zeigen. Ach, was tun sie ihren frommen und ehrbarenMännern für Schmach und Unrecht an. Sie werfen ihrvornehm Geschlecht, ihr Reichtum, ihre schöne Ge-stalt und andere Ehen den armen Männern mit Beis-sen und Zanken für; da ist der häusliche undAlle-Tags-Tisch ihnen zu geringe, da stecket ihnendie höfische Verschwendung im Kopfe, sind derPracht und guten Bisschen gewohnet; will der Mannein gut Wort oder gute Tage haben, so muss er, waszu ihrem Pracht, Hochmut und Wollust dienet, her-ausrücken und bringen also die armen Männer ofter-mal um ihr Vermögen, und schwächen dergestalt seinHaus, dass er zum öftern sich auf die böse Seitenlegen und Tag und Nacht darauf sinnen muss, wie erdurch Betrug und andere unzulässliche Mittel seinenUnterhalt bekommen, und seinen Staat zu führen dieLeute aufsetzen und betrügen möchte. Ja, wann es nurnoch dabei bliebe; aber da sehen wir, dass sie andereMänner lieben, Ehebrüche begehen, fremde Kinderhersetzen, und ihr adelig Geschlechte oftermals mitgeringen oder Bauersleuten besämen; will der Mann

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9.978 Agrippa-Eitelk. Bd. 1, 323Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

seinen Hass und Eifer sehen lassen, so ist er nicht si-cher, dass er nicht möchte vergeben werden. Denn(wie Hieronymus gegen den Jovinianum spricht): Fa-miliares malarum foeminarum artes sunt doli, fraudes,venefica, mala medicamenta et magicae vanitates. Dasist: Böser Weiber tägliche Künste sind List, Betrug,Vergebung, schädliche Arztneien und leichtfertigezauberische Händel. Also hat Livia ihren Mann umsLeben bracht; also hat Lucilia ihren getötet und Giftunter einem Liebestrank gegeben. Also ist wahr, wieder Prediger Salomo spricht: Tutius est commorarileoni et draconi, quam cum muliere nequam. Das ist:Es ist besser unter Löwen und Drachen, als bei einembösen Weib wohnen.

Wer nun eine gehorsame und fromme Frau habenwill, der hüte sich für einer solchen Hofdame; undwelche Frau einen frommen Mann haben will, dienehme keinen Hofschranzen.

Aber ich bin bald ein wenig zu weit gangen; ichhabe es gesagt und kann es nun nicht ungesagt ma-chen. Aber nun will ich meine Hand über mein Maulhalten und will ihnen nichts weiter sagen, sondernwill mich vom Hofe wegmachen und die andern Teileder Oeconomie oder Haushaltung, nämlich die vor-nehmsten mechanischen Disziplinen, als da ist dieKaufmannschaft, der Ackerbau, der Krieg und andereSachen mehr examinieren und betrachten.

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9.979 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 1Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXXII.

De mercaturaoder

Von der Kaufmannschaft

Die Kaufmannschaft ist an sich selbsten eine sehrlistige Aufspürerin des heimlichen Gewinstes und einbegieriger Schlund des offenbaren Raubes; sie ist nie-mals glückselig im Genughaben, aber elend in der Be-gierde, mehr zu erlangen; doch bringet sie einer Repu-blik nicht wenig Vorteil und Hilfe, sie ist bequem, mitandern und ausländischen Königen und Völkern sichin Freundschaft einzulassen, auch dem Privatlebengar nützlich und nötig, wie die meisten dafür gehaltenhaben. Plinius meinet, sie wäre zu unserer Leibesnah-rung erfunden, derowegen haben vornehme und auchweise Leute solche zu exerzieren sich nicht gescheuet;unter welchen (wie Plutarchus Zeuge ist) sind gewe-sen Thales, Solon, Hippocrates. Aber obwohl maneiner Kunst und Wissenschaft nachstreben mag, ent-weder wegen der Lust oder wegen der Arbeit oderwegen der Tugend und Ehrbarkeit oder wegen derWahrheit und Gerechtigkeit, so sind doch nicht allediese, ob sie gleich notwendig, gewinnhaftig und an-genehm sind, deswegen auch ehrbar, löblich und

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9.980 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 2Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

gerecht. Also ist der Kaufleute ihr Tun sowie der Wu-cherer, Wechsler, der Hausierer zwar ein notwendigesWesen, auch nützlich und mühesam; aber es kanndoch nicht anders als ein servilischer, unflätiger undböser Gewinst genennet werden; denn nicht dieKunst, sondern der Betrug selbsten wird hier gekaufetund verkaufet, welches aber nicht ein Tun eines auf-richtigen, rechtschaffenen und gerechten Mannes, son-dern eines obskuren, verschmitzten und betrügeri-schen Menschen ist. Denn alle Krämer und Kaufleute,die kaufen zu dem Ende ein, dass sie solches wieder-um teuer und weit über das angelegte Kapital verkau-fen wollen, und der ist unter ihnen der vornehmste,welcher nur wacker schinden und schaben und dengrössten Profit machen kann; bei ihnen ist Lügen,falsch Schwören und Betrügen gemein; sie halten esauch für keine Schande noch Scham, und sprechenwohl gar, es sei ihnen von Rechts wegen vergönnetund nachgelassen, dass einer den andern bis auf dieHälfte des Wertes vervorteilen und betrügen mag, undniemand zweifelt auch daran; denn ihr ganzes Lebenist auf nichts anders, als auf Gewinst und Reichtumgerichtet. Es gehen aber dabei solche schändliche La-ster vor, die billig Strafens wert sind; niemand wirdreich ohne Betrug, und wie Augustinus spricht: Nie-mand kann einen Gewinst haben, wann er nicht Be-trügerei suchet.

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9.981 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 3Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

- - - Et plenius aequo,Laudat venales, quas vult extrudere merces.

Das ist: Ein Kaufmann lobet seine Waren mehr alssie wert sind. Und ein anderer Poet saget:

Perjurata suo postponit numina lucro Mercator,Stygiis non nisi dignus aquis. Das ist: Der ungewis-senhafte Kaufmann setzet alle Gottesfurcht hintan undschwöret sich mit Leib und Seele in die Hölle hinein.Dahero kaufet dieser, jener verkaufet, dieser bringet,jener träget weg, dieser machet Schulden, jener nim-met Schulden, dieser gibet, jener bezahlet. Alle aberschwören falsch, betrügen und belügen, da setzen siealle Gefahr der Seelen, des Leibes und des Glückesaus den Augen; wann sie nur einen Gewinst zu hoffenhaben, so gilt weder Freundschaft noch Verwandt-schaft, wann es nur Nutzen bringet; also suchen siedie ganze Zeit ihres Lebens doch nur Gewinst, undkönnen keine bessere Ruhe und Vergnügung in ihremLeben haben, als den schändlichen Gewinst; sie lau-fen und rennen dieses schnöden Gewinstes wegen dieganze Welt durch: Impiger extremos currit mercatorad Indos, Per mare pauperiem fugiens, per saxa, perignes. Das ist: Der hurtige Kaufmann reiset überWasser und Land bis in Indien hinein, und fürchtetaus Angst vor der Armut keine Gefahr, wo er weisswas zu erwerben.

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9.982 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 4Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Aber ihr Betrug bestehet meistenteils in der Wolle,im Lein, in Seiden, im Tuch, im Purpur, in Edelge-steinen, im Gewürze, im Wachs, im Öl, im Wein, imGetreidig, in Pferden, in andern Tieren und in andernSachen mehr, die Handel und Wandel unterworfensind, welches mancher mit seinem eigenen Schadenwohl gewahr wird; aber das sind nur erst Bagatellenund kleine Sachen, die grössten und vornehmsten sindnoch zurücke.

Die Kaufleute sind dieselben, welche der Welt soviel Fallstricke legen durch die Einfuhr - bis vomEnde der Erde - schädlicher Waren, darnach unsereWeiber und Kinder wegen ihrer Rarität einen Appetitbekommen, ob sie gleich zu keiner Notwendigkeit desmenschlichen Geschlechts oder Lebens, sondern nurzu Pracht, Hoffart und Übermut, zum Spiel und Wol-lust dienen und hergebracht werden. Sie putzen ganzeLänder und Königreiche ums Geld, verderben guteSitten und führen neue Moden und durch dieselbenneue Laster ein, jagen die alten, guten Gebräuche aus,und indem sie sich stets neuer und fremder Sachen be-fleissigen, so erfüllen sie das ganze Land mit bösenGebräuchen und ärgerlichen Gewohnheiten. Diesesind's, welche wider die Rechte, wider die Billigkeitund heilsame Gesetze Kompagnien schliessen undaufrichten, Monopolia exerzieren, alles versuchen undausdenken, wie sie in einer Republik der Gemeine ihr

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9.983 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 4Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Geld mögen an sich ziehen, indem sie mit ihremGelde andere suchen zu überwägen, und vor ihnenden Vorzug zu bekommen; sie lassen andere nebstihnen nicht aufkommen, und durch ihr hohes Gebotsuchen sie die Sachen zu überteuern; sie kaufen allesallein ein, damit sie hernach, nach ihrem selbst eige-nen Gefallen damit wacker schinden und schaben, unddie armen Leute um ihr Geld bringen können. Will'saber etwa übel mit ihnen ablaufen und der Kredit sichabschneiden, so scharren sie gross Geld zusammen,halten nicht Wort, machen banca rotta, und gehen ausder Stadt und Land in ein anders, werden Flüchtigeund Landläufer und kommen nicht wieder, und betrü-gen ihre Gläubiger, dass diese oftermals aus Despera-tion und Verzweiflung den Strick sich erwählen.

Die sind's, welche mit ihren Wechseln und Obliga-tionen die Bürger ineinander wickeln, und über dieSchulden solche verzweifelte Versicherungen sich tunlassen, dass sie wie tiefe Wurzeln nicht können wie-der ausgerottet werden. Aus Schulden gebären siewieder andere Schulden, kehren ganze Städte um undverderben sie, und sind auf ihr Interesse, oder viel-mehr auf ihren Wucher und Schund dermassen erpichtund also ergeben, dass sie die ganze Substanz undwas das Volk noch etwa übrig hat, auch vollends auf-zufressen gedenken; sie beschneiden auch wohl gardie Münzen, oder nach ihrem Gefallen setzen sie den

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9.984 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 5Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Geldwert runter und erhöhen ihn wieder, und solchesalles mit grossem Schaden einer Republik und des ge-meinen Wesens. Diese sind's, welche der Fürsten Se-creta ausforschen und der Stände Consilia und Berat-schlagungen den Feinden zu wissen machen, und stel-len oftermals Gewinsts wegen dem Fürsten nach demLeben. Oder was unterfangen sie sich nicht, wann sienur Geld und Gut erlangen können? Alle ihr Tun undTrachten ist Betrug, Lügen, Ausforschungen, Täu-schungen und nichts als offenbare Vervorteilungen.Dahero haben die Carthaginenser denen Kaufleutenabsonderliche Wohnungen zugeordnet, und habennicht gewollt, dass sie mit den andern Bürgern eineGemeinschaft haben sollten; es wurde ihnen ein ge-wisser Gang auf den Markt und auf die Börse zugehen zugelassen; an die Schiffswerften aber und an-dere heimliche Örter der Stadt durften sie nicht kom-men; die Griechen aber nahmen sie gar nicht in dieStadt, auch damit die andern von dem Argwohn derGefahr frei wären, so richteten sie ihnen nahe bei demZwinger der Stadt gewisse Märkte auf, da sie kaufenund verkaufen möchten. Viel andere Völker mehrliessen die Kaufleute nicht zu sich kommen, weil siesich befurchten, dass sie ihren guten Sitten und Ge-bräuchen möchten Schaden bringen. Die Epidaurii,wann sie gemerket haben, dass ihre Bürger durch denkaufmännischen Verkehr mit den Slavoniern zu

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9.985 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 6Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

mutwillig, und dass ihre gute Sitten durch Einführungfremder Sitten möchten angestecket werden, so habensie einen aus ihrer Mitte, einen rechtschaffenenwackern Mann erwählet, der alle Jahr einmal nachSlavonien reisen und nachforschen müssen, was ihreBürger allda negotiieret und gehandelt haben wollten.Plato schilt die Kaufleute, und nennet sie Verderberder guten Sitten, und stehet in den Gedanken, dassman bei einer wohlgefassten Republik öffentlich ver-bieten soll, damit nicht neue Moden oder anderer Völ-ker Delikatessen (deliciae) in die Stadt gebracht wer-den möchten; auch gab er nicht zu, dass einer von denBürgern, wann er nicht vierzig Jahre alt war, in frem-de Lande reisen dürfte; auch sollten keine Fremden zuihnen eingelassen werden, damit sie nicht etwan durcheine fremde Seuche die Sparsamkeit und Sitten derguten alten Zeit möchten anstecken, die Bürger diesel-ben verlernen und hernach einen Ekel dafür haben,wodurch wackere Städte sind ruinieret und mit grau-samen Lastern, als Hurerei, Ehebruch, Hoffart undVerschwendung beflecket worden. Lyon und Antwer-pen, beide treffliche und sehr berühmte Handels-städte, haben dafür heutiges Tages ein Exempel vonsich geben.

Auch Aristoteles selbsten befiehlet, dass man sollAchtung haben, damit ja nicht fremde Sachen in eineStadt einschleichen möchten; und ob man schon,

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9.986 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 7Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

spricht er, die Kaufleute haben muss, so soll man siedoch nicht zu Bürgern annehmen; und man soll sichdeswegen für sie hüten, weil sie lügen und in denStädten alles teuer machen, auch oftermals Zank undTumult erwecken. Bei vielen Republiken ist ein altGesetz, dass ja kein Kaufmann in den Rat möchte ge-zogen werden oder das Amt einer Magistratspersonbekleiden sollte. So ist auch endlich die Kaufmann-schaft, nach Meinung bewährter Theologen, ganz undgar verdammet, und nach den päpstlichen Konstitutio-nen und der heil. Väter Dekreten, als nach dem Gre-gorio, Chrysostomo, Augustino, Cassiodoro undLeone allen Christen fast verboten worden; denn wieChrysostomus spricht: Mercator Deo placere non po-test. Ein Kaufmann kann Gott nicht gefallen. Derowe-gen soll billig ein Christ kein Kaufmann sein, oder,da er ja einer werden will, soll er aus der Kirchen ge-stossen werden. Augustinus spricht: Ein Kaufmannund ein Soldat, der kann nicht wahre Busse tun.

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9.987 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 8Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXXIII.

De quaesturaoder

Vom Schösser-Dienst

Die Schösser sind nicht viel besser als die Kaufleu-te, und ebenso eine räuberische Art von Leuten; siesind servilisch und ums Geld feil, faul und grob, aberdabei kühne und unverschämt, und verkaufen ihr biss-chen Rechnen und Schreiben, oder was sie sonst ge-lernt haben, sehr teuer; aber ihre Arten zu stehlen sindsinnreich und ingeniös, und sie dürfen nicht mit unterdie gemeinen Strassenräuber gerechnet werden. Alsosind sie unter allen Menschen, die auf Erden leben,die diebischesten, und von ihren fünf Fingern (womitsie viel Millionen zusammenrechnen) reich, welchesie so anklebend haben, dass das Geld, ob es schonleicht und flüchtig, und wie ein Aal und eine Schlangeschlupferig ist, wann es nur von ihnen angerühretwird, so bleibet es in ihren diebischen Klauen hängen,woraus es hernach niemand leicht wieder losreissenkann. Und darinnen sind sie weniger schlimm als an-dere, weil sie nur königlichen, fürstlichen und grosserHerren Beutel bestehlen und nachstellen. Was sie nundaraus diebisch entwenden, das wenden sie oft aufs

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9.988 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 10Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Huren, aufs Brettspiel, Gastereien und schöne präch-tige Gebäude, und halten Schmarutzer, Gaukler,Hunde, Pferd und Wagen; werden sie alt und hinter-lassen Kinder, so sehen wir, wie dieselben dasjenige,was ihre Väter mit Unrecht geraubet, gestohlen unddurch andere unzulässige Mittel nach und nach zu-sammen gekratzet und gescharret haben, mit Schmau-sen, Huren, Jagen, prächtiger Kleidung, oder was son-sten zur Wollust dienet, in viel Stücke zerteilen undalles unglücklich verschwenden. Aber was treibendiese Schösser nicht selbsten vor Wucher! Sie neh-men Zinsen und Geschenke, plündern die Schuldnerdurch Prolongationen, stellen falsche Rechnungen auf,fälschen Wechselbriefe, liegen unter einer Decke mitden Feldhauptleuten, machen Siegel nach, schiessenfalsche Münze mit unter und machen sie mit Metallund Quecksilber an, sind meistenteils gute Freundemit den Goldmachern und haltens mit ihnen als Ge-nossen oder als Begünstiger. Aber, wie Cicero saget,die Kaufmannschaft selbsten, wann sie gross undweitläuftig ist, und viel aus- und einbringet, die isteben nicht so zu schelten; die Kaufleute also undSchösser, die können dann erst recht gelobet werden,wann sie genug gewuchert und gestohlen haben, dasssie endlich ein Landgut kaufen und sich auf denAckerbau legen. Derowegen wollen wir, was vomAckerbau zu halten sei, im nachfolgenden erwägen.

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9.989 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 11Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXXIV.

De agriculturaoder

Von dem Ackerbau

Derowegen ist der Ackerbau, zu welchem auch dieWeide, Fischerei und Jagd gehöret, bei den Alten insolchen Ehren gehalten worden, dass auch Kaiser,mächtige Könige und Feldherrn sich nicht geschämethaben zu ackern, zu säen und Bäume zu pflanzen. Zudieser Kunst hat sich Diocletianus begeben und seineRegierung niedergeleget, wie auch Attalus und Cyrus,der grosse König in Persien; der hat sich pflegen die-ser Kunst zu rühmen, und hat, wann jemand Fremdeszu ihm kommen ist, demselben seinen Garten, wel-chen er mit seiner eigenen Hand geflanzet und dieBäume, wie er sie in schöne Reihen gesetzet, gewie-sen. Auch Seneca hat Platanen gepflanzet, und mitseiner Hand Fischteiche gegraben und Wasser hinein-geleitet; er ist auch nirgends lieber gewesen als aufdem Felde. Daher sind die Zunamen so viel edler Fa-milien kommen, als der Fabiorum, Lentulorum, Cice-ronum, Pisonum, nämlich von der Menge dieser Hül-senfrüchte.

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9.990 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 11Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXXV.

De pasturaoder

Von der Weide

Auf gleiche Art haben von der Weide verschiedenerTiere die Familien der Iunii, Bubulci, Statilii, Tauri,Pomponii, Vituli und Vitellii, Porcii, Catones, Anniiund Caprae ihren Ursprung bekommen. Romulus undRemus, welche die Stadt Rom erbauet, sind Hirtengewesen, und vom Hirten ist Diocletianus zum Re-genten genommen worden; Spartacus, für welchen diemächtige Stadt Rom hat erzittern müssen, ist selbstein Hirte gewesen. Hirten waren Paris, und der VaterAeneae Anchises, und der schöne Endymion, auchPolyphemus und der hundertäugige Argus. Aus denGöttern selbsten hat Apollo des Königs AdmetiHerde gehütet, und der Merkurius, der die Schalmeierfunden hat, ist der Vornehmste unter den Hirten ge-wesen, wie auch dessen Sohn Daphnis; Pan ist derHirten Gott und Proteus ein Hirte und ein Gott gewe-sen. Und damit ich auch von den hebräischen Patriar-chen, Richtern und Königen etwas sage, so sind diegrössten Leute unter ihnen, und welche Gott am ange-nehmsten gewesen, Hirten gewesen, wie Abel der

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9.991 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 13Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Gerechte, Abraham, der Vater vieler Völker, undJakob, der Vater des auserwählten Volkes; auch Moy-ses, der Gesetzgeber und der Prophet, der mit Gott ge-redet hat; und der König David, der nach dem HerzenGottes ist erwählet worden. Auch bei den alten Grie-chen waren die berühmtesten Leute Hirten, und hatman sie teils Polyarnas, teils Polymelas, teils Polybu-tas genennet, nämlich von der Menge der Lämmer,Schafe und Ochsen haben sie ihnen Namen gegeben.So ist auch überall wohl bekannt, dass Italia seinenNamen trägt von den Kälbern oder vitulis (welchesWort die Griechen itali ausgesprochen haben). BeideBosphori, Cymmerius und Thracius, das AegaeischeMeer, Argos Hippion, sind sie nicht nach Ochsen,Ziegen und Pferden also genennet worden? Und Nu-midia, eine Provinz in Afrika, hat von der Weideihren Namen empfangen.

Des Menschen erstes Leben nach Adams Fall istauf Erden das Hirtenleben gewesen; dieses gibet unsüber das mancherlei Fleisch, Milch, Käse, Butter zuunserer Nahrung, ferner Wolle, Leder und Häute,alles dem menschlichen Leben nützlich und notwen-dig zur Kleidung; und alles dieses ist dem Menschen,jedoch erstlich nach dem Fall Adams, gegeben wor-den, weil Gott für demselben nur dasjenige, was vonsich selbsten aus der Erde kommen war, nämlich dieFrüchte in dem Paradiese, zu essen befohlen hat.

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9.992 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 14Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXXVI.

De piscationeoder

Von der Fischerei

Hierher gehöret auch die Fischerei und die Jagd.Die Kunst oder Fleiss der Fischerei ist bei den Rö-mern so berühmt gewesen, und in solchem Wert ge-halten worden, dass sie fremde Fische, und die an ita-lienischen Küsten nicht bekannt gewesen sind, vonweiten Orten der Welt auf Schiffen haben kommenlassen und in ihr Meer geworfen, und haben gleich-sam dieselben wie auf Felder ausgesäet und dafür ge-halten, dass dadurch dem gemeinen Wesen ein grosserNutz zuwachsen könnte. Über dieses haben sie Fisch-hälter und -Teiche in Gärten, darinnen die rarestenFische gewesen, mit grossen Unkosten aufgerichtet,von welchen auf die Letzt viele römischen Fürstenund Familien die Zunamen genommen haben, wie dieLicinii, Murenae, Sergii und Oratae; daher hat auchCicero Lucium, Philippum und Hortensium Fisch-teichler genennet, nämlich von Fischteichen. Wirlesen, dass Octavianus Augustus hat pflegen mit demHamen zu fischen, und Nero (wie Suetonius schrei-bet) hat ein güldenes Netz aus Garn von Purpur und

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9.993 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 15Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Scharlach-Farbe gehabt.Der Arten zu fischen sind ebenso nicht viel und

werden alle Fische mit Netzen oder mit der Angeloder mit den Fischreusen oder mit den Pfeilen odermit dem Rechen gefangen.

Aber die Fischerei ist eben nicht in so grossemLobe zu halten, weil die Fische ein hart Nutrimentoder Nahrung geben, und dem Magen nicht dienlichsind; sie sind auch den Göttern zum Geschenk nichtangenehm gewesen, denn wir haben niemals geböret,dass ein Fisch zum Opfer wäre gebraucht worden.

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9.994 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 15Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXXVII.

De venatica et aucupiooder

Vom Jagen und Vogelstellen

Gleichwie nun die Fischerei, also erfordert auchdas Jagen und Vogelstellen einen Verstand; bei diesenmuss man Stärke des Leibes haben und dabei gebrau-chen Jägernetze, Fallen, Sprenkel, Stricke, Schlingenund andere listige Stückchen und Betrügereien. Beidem Vogelstellen muss man sich des Vogelleims, wieauch der Adler, Habichte, Hunde, Luchsen und ande-rer Tiere, die zum Raub und Jagen geschickt sind, ge-brauchen. Aber fürwahr eine verfluchte Kunst, eineeitle Beschäftigung, und ein unglückseliger undnichtswürdiger Kampf, mit solchen Bestien vonNacht zu Tage zu streiten und mit solcher Arbeit undvielen Nachtwachen in das unvernünftige Vieh hineinzu wüten; eine grausame und ganz traurige Kunst,welcher Blutvergiessen und Totschlag, davor dieMenschlichkeit einen Abscheu haben soll, eine Lustist. Diese Kunst haben von Anfang der Zeiten die är-gesten Missetäter und grössten Sünder exerzieret.Denn wir lesen in der Heiligen Schrift, dass Kain, La-mech, Nimrod, Ismaël und Esau mächtige Jäger

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9.995 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 16Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

gewesen, und dass im Alten Testament niemand dieJägerkunst exerzieret habe, als die Ismaëliten undIdumäer und diejenigen Völker, die Gott nicht erken-net haben. Die Tyrannei hat von der Jägerei ihren An-fang, denn sie hat keine besseren Erfinder haben kön-nen, als welche mit Marter und Totschlag der wildenTiere, und mit Blutpfützen Gott und die Natur verach-ten gelernet haben. Doch haben die Könige in Persiendie Jägerei, als ein scharfes Nachsinnen oder Vor-übung zum Kriege zu gebrauchen, in Ehren gehalten;denn die jägerischen Streite und Kriege nahen wasGrausames an sich, indem die Jäger an den räuberi-schen Hunden, an den preisgegebenen wilden Tieren,am Blutvergiessen und am Zerreissen der Kaldaunenihre Lust büssen, und oftermals so einen schändlichenund harten Tod mit höchster Lust, als wann es nur einScherz wäre, anschauen. Der greuliche Weidmann la-chet dazu und nimmet mit seinem Hundeheer und Jä-gernetzen den unglückseligen Raub, wie einen wahrenTriumph, als wann er den grössten Teil der Weltüberwunden hätte, mit nach Hause; und da gehet erstdas rechte Schinden an, und da muss nun das armewilde Tier mit sonderlichen Handgriffen, mit gewis-sen Weidsprüchen und mit vorgeschriebenen Worten(denn so und nicht anders muss man hier reden) aus-geweidet und geschunden werden. Fürwahr eine schö-ne jägerische Torheit, und ein schöner Krieg; wer sich

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9.996 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 17Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

darinnen berühmt machet, und in demselbigen sichfleissig exerzieret, der kann die menschliche, angebo-rene Humanität leicht abziehen, und durch diese grau-samen leichtfertigen Jägersitten, wie der Actäon, dieNatur eines wilden Tieres an sich nehmen. Ja die Un-sinnigkeit und die Raserei hat die Jäger oft so einge-nommen, dass sie Feinde der Natur sind worden, wievon denn Dardano gewisse Fabeln erzählet werden.

Die Erfinder dieser unglückseligen Kunst, sagetman, sollen die Thebaner gewesen sein, ein Volk,wegen Diebstahls, Betruges und aller Gottlosigkeitberühmet, und wegen Vatermordes und Blutschandevon andern Völkern verfluchet; welche Kunst hernachauch auf die Phrygier kommen, ein Volk ebendiesesGelichters, närrisch und leichtfertig dabei, weswegensie von den Atheniensern und Lazedämoniern, alsernsthaftigen und gravitätischen Völkern, sind verach-tet gewesen.

Hernach aber, als die Athenienser das Verbotwegen der Jägerei aufgehoben hatten, als sie dieseKunst auch zugelassen, und bei ihrer Republik glei-cher Gestalt eingeführet hatten, da wurde die Stadtbald erobert. Daher wundere ich mich über die Mas-sen, dass von dem Platone, von dem Fürnehmsten derAkademie, diese Kunst ist so gelobet und rekomman-dieret worden; vielleicht aber hat er solches nicht derLust wegen, sondern aus einem ehrlichen Vorsatz und

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9.997 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 18Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

wegen der Notwendigkeit getan, gleichwie Meleagerdas wilde Schwein zu Calydonien nicht zu seinerLust, sondern zum Nutzen des ganzen gemeinen We-sens und zur Erhaltung des Vaterlandes ermordet, unddas Volk von diesem wilden verwüsterischen Tier er-rettet hat. Romulus jagte Hirsche, nicht aber aus Wol-lust, sondern sich und die Seinigen zu erhalten.

Es ist noch eine andere Übung der Jägerei, welchesie das Vogelstellen oder die Falknerei nennen, nichtvon solcher Grausamkeit, aber wohl von solcher Va-nität und Eitelkeit; dahero sind diese Vogelsteller undFalkner genennet worden, welche entweder die Vögelfangen oder, welche (wie Baruch saget) durch Vögelmit den Vögeln des Himmels spielen. Man saget,Ulysses sei dieser Kunst Erfinder gewesen, welcheram ersten nach Eroberung der Stadt Troja die Vögelzur Jagd abgerichtet und nach Griechenland geführethat, nur bloss zu dem Ende, damit diejenigen, welcheihre Eltern in dem trojanischen Kriege eingebüsset,wiederum eine Ergötzung hätten; doch hat er seinemSohne Telemachus verboten, diese Kunst zu lernen.

Endlich sind diese Exerzitia, welche doch an sichselbsten recht knechtisch und körperlich sind, so hocherhoben worden, dass man die andern freien Künstealle auf die Seite gesetzet hat; und werden noch heuti-ges Tages die Jägerkünste für die vornehmsten Wis-senschaften gehalten, sonderlich unter den Edelleuten,

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9.998 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 18Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

dadurch man zu grossen Dignitäten kommen könnte.Heutiges Tages ist das ganze Leben der Könige undFürsten, ja, welches zu bejammern ist, der Äbte, Bi-schöfe und anderen Geistlichen nichts als Jägerei;hierinnen beweisen sie ihr Heil, und lassen ihre tapfe-ren Tugenden sehen:

Spumantemque dari pecora inter inertia votis Optataprum aut fulvum descendere monte leonem. Das ist:Sie wünschen, dass ihnen etwa ein wildes Schweinoder ein grimmiger Löwe möge zu nahe kommen.

Diejenigen, welche uns Exempel der Geduld gebensollten, die suchen in diesem Stück Überwinder undJäger zu sein. Ja, welche Tiere von Natur frei, undnach dem Rechte demjenigen, welcher sie in Besitznimmt, eigen sein sollten, derer massen sich anjetzodie Grossen und Mächtigen durch öffentliche, unbe-sonnene Verbote allein zu eigen. Die Bauern müssenvon ihren Brachäckern weg, und die Hirten von ihrenWäldern und Wiesen, und dürfen das ihrige nichtbrauchen wie sie wollen, nur damit die Edelleute, wel-chen alleine es vergönnet ist, das Wild in der Ma-stung erhalten und ihre Lust damit haben können. Hataber ein Bauersmann oder ein Hintersasse nur etwasdavon genossen, so ist es, als wann er ein Crimen lae-sae Majestatis begangen hätte, und wird nebenst demwilden Tiere zum Raub und Rappuse gegeben.

Sehen wir die Heilige Schrift, auch wohl diePhilosophie von Platon bis Nietzsche

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9.999 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 19Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Historien der Heiden an, so werden wir nicht finden,dass ein Heiliger oder ein Weiser oder ein Philoso-phus ein Jäger gewest sei; Hirten aber gar viel, undetliche auch Fischer; und Augustinus spricht: dieseKunst sei die allernichtswürdigste. Und das Conci-lium Aurelianense und Elibitanum hat den Clericissolche zu exerzieren verboten; das päpstliche Rechtverbeut den Jägern auch, dass sie zu keinem Ordenkommen können, sagt auch, dass Priester noch über-dies ihrer geistlichen Dignität sollen beraubet werden,wann sie der Jägerei obliegen.

Esau war ein Jäger, weil er ein Sünder war. In derHeiligen Schrift wird des Wortes Jäger niemals imGuten gedacht, derowegen wird niemand daran zwei-feln, dass die Jägerei böse sei, weil sie von allen Hei-ligen und Weisen für böse ist ausgerufen worden. FürAlters, als die Menschen im Stande der Unschuld le-beten, da flohen die wilden Tiere nicht vor ihnen,taten ihnen auch keinen Schaden, sondern warenihnen alle untertan und gehorsam. Dessen Exempelhaben wir auch in nachkommenden Zeiten erfahren,bei denen Leuten, die ein heilig und fromm Leben ge-führet haben. Danielen widerfuhr kein Leid in der Lö-wengrube, die Schlange konnte dem Apostel Paulokeinen Schaden tun, Heliam den Propheten, Paulumund Antonium den Eremiten, hat ein Rabe, und Aegi-dium eine Hindin ernähret. Helenus der Abt hat dem

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10.000 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 21Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Wald-Esel geboten, und dieser ist gehorsam gewesenund hat ihm seine Last getragen; er hat dem Krokodilgeboten, und ist von ihm über den Fluss getragenworden; viel Einsiedler haben in der Wüste gewohnet,und sich in Höhlen und Gruben der wilden Tiere auf-gehalten, und haben sich weder für Löwen, noch fürBären, noch für Schlangen gefürchtet. Dann mit denSünden ist auch zugleich die Schädlichkeit und Ver-folgung der Tiere eingetreten, und sind die Jägerkün-ste erdacht worden. Denn, wie Augustinus spricht, sosind die Tiere anfänglich nicht giftig, noch demmenschlichen Geschlecht schädlich erschaffen, son-dern erst nach der Sünde also worden, welches ausgöttlichem Ratschluss zu Strafe des Ungehorsams un-serer ersten Eltern geschehen ist. Es ist der Schlangenein Gesetz gegeben, wann Gott spricht: Ponam inimi-citas inter te et mulierem, et inter semen tuum etsemen illius. Das ist: Ich will Feindschaft setzen zwi-schen dir und dem Weibe, und zwischen deinemSamen und ihrem Samen. Aus diesem Satze ist derJägerkrieg entstanden, nämlich der Krieg zwischenden Menschen und den andern Tieren.

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10.001 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 22Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXXVIII.

De agricultura residuumoder

Von dem Ackerbau das Übrige

Aber wir müssen wieder auf den Ackerbau kom-men; von diesem nun und von der Weide, von der Fi-scherei, von der Jagd und vom Vogelfangen haben ge-schrieben Hiero, Philometer, Attalus und Archelaus,die Könige, Xenophon und Mago, die Heerführer,Oppianus, ein Poet, auch Cato, Varro, Plinius, Colu-mella, Virgilius, Crescentius, Palladius und viel ande-re neuere. Cicero hat gemeinet, dass nichts Besseres,nichts Nützlicheres und einem freien Menschen nichtsAnständigers wäre, als der Ackerbau. Ihrer viel habenauf denselben ihr Summum Bonum und ihre zeitlicheGlückseligkeit gesetzet; dahero nennet Virgilius dieAckerleute die Glückseligen, und Horatius die Seli-gen; und das Delphische Oraculum hat einen gewis-sen Aglaum für den Preisenswertesten ausgerufen,weil er in Arcadia ein klein Gütlein auf dem Landebewohnet hat und davon niemals wegkommen ist;denn auf solche Art habe er in seinem ganzen Lebenkeine Begierde nach was Bösem und keine Erfahrungdarin haben können.

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10.002 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 22Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Aber gleichwohl, diese armseligen Leute, welchesoviel Wesens von dem Ackerbau machen, die wissennicht, dass er uns eine Wirkung ist der Sünde unddass er uns des höchsten Gottes Fluch ankündiget;denn als derselbe den Menschen aus dem Paradies ge-stossen, so hat er ihn auf den Acker geschicket und zudem Sünder Adam gesaget: Maledicta terra in operetuo, in laboribus comedes ex ea omnibus diebus vitaetuae; spinas et tribulos germinabit tibi, et comedesherbas terrae, in sudore vultus tui vesceris pane tuo,donec revertaris in terram, de qua sumptus es. Das ist: Verfluchet sei der Acker um deinetwillen, mit Kum-mer sollt du dich drauf nähren dein Leben lang, Dornund Disteln soll er dir tragen, und sollt das Kraut desFeldes essen; im Schweisse deines Angesichts sollt dudein Brot essen, bis dass du wieder zur Erden wer-dest, davon du genommen bist.

Und dieses empfindet niemand mehr als die Bauernund Feldarbeiter, denn indem sie pflügen, säen,eggen, schneiden, hacken, mähen, ernten, weinlesen,weiden, scheren, jagen, fischen, so sehen wir, dassnach aller Mühe und Arbeit diesem der Hagel undWetter das Getreide auf dem Felde zuschläget, einemsterben die Schafe oder die Ochsen, oder werden vonSoldaten weggenommen, dem andern wird das Seini-ge zugrunde gerichtet, und leiden mit ihren weinendenKindern und der armen Frau Hunger und Kummer,

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10.003 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 23Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

und gehen mit ungewisser Hoffnung abermals auf ihreArbeit. Ehe Gott diesen Fluch gegeben hat, hat manden Acker so nicht künstlich bauen, auch das Viehnicht füttern und auch nicht jagen und fischen dürfen;die Erde hat alles freiwillig von sich gegeben, Winter-und Sommerfrüchte haben durch Lieblichkeit ihresGeruchs erfreuet und die Wiesen mit ihren schönenBlumen stets floriert; so ist auch dem Menschennichts Schädliches aus der Erden gewachsen, keinKraut ist giftig gewesen, kein Baum unfruchtbar oderwilde, der Gift ist den Nattern und Schlangen und an-dern kriechenden Tieren benommen gewesen, und hatder Mensch (wie Beda für all das unser Autor ist)über alle Tiere die Herrschaft bekommen, und hat so-wohl den wilden Tieren als zahmen Viehe gewisseLast aufgeleget, er hat den Fischen im Meere geboten,die Vögel sind auf sein Begehren zu ihm geflogen,und hat, sobald er ist geboren worden, alle Bewegun-gen verrichten, und ohne Kleidung und Bedeckung,ohne gewürzte Speisen und ohne Medicamenta einglückselig Leben führen können, weil ihm alles zuGebote gestanden hat, wie jener Poet saget: Terracibum pueris, vestem vapor, herba cubile. Das ist:Die Erde gab alsobald den Kindern ihre Speise, keineKleidung bedurften sie nicht, und ihr Bette hatten sieauf dem grünen Grase. Aber die Schuld der Sünden,und die darauf erfolgete Notwendigkeit des Todes hat

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10.004 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 24Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

uns alles zu nichte gemacht. Jetzo bringet die Erdeüber unsern sauern Schweiss und Arbeit von sich sel-ber nichts mehr herfür, ja sie zeuget tödliche und gif-tige Sachen, und damit will sie uns öffentlich unserLeben vorhalten; auch über die Erde machen es dieandern Elementa nicht viel besser mit uns. WievielMenschen nimmt das Wasser oder das Meer durchseine Sturmwinde weg, wieviel kommen durch wildeTiere um? Ist nicht auch die Luft mit Donner, Hagel,Ungewitter uns entgegen? Deutet uns nicht der Him-mel selbsten durch pestilenzische Seuchen unsern Un-tergang an? Ja es sind uns auch die Tiere, gleich alswann sie es miteinander abgeredet hätten, zuwider,und der Mensch selber, wie das Sprichwort lautet, istdes andern Wolf, um und um uns herum sind unreineGeister, die uns zu aller Wollust anzureizen versu-chen, und in ihr Garn zu bekommen trachten, da wirnichts als ewige Pein und ewige Marter zu hoffenhaben.

Aus diesem allen ist es ja mehr als zu offenbar,dass der Ackerbau nebst allem Weiden, Fischen undJagen nichts anders ist, als ein Verlust und Beraubungunserer besten Sachen, und hingegen eine Erfindungdes Bösen, womit wir in diesem Leben bis an unserEnde uns schleppen müssen, womit wir der Unfrucht-barkeit des Erdreichs, dem Mangel der Nahrung, denUnbilden von Frost und der Hitze durch die

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10.005 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 24Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Bekleidung nur auf eine Zeitlang abhelfen oder viel-mehr nur ein wenig sie besänftigen.

Aber gleichwohl hätte der Ackerbau bei diesem un-serm elenden Zustande ein nicht geringes Lob, wanner in seinen Grenzen geblieben wäre und uns nichthätte lernen wollen, wie wir wunderliche Gewächseder Kräuter säen, und sonderlich fremde, und vonihrer Natur ganz abgesonderte Bäume pflanzen soll-ten; wie Pferde mit Eseln, Hunde mit Wölfen und an-dere wunderliche Tiere wider das Gesetze der Naturvermischet werden könnten. Auch welchen Tieren dieNatur, der Himmel, das Meer und die Erde die Frei-heit gegeben, die schliessen wir ein in Vogelbauer, inHälter, in Tiergarten und in andere Carcer und Behält-nisse, ja wir blenden sie, schneiden ihnen gewisseGliedmassen ab und mästen sie in ihren dunkeln Lö-chern.

Aus dem Flachs, Wolle, Seiden und aus den Stof-fen, die wir sollten zu unserer notdürftigen Beklei-dung anwenden, machen wir prächtige Zeuge und Ge-webe, welche zu nichts anders als zu des MenschenÜberfluss, Hochmut, Stolzheit, Pracht, und endlich zuunserm Verderb und Untergang ausgesonnen und er-dacht sind; wie sich Plinius nur alleine über denFlachs beschweret, denn da spricht er: der Flachs isterstlich so ein kleiner Samen, hernach ein Gewächs,bald aber wird er zu einem Segel, das, durch des

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10.006 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 26Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Windes Zublasen einen in die ganze Welt kann hin-und wiederbringen, und zwinget die Leute selber,dass sie auf dem Wasser, als wann es ihnen nichtgenug wäre, dass sie auf dem Lande stürben, müssenumkommen und von Ungeheuern gefressen werden.

Über dieses haben die Ackersleute, die Hirten, dieFischer, die Jäger und Vogelsteller soviel Observatio-nes und Anmerkungen, welche nicht sowohl närrischund lächerlich, als abergläubisch und Gottes Wort zu-wider sind; damit wollen sie Wetter vertreiben, dieSaat fruchtbar machen, Wölfe und andere schädlichewilde Tiere wegjagen, Fische und Vögel mit Händenfangen, flüchtige Tiere zum Stehen zwingen und desViehes Krankheiten beschwören. Von diesem allenhaben diejenigen, derer wir oben gedacht, weitläuftigund mit grossem Aberglauben geschrieben.

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10.007 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 26Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXXIX.

De arte militarioder

Von der Kriegeskunst

Aber wir müssen von den Ackersleuten auf die Sol-daten kommen, welche, wie Vegetius und auch Catosaget, vom Acker weggenommen und zum Kriege ge-schickt gemacht, oftermals die tapfersten Soldatenwerden. Die Heil. Schrift bezeuget, dass der streitbareCain ein Ackersmann und Jäger gewesen ist; Janusund Saturnus sind streitbare Götter gewesen undhaben zuvor auf Erden ihr Leben mit dem Ackerbauzugebracht. Derowegen scheinet es, als wann dieseKunst keineswegs zu verachten wäre, welche (wieValerius spricht) die Herrschaft über Italien dem rö-mischen Reiche zuwege gebracht, und viele Städte,Länder und mächtige Völker in Botmässigkeit gewie-sen, die Schlünde des Pontus, die Buchten der Meereund die alpischen und taurischen verschlossenenBerge aufgemachet hat.

Africanus Scipio, der rühmet sich (bei dem Ennio),dass er durch das Blut der Feinde sich den Weg zumHimmel eröffnet habe, welchem auch Cicero beige-pflichtet, wann er spricht, auch Herkules sei auf diese

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Art in Himmel gestiegen.Diese Kunst sollen uns die Lazedämonier am er-

sten gewiesen haben, daher hat Hannibal, als er aufItalien ein Absehen gehabt, einen Lazedämonier zumKriegesgeneral gemachet und zu sich genommen.Durch diese Kunst sind Königreiche und Länder sta-bilieret und auch wiederum verwüstet worden. Dennunter den Händen der tollkühnen Heerführer ist dasstreitbare Numantia, das schöne Korinth, das stolzeThebe, das gelehrte Athen, das heilige Jerusalem,Karthago, die Nebenbuhlerin Roms, und auch endlichdas mächtigste Rom selbst gefallen.

Diese Wissenschaft oder Kunst, welche mit mehrBlute als des Draconis Gesetze geschrieben, weiset,wie man die Schlachtordnung anstellen, den Feind an-greifen, anhalten, auf rechts und links vorstossen, wieman die Signale und Kommandorufe verstehen undausführen soll, wie verfolgen und überwinden kann,wie man die Spiesse, Pfeile und das Gewehr rechtbrauchen, und nicht eher, als wann ganz keine Hoff-nung zur Viktorie vorhanden, das Feld räumen soll,wie man den Flüchtigen nacheilen und sie niederma-chen, den Feind fangen, denselben desarmieren, ver-folgen, zerstreuen, die Seinigen aber wieder rekolli-gieren und zusammenhalten, und das Kriegesheer ineine gute Ordnung bringen oder, wann es geschlagen,seine Revanche suchen soll, auch was sonsten bei

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10.009 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 28Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

dem Kriege noch erfordert wird.Diese Kunst weiset uns auch, wie eine Schiffsar-

made aufzurichten, Schlösser und Läger aufzubauen,zu befestigen und mit Völkern zu besetzen, wie Wälleund Basteien aufzuführen, Schanzen zusammenzufü-gen, Gräben auszufüllen, Minen zu verfertigen, Mau-ern zu brechen, gute Waffen zu wählen, heimlicheGänge und Ausfälle anzurichten, wie die Zufuhr her-einzubringen, wie man sich gewisser Krie-ges-Stratagematum und -Listen gebrauchen soll; fer-ner lehret sie uns Städte zu belagern, die Geschützerecht zu gebrauchen, Mauren und Türme zu durch-bohren, Städte und Dörfer anzuzünden und zu verwü-sten, Kirchen und Schulen zu berauben, Land undLeute zu vernichten, Gesetze mit Füssen zu treten,ehrliche Matronen, Witwen und Jungfern zu schändenund zu entführen, Bürger auszuplündern, zu martern,einzukerkern und ums Leben zu bringen.

In Summa, diese ganze Disziplin ist nur zum Scha-den des menschlichen Geschlechts erfunden, und hatkeinen andern Zweck und Endursache, als dass sietüchtige Verheerer der Städte und berühmte Men-schentotschläger ausbrüte, und aus Menschen wildeBestien mache; daher ist der Krieg nichts anders, alsvieler Leute Räuberei und Mörderei und die Soldatennichts anders, als des gemeinen Wesens Verderber,besoldete Totschläger und Strassenräuber.

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Auch weil des Krieges Ausgang allzeit ungewissist und oftermals durch das Glücke und nicht durchdie Kunst der Sieg kommet, so saget mir: was helfenalle die oben erzähleten militarischen Künste, Regu-len, Präcepta und Stratagemata? Ist nicht alle Kunstvergeblich und umsonst, wann das Glück allein ent-scheidet? Und gleichwohl hat der göttliche Plato dieseKunst gerühmet und befohlen, dass die Knaben die-selbe lernen, die Erwachsenen aber sich in den Kriegbegeben sollen. Und Cyrus, der tapfere König, hat ge-sagt, sie wäre ebenso nütze, als der Ackerbau. Augu-stinus selber und Bernardus, grosse Lehrer bei der ka-tholischen Kirchen, die haben sie gebilliget; auch diepäpstlichen Decreta haben dieselbe gutgeheissen, ob-schon Christus und seine Apostel ganz anderer Mei-nung gewesen sind; ja die Kriegeskunst hat endlich,ohnerachtet Christus selbst widersprochen, einennicht geringen Grad in der Kirche erhalten; da sind soviel Sekten und Orden heiliger Soldaten und Streiterentstanden, deren Religion und Andacht doch innichts anders als Blutvergiessen, in Mord und Tot-schlag und in Raube und Piraterie bestanden, aberalles ist mit dem Deckmantel der Religion bemäntelt,und als wann es zur Ehre Gottes, zu Verherrlichungder Kirche und des christlichen Glaubens abgesehenwäre, vorgewendet worden; gleich als wann Christussein Evangelium nicht durch Lehren und Predigen,

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sondern durch Gewehr und Waffen, nicht durch Reueund Martyrium, sondern durch Drohungen, Krieg,Mord und Totschlag hätte wollen bekannt machen.

Und ist diesen Kriegsgurgeln nicht genug, dass siewider die Türken, Mohren und Heiden ihre Tyranneisehen lassen, sondern sie müssen Christen durchChristen mit ihren Flotten verderben und zunichte ma-chen. Endlich sehen wir auch, dass diese Kunst oderder Krieg viel Bischöfe gemachet hat; ja es ist ofter-mals wegen des heiligen Papstesstuhles in der Weltwiderlich gestritten und Krieg geführet worden, undist der Papst, wie der heilige Episcopus Camotensisspricht, oftermals nicht ohne Vergiessung brüderli-chen Blutes auf seinen Heiligen Stuhl erhoben wor-den, und dieses wird hernach die Beständigkeit imMartyrium genennet, wann um die grosse Kathedermit Vergiessung so vieler Christen Blut mächtig istgestritten worden.

Von dieser militärischen Kunst haben geschriebenXenophon, Xenocrates, Onesander, Cato, Censorius,Cornelius Celsus, Higinus, Vegetius, Frontinus, He-lianus, Modestus; aus den Neueren Volturius, Nico-laus Florentinus, Jacobus Comes Purliliarum und ei-nige andere. Und dieses sind nur Lehrer und nicht sogefährlich als die, welche den Krieg selbsten prakti-zieren. Aber die Gradus und Titul dieser Kriegsdiszi-plin sind nicht der Baccalaureus oder der Magister

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10.012 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 30Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

oder Doktor. Auch werden heutzutage nicht alle Sol-daten Imperatoren genennet, Generalspersonen, Gra-fen, Freiherren, Ritter, Kapitäns, Hauptleute, Fähnri-che oder wie dergleichen Titul sonst heissen, die ausEhrgeiz und Unrecht entstanden sind; nein, die richti-gen Namen wären: Räuber, Einbrecher, Entführer,Banditen, Diebe, Tempelschänder, Klopffechter, Fra-uenschänder, Kuppler, Hurer, Ehebrecher, Verräter,Staatskassenräuber, Viehdiebe, Spieler, Lästerer,Giftmischer, Vatermörder, Mordbrenner, Seeräuber,Tyrannen und ich weiss nicht was mehr. Will mannun diese alle mit einem Namen nennen, so nenneman sie Soldaten oder ein Abschaum aller verbreche-rischen Leute, welche zu diesen bösen Taten ihr bösesGemüt und ihre böse Art anreizet. Ihre Freiheit undWürde ist allein die Freiheit zu sündigen und zu rau-ben und nur dahin zu trachten, wie sie Schaden tunkönnen; sie sind gleichsam ein Leib, dessen vornehm-ste Gliedmassen oder das Haupt der Teufel ist; hier-von saget Job: Corpus illius quasi scuta fusilia, etcompactum squamis se prementibus; una uni conjun-gitur, et ne spiraculum quidem incedit per eas, una al-teri cohaeret et tenentes se nequamquam separabun-tur. Assistunt sibi, quia in unum convenerunt adver-sus Dominum, et adversus Christum ejus. Das ist:Seine stolze Schuppen sein wie feste Schilde, fest undeng ineinander; eine rühret an die andere, dass nicht

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ein Lüftlein darzwischen gehet; es hänget eine an derandern und halten sich zusammen, dass sie nicht von-einander zu trennen sind. Sie stehen beisammen undhaben sich zusammen verschworen, wider den Herrnund seinen heiligen Christ.

Die Insignia oder Kennzeichen dieser Kriegskunstsind nicht Purpurgewänder, güldene Ringe und Kettenoder Tiaren, sondern hin und wieder an dem Leibegarstige Wunden und Narben. Ihre Übung kann ande-rer Gestalt nicht als mit Verderb und Schmerzen vie-ler geschehen. Ihr Leben ist Christo, der wahren Se-ligkeit, dem Frieden, der Liebe, der Unschuld und derGeduld ganz und gar zuwider. Ihre Belohnung ist eineEhre oder Menschenadel, die mit Menschenblut er-worben sind, und ihr Herrschen geschieht mit vielerSeelen Ruin und Schaden. Denn, weil die Endursachedes Krieges die Viktorie oder der Sieg ist, so kannniemand ein Überwinder sein, er muss denn ein Tot-schläger sein, und niemand ist überwunden, wann ernicht jämmerlich ist getötet worden. Der Tod einesSoldaten ist elend; ein böses Epitaphium verschafftihm die Sünde. Wer totschlägt, der ist im Unrecht,wenngleich der Krieg gerecht sein sollte; denn nichtwegen der Gerechtigkeit des Krieges, sondern um desGewinnes und der Beute willen dienen diese Mördergegen die, die sie böslich umbringen. An denen aber,die rechtmässig umgekommen sind, haben ihre

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Totschläger das Amt von Henkern geübt und so ihrenAdel wohl verdient. Denn wenn die Gesetze sonstscharf vorgehen gegen Diebe, Brandstifter, Räuber,Mörder und Banditen, so werden diese, wenn sie sichSoldaten nennen dürfen, geadelt und hoch geehrt.

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10.015 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 32Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXXX.

De nobilitateoder

Von dem Adelstand

Aber aus dem Krieg hat das adelige Geschlechteseinen Ursprung; nämlich es ist ein Ruhm und eineErlauchtheit, welche aus der Feinde Blut und Nieder-lage ist erworben und mit öffentlichen Wappen geeh-ret worden. Dahero hat man bei den Römern sovielArten der Kronen oder Kränze gehabt, als da ist diebürgerliche Krone, die Mauerkrone, die obsidionalisoder die Blockadenkrone, die navalis oder die Schiffs-krone und andere mehr; daher sind auch so viele Krie-gesgeschenk oder Verehrungen kommen, als Spiesse,Armbänder, Schnüre, güldene Ketten, Ringe, Statuenund Bilder, mit welchen sie den Adelstand angefan-gen haben. Bei den Carthaginensern sind sie mit so-viel Ringen beschenket worden, in soviel Schlachtensie gewesen sind; die Aragonier haben ihren Kriegernums Grab soviel Obeliscos, soviel er Feinde umsLeben gebracht hat, aufgerichtet; bei den Skythierndurften nur diejenigen bei vornehmen Gastereien diesilberne Trinkschale annehmen, welche einen Feinderleget hatten; bei den Mazedoniern war ein Gesetz,

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10.016 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 33Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

dass, wer keinen Feind umgebracht hatte, der musstesich zum Zeichen seiner Schande mit einem gewissenZaum umgürten; bei den alten deutschen Völkerndurfte niemand ein Weib nehmen, der nicht zuvordem Könige einen Feindeskopf gebracht hatte. Undhat der Verdruss und Zorn viel derjenigen, so sichwacker im Kriege versuchet hatten und deswegennicht genug geehret wurden, angereizet, dass sie widerdas Vaterland und dessen Freiheit aufgestanden, unddemselben allen Dampf und gebranntes Herzeleid an-getan haben; wie wir an dem Coriolano, Graccho,Sylla, Mario, Sertorio, Catilina und Julio Caesare Ex-empel haben.

Derowegen, wann wir nur den rechten Ursprungund Anfang des Adels examinieren, so werden wir er-fahren, dass derselbe mit nichts anders als mit einernichtswürdigen Treulosigkeit und Grausamkeit erwor-ben ist. Sehen wir den Eingang oder den Antritt an, sowerden wir befinden, dass derselbe durch die umsGeld feile Soldateska und durch Strassenraub ist sta-bilieret worden; ja wenn wir gar der Reiche und Län-der Ursprung erforschen wollten, da würden unsnichts als Brüder- und Vatermörder, tödliche undgreuliche Heiraten entgegenkommen, da würden wirsehen, wie die Väter von den Kindern und die Obernvon den Untern sind verjaget und ums Leben gebrachtworden.

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Aber nun wollen wir den Adel an sich selbst undbis aufs Haar genau betrachten. Er ist aber fürwahrnichts anders als eine robuste Boshaftigkeit, eine Di-gnität, welche durch Schelmstücke erlanget ist undeine Erbschaft jeder schlechten Nachkommenschaft.Und dass es also und nicht anders sei, das sehen wirsowohl aus der Heiligen Schrift, als aus den alten undneuen Historien vieler Völker; denn, als vom Anfangbei Erschaffung der Welt der Übertreter Adam seinenersten Sohn, den Kain, welcher ein Ackermann war,und seinen andern, den Abel, welcher ein Schafhirtewar, gezeuget hatte, so bestunde dazumal das ganzemenschliche Geschlecht in diesen zweien, nämlich inAbel, welcher das gemeine Volk, und Kain, welcherden Adel repräsentierte. Kain aber war nach dem Flei-sche grausam und stolz, und verfolgete Abel, welchernach dem Geist demütig war, und schlug ihn zu Tode;da repräsentierte Seth, der dritte Sohn des Adams, dasGeschlecht des gemeinen Volkes und also sehen wirja, dass Kain durch den Brudermord den Anfang zudem Soldatenstande und dem Adel gemacht hat, wor-auf er, nachdem er Gott und die Gesetze der Natur ausden Augen setzete, und seiner Stärke trauete, sich derHerrschaft anmassete; erstlich bauete er Städte, da-nach formierte er Reiche, und fing an, die von Gottfrei erschaffenen Leute und Kinder der heiligen Ge-burt mit Gewalt, Raub, Dienstbarkeit und unbilligen

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Gesetzen zu unterdrücken, und sich der Gewalt übersie zu gebrauchen, bis auch hernach diese alle GottesGerichte verachteten, sich miteinander fleischlich ver-mischten und Riesen gebaren, welche die Schriftmächtige und berühmte Männer der Zeit nennet. Dasist die wahre und beste Beschreibung des Adels undder Adeligen; denn sie unterdrückten die Armen, underhuben sich durch Rauberei und Diebstahl, wurdenstolz wegen ihres Reichtums, machten ihre Namen derWelt bekannt, und nenneten ganze Länder, Städte,Berge, Flüsse, Wasser und das Meer nach ihnen;deren erster Vater nun war Kain, welcher von Naturbösartig, missgünstig, verstocket, auch ein Verräterund Totschläger seines eigenen Blutes, von Gott ver-flucht und heimatlos, und ein rechter Gotteslästererwar.

Sehet, das sind die ersten und ältesten Leistungendes Adels, die ersten Tugenden und die ersten Taten,mit welchen noch heutiges Tages der Adel gezieretist; sein Baumeister ist der Vater der Riesen, welcheGott der Herr bei der Sündflut vertilget hat; nur Noah,den Gerechten, alleine hat er übrig gelassen, aus demGeschlechte Seth, mit seiner Familie; Noah hatte dreiSöhne, als Sem, Japhet und Cham; diese baueten nachder Sündflut auf Art der Riesen Städte und errichtetenReiche; derowegen meldet die Schrift von Noah anbis auf den Abraham von keinem Gerechten, denn sie

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10.019 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 35Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

machten es alle auf den Schlag, wie es der Kain ge-macht hatte, und waren alle voll von adeligen Eigen-schaften, von Schurkerei, Gottlosigkeit, Macht, Krieg,Streit, Unterdrückung, Jagd, Pracht, Hoffart, Ver-schwendung, Eitelkeit und andern dergleichen adeli-gen Brandmalen mehr, welche ihnen die Kinder Noäheingepräget hatten. Unter ihnen war der VornehmsteCham, weil er unter allen der Nichtswürdigste war; erwar so gottlos gegen seinen Vater und wollte überalles herrschen, und ein oberster Monarche sein; unddieser hat den Nimrod gezeuget, welchen die Schriftbeschreibet als einen Mächtigen auf Erden, und alseinen starken Jäger wider den Herrn. Dieser hat dieganze Stadt Babylon erbauet, welche zu der Spra-chenverwirrung der Anfang gewesen ist, und hat vor-geschrieben gewisse Reguln zu regieren, und hat derEdelleute Gradus, Würden, Ämter und Bildnisse un-terschieden; hernach haben diese gewisse Gesetzegegen das gemeine Volk gemachet, die Dienstbarkeiteingeführet, Abgaben und Beschwerungen aufge-bracht, Krieges-Heere formieret, und greuliche Kriegegeführet. Von diesem Cham ist hernach Chus her-kommen, von diesem die Äthiopier; und Mizraim,von diesem die Ägyptier; und Canaan, von diesem dieCananäer, welche zwar ein berühmtes, aber auch eingottloses und von dem Herrn verfluchtes Volk waren.Endlich nach verflossener vieler Zeit, hat Gott der

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Herr wiederum einen gerechten Menschen, nämlichden Patriarchen Abraham, erwählet, aus welchem ersich Samen und das heilige Volk erwecket, welches ermit dem Zeichen der Beschneidung von der Mengeanderer Völker unterschieden hat. Dieser hat zweiSöhne gezeuget, einen aus der Magd, ein Hurenkind,den Ismael, den andern aus seinem ehrlichen Weibe,mit Namen Isaac. Ismael aber ist worden ein wilderMensch, ein Schütze, ein mächtiger adelicher Mann,und der Vornehmste unter den Ismaeliten, und hatdem Volke seinen Namen auf ewig hinterlassen. Gotthat ihm wohl gewollt, und hat seinen Adelstand imRaub und Krieg bestätiget, wenn er spricht: Manusejus contra omnes, et manus omnium contra eum, et eregione fratrum suorum figet tabernacula.. Seine Handwider jedermann, und Jedermanns Hand wider ihn,und wird gegen seinen Brüdern wohnen.

Isaac aber, gerecht wie sein Vater, der weidete dieHerden seines Vaters und zeugete aus seiner Rebeccazwei Söhne, Esau und Jacob. Esau war wieder beiGott verachtet, ganz rot und über und über rauch, einJäger, ein Schütze und der Fresserei ganz ergeben,also dass er um ein Gerichte Linsen seine Erstgeburtverkaufet hat. Er ist ein mächtiger Mann und der Vor-nehmste unter den Idumäern gewesen; Gott hat ihmden Segen des Adelstandes verliehen durch Fruchtbar-keit der Äcker, durch Tau des Himmels und durch

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Abschüttelung des Jochs. Jacob aber ist gerecht gewe-sen, flüchtig bei dem Laban, seiner Mutter Bruder; erhat ihm die Schafe gehütet und vierzehn Jahr umseine Töchter gedienet, aus welchen er zwölf Söhnegezeuget hat und ist hernach Israel genennet worden,welchen Namen er auch seinen Nachkommen hinter-lassen, dass sie sind das Volk Israel genennet worden.Es hatte Jacob, wie wir gesagt haben, zwölf Söhne,nämlich Buben, Simeon, Levi, Judas, Isachar, Zabu-lon, Joseph, Benjamin, Dan, Nephthali, Gad undAser, nach welchen die zwölf Stämme Israel sind ge-zählet worden.

Aber Joseph wurde von seinen Brüdern nach Ägyp-ten verkauft, und lernete auch allda die ägyptischenWissenschaften; er war ein erfahrner Ausleger derTräume und sagte in dem Gefängnis wahr, er war inder Haushaltung so erfahren, dass er mit einer sonder-lichen Verschlagenheit neue Künste, wie man reichwerden könnte, erfunden hat, weswegen er dem Köni-ge Pharaoni lieb und angenehm war, also, dass er vonihm zum Fürsten über Ägypten gesetzet, und also ausder knechtischen Dienstbarkeit, mit sonderlichen Ze-remonien zu einem ägyptischen Edelmann gemachetworden ist; denn der König hat ihm an seine Handeinen Ring gegeben, und ihm um seinen Hals einegüldene Kette gehänget, er hat ihn mit Purpur angetanund auf eine Carrete gesetzet und ist einer

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10.022 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 37Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

vorangangen und hat ausgerufen, dass sie ihn alle füreinen Edeln und Fürsten in Ägypten ehren sollten.Und dergleichen Art Edelleute zu machen war auchunter den Persern, wie wir von dem Mardochäo He-bräo, welchen der König Artaxerxes geadelt hat, indem Buch Esther lesen.

Es ist nun die Gewohnheit, Edelleute zu machen,noch bis auf den heutigen Tag kommen und bei denKönigen und Kaisern geblieben. Da sind nun etliche,die ihren Adel ums Geld kaufen, etliche haben densel-ben durch ihre Kupplerei, etliche durch Vergebungund Gift oder eine Mordtat verdienet, vielen hat dieVerräterei den Adel nebenst grossem Reichtum zuwe-ge gebracht, wie solches in den Geschichten von demEuthycrate, Philocrate, Euphorba und Philagro amTage lieget; viele sind durch Schmeichelei, Verleum-dung und durch Intrigue dazu kommen, viele dadurch,dass sie den Königen ihre schönen Weiber und Töch-ter zugebracht haben; viele hat die Jägerei, der Raub,der Totschlag, die Zauberei und Verblendung und an-dere böse Teufelskünste zu dieser Würde erhoben.

Aber wir müssen wieder zu Joseph kommen; denndieser, als er im Hause des Königs mächtig war, undden erstgebornen Sohn, den Manasse, bekommenhatte, so ward er stolz durch seinen neuen Adel undhat in Verachtung seines väterlichen Hauses nichtohne Sünde gesaget: Oblivisci me Deus fecit laborum

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10.023 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 38Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

meorum, et domus patris mei, quapropter in benedic-tionibus postpositus fuit Manasse, et praelatus illi ju-nior Ephraim. Das ist: Gott hat mich lassen vergessenmeiner Mühe und meines Vaters Hauses; darum hatauch der jüngere Ephraim müssen dem erstgebornenManasse im Segen vorgezogen werden. Ja, dieser Jo-seph selbst, ob er gleich ein Sohn Jacobs gewesen ist,so ist er doch wegen dieser adeligen und bei Gott sehrverhasseten Charge nicht gewürdiget worden, dass erden Namen einem Stamme in Israel hätte dürfengeben, sondern es ist solches seinen Söhnen, Ephraimund Manasse, zugeteilet worden; auch hatten sie inihren Stämmen keinen Propheten, und wurde über sievon allen der geringste Segen ausgesprochen, wasKraft und Vermehrung anbelanget.

Das israelitische Volk hat viel Jahr in Ägypten ge-wohnet und Schäfer abgeben in der Gegend zu Gosen;als sie aber sich mehreten und mächtig wurden, sindsie den ägyptischen Königen und Edelleuten verdäch-tig und verhasset fürkommen, daher legten sie ihnenschwere Arbeit auf, sie mussten in Lehm und Ziegelnihre Arbeit verrichten und harte knechtische Dienstetun, man tötete ihre Knaben und ertränkte sie imWasser, damit ja bei ihnen kein Same überbleibenmöchte. Einer aber von ihnen, weil er ein schönerKnabe war, ist von des Königs Tochter beim Lebenerhalten worden; sie hat diesen zum Sohn

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10.024 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 39Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

angenommen und Moyses genennet, weil sie ihn ausdem Wasser errettet hatte. Und also ist Moyses imHause des Königs aufgewachsen und ist gross wor-den, hat die ganze ägyptische Weisheit gelernet undist wie ein Sohn des Königs gehalten und zum Heer-führer des pharaonischen Krieges wider die Äthiopiergemachet worden; er hat sich aber zum Weibe genom-men die Tochter des Königs in Äthiopien, daher hater aus Missgunst und Hass der Ägyptier aus Ägyptenfliehen und nach Madian sich begeben müssen, alldaer bei einem Brunn wider die Hirten für etliche Mäd-chen gestritten und hat's dadurch so weit gebracht,dass er eine davon, eines Priesters Tochter, zumWeibe bekommen. Endlich, als er zu Jahren gelangetund klüger worden, und als er sein hebräisch Ge-schlecht recht wahrgenommen, ist er nach Ägyptenwiederkommen und hat seinen Adelstand aufgekündi-get, auch von Gott mit Stärke begabet und sich zumFührer des israelitischen Volkes gemachet, hat her-nach dieses Volk mit vielen Wunderwerken ausÄgypten geführet. Als aber das Volk wider Gott miteinem güldenen Kalbe sich versündiget hatte, wurdeMoyses erzürnet und hat zu sich genommen die star-ken Söhne Levi und hat ihnen geboten und gesaget:Ponite gladios super femur vestrum, et euntes et rede-untes occidat unusquisque fratrem et amicum et proxi-mum suum. Das ist: Gürte ein jeglicher sein Schwert

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10.025 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 39Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

auf seine Lenden, und durchgehe hin und wieder voneinem Tor zum andern im Lager und erwürge ein jeg-licher seinen Bruder, Freund und Nächsten. Und hatsie durch diese denkwürdige Schlächterei, so sich auf23000 Menschen belaufen, gesegnet und zu ihnen ge-saget: Consecrastis manus vestras hodie in sanguine,unusquisque in filio et fratre suo, completaque est be-nedictio Jacob ad Simeon et Levi, vocantis eos vasainiquitatis bellantia, quorum furor maledictus et perti-nax, et indignatio dura. Das ist: Gesegnet habet ihreuere Hände, ein jeglicher an seinem Sohn und Bru-der, denn heute ist der Segen Jacob erfüllet über Si-meon und Levi, welcher gesaget, sie seien mörderi-sche Gefässe des Unrechts, ihr Zorn sei verflucht undihr Grimm, dass er so störrig ist.

Mit diesem schönen Totschlag nun hat der Adel inIsrael seinen Anfang genommen; denn Moyses hatihnen darauf eingesetzet Feldherrn, Kriegsobristen,Hauptleute, streitbare Männer und treffliche Kämpfer,auch diejenigen, welche sich im Kriege wohl gehaltenund sich für andern haben sehen lassen, die hat er zuFürsten und Richtern gesetzet; Könige hatten sienicht, sondern sie wurden durch Richter regieret, auswelchen war der vornehmste Josua, ein edler, starkerund streitbarer Mann, ein Überwinder von Königen,der niemanden gefürchtet hat. Er hat nach Moyses re-gieret und nach seinem Tode hat das Volk ohne

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Fürsten unter einer Demokratie gelebet; aber sie sindaufrührerisch worden, haben selbst untereinander ge-stritten und fast den ganzen Stamm Benjamin ausge-rottet, dass nicht mehr als 600 Mann übrig gebliebensind und als sie ihnen ihre Töchter versaget hatten, sosind ihnen 400 gefangene Jungfrauen aus Galaad ge-geben worden; denen übrigen 200 ist Jungfern ausSilo zu rauben vergönnet gewesen; und auf solche Artist der Segen des Benjamitischen Adels vollends er-füllet worden, nämlich in einem Bilde eines Wolfes,der des Morgens den Raub holete und des Abendsdenselben austeilete. Nach diesem ist es mit ihnenwieder zur Aristokratie kommen, bis endlich Abime-lech, ein Hurenkind des Heroboals aus dem StammeManasse, nachdem er bei einem Steine 70 seiner rech-ten Brüder in feierlichem Schlachten ermordet hatte,am ersten das Regiment in Sichem erlanget. Als nundarauf das ganze Volk Israel einen König begehrethatte, so sind ihnen von dem Herrn wuterfüllet Köni-ge gegeben worden, davon die wenigsten fromm, diemeisten aber böse gewesen sind.

Denn der Herr ist erzürnet worden und hat ihnendas Recht der Könige angesaget: der König würdeihre Söhne und Töchter wegnehmen, würde aus ihnenWagenlenker und Brotbäcker machen, ihre Herden,ihre Äcker, ihr Erbe, ihre Knechte und Mägde zehntenund alles nach Gefallen seinen Dienern schenken und

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10.027 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 41Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

das ganze Volk unter das Joch der Dienstbarkeit brin-gen; und so oft der König gesündiget und unrechtgetan hätte, so oft müsste das Volk für ihn Strafe lei-den. Es wurde aber zum Könige gesetzet ein Jünglingaus dem Stamme Benjamin mit Namen Saul, stark anKräften und lang von Statur also, dass er von denSchultern an über das Volk wegragete; und Gott jagteihnen allen eine Furcht ein, dass sie ihn gleichsam alseinen Diener Gottes ehreten; dieser, ehe er zur Regie-rung kam, war wie ein einjährig Kind, unschuldig undvon guter Art; als er aber den Adel der Regentschafterlangt hatte, ward er ein böser Mann und ein SohnBelials; derowegen brachte Gott das Reich von demHause Saul weg und gab es David, dem Sohn Isai,aus dem Stamme Juda, und dieser ist vom Schafhirtenzum Könige erhoben worden, und ist auch mit der pe-stilenzischen Seuche des Adels so infizieret worden,dass er ein Mensch voller Sünden, ein Kirchendieb,ein Ehebrecher und ein Totschläger worden ist. Abergleichwohl hat ihn die Barmherzigkeit Gottes nichtverlassen; er hat anfangs in Hebron regieret, als Isbo-set, Sauls Sohn, noch jenseits des Jordans herrschte;endlich ist ihm das ganze Reich zu Jerusalem zuge-schlagen worden.

Aber gleichwohl hat das israelitische Volk keineneinzigen friedfertigen Monarchen gehabt; denn beiDavids Leben fiel Absalon, sein Sohn, das Reich in

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Hebron an; nachdem nun dieser ermordet war, fiel insolches Sibra, der Sohn Bochri ein; ferner buhlte umsReich Adonias, der Sohn Davids. Als David selbstensterben wollte, so setzte er seinen jüngsten Sohn Salo-mon, ein Kind der ehebrecherischen Bethsabä, ein,und dieser ist der erste rechte Monarche der Hebräergewesen, dessen Herrschaft durch den Totschlag sei-nes ältern Bruders, des Adoniä ist konfirmieret wor-den. In Summa, er hat alles überkommen, und gleich-wohl ist er von dem rechten Wege abgewichen, hatmit vielen Weibern gehuret, ist abtrünnig und einVerächter Gottes Gesetzes gewesen. Auf ihn ist gefol-get sein böser Sohn Roboam, ein böser und grosserSünder gegen Gott; von ihm ist die Monarchie geteiletworden, und sind zehen Stämme von ihm abgefallen,und haben sich Hierobeam zum Könige erwählet,einen nichtswürdigen Mann aus dem Stamme Dan,welcher ganz Israel vergiftet und zehen Stämme zumGötzendienst verführet hat, auch Götzenkälber in Sa-maria aufgerichtet, dass der Fluch erfüllet würde, derda spricht: Dan Coluber super viam, cerastes supersemitam, mordens calcaneum equi, ut cadat sessorejus retorsum. Das ist: Dan wird eine Schlange wer-den auf dem Wege, und eine Hornviper auf dem Stei-ge und wird das Pferd in die Fersen beissen, dass seinReuter zurückfalle.

Der Stamm Juda aber hat sich ruhig und gehorsamPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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gehalten unter dem Samen Davids, gleich wie ihnJakob gesegnet hat: das Szepter soll Juda nicht ent-wendet werden, bis der Messias kommt. Es war aberJuda unter Jakobs Söhnen der ärgste, und ein Blut-schänder seines Sohnes-Weibes; es waren auch seineSöhne nichtswürdige und verruchte Menschen; alsohat er den Adel gehabt nach dem Segen seines Vaters:das Szepter des Reichs und die Stärke des Löwens.Endlich aber ist das Volk Edom und Lobne von denKönigen in Israel abgetreten, und haben sich nachihrem Gefallen Könige erwählet. Nach dem Segens-worte : Esau werde das Joch abschütteln.

Unter allen Königen in Juda und Israel sind kaumvier gute oder fromme gefunden worden. Darum sinddie Könige mitsamt dem Adel ausgetrieben wordenund die Juden in die babylonische Dienstbarkeit undGefängnis gebracht; und als sich Gott wieder über sieerbarmet, sind sie nach langer Zeit wiederum herausund nach Jerusalem gebracht worden, da sie dann eineZeitlang unter Priestern und den Vornehmsten demgemeinen Wesen oder der Republik glücklich vorge-standen haben, bis Aristobulus, des Hyrcani Sohn, diekönigliche Krone sich selbsten aufgesetzet, und dasJudäische Reich durch Mutter- und Brudermord wie-der herstellte, welches dann nach einigen Königenund endlich unter dem stolzen und unflätigen KönigArchelao sich geendiget hat. Denn damals ist ganz

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Judäa unter die Gewalt der Römer kommen, und unterdem Tito und Vespasiano ganz vertilget, und also die-ses grosse Volk durch die ganze Welt noch bis aufden heutigen Tag in ewige Dienstbarkeit gebrachtworden.

Dieses habe ich zu dem Ende allhier aus der Heili-gen Schrift wollen anführen, damit ich desto bessererweisen kann, dass im Anfang kein Adel gewesen,welcher nicht durch Schlechtigkeit seinen Ursprunggenommen hätte, und dass der Adel nichts anders seials eine Ehre und ein Lohn einer grossen Unbilligkeitund Ungerechtigkeit; denn so war es immer: je ärgerund befleckter Leben einer geführet hat, je vornehme-res adeligen Standes ist er gewesen, und je mehrSchelmenstücke einer verübet, je mehr Ehre und Lohnhat er davongetragen, wie gar artig jener SeeräuberDiomedes zu dem grossen Alexander gesaget hat:Ego, quia uno navigio latrocinor, accusor pirata, tuquia ingenti classe id agis, vocaris imperator; si soluset captivus esses, latro esses; si mihi ad nutum populifamularentur, vocarer imperator. Nam quo ad causamnon differimus, nisi quia deterior est, qui capit impro-bius, qui justitiam abjectius deserit, qui manifestiusimpugnat leges. Quos enim ego fugio, tu persequeris,quos ego utcunque veneror, tu contemnis; me fortunaeiniquitas, et reifamiliaris angustia, te fastus intolerabi-lis, et inexplebilis avaritia furem facit. Si fortuna mea

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mansuesceret, fierem forte melior; at tu, quo fortuna-tior, nequior eris. Das ist: Weil ich mit einem einzi-gen Schifflein hin und wieder geraubet, werde ich alsein Seeräuber verklaget, weil du aber mit einer gros-sen Schiffs-Flotte das Meer beraubest, wirst du einKönig genennet. Wärest du allein wie ich, und wür-dest darüber ergriffen, wärest du auch ein Räuber, undwann mir grosse Völker dieneten, würde ich auch einKönig genennet; denn in der Sache selbst ist kein Un-terschied unter uns, ohne dass derjenige noch ärgerist, welcher fürsätzlich und öffentlicher Weise widerdie Gesetze sündiget. Denn für welchen ich fliehe, dieverfolgest du; welche ich ehre, die verachtest du.Mich macht die Not und Armut zum Diebe, dich aberdein unerträglicher Hochmut und unersättlicher Geiz.Wann mir das Glücke was bescherete, könnte ichmich noch wohl bessern, aber du würdest je glückli-cher, je ärger. Alexander, verwundert über diesesMenschen Unerschrockenheit, hat ihn lassen mit unterseine Soldaten nehmen, damit er hernach recht gesetz-lich streiten und kriegen, das ist: stehlen könnte.

Kommen wir nun zu den heidnischen Historien, sowerden wir gleichfalls sehen, dass der Adel nichts an-ders sei als Ungerechtigkeit, Wüten, Strassenraub,Totschlag, Verschwendung, Jagen und Gewalt, dieaus nichts als aus bösen Ursachen herkommet, undaus denselben ihren Anfang hat, dessen Fortgang

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noch ärger, der Ausgang aber am allerärgsten ist, wel-ches gar leicht aus den vier berühmten Monarchienund aus andern Reichen der Adeligen kann dargetanwerden.

Die erste Monarchie nach der Sündflut ist die As-syrische gewesen, und deren erster Begründer undAnfänger war Ninus, welcher mit seinen Grenzen sichnicht vergnüget, sondern Begierde, dieselben mehr zuerweitern, bekommen hat; dahero sind neue Kriegeentstanden, er hat das Volk im ganzen Orient untersich gebracht, und die Grösse seines Reichs mit vie-len nachfolgenden Siegen und steter Eroberung meh-rerer Länder, vermehret. Er hat Asiam unter sich ge-bracht, Pontum Euxinum überwältiget, und Zoroa-sten, der Bactrianer König, durch einen mörderischenStreit untergedruckt und ertötet. Dieser Ninus hat einWeib mit Namen Semiramis gehabt, welche, wie derHistorienschreiber Dion referieret, von ihrem Mannegebeten hat, dass sie fünf Tage regieren möchte; nach-dem sie solches erlanget, hat sie sich die königlicheKrone nach ihrem Kopf gerecht machen lassen und istauf den königlichen Thron gestiegen, und hat den Tra-banten und Hofschranzen geboten, dass sie ihremManne seinen königlichen Habit und Zierat solltenausziehen und ihn ums Leben bringen, worauf sie dasReich angetreten; sie ist aber auch nicht mit dessenGrenzen zufrieden gewesen, sondern sie hat noch

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10.033 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 45Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Äthiopien darzu gebracht, in Indien Krieg angefangenund die Stadt Babylon mit einer weitläuftigen Mauerumgeben, aber hernach ist sie von ihrem eigenenSohne, dem Nino Secundo, den sie verbrecherischempfangen und gottlose weggesetzet, nachdem sie ihnzuvor nicht ohne Blutschande erkannt hat, umge-bracht worden.

Sehet ihr nun, mit was für Totschlagen die assyri-sche Monarchie ihre Herrschaft erlanget, bis sie unterdem Sardanapalo, dem weibischen Könige, wiederumabgenommen und ein Ende gefunden hat; denn diesenhat Arbactus, der Kommandant in Medien, mittenunter einer Herde Huren gefangen genommen und ge-tötet, und dieser hat sich selbst zum Könige aufwor-fen und das ganze Reich von den Assyriern auf dieMeder gebracht, welches hernach Cyrus auf die Persertransferieret hat, bei welchen sein Sohn Cambyses,der da Neu-Babylon erbauet, nachdem er viel Reichemit. darzu geschlagen, die andere oder zweite Monar-chie hat stabilieret. Auch Cambyses hat sein Reichdurch Bruder- und Sohnesmord konsakrieret. Diesesist nachmals auf den Narses, des Ochi Sohn, kommen,welchem bald, nachdem er von dem Bogoas, einemBeschnittenen, ist ums Leben gebracht worden, Dari-us Persa, des Arsani Sohn, der sonsten Codomannusgeheissen, zum Nachfolger ist gesetzet worden; unddieser ist vom Alexandro Magno überwunden, und

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hat also die persische Monarchie mit seinem Lebenein Ende genommen, welchem aber dieser Alexander,der sich nebenst der ehebrecherischen Mutter schuldigan des Vaters Tod befand, sukzedieret, und ebendurch diesen bekannten Vatermord das ganze Reichauf die Mazedonier gebracht hat; und ist also diesesdie dritte Monarchie, welche auch bald nach desAlexandri Tode untergegangen ist.

Hierauf ist die vierte, nämlich die Römische kom-men, über welche keine mächtiger gewesen; aberwann wir die Zeiten von Erbauung der Stadt Rom an-sehen, so werden wir erfahren, dass sie aus einembösen Anfang entstanden und mit vielen bösen Tatenist continuieret worden; derowegen wollen wir sie einwenig weiter und von den Baumeistern der Stadt Romherholen.

Die Stadt Rom ist von Zwillingsbrüdern, Romulound Remo, welche von einer Vestalin durch Blut-schande sind geboren und von einer Huren aufgezo-gen, in Italien erbauet worden; das Reich hat Romu-lus durch den Brudermord, gleich wie Kain getan, ge-schändet und als er sich einen Sohn der Götter nennenlassen, hat er seine schändlichen Trabanten und Hof-bursche versammelt, den Sabinern ihre Töchter ent-führet und diese den Römern nach Gefallen zu Wei-bern gegeben; und diese geraubten Frauen haben her-nach diejenigen Riesen geboren, ich sage diejenigen

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10.035 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 47Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

römischen Edelleute, Könige und Grossen, die derganzen Welt einen Schrecken eingejaget haben. Nach-dem sie der Sabiner Weiber und Töchter schurkischerWeise, und mit ihrer Eltern und Bruder Tode undBlute eingehaschet, sich mit ihnen verräterischerWeise und unter Zwang trauen lassen, hat dieser Ro-mulus sich seines Schwiegervaters Blute nicht enthal-ten können, sondern er hat ihn, nämlich den TitumTatium, einen gottesfürchtigen alten Mann und derSabiner ehrlichen Kriegesführer, nachdem er ihn zu-vorhero zum Gesellen seines Reiches angenommenhatte, jämmerlich ermordet. Sehet den schönen An-fang zu dem römischen Reiche, welches also über 240Jahr unter den grausamen Königen ist regieret wor-den; hernach aber hat diese Regierungsart unter demTarquinio Superbo, dem Lucretien-Schänder, aufge-höret; und gleichwie die Nachfolge Kain in der sie-benten Generation bei der Sündflut untergegangen ist,also haben auch diese Sukzessores des Romuli unterdem siebenten Könige durch des Volks Aufruhr einEnde nehmen müssen; aber obgleich die Stadt Romdie königliche Regierung von sich getan, so ist siedoch der Tyrannei nicht los worden.

Denn, nachdem die Könige sind ausgetrieben wor-den und nach manchem Aufruhr des wilden Volks istdas Reich von den Grossen regieret worden, und istBrutus, ein edler Römer, am ersten zum

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10.036 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 47Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Bürgermeister oder Konsul zu Rom erwählet worden.Dieser, damit er desto besser seine Regierung stabilie-ren möchte, hat als Nachahmer und Überbieter desRomuli, des ersten Königs, sein Regiment mit Bruder- und Kindermord bestätiget, denn er hat seine zweiSöhne, noch Jünglinge, und seiner Frauen Brüder, dieVitellios, auf öffentlichem Markt mit Ruten hauenund ihnen hernach die Köpfe abschlagen lassen.

Als nun dieses Reich durch die Optimaten unddurch das Volk etliche Secula durch also bestanden,nicht ohne manche Tyrannei durch Beamte oder Pri-vate, so hat es doch endlich unter dem Julio Cäsare(es ist schwer zu sagen, ob er grösser im Kriege oderabscheulicher in Wollüsten war) und bald hieraufunter dem Antonio, auch einem Sklaven der Wollüste,solchergestalt sich wieder geendiget; und ist die ganzerömische Macht dem einigen Octaviano Augusto,dem Kaiser, gegeben worden. In diesem nun hat dievierte Welt-Monarchi ihren Anfang genommen, undzwar auch nicht ohne Mord und Totschlag; denn ob-schon dieser Augustus für den sanftmütigsten unterallen Fürsten ist gehalten worden, so hat er doch desCäsars, seines Oheims, von welchem er zum Regi-ment adoptieret und gleichsam als Erbe eingesetzetgewesen, Sohn und Tochter, welche aus der Cleopatragezeuget waren, ums Leben bringen lassen, und hatalso weder des Namens, noch der Guttat, noch der

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10.037 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 48Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

nahen Anverwandtnis gedacht, noch dieser zarten Ju-gend geschonet.

Also haben nun jetztund diese Welt-Monarchie dierömischen Fürsten unter sich gehabt, und solche un-geheure Monstra, als den Neronem, Domitianum, Ca-ligulam, Heliogabalum, Galienum und andere mehram Tag gebracht, unter welchen die ganze Welt istzerrüttet worden, bis der grosse Constantinus, wel-cher, nachdem er Maxentium ums Leben gebracht(der wegen seiner Grausamkeit bei dem gemeinenVolk zu Rom verhasst war), von dem römischen Ratezum Augustus und römischen Kaiser ernennet wurde;dieser, als er die Stadt Byzanz aufrichten und derStadt Rom gleich machen wollen, auch dieselbeNeu-Rom oder Constantinopel, nach seinem Namenzu heissen befohlen, hat also Verordnung gemachet,dass der Sitz der Kaiser allda sein sollte, und dem-nach das römische Reich auf die Griechen und nachConstantinopel gebracht; und dieser hat gleich wieRomulus zu Rom die neue Stadt eingeweiht und sei-ner Schwester Mann und Sohn, die Licinios, blutiggeopfert, hat auch sein eigenes Weib und seine Kin-der ermordet. Dieses Reich nun hat bei den Griechenbestanden, bis auf die Zeiten des Garoli Magni, durchwelchen, dem Namen nach, das römische Reich aufdie Teutschen ist gebracht worden.

Und dieses sei bishero von den Welt-MonarchienPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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10.038 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 49Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

geredet. Wollten wir nun der andern Reiche Ursprungund Ende betrachten, so würden wir erfahren, dass sieebenso ihren Anfang genommen und mit ebensolchengrossen Sünden gewonnen, auch endlich durch solcheGrausamkeit und Wollüste ihre Endschaft erlangethaben. Ich will vor diesesmal vorbei gehen den Vater-mord des Dardani, mit welcher Tat er die Griechenein Reich zu gründen gelehret hat. Ich will verschwei-gen das Regiment der Weiber, welches sie sich durchihrer Männer Totschlag angemasset haben, wie vonden Amazonen die Historien voll sind. Wir wollennur ein wenig in unsere Zeiten, und in unsere Nach-barschaft gehen.

In Spanien hat zur Zeit des Kaisers Theodosii At-hanaricus, ein Gote, regieret; aber eben zu derselbenZeit besassen auch die Alani und Vandali Spanien.Der erste aus den gotischen Königen, welcher überSpanien ist Monarche worden, hat Suytilla geheissen,welches Reich endlich der König Rodericus, als er Ju-liam, die Tochter des Hauptmanns der mauritanischenProvinz, geschwängert hatte, wieder verloren und denGoten ein Ende ihrer Regierung gemachet hat. Nach-dem aber die Sarazenen Spanien eingenommen hatten,haben hernach unter dem Könige Pelagio, welcher et-liche Örter überrumpelt, die Könige in Spanien ihrenAnfang genommen, und ist der Titul des Reichs beidem Städtlein Leon geblieben, bis auf die Zeiten

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10.039 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 49Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Ferdinandi, des Sanctii (Sancho) Sohn, welcher sichhernach am ersten König in Castilien hat nennen heis-sen; und dieser hat auch, nachdem er zuvor seinenBruder, den Garsiam getötet, das Königreich Navarramit dazu gebracht; sein anderer Bruder, Ramirus aber,welchen der Vater aus einer Konkubine gezeugethatte, ein wilder und streitbarer Mann, der ist dererste König in Arragonien gewesen.

Der erste König aber in Portugal hat Alphonsus ge-heissen, welcher vom Henrico Lotharingio und vonder Tyresia, des Alphonsi, Königs in Castilien unehe-lichen Tochter ist geboren worden; ein streitbarerHerr, und welcher in einer Schlacht fünf sarazenischeKöniglein überwunden hat; daher führen die Königevon Portugal fünf Schilde in ihrem Wappen. DieserAlphonsus hat auch sein mörderlich Gemüt gegenseine Mutter sehen lassen, da er dieselbe, als sie sichzum andernmal verheiratet, in ewige Gefängnis wer-fen lassen, daraus sie auch auf keinerlei Art und aufkeine Vorbitte der Kirche hat wieder kommen kön-nen. So sind alle die spanischen Reiche entweder mitverbrecherischen Untaten entstanden oder mit losenRänken erhalten worden.

Auch der Anfang der englischen Königreiche istfast fabulos, so lange, bis diese Insuln unter vielenKönigen und von vielen Völkern, Pikten, Schottlän-dern, Dänemarkern und Sachsen hin und wieder sind

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10.040 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 50Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

untergedruckt und subjungieret worden. Endlichhaben sie unter dem Guilielmo Normanno eine geru-hige Monarchie gebabt, welche er sich und seinenNachkommen durch den Tod seines Vetters, des Atol-di, des Königs der Westsachsen, bestätiget. Und wäh-ret diese Sukzession noch bis auf den heutigen Tag,aber allezeit ist sie durch Vater-, Mutter- und Bruder-mord berühmt gewesen.

Ich komme nur kurz zu den burgundischen undlombardischen Reichen, welche durch die entfernte-sten teutschen Völker in Frankreich und Italien, alsdurch die Könige Gondaichum und Alboynum erstlichangefangen und hernach durch unterschiedene greuli-che Mordtaten fortgepflanzet worden. Wir wollen für-nehmlich das französische Reich ansehen; dieses hatseinen ersten Anfang von dem Pharamundo, des Für-sten Merovei Sohn, welcher am ersten aus Teutsch-land nach Frankreich kommen und zum ersten Königeder Franken gemachet worden, über dessen Scheuss-lichkeit und Grausamkeit nichts gewesen ist; dessenSukzession und Ordnung hat bis auf den ChildericumTertium gewähret, welcher wegen seiner Faulheit imRegimentswesen und wegen Hurerei mit den Frauenin ein Kloster ist gestossen worden; an seiner Stelleist Pipinus zum Regiment kommen, welches er sichund den seinigen durch Verräterei erworben unddurch den Brudermord des Grifonis stabilieret, und

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10.041 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 51Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

hat sein Haus gewähret bis auf Ludovicum Sextum,des Lotharii Sohn, welcher Ehebruchs wegen von sei-nem Weibe, der Blancha, mit Gift ist vergeben wor-den. Darauf hat hernach Hugo Capet das Reich derFranken investieret, ein streitender und blutdürstigerMann, welcher deswegen zu Paris ist in grossenEhren gehalten worden, sonsten aber ist er aus einerunedlen Familie und von einem Metzger erzeugetworden.

Dieser ist wider Carolum, des Ludovici Onkel, denrechtmässigen Erben des Reiches zum Rebellen wor-den; er hat ihn, nach Zusammenziehn vieler verbre-cherischer Buben bekämpft, und als er bei Orleans inseine verräterische Hände geraten, ins Carcer, darin-nen er gestorben, werfen lassen; hat durch diesenschändlich verübten Totschlag sich selbsten die kö-nigliche Krone aufgesetzet, und hernach mit seinenNachkommen über Frankreich regieret, dessen Suk-zession noch bis auf den heutigen Tag kontinuieret,bis sie etwan künftig in einem Hurensklaven ihrenRuin empfangen möchte.

Es würde hier zu lang werden, aller Reiche Anfangzu erzählen und alle Historien durchzugehen. Ich habediese Sache, welche ich hier nur ein wenig berührethabe, in einem absonderlichen Buche weitläuftig be-schrieben und daselbst den Adel mit seinen Farbenund Lineameten recht abgemalet; und daselbst habe

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10.042 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 51Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

ich gewiesen, dass kein Reich nicht gewesen, nochauch anjetzo ist, welches nicht durch Totschlag, durchVerräterei und Treulosigkeit, durch Grausamkeit,durch Metzeleien und Mordtaten und andere schreck-liche Laster, ich meine adelige Künste, seinen Anfanggenommen; wenn wir so die Köpfe dieser Bestie er-kannt haben, werden wir leicht ihre andern Gliedmas-sen erraten, welche nichts anders sind als Gewalt,Raub, Totschlag, Jagden und andern der Lust undÜppigkeit gewidmeten Exerzitien. Will einer einEdelmann werden, so muss er erst ein Jäger werden,das ist der Anfang zum Adel; hernach ein Soldat,damit er ums Geld die Leute totschlagen kann, das istdie rechte Tugend des Adelstandes; wann er sich indiesen Künsten als ein wackerer Strassenräuber exer-zieret, so träget er die grösste Ehre des Adels mit hin-weg; ist er aber hiezu nicht geschickt, so muss er denAdelstand ums Geld kaufen, weil solcher genug zumfeilen Kauf gehet; kann er aber auch dieses nicht tun,so muss er einen Schmarutzer bei Königen und Für-sten abgeben, oder muss durch andere Listen undPraktiken zu Hofe eindringen oder einen Kuppler ab-geben; er muss sein Weib oder seine Töchter, wannsie schön sind, den Fürsten zukommen lassen odersich bei einer grossen Dame mit Liebe engagieren;oder eine königliche oder fürstliche Hure oder dessenHurenkind zum Weibe nehmen.

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10.043 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 52Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Dies ist der höchste Gradus des Adels; so wirdeiner dem Adel inkorporieret. Das sind die Wege,Leitern, Stufen, auf denen man am kürzesten und be-quemsten zum Gipfel des Adels gelangen kann. Dieaber für noch vornehmer und als Abkömmlinge voneinem adeligen Geschlecht für die Allervornehmstenwollen gehalten werden, rühmen sich solcher Vorfah-ren, die man - wären sie am Leben - verachtenmüsste; sie streichen heraus allerlei verlaufene Men-schen ohne Haus und Herd, Trojaner, Mazedonier undandre mit tausend Schandtaten bedeckte Landstreicherund loben diese angeblichen Vorfahren und derenAdel, der so schlimm begonnen hatte. Andere, die vonHuren herkommen sind und durch dieses Ehrenlochihren Adelstand hergeholet haben, die wissen ihreSchande hübsch zu bemänteln und mit Fabeln zuzu-decken, wie wir etwan von der Melusina lesen. Essind noch andere, deren Anfang und Geburt rechtschändlich ist, nämlich durch Blutschande, durchNotzucht, durch Ehebruch und andere dergleichen La-ster. Also ist Balduinus von dem Carolo Calvo wegendessen entführten Tochter, der Judith, zum ersten Gra-fen über Flandern gemacht worden. Also sind die Pie-montischen Markgrafen, als die zu Montisferra, die zuSaluzzien und die zu Sena und andern Orten, von demKaiser Ottone wegen entraubter Töchter eingesetzetworden. Denn es pflegen bisweilen Kaiser und

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Könige, wann sie eine ihnen angetane Schande ohneGefahr nicht rächen können, den Täter durch ein Eh-renamt unschädlich zu machen.

Es sind aber fürnehmlich vier Ämter des Adelstan-des oder der Edelleute, in welchen meistenteils ihreGlückseligkeit bestehet. Das erste besteht darinnen,dass sie wacker rauben und per fas et nefas alles ansich bringen können; das andere, wann sie mit List,Üppigkeit und Wollüsten sich können gross machen;das dritte ist die Freiheit, wann sie nur nach ihrenWillen und Gesetzen frei, wie es ihnen gefället, lebendürfen; das vierte ist der Ehrgeiz, wann sie nur zuhohen Ehren und Dignitäten, es mag geschehen, durchwelches Laster als es will, kommen.

Ihr Genüge finden die Adeligen erst, wann sie dieJägerkunst verstehen, wann sie gute Spieler sind,wann sie wacker saufen, huren und buben, wann sienur alles durchgehen lassen, wann sie der Pracht, derHoffart, der Übermut und aller Unmässigkeit ergebenund den Tugenden feind sind. Wann sie vergessen,dass sie geboren wurden und sterben müssen. Nochstolzer dünken sie sich, wann sie solche Pest schonvon ihren Vätern ererbt haben und sagen dürfen: Wiedie Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen.

Sehet ihr die schönen Künste des Adelstandes!Aber sie haben über dieses noch mehr adelige Künstean sich und zwar die allerschädlichsten, mit welchen

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sie dieses zuwege bringen, dass sie für ehrliche undwackere Leute angesehen werden, und als wann dieWeisheit, Gottesfurcht, Gerechtigkeit und andere Tu-genden selbsten in ihnen wohneten. Sie stellen sichfreundlich, leutselig und angenehm, sie erweichen ihreReden, wie man saget, mit Öl, da sie doch nichts alsschädliche Pfeile sind. Sie disputieren frei vom Ge-meinwesen und lassen ihre Weisheit, die sie von an-dern aufgeschnappt haben, bei den fürstlichen Zusam-menkünften hören. Sie gebrauchen sich ihres grossenNamens mit einem schlauen Geize, dem einen nehmensie was weg, dem andern schenken sie es wieder; siesind grossmütige und freigebige Räuber; und tun, wasdie Alten vom Sylla geschrieben haben, nämlich, siesuchen die einen durch Schaden der andern reich zumachen und sind doch mitten unter ihrer täglichenRauberei allezeit arm. Sie simulieren die Gerechtig-keit und Gottesfurcht, nehmen die Klagen der Armengerne auf und beschützen sie wider die Reichen; abernur, damit sie den Reichen ihre Beutel mögen leermachen; denn sie haben den Sinn und die Meinung,nicht den Armen zu Hilfe zu kommen, sondern nurden Reichen zu nehmen und dieselben ums Geld zuputzen. Es ist ihnen leichter und gewohnter zu scha-den als zu helfen. Durch diesen Vorwand und diesesverblendete Schattenwerk der Gottesfurcht und Ge-rechtigkeit massen sie sich oft einer solchen Lizenz

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10.046 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 54Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

an, dass sie ganzen Städten und Mächtigen Gewaltantun und mit öffentlicher Feindseligkeit heimsuchen,und wo sie durch die Autorität der Gesetze nichts zuhoffen hätten, da finden sie durch ihren Adel dennocheinen Ruhm. Sie sind stolz wie die alten Riesen inihren Sünden und gehen wie die bösen Geister rum,überall Schaden zu tun; und alsdann nutzen sie einemnoch am meisten, wann sie aufhören zu schaden. Siewollen allen ein Schrecken einjagen und von niemandgeliebt werden; wer sich ihnen vertrauet und unterihren Schutz begibet, den berauben sie und unter-drücken ihn.

Es ist auch keine Art Leute den Städten so schäd-lich und gehässig, als die Edelleute; denn sie gefallensich alleine und dünken sich wohlgeborener zu seinals andere, sind allezeit stolz und hochmütig; vonihnen hat Aristophanes wohl recht seine Meinung ge-saget, da er spricht: Non oportere in urbe nutrire leo-nes, sin autem alti sunt, obsequi ipsis oportere. Dasist: Man müsse in der Stadt keine Löwen ernähren;seien aber derselben zuvor drinnen gross geworden,müsse man ihnen gehorchen.

Als durch eine solche Tyrannei die Schweizer ge-drucket waren, so brachten sie alle Edelleute umsLeben und rotteten ihre Geschlechter aus dem Vater-lande ganz aus; und durch diese sehr berühmte Nie-derlage der Edelleute bekamen die Schweizer ihre

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10.047 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 55Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Freiheit wieder, darinnen sie nunmehro über die 500Jahr sitzen und glücklich regieren; und ist noch alle-zeit der Adelstand bei ihnen verhasset.

Vor Zeiten waren den Völkern die Männer am al-lerangenehmsten und wurden trefflich beschenket,welche die Tyrannen und ihre Leibgarde und Traban-ten, auch ihre unschuldigen Kinder ums Leben brach-ten. Ja die Juristen selbsten lehren, dass man Un-schuldige bisweilen wohl ums Leben bringen könne,wann es des Gemeinwesens höchste Notwendigkeiterfordere, also dass man mit dem Tyrannen auch dieKinder töten sollte, damit nicht eine neue Tyranneiaus der Brut entstehen möchte. Gleichwie die Grie-chen nach der Zerstörung Trojae des Hectoris Sohn,den Astyanactem, getötet haben, damit er nicht, wanner überbliebe, Gelegenheit zu einem neuen Kriegemöchte geben. Wir mögen nun die Historienschreiberder alten Zeit lesen als den Titum Livium, Josephum,Egesippum, Quintum Curtium, Suetonium, Tacitumund andere, so ist es allezeit vergönnet gewesen,einen Tyrannen zu betrügen, zu täuschen, am bestengar ums Leben zu bringen, auch mit Gifte hinzurich-ten, gleichwie Tiberius, nach dem Julio Caesare derdritte römische Kaiser, ist umgebracht worden. DiesesGift war lebenspendend für die Welt. Wir lesen diesesauch in der Heiligen Schrift an Eglon, Sisseran undHoloferne, welche Ajoth, Jahel und Judith ums Leben

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10.048 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 56Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

gebracht haben; also ist es auch für Gott vergönnetgewesen, selbst durch ein Verbrechen das Joch desTyrannen abzuschütteln und das Volk in Freiheit zusetzen. Solche Tyrannenmörder sind von der Heil.Schrift für Diener Gottes erklärt worden.

Jetzo nun aber zweifeln wir nicht, dass der Adel-stand nicht sowohl durch Übung und Gewohnheit, alsauch von Natur selbsten böse sei; denn unter den Vö-geln und vierfüssigen Tieren hat kein Adelstand kei-nen Vorzug, als die den andern Tieren und auch wohldem Menschen schädlich sind, als da sind die Adler,die Geier, die Falken, die Habichte, die Raben, dieWeihen, die Straussvögel, die Harpyjä, die Greife undandere dergleichen Monstra; auf solche Art sind auchdie Löwen, die Tiger, die Wölfe, die Pardertiere, dieBären, die wilden Schweine, die Drachen, die Schlan-gen und die Kröten.

Aus den Bäumen aber werden keine oder wenigeden Göttern konsekrieret oder für edel gehalten, aus-ser welche ganz unfruchtbar oder dem Menschenkeine essbare Frucht geben, als wie die Eiche, die Ha-geiche, der Lorbeer- und der Myrthenbaum. Unter denSteinen wird nicht der Marmel, nicht der Baustein,nicht der Mühlstein, sondern die Edelgesteine, welchedoch dem Menschen keinen Nutzen bringen, für dieedelsten gehalten. Also auch unter den Metallen istdas verderbliche Silber und das mehr als das Eisen

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schädliche Gold allein für wert und adelig gehalten,um deren willen so viel Blut vergossen worden ist.

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10.050 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 58Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXXXI.

De arte heraldicaoder

Von der heraldischen Kunst in Erfindungsonderlicher Zeichen und Farben in Schilden und

Wappen

Und daraus ist kommen diejenige Kunst der Heral-dik, welche in Austeilung und Kritik der adeligenSchilde und Wappen beschäftiget ist. Dieser aber istein Maultier, ein Kalb oder ein Schaf oder ein Lammoder ein Kapaun oder eine Henne oder eine Gans odersonsten ein Tier, so dem Menschen brauchbar oderdienlich ist, in den Wappen führen zu lassen eineSchande; vielmehr müssen alle Insignia und Wappendes Adelstandes von greulichen Bestien und räuberi-schen wilden Tieren genommen werden. Also habendie Römer den Adler, als den räuberischsten unterallen Vögeln, sich auserlesen; die Phrygii das Wild-schwein, das schädliche Tier; die Thracier den Tod;die alten Goten den Bären; die Alani, wie sie Spanienangefallen, die Katze, ein räuberisch und betrügerischTier; die alten Franken und Sachsen den Löwen, her-nach aber haben die Franken, die in Frankreich sichaufgehalten haben, die Kröte, die Sachsen aber das

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kriegerische Pferd erwählet; die Cymbri den Stier,zum Zeichen ihrer Stärke; dem Könige Antiocho warein Adler, welcher einen Drachen mit Klauen packte,zum Zeichen; dem Pompejo aber ein schwerttragenderLöwe; dem Attila ein gekrönter Vogel Astur zumWappen. Ja, die Römer selbsten, welchen die Gänsedas Capitolium wider die Gallier beschützet, habendoch nicht dahin können gebracht werden, dass siedie Gans zu ihrem Wappen erwählet hätten.

Aber, es gibt ihrer gleichwohl, welche den Hahnund den Bock in den Wappen zulassen, vielleicht,weil diese Tiere stolz und geil sind, welches die vor-nehmsten Gaben des Adelstandes sind. Eben aus die-ser Ursache nehmen sie auch den Pfau an, wegen derStolzheit; und den Wiedehopfen, welcher auch etwasKönigliches an sich zu haben und eine Krone zu tra-gen scheinet; und kehret sich der Adel nicht daran,dass dieser Vogel das Nest im Kote machet. Denn derKaiser Vespasianus selbsten hat aus dem Harn undDrecke einen Zoll genommen und gesaget: Lucri nonesse malum odorem; der Gewinnst habe keinen üblenGeruch. So haben auch viel kleine Tiere in der Edel-leute Wappen für andern den Vorzug, wenn sie nurein Beispiel irgendeines Schadens oder Unglücks bie-ten können; sonsten aber sind sie nicht zulässlich.Aus dieser Zahl sind die Kaninchen, die Maulwürfe,die Frösche, die Heuschrecken, die Mäuse, die

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10.052 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 59Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Schlangen, die Ameisen, die Tausendfüsse, von wel-chen (wie Plinius schreibet) gewisse Völker sind ver-trieben und Städte sind verheeret worden; und ausdiesen Ursachen wären auch die Bremen, die Wanzen,die Fliegen, ja auch die Blasen, die Eiter, die Ge-schwüre und Pestbeulen selbsten wohl als Wappenzugelassen; denn durch diese ist vor Zeiten Agypten-land unterm Pharaone und Mose geplaget worden.Und was bedarf's mehr? Heutiges Tages werden jadiejenigen für die besten Edelleute gehalten, welchefür andern mit den Franzosen behaftet und gezieretsind.

Es gibet ihrer auch, welche Schwerter, Dolche,Schlachtmesser. Äxte, Schleudermaschinen, Türme,Schlösser, grobes Geschütz, Feuer und andere zumTotschlag und Verderben der Menschen erfundene In-strumenta in ihre Wappen hinein bringen lassen. Jabei den Skythiern ist der Blitz, bei den Persern sindBogen und Pfeile, bei den Corallern sind Räder Wap-pen gewesen. Ähnlich haben wohl gar der Jupiter denBlitz, der Neptun die dreizackige Gabel, der Mars denSpiess, der Bacchus den Tyrsus, der Herkules dieKeule und der Saturnus die Sichel auserlesen.

Und diese Insignia sind's, welche zum Zeichen derGrausamkeit und Tyrannei, der Rauberei und der Ge-walt oder der Stärke oder Verwegenheit, welches allesadelige Tugenden sind, von den Heraldikern also sind

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10.053 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 60Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

erdacht und vorgebildet worden. Diejenigen Schildeoder Wappen nun, welche oben erzählte Sachen nichthaben, sondern was Leutseligeres in sich begreifen,als Bäume, Blumen, Sterne oder des Apollinis Leier,des Mercurii Stab, oder die nur mit gewissen Farbengemalet und unterschieden sind, die werden nicht fürso alt und lange nicht für so edel gehalten; denn manhat gemeinet, dass diese nicht durch die Stärke desKrieges oder durch Vergiessung Menschenbluts sinderworben worden.

Aber recht wunderlich ist es, mit was für einer när-rischen Weisheit diese militärischen Heraldiker dieserWappen wegen astrologizieren, philosophastern undtheologizieren, wann sie die dunkele und schwarzeFarbe dem Saturno assignieren; sie schreiben ihr des-wegen die Beständigkeit, die Verschwiegenheit unddie Geduld zu; der blauen Farbe, die sie dem Jupiterunterordnen, geben sie den Sinn der Treue, nach derFranzosen Meinung dem des Eifers; in der rotenFarbe wollen sie den Zorn und die Rache fürbilden,wegen der Gewalt des zornigen Martis; die gelbeGoldfarbe wird der Sonne zugeschrieben, durch diesewird die Fürtrefflichkeit des Metalls, der helle Scheinder Sonnen, das Verlangen und die Freude vorgebil-det; die Venus setzen sie über die purpurne und grüneFarbe, und wollen damit den rosigen Purpur, dieLiebe bezeichnen lassen; die Franzosen aber

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schreiben ihr die List der Verräterei zu; die grüneFarbe aber bedeutet nach aller Meinung die Hoffnung,denn wann die Äcker anfangen zu grünen, so hoffetman Früchte; die weisse Farbe wird dem Mond zuge-schrieben, weil sie ohne Vermischung für sich alleineist; sie nimmt aber gern andere Farben an, und damithaben sie die Reinigkeit, Einfachheit und Schicksam-keit anzeigen wollen.

Die andern, gemischten Farben aber eignen sie demMercurio zu, denn wie er an sich selbsten unbeständigund rumvagierend ist, also werden auch durch ihn alleunbeständige Gemüter vorgebildet; denn die Aschen-farbe ist der schwarzen näher und wird dadurch eineBangigkeit ausdrücken, die Fleischfarbe ein Schmer-zen des Gemütes oder heimliche verborgene Gedan-ken, die Strohfarbe, hell oder dunkel, aber erinnert andie verdorreten Blätter und Kräuter und zeiget desMenschen Desperation und Kleinmütigkeit an.

Aber es würde zu lang, alle Narrendeutungen ausden Humoren, den Komplexionen, den Jahreszeiten,den astrologischen Zeichnungen, aus den Winden,Zeichen, Gewächsen, Planeten und Steinen hier zu er-zählen. Ja sie dichten den heiligen Sacramenten derKirchen und deren Geheimnissen viel zu, und wollenbald die ganze Offenbarung Johannis in diese ihrenichtswürdige Fabeln mit hineinziehen.

Sehet, das ist nun dieser heldischen HeraldorumPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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10.055 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 62Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

heldische Philosophie. Hier machte ich diesem Ge-schäfte ein Ende, wann mir nicht einfiele, dass ich denUrsprung dieser Heraldorum vergessen habe, derowe-gen muss ich noch solchen hieher zusetzen.

Aeneas Sylvius der deduzieret die Heralden vonden Heroibus oder Helden; es waren aber die Heroësoder Helden alte Soldaten, welche man nur allein He-raldos oder Heralden nennen dürfte, und ist also He-rald ein alt teutsch Wort, und heisset soviel als einen,der mit Waffen alt worden ist, oder einen alten Solda-ten. Heutigen Tages aber werden schlechte LeuteFriedensboten oder Herolde, die ihr Lebtage nicht inKrieg kommen sind, also genennet. Die Freiheitenund Privilegia aber dieser Heraldorum sind noch vonalten Zeiten bis auf den heutigen Tag im Gebrauch.Der Stifter und Anfänger derselben ist gewesen LiberPater oder Bacchus, welcher sie, nachdem er Indieneingenommen hat, mit solchen Worten geweiht hat:Ego vos hodie militiae laboribusque absolvo, vetera-nos milites esse volo, heroasque vocari; munus ve-strum erit Reipublicae consulere, sontes arguere, lau-dare probos, caeteris muneribus vacabitis, quocunquegentium terrarumque veneritis, victum vobis reges ve-stitumque dabunt, honoratiores apud omnes eritis,xenia vobis principes offerrent, suasque vestes condo-nabunt, stabit fides dictis vestris, mendacia horrebitis,proditores judicabitis, qui foeminas male habent

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infames hos asseverabitis; in omni terra libertas vobisesto, securusque vobis transitus et incolatus. Si quisvos vestrumque verbo factove angariaverit quempiam,gladio ferietur. Das ist: Ich spreche euch Leute vonallen Kriegesdiensten los, und sollt ihr hinfüro ausge-diente Soldaten und Helden genennet werden. Ihr sol-let das gemeine Wesen beraten, die Bösen strafen, dieFrommen belobigen, und dieses soll eure einige Ver-richtung sein. Wo ihr werdet hinkommen, sollet ihrvon Königen und Fürsten unterhalten und gekleidetwerden, ihr sollet hoch angesehen sein bei jedermann;Fürsten und Herren sollen euch beschenken und be-gnadigen; jedermann soll euch auf euer Wort trauen,und ihr sollet euch vor aller Unwahrheit hüten; dieVerräter sollt ihr züchtigen und gegen die, so ihreWeiber nicht nach Gebühr halten, sollet ihr mit Nach-druck vorgehen. Allenthalben wo ihr hinkommet, sol-let ihr freien Aufenthalt haben; und wer euch oder deneuerigen was zu nahe redet oder tut, soll mit demSchwerte gestrafet werden.

Lange Zeit hernach hat Alexander Magnus zu die-sen Helden-Privilegiis noch dieses hinzu gesetzet,dass sie sich in Gold, Purpur und Scharlach kleidenund kaiserliche Gewänder anziehen, ja königlicheWappen und Insignien, an welchem Ort sie wollen,gebrauchen mögen. Rührte einer dieselben mit derHand oder war man ihnen mit Worten zuwider, so

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war gleich dessen Vermögen verfallen, und wurdederselbe auch wohl gar am Leben gestrafet. Dass auchThucydides, Herodotus, Didymus, Megasthon undXenophon solches also berichtet haben, erzählet ebendieser Aeneas Sylvius. Endlich aber, als er die römi-sche Monarchie aufgerichtet, hat Octavianus Augu-stus diese Herolde mit einem solchen Gesetze beehretund gezieret: Quisquis es, qui per decennium nobi-scum militaveris, si modo quadragenarius fueris, siveeques, sive pedes stipendia merueris, militia posthacvacato, Heros esto, veteranusque miles, nemo di civi-tate, foro, templo, hospitio, domo prohibeat; nemotibi crimen adscribat, onus imponat, pecuniam ex tequaerat; si quid peccaveris, solam Caesaris vindictamexpectato, quicquid turpitudinis admiserint homines,te judicem propalatoremque timeant, seu privati, seuprincipes fuerint, quod dixeris affirmaverisque, nemofalsum arguet, libera et aperta tibi omnia itinera loca-que sunto, in aedibus principum mensa tibi cibi po-tusque esto, stipendia, quibus te tuamque domum ser-ves, ex publico quotannis habeto; quam legitima faceduxeris uxorem, caeteris foeminis praeferatur; quemexprobraveris infamemque dixeris, hic reprobatushomo et infamis esto; arma, insignia, nomina et orna-menta heros ferto, quae reges decent, quae dicere autfacere velis, ubivis gentium, locorum nationumque fa-cito. Si quis injurius fuerit, cervice careto. Das ist:

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Ein jeglicher, welcher zehen Jahre bei mir in Krieges-diensten, es mag sein zu Ross oder zu Fuss gewesen,der soll nach seinem 40. Jahre davon los sein, undsoll ein Held und ausgedienter Kriegesmann genennetwerden; es soll ihm niemand verwehren sich derStadt, Kirchen und gemeinen Häuser nach Beliebenzu gebrauchen; er soll von allen Steuern oder andernGefällen befreiet sein; wann er etwas verbrochen, soller alleine von dem Kaiser gestrafet werden, hingegensollen alle andere, so etwas verschuldet, sich seinerStrafe unterwerfen; was er behauptet, dem soll nie-mand widersprechen; es soll ihm frei sein hinzuziehenund zu reisen wo er will; bei Fürsten und Herren soller allezeit freien Tisch haben, und seine jährliche Be-soldung, wovon er sich und die Seinigen erhaltenkann, bekommen; sein eheliches Weib soll andernvorgezogen werden; welchen er vor unehrlich erklärenwird, der soll auch von jedermann darvor gehaltenwerden; es soll ihm zugelassen sein, fürstliche Wap-pen und Namen zu führen; was er sagen oder tun will,es sei wann und an welchem Orte es wolle, das mager tun; und wer ihn lästern oder schmähen wird, dersoll am Leben gestrafet werden.

Und gar auf die Letzt hat Carolus Magnus, als desrömischen Reiches Namen ist auf die Teutschen kom-men, und er, als er die Sachsen und Longobarderüberwunden, Cäsar und Augustus genennet worden,

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hat er die Herolde mit dieser Ehre gewürdiget, wanner gesaget: Milites mei, vos Heroës vocabimini, sociiregum et judices criminum, vivite posthac laboris ex-pertes, consulite regibus publico nomine, turpia corri-pite, favete foeminis, juvate pupillos, concilio circun-date principes, ab his victum, vestitum, stipendium-que petite; si quis negaverit, inglorius infamisqueesto; si quis injuriam vobis intulerit, reum se laesaeMajestatis agnoscat. Vos autem cavebitis, ne tantumdecus, tantumque privilegium justo labore bellorumpartum aut ebrietatis aut scurrilitatis, aut alio quovisvitio maculetis, ne quod vobis largimur ad gloriam,redundet ad poenam, quam de vobis sumendam, siforsitan excesseritis, nobis et successoribus nostrisRomanorum regibus, perpetuó reservamus. Das ist:Ihr meine Soldaten, ihr sollet nun ins Künftige Heldengenennet werden, Gesellen von Königen, Richter vonÜbeltaten; lebet hinfüro ohne Müh und Arbeit, undgehet den Fürsten zu dem gemeinen Besten an dieHand; strafet das Böse, schützet die Weiber und Un-mündigen; stehet den Fürsten in ihrem Rate bei, ihrsollt von ihnen euern Unterhalt und jährliche Besol-dung haben; wer euch zuwider ist, soll vor unehrlichgehalten werden, und wer euch schändet oder schmä-het, soll ein crimen laesae Majestatis begangen haben;ihr aber sehet zu, damit ihr diese hohe Würde, so ihrim gerechten Kriege verdienet, durch Trunkenheit,

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Possenreisserei oder andere Laster nicht beflecket,damit das, womit wir euch beehren, euch nicht zurStrafe gereiche, was wir uns allein und unsern Nach-folgern, denen römischen Kaisern, für Verbrechen aneuch auszuüben, wollen vorbehalten haben.

Und dieses ist nun der Heraldorum ihre Magnifi-zenz, mit welcher sie sich durch alte hergebrachte Ge-wohnheit gross machen, weil ihnen nachgelassen ist,grosse Leute ungestrafet zu tadeln und zu schelten.

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10.061 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 66Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXXXII.

De medicina in genereoder

Von der Medizin insgemein

Aber wir müssen nun von dem Krieg und dem Adelzur Medizin eilen, denn sie ist auch eine Kunst, dieLeute zu töten; sie ist bloss eine mechanica, oderHandwerkskunst, ob sie sich gleich mit dem Titul derPhilosophie schelten lässet, auch wohl gar über derJurisprudenz nächst der Theologie ihren Sitz habenwill; daher ist unter den Medicis und Juristen ein hef-tiger Streit entstanden, welchen unter ihnen die Ober-stelle gebühre.

Die Medici machten diesen Schluss: die Güter desMenschen sind dreierlei, nämlich die Güter des Ge-mütes, die Güter des Leibes und die Güter des Reich-tums oder Glückes; um die ersten bekümmert sich derTheologus, um die andere der Medicus, und um diedritte der Juriste. Also müssen auch die Medici diezweite Stelle und die über den Juristen haben, weildes Leibes Gesundheit dem Reichtum oder demGlücke vorzuziehen ist. Aber diesen Streit hat einRichter durch eine artliche Frage aufgehoben, dennals die Streitenden vor ihn kommen sind, hat er sie

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10.062 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 67Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

gefraget, was doch für ein Gebrauch und Ordnung ge-halten würde, wann ein Übeltäter sollte nach demGalgen geführet werden: ob da der Dieb oder derHenker voranginge? Und als sie antworteten, dass derDieb voranginge und der Henker folgete, so hat erdiesem Abschied gegeben: ergo müssen die Juristenvorangehen und die Medici folgen; und hat damitwollen zu verstehen geben, dass jene den Leuten dasihrige nähmen, die aber brächten sie ums Leben.

Aber wir müssen wieder zur Medizin kommen, undda gibet es viel Pfuscher und Boenhasen. Denn es istdie eine Art dieser Kunst, welche man die Medicinamrationalem, sophisticam oder dogmaticam nennet, dieHippocrates, Diocles, Chrysippus, Caristinus, Para-xagoras und Herosistratus exerziert haben, solcheauch Galenus lange Zeit hernach gebilliget hat. Denndieser hat für andern dem Hippocrati gefolget, wel-cher die ganze Kunst zu kurieren auf Cognition derUrsachen, auf Erkundigung der Signorum oder Zei-chen, und auf des Leibes Konstitution und Eigen-schaften bezogen hat.

Weil aber diese Ketzerei mehr in Worten als in denSachen selbsten bestehet, so muss ich bekennen, dasssie ein bedeutender Teil der natürlichen Philosophiekann genennet werden; jedoch den zu heilenden Kran-ken nicht notwendig, sondern vielmehr verderblich.Sie weiset die kranken Menschen mehr auf zusammen

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10.063 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 68Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

geraffete Sophismata und betrügliche Reden, als aufrechte reine Arzneien; sie begnüget sich mit diesemscholastischen Syllogismis, und will von keinem derKräuter nichts wissen, die auf dem Felde oder in Gär-ten wachsen. Derowegen hat Serapion gesaget, dassdiese medicina rationalis die Kunst zu kurieren nichtsanginge.

Aber es ist noch eine andere Partei oder Rotte derMedicorum, eine rechte gewinnsüchtige und mechani-sche Art, von welcher die Medici noch heutiges Tagesihren Namen her haben; die nennen sie die Medici-nam operatricem, und teilen sie in empiricam und me-thodicam, und von dieser müssen wir jetzo reden.

Die empirische Arzneikunst nennen sie von der Ex-perienz oder Erfahrung; deren Häupter sind Serapion,Heraclides und beide Apollonii, welchen hernach vonden Lateinern Marcus Cato, C. Valgius, PomponiusLaetus, Cassius Felix, Aruntius, Cornelius Celsus,Plinius und andere mehr gefolget haben. Aus dieserempirischen ist hernach die methodische Schule kom-men, welche Hierophilus Chalcedonius aus langer Er-fahrenheit in gewisse Regeln gebracht und ans Tages-licht kommen lassen; und die haben mit starken Be-weisgründen gebilliget Asclepiades, Themision undArchigenes. Aber Thesillus Italus, welcher (wie Varrouns lehret) aller anderen Meinung aufgehoben, undmit einer wahren Wut gegen die Mediziner früherer

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10.064 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 69Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Jahrhunderte gewettert, war dieser Schule Meister.Hernach aber sind viel barbarische Philosophi auf-

gestanden und haben von der Medizin geschrieben,unter welchen die Araber so berühmt worden sind,dass man sie für die Erfinder dieser Kunst gehaltenhat; und das hätten sie auch leicht behaupten können,wann sie nicht soviel lateinische und griechischeNamen und Wörter gebraucht, und dadurch sich ver-raten hätten. Daher sind des Avicennae, Rhazis undAverroës Bücher eben mit dergleichen Autorität alsdes Hippocratis und Galeni aufgenommen wordenund haben soviel Kredit erlanget, dass, wer ohne die-selben zu kurieren sich unterstanden, von dem hatleicht gesagt werden können, er ruiniere die allge-meine Wohlfahrt.

Obgleich es nun von den Medizinern nicht gar soviele Sekten gibet, so ist doch unter ihnen eben so einStreit und Kampf, als wie unter den Philosophis, ent-standen.

So höret nur, mit was für altväterischen Rationensie miteinander streiten, nur allein über diesen Punktwas der Samen sei; Pythagoras hat es einen Schaumoder Gischt des Geblüts oder ein nützlich Exkrementder Speise genennet; Plato aber den Abfluss desRückenmarks; Alcmeon hat es einen Teil des Gehir-nes tituliert, weil die Augen nach Exzessen des Lie-besgenusses wehe tun, welche ein Teil des Gehirns

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10.065 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 70Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

sind; Democritus spricht: dieses wäre von allen Teilendes Leibes abgesondert; Epicurus, es wäre von derSeele und Leib gerissen; Aristoteles, es wäre ein Ex-krement des Nahrungsblutes, welches auf die Letzt inden Gliedmassen verzehret würde; andere meinen, eswäre ein in den Testikeln durch die Hitze gekochtesBlut.

Ferner sagen Aristoteles und Democritus, dass desWeibes Samen zur Generation nichts täte, und dasssie keinen Keim, sondern einen eigentümlichenSchweiss ausliessen; Galenus aber, dass sie einenSamen, ob es gleich nicht ein vollkommener Keimwäre, ausliessen und dass beider Samen, sowohl desMannes als des Weibes, die Frucht konstituierten.Aber Aristoteles will haben, dass die Leiber der Tiereaus dem Geblüte gezeuget und unmittelbar ernähretwürden, und dass der Same aus dem Geblüte seineGeneration hätte. Hingegen stehet Hippocrates indenen Gedanken, dass die Körper der Tiere erstlichaus den vier Humoribus oder Feuchtigkeiten coagulie-ret würden; und viel aus den arabischen Medicishaben gemeinet, dass die vollkommenen Tiere ohneZutun des Mannes und Weibes vollkommen könntengenerieret und ohne Samen hervorgebracht werden,und deswegen haben sie gesaget, die Matrices wärennicht eben notwendig, sondern nur als Accidens da.

Wann sie nun von den Ursachen der KrankheitenPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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10.066 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 71Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

und von ihrem Ursprung handeln, mein, wie sind sieeinander zuwider. Hippocrates meint, die Krankheitenkämen aus dem Spiritu oder Winde her; Hierophilusaus den Humoribus oder Feuchtigkeiten; Erasistratusaus dem Geblüte der grossen Pulsader; Asclepiadesaus den Atomis, welche durch die Poren durchdrin-gen; Alcmeon aus dem Überschuss oder Mangel derkörperlichen Kräfte; Diocles aus der Ungleichheit dercorporalischen Elementen, und aus dem Anhauchender Luft; Strato von der Speisen Überflüssigkeit, Cru-dität und Corruption.

Aber wie die Speise verwandelt und verdauetwerde, da sind sie auch nicht weniger zweifelhaftig;denn Hippocrates, Galenus und Avicenna, die wollenbehaupten, dass die Speise im Magen durch die Hitzegekochet und verdauet würde; Erasistratus meinet,dass es im Bauche geschehe; Plistonicus und Praxa-goras sagen, sie würde nicht allein darinnen gekochet,sondern sie verfaulete auch. Ja auch der Avicenna undseine Ausleger, der Gentilis und Jacobus de Forlivio,die geben für, aber nicht ohne grossen Irrtum, dassder Dreck in dem Magen gezeuget würde; aber Ascle-piades und seine Nachfolger die halten dafür, dass dieSpeisen in dem Magen nicht verdauet, sondern roh indem Körper überall eingeteilet würden, und haltenalle diejenigen Meinungen, davon wir eben gedachthaben, für vergeblich und nichtswürdig.

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10.067 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 71Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Ich übergehe hier auch das Judicium vom Urin oderdem Wasser, und vom Takte des Pulses, welches dochalles noch nicht vollkommen von ihnen erkennet undwahrgenommen ist. In diesen Fragen ist Hippocrates,ob sie ihn schon für einen Gott gehalten, denen an-dern nicht so sehr contrairer und widerwärtiger Mei-nung gewesen als vielmehr ganz irrig; denn in demBuch de Natura Infantis saget er: Generatur ex luteoovi avis, nutrimentum autem et augmentum habetalbum quod in ovo est. Es wird der junge Vogel ge-zeuget aus dem Dotter des Eies, das Nutriment aberund das Wachstum steckt in dem Weissen, welches indem Eie ist. Welches, dass es falsch sei, beweiset Ari-stoteles in den Büchern de Animalibus und de Gene-ratione Animalium, darinnen er wider den Alcmeondisputieret, welcher des Hippocratis Meinung gewe-sen ist, und schliesst endlich: Origo pulli in albumineest, cibus per umbilicum ex luteo petitur. Das ist: DerAnfang und Ursprung des Jungen ist in dem Weissen,die Speise aber wird durch den Nabel aus dem Dottergeholet.

Dieser Meinung pflichtet Plinius bei, wann erspricht: Ipsum animal ex albo liquore ovi corporatur,cibus ejus in luteo est. Das ist: Das Tier an sich selb-sten wird aus dem Weissen des Eies korporieret, dieSpeise aber ist in dem Dotter. Ist dann auch nichtjener Machtspruch des Hippocratis erlogen, wann er

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spricht: Mulier non podagrizat, nisi menstrua illi de-fecerint? Das ist: Ein Weib hat nicht das Podagra, siehätte denn ihre Menses oder weibliche Zeit nichtmehr? Wir sehen ja, dass viel Weiber, wann sie gleichihre Zeit haben, am Podagra doch laborieren.

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10.069 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 72Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXXXIII.

De medecina operatriceoder

Vom Gebrauch der Arznei

So ist demnach die ganze praktische Arzneikunstauf kein ander Fundament, als auf etliche betrügeri-sche Experimenta und Erfahrungen und auf dieLeichtgläubigkeit der Patienten gegründet, welcheihnen aber mehr schädlich als nützlich ist, also dassman oftermals, ja fast immer mehr Gefahr von demMedico und seiner Arznei, als von der Krankheitselbst zu befürchten hat. Und dieses haben die Vor-nehmsten dieser Kunst gar freiwillig bekennet; derHippocrates saget, dass diese eine schwere und höchstbetrügliche Kunst sei; Avicenna hält dafür, dass dasVertrauen und die Hoffnung des Kranken zu einemMedico und zur Arznei mehr ausrichte als der Medi-cus und die Arznei selbst. Ja Galenus spricht, dass esschwer sei eine Arznei zu finden, die, indem sie vielhelfe, dabei in gewissen Dingen nicht auch schadensollte; so saget auch ein anderer aus ihrer Zunft, dasszwar die Wissenschaft der Medizin an sich selbst lu-stig sei wie jede Kenntnis gewisser Reguln und Kün-ste, der Gebrauch aber sei ungewiss und rührete nur

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10.070 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 73Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

vom blossen Zufalle her. Derowegen mögen die un-glückseligen Patienten hingehen und sich diesen ge-fährlichen Experimenten unterwerfen und ihr Vertrau-en auf den Zufall stellen.

Es ist aber, wie Plinius saget, die Schmeichelei, ge-sund zu werden, bei einem jedweden so süsse, dassdem, welcher sich für einen Medicum ausgibet undwas Sonderliches herauszuschwatzen weiss, gar leichtGlauben beigemessen wird, da doch durch der Medi-corum Betrug und Lügen dem Menschen die grössteGefahr des Lebens obhanden kommen kann; daherogeschieht es, dass wir von dem Orte, da wir die Ge-sundheit suchen, oftermals den Tod herholen, undwird der zuweilen für den besten Medicum gehalten,welchen der Apotheker um des geteilten Gewinsteswillen rekommandieret und mit welchem er untereiner Decke lieget; man macht den Gehilfen des Apo-thekers ein Geschenk und dafür überreden sie wieKuppler den armen Patienten, dass er diesen Arzt fürandern brauchen soll. So wird auch der für den vor-nehmsten Medicum geachtet, der in sonderlicherprächtiger Kleidung hertritt und die Finger mit Hya-zinthen- oder Türkisringen besteckt, der weite Reisengetan oder fremder Nation und anderer Religion, einJude oder Marane ist, oder der mit einer sonderlichunverschämten Stirne zu betrügen oder mit einem un-gewöhnlichen Ruhm seine Medicamenta

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rauszustreichen weiss, oder bei den Leuten, um sichein Ansehen zu machen, sich ein Kredit zu erwecken,nur wacker disputieren kann, dem viel halbgriechi-sche oder sonsten barbarische Wörter aus dem Maulegehen, fremde Autores zu zitieren, und endlich miteiner bleischweren Gravität und fast soldatischenKühnheit seine Kunst zu praktizieren und so seineKur bei den Patienten anzutreten weiss. Erstlich suchter den Kranken auf, betrachtet ihm das Wasser, beta-stet den Puls an, besichtiget die Zunge, greifet ihm dieSeiten, forschet nach den Exkrementen, will wissen,was der Patient gegessen und was er sonst Verborge-nes getrieben hat; darnach judizieret er die Elementeund die Humore des Kranken wie auf einer Wage undschwatzet so etwas in Tag hinein; sodann schreibet ermit einer sonderlichen Jaktanz und Grossprechen ge-wisse Arzneien; da heisst es, Rezipe oder nimm Pil-len, lass zur Ader, brauche ein Klistier, stecke einZäpfchen, schmiere dich mit Salben, lege Pflaster auf,erweiche oder erwärme den Bauch, brauche was zurVerdauung der Speise, gurgele dich, brauche Riech-kissen (?), räuchere dich, nimm eingemachte Sachenfür den bösen Magen, brauche Syrupe, Wässer undTheriak. Wann nun die Krankheit nicht von grosserWichtigkeit, der Patient aber weichlich und zärtlichist, da erdenket der Medicus allerhand geschmierteWorte, verordnet weibische Delikatessen und gebeut

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10.072 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 75Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

mit einer grossen Autorität, er soll sich auf das weicheFaulbette hinstrecken und einen Springbrunn tröpfelnlassen, damit es ihn zum Schlafe anreizen möchte;bald soll er sich reiben, bald Schröpfköpfe setzen las-sen, bald soll er Bäder gebrauchen, delikate Speisenessen, bald soll er die Luft verändern und eine kleineReise für sich nehmen; damit er aber sich ein rechtAnsehen machen und alle Leute über ihn und seineKur sich verwundern möchten, so nimmt er die Stun-den präzise in acht und gibet nach mathematischenRegeln Arzneien und Tränke nach dem Kalender,masset sich einer Herrschaft über den Apotheker an,lässt sich alle Droguen vorzeigen, verspricht die be-sten auszusuchen, da er doch nicht weiss, wie die In-gredientien aussehen oder heissen.

Ist aber der Patient reich oder von hohem undgrossem Ansehen, so hält der Medicus die Krankheit,so viel an ihm ist, seines Nutzens wegen auf und ku-rieret fein langsam, da doch oftermals die Krankheitso beschaffen, dass sie durch ein geringes Mittel hättekönnen weggetrieben werden. Bisweilen machet er dieKrankheit schlimmer und bringet den Patienten mitseinen Arzneien in die äusserste Gefahr des Lebens;wann es nun besser wird, so glorieret er, als wann erihm von der gefährlichsten Krankheit geholfen hätte.

Kommt aber ein Patient, mit dem es gefährlich ste-het, in seine Hände und er merket, dass es einen übeln

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10.073 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 75Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Ausgang mit ihm nehmen dürfte, so gebrauchet ersich gewisser Praktiken und Ränke: schreibet ihm miteinem ernsthaftigen Gesichte gewisse Leges der Le-bensweise vor, verbeut die gewöhnlichen und verord-net hingegen ungewöhnliche Sachen; was man sonstdem Kranken zu gebrauchen geheissen, schaffet er ab,lehnt alle bisherigen Massnahmen ab, schwatzet voneinem übeln Ausgange, verspricht aber doch Heilunggegen grossen Lohn. Wann der Ausgang ihm zweifel-haft ist, so gibet er den Rat, man solle ein ConsiliumMedicorum über den Kranken stellen lassen, willauch nicht alleine kurieren, sondern begehret einenKollegen, damit er entweder besser kurieren oder denPatienten desto sicherer ums Leben bringen könne.Auch soll der andre Arzt nicht etwa allein Geld undLob verdienen.

Geschichts nun, dass durch seine Unerfahrenheitdem Patienten ein unerhoffter Zufall begegnet, sosaget er, es wäre ein Stickfluss oder sonsten ein un-vermutetes Accidens darzu kommen, und könnte nun-mehro der Patient nicht kurieret werden, oder gibetvor, der Kranke hätte sich nicht nach der Vorschriftgehalten oder keine gute Wartung gehabt, gibet wohlauch seinem Mitkollegen oder dem Apotheker dieSchuld, und will dadurch die Leute überreden, dasskein Patiente anders als durch seine eigene Schuldsterben, keiner anders als durch des Medici Hilfe

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wieder gesund werden könne.Dass aber die Medici meistenteils die ärgsten

Schälke sind, das wollen wir anjetzo durch ihr eigenBekenntnis dartun; denn es saget ihr Beschützer Pe-trus Apponus selbst, dass die Medizin dem Marsmüsste zugeschrieben werden, welcher unter den Pla-neten der verhasseteste und alles Undankes, Streites,Unbilligkeit und Kriegens Urheber ist; daher kommees, dass die Medici meistenteils böse Sitten an sichhaben und gemeiniglich, wegen des Martis und Scor-pionis Influenz, von geringem Herkommen sind,nachher aber, sobald sie im Fette sitzen, stolz undfrech sind, nach dem Exempel des Äsculapii, vonwelchem die Antiquität diese Fabel erzählet, dass erder erste Erfinder der Arzneikunst und ein geistigerSohn des Jupiters gewesen und durch den Lauf derSonnen auf die Erde kommen sei. Celsus aber hältdafür, dass er zwar ein Mensch gewesen, aber unterdie Zahl der Götter sei gerechnet worden; die meistenaber wollen behaupten, dass er von der Coronide wäregeboren worden, welche ein hübsches Weib gewesen,die die Priester in dem Tempel Apollinis mit Huren-liebe oftermals angereizet und bezwungen hatten unddas Kind für einen Sohn des Gottes ausgegeben; je-doch kommen die meisten darinnen überein, dass die-ser Gottessohn so frevelhaft gewesen, dass der Vaterihn mit seinem Blitz hat züchtigen müssen; davon hat

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Lactantius an den Kaiser Constantinum auf solche Artgeschrieben: Der Äsculapius, welcher nicht ohneSchande des Apollinis Sohn hiess, was hat er andersgetan, das göttlicher Ehre wert wäre, als dass er denHippolytum wieder gesund gemachet? Er hat fürwahreinen über sein Verdienst berühmten Tod gehabt,indem er mit der Götter Blitz erschlagen zu werden istgewürdiget worden.

Aber die rechte Wahrheit zu sagen, so sind die Me-dici unter allen Menschen die nichtswürdigsten, diezänkischsten, die missgünstigsten und die verlogen-sten; denn sie sind so untereinander uneins, dass auchnicht einer gefunden wird, der nicht des andern Arzneibekritelte, änderte oder tadelte und sich nicht mit ihmrumbisse oder stritte, damit nicht ein anderer für einenbessern Arzt angesehen werden möchte; dahero ist einSprichwort entstanden: Medicorum invidia et discor-dia. Es ist eine medizinische Missgunst und Uneinig-keit. Denn was einer billiget, das verlachet der andere,da doch bei ihnen nichts Gewisses, sondern lauterLügen und eitel Geschwätze zu befinden ist; undwann man einen, der wacker lügen können, hat be-schreiben wollen, so hat man gesaget: Mentiris ut me-dicus. Du leugst wie ein Medicus.

Es beruhet auch das ganze Werk dieser Kunst dar-innen, dass man Neues erfindet, das Alte, so doch vielbesser ist, verachtet, sein bisschen Wissen geheim

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hält, und durch solche Missgunst und aus Geiz unsum unser Leben betrüge. Überdieses, so sind sie jaauch meistenteils abergläubisch, stolz, ruhmredig, un-gewissenhaftig und geizig, die stets im Munde führen:Accipe, dum dolet; nimm's hin, weil's schmerzet,oder: dolet quod sanum est; es mag schmerzen, wannes nur gesund ist. Also lesen wir, dass Petrus Appo-nus, welchen die Medici ihren Tröster nennen, als erzu Bononia diese Kunst profitieret, wäre so geizigund ruhmredig gewesen, dass, wann er ausser derStadt zu einem Patienten ist berufen worden, unter 50Dukaten täglich sich nicht hat dingen lassen; und alser einstmals zu dem Papst Honorio ist gefordert wor-den, hat er mit ihm auf 400 Dukaten täglich ein Ge-ding gemachet. Ja es schreibet Pindarus, dass Aescu-lapius, der Medicorum Grossvater, teils wegen seinesgrossen Geizes von dem Gott Jupiter wäre vom Blitzegerühret worden, teils, dass er mit seiner Arznei sogrossen Schaden getan hätte.

Wann nun aber ein Patient so glückselig ist, dasses von ohngefähr mit ihm besser wird und er sich ausder Medicorum Klauen losreisset, hilf, lieber Gott!wie ist da unter den Medicis ein unerträglicher Ap-plausus; da meinen sie, kein Mensch könnte dieseWundertat mit genugsamen Lobe nicht beschreibenund lassen verkünden, sie haben Lazarum vom Todeauferwecket, des Patienten Leben wäre ihr Geschenke,

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ihnen wäre es beizumessen, sie hätten ihn wieder ausder Hölle gerufen und eignen sich also göttliche Sa-chen zu; sagen, ihre Wissenschaft wäre mit keinemGolde zu bezahlen. Ja es gibet ihrer unter ihnen, wel-chen der Dreck so hoch lieget, dass sie für Götter ge-ehret und Jupiters Söhne wollen genennet werden, wieder Menecrates, welcher zu unterschiedenen Malendiese Worte an den Agesilaum, der Spartaner König,geschrieben: Menecrates Jupiter Agesilao Regi salu-tem. Der Menecrates, Jupiters Sohn, wünschet demKönige Agesilao alles Heil. Agesilaus aber, der seineTorheit ausgelachet, hat ihm geantwortet: AgesilausMenecrati sanitatem; der Agesilaus wünschet demMenecrati gute Gesundheit.

Wann aber ein Kranker unglückselig ist (welchesdenn meistenteils geschieht) und er unter ihren Hän-den dahinstirbet, da klagen sie des Patienten böseNatur an, geben es der Malignität der Krankheitschuld, oder der Patient hätte ihnen nicht gehorchet,oder sagen, sie wären Medici, aber keine Götter, siekönnten Kranke gesund machen, aber keine Totenauferwecken. Auf solche Art stolzieren diese teureMörderer doch noch, wann es gleich mit dem Patien-ten übel ablaufet und ein unglücklich Ende nimmet,schreiben alles der Unmässigkeit des Patienten beiund fordern doch einen grossen Lohn, wann sie ihnschon mit ihren Medikamenten ums Leben gebracht

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10.078 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 79Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

haben, und er wohl ohne Gebrauch derselben hättelänger leben können; also bringen sie ihn um seinenRuf, um sein Geld, um seine Gesundheit und um seinLeben, und meinen doch wohl, sie haben alles wohlausgerichtet und haben ein gut Gewissen darbei.

Aber (wie Socrates spricht) wann ihre Irrtümernicht mit unter die Erde begraben würden, und dieje-nigen, welche sie so mutwillig mit leeren Reden undArzneien vor der Zeit hinunter geschaffet haben, wie-der aus dem Lande der Toten zu uns kommen könn-ten, so würden sie ihre Medicos ohne allen Zweifelactione repetundarum belangen oder wegen beraubterGesundheit auf Schadenersatz verklagen.

Überdieses so sind die Medici meistenteils an-steckend, und vom Harn und Kote der Patienten stin-kend, ja unflätiger als die Hebammen selbsten, indemsie garstige und unflätige Sachen mit ihren Augen an-sehen, und der Patienten Gerülpse und Farzen anhö-ren und riechen müssen; dadurch ziehen sie allen gif-tigen Gestank und Atem an sich und kosten mit ihrenLippen und Zungen die scheusslichen tödlichen Trän-ke, und wühlen mit ihren Händen in der Purgationund Dreck herum. Da ist kein Wunder, wann sie nichtoftermals die abscheulichen Totengesichter der Ster-benden Tag und Nacht in ihrer Phantasie behalten unddie vielfältigen Totschläge, die sie an ihren Patientenhin und wieder verübet, ihnen ihr Gewissen nicht

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10.079 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 80Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

perturbieren sollten. Ja ihr ganzes Studium, Denken,Reden, Forschen und Leben bestehet in nichts anders,als in traurigen und schmutzigen Fällen, hässlichenSachen und allerhand Arten der Krankheiten, ihreMusterplätze sind garstige Örter und ihre Kunst un-flätig, sie gehen um des Kranken Seichscherbel undKackhäuser rum, nur wegen des schändlichen Gewin-stes, und bauen wie ein Wiedehopf oder Dreckhahnsich aus dem Kot der Patienten und ihrem Gelde Ne-ster und Häuser.

Aber sehen wir nicht, wie sie mit verschlungenenHänden, kotigten Kleidern und blassen und traurigenGesichtern die ganze Stadt durchstreichen, und wegeneines so schnöden Gewinstes von einer Apotheke zuder andern fragen und betteln, ob nicht einer ein Urin-glas oder einen Dreck zu beschauen gebracht hätte,und drehen sich, wie die Geier um ein Aas, um desMenschen Kot herum. Auch Hippocrates hat pflegenvom Urin zu kosten, damit er von der Eigenschaft derKrankheit besser hat judizieren können; und dieseswird auch von dem Aesculapio, welchen Aristophanesdarum einen Dreckfresser genennet, gesaget. Und die-ser Name ist hernach auf die Medicos kommen, dasssie Dreck-Inspectores und Dreckfresser sind genennetworden; dahero wird auch die Scatomantia, die Oro-mantia Drimymantia eine Wahrsagung genennet, dieaus dem Drecke und Urin ihren Ursprung hat.

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So sind auch die Wund-Medici und diejenigen,welche dieser Kunst sich befleissigen, bei vielen Völ-kern schon vor alters her für unehrlich und infam ge-halten worden, dergestalt, dass (wie Seneca Zeuge ist)für ein unehrlich Stück ist geachtet worden, wannman bei einem solchen Medico Hilfe gesuchet. Ja essind noch heutiges Tages viel Völker, die sowohl dieMedicos, als die Wehmütter und die Diebeshenkervon ihrem Tische und Gemeinschaft ausschliessen,oder doch aufs wenigste ihnen ihre absonderlicheSchüsseln und Trinkgeschirre reichen und aufsetzenlassen. Dahero müssen wir uns billig erzürnen überden bösen Gebrauch etlicher Fürsten und grosser Her-ren, welche diese garstige und schädliche Leute, diedoch mit lauter pestilenzischem Gestank geradenwegsvon den Kranken kommen, in ihre Schlafkammernund an ihre Tafeln lassen, da sie doch mitten unterdem Essen und Trinken von nichts anders als vonDreck, Urin, vom Schwitzen, Purgieren, Vomieren,garstigen Eitern, Weiber-Krankheiten und andern un-flätigen Sachen zu reden wissen, ferner von Fallsucht,Aussatz, Geschwüren, Krätze und Pest, wodurch sieden umsitzenden Gästen nichts als einen Ekel beimEssen und Trinken verursachen.

Und mein, nehmet doch wenn ihr wollet, einen Me-dicum, dass er euch soll in einer bürgerlichen Sacheeinen Rat geben oder Trost zusprechen, da werdet ihr

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nichts Ungeschickteres und Ungereimteres sehen; undvielleicht darum, weil der Medicorum Disziplin (wieder Vornehmste unter ihnen saget) nicht von Tugen-den oder guten Sitten handelt, sondern (wie er weitersaget) wie ein von Natur guter Medicus böse Sitten ansich nehmen soll.

Wir wissen, dass in vielen Städten durch öffentli-che Edicta und Plebiscita verboten ist, dass die Medi-ci in keinen Ratstuhl oder den Magistrat sollen gezo-gen werden, nicht vielleicht so wohl darum, dass sieganz und gar ungeschickt darzu wären oder vonschlechten Sitten, sondern vielmehr, weil sie meisten-teils unflätig sind, und durch stete Anrührung derKranken sich so beflecken, dass sie nicht allein dienebenst ihnen stehende Leute anstecken, sondern auchdie Stühle und Bänke, ja sogar die Steine damit besu-deln und infizieren, wie Lucilius, ein griechischerPoet, von einem Medico dieses Epigramma, welcheshernach Ausonius ins Lateinische bracht, gar schöngeschrieben.

Alcon hesterno signum Jovis attigit, illeQuamvis marmoreus vim patitur medici.Ecce hodie jussus transferri ex aede vetusta,Effertur, quamvis sit Deus atque lapis.

Das ist: Der Alcon hat gestern das Bild des JovisPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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10.082 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 82Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

angerühret, und ob es gleich steinern, so ist es dochdurch die Gewalt des Arztes verderbet worden, undals man es heute befohlen herauszutragen, ist es auchgeschehen, ob es gleich nur ein Stein, doch aber auchein Gott war.

Wann sie nun aber bei ihrer medizinischen Berat-schlagung zusammen kommen, zu untersuchen, wasder Patiente dieselbe Nacht an Wasser gelassen oderoffenes Leibes gemachet hat, da lassen diese un-schätzbare Mörder als Oberzunftmeister der Schwit-ze-Bänke ihren Machtspruch über des armen Patien-ten Leben oder Tod ergehen; man muss sich verwun-dern, aber dabei auch sich beklagen, mit was für elen-den und nichtswürdigen Streitigkeiten, und oftermalsnicht einer mit dem andern einig, sie aufgezogen kom-men; sie streiten bei dem Bette des Kranken, nicht, alswann sie zu kurieren, sondern zu disputieren wärenberufen worden, also dass nach des Menandri Mei-nung, ein solcher zänkischer und wäschhafter Medi-cus die andere Krankheit des Patienten ist, gleich alswann die Worte und nicht die Werke für die Krank-heit nötig wären. Da müssen die Aphorismi, welchesie in Schulen gelernet, mit sonderlicher Ostentationherhalten, da muss der Hippocrates, Galenus, Avi-cenna, Rhazes, Averroes, der Conciliator und andere,die sie für Götter halten, zu Zeugen angeführet wer-den, damit ja der gemeine und ungelehrte Mann

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grosse Ästime von ihnen machen möchte; wann sienun erstlich mit einem grossen Gepränge von Ur-sprung und Ursache der Krankheit, von Signis undAffekten, von Humoren, von kritischen Tagen oderandern Zufällen vergebens und lange genug gestrittenhaben, so schliessen sie endlich so kaltsinnig auf einMittel, welches doch das Hauptwerk sein müsste; undwill keiner dem andern, wie ohnedas die Missgunstbei ihnen am grössten ist, seine Arcana, wie sie sienennen, offenbaren, gleich als wann für den einen ver-loren wäre, was er dem andern sagete. Wann nun end-lich die gemeine Art zu kurieren nicht helfen will, sosuchen sie eine andere, welche sie die empirischenMittel nennen, herfür und sagen, wann auf dem Not-fall die Vernunft nicht helfen will, so muss die Ver-wegenheit das Beste tun; ja, sagen sie, es ist besserzweifelhaftige Hilfe als gar keine Hilfe zu versuchen,und man muss endlich abwarten, wie es mit derKrankheit will ablaufen, weil Hippocrates verbeut,desparaten Patienten Arznei zu geben.

Wann es nun gar mit ihm auf die Neige kommet, sofangen sie an religiosisch zu werden, überlassen dieHeilung einem Heiligen oder verschreiben dem Pati-enten das letzte Rezept: Recipe tabellionem unum, te-stes numero septem, adde sacerdotem cum aqua etoleo benedictis quantum sufficit et dispone domuituae, quia morieris. Das ist: Recipe einen Notarium,

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10.084 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 83Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

dazu sieben Zeugen, beschicke dein Haus; füge weiterhinzu einen Priester mit Wasser und Öl quantumsatis; denn du musst sterben.

Dahero hat ein berühmter Medicus, Rhazes ge-nannt, welchem der Patienten leichtglaubige Torheitund der Medicorum streitsüchtiger Unverstand wohlbewusst gewesen, geraten, dass ein Patiente nur einenMedicum gebrauchen solle, weil der Irrtum eines ein-zigen weniger Schande bringet, der Nutzen eines ein-zigen aber diesem viel Lob eintraget. Sind aber vieleÄrzte da, so gehet es schlecht. Das bezeuget eine alteJnscription auf einem Grabmal: Turba hic medicorumperiit. Dieser ist gestorben an der Menge der Ärzte.Und ist ein griechisch Sprichwort: Multorum medico-rum introitus aegrum perdidit. Der Einzug vieler Me-dicorum hat den Patienten ums Leben gebracht. Die-ses ist auch die Rede des sterbenden Adriani gewesen,wann er gesaget: Medicorum turba principem perdi-dit. Das ist: Der Haufe der Ärzte hat den Fürsten ge-tötet.

Und es bleibet wohl dabei, dass kein besser und si-cherer Mittel ist, sein Leben und seine Gesundheit zuerhalten, kann auch kein besseres gefunden werden,als wenn man sich von den Medicis enthalte. Die Ge-sundheit des Leibes muss Gott und nicht den Mediciszugeschrieben werden; daher wurde Asa, der König inJuda, von dem Propheten des Herrn gestrafet, dass er

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10.085 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 84Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

in seiner Krankheit nicht den Herrn gesuchet, sondernsich mehr auf die Ärzte verlassen hätte, weil durch ihrRaten niemand kann gesund werden, und ist ein arm-seliges Leben, wann man sich auf ihre Hilfe verlassensoll. Lass es wahr sein, die Medici wüssten (aberwollte Gott, dass sie es wüssten) alle Wirkungen,Mächte und Kräfte der Elementen, Wurzeln, Kräuter,Blumen, Früchte, Samen, nämlich Samen der Tiere,der Mineralien, auch alles dessen, was sonsten dieNatur als Mutter aller Dinge uns herfür gegeben hat,so können sie doch mit allen diesen nicht einen einzi-gen Menschen unsterblich machen, oder (welchesnoch viel weniger ist) von einer geringen Krankheitbefreien.

Ach wie oft geschieht's, dass eine Arznei, welchehat nutzen sollen, nicht genutzet, und welche hat pur-gieren sollen, nicht purgieret hat! Wie oft ist dieKrankheit wiederkommen, und endlich, nach lang ge-habter Arbeit und aufgewandten vielen Unkosten, inGegenwart des Medici der Tod erfolget.

Mein, was sollen wir nun vor ein Vertrauen zudenen Medicis haben, wann, wie unter ihnen der Vor-nehmste, Hippocrates, saget, ihre Experienz betrüg-lich ist? Was haben wir von ihnen zu hoffen, wann'swahr ist, was Plinius schreibet: Nullam artem incon-stantiorem medicina esse, etiamnum saepius immu-tari. Das ist: Es ist keine Kunst unbeständiger, auch

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keine der Veränderung mehr unterworfen, als die Me-dizin.

Vor Zeiten sind viel Menschen gewesen und sindihrer auch noch, die ohne Medicos gelebet, stark undgesund geblieben und das höchste Alter erlanget, jaüber 100 Jahr gelebet haben. Hingegen hat es zärtli-che und delikate Nationes gegeben, welche sich desRats und Hilfe der Medicorum gebrauchet, bei denenwir gesehen, dass sie bei jungen Jahren gealtert undzeitlich gestorben sind. Ja wir sehen auch bei denenMedicis selbsten, dass sie mehr als andere Leutekranken und in ihren besten Jahren dahinschleichen.

Dahero hat ein Spartaner den andern gefraget: Wiebefindest du dich, fehlt dir auch was? Darauf er geant-wortet: Nein, mir fehlt nichts, weil ich mich mit kei-nem Medico vermählet habe. Und als er ihn weiterfragete: Wie bist du denn so alt worden? hat er geant-wortet: weil er niemals keinen Medicum gebrauchethätte. Damit hat er gewiesen, dass kein besserer undsicherer Weg zum Alter und zur Gesundheit sei, alswann man des Medici müssig ginge.

Aber wollte einer sagen, es sind gleichwohl durchHilfe der Medicorum viel Leute gesund worden,denen antworten wir: Es sind ihrer mehr durch ihreHilfe gestorben, und denen die Arznei nicht geholfenhat, und setzen ihnen entgegen das, was Ausoniussaget: Evasere fati ope, non Medici. Das ist: Sie sind

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10.087 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 85Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

dasmal dem Tode entwischet durch Hilfe des Schick-sals, nicht durch die Hilfe des Medici.

Die Arcades brauchten vorzeiten keine andere Arz-nei als die Frühlingsmilch, weil zu dieser Zeit dieKräuter am saftigsten und heilsamsten sind; sie er-wählten die Kuhmilch, weil diese Tiere allerhandKräuter fressen. Die Laconier, Babylonier, die Ägyp-tier und Lusitanier (wie Herodotus und Straho Zeugesind), die verwarfen alle Medicos und brachten ihreKranken auf die Gassen und Plätze, damit, wann sieetwan Leute anträfen, die an der gleichen Krankheitgelitten, dieselben um Rat fragen und dergleichenMittel auch gebrauchen könnten, und meineten (wieCornelius Celsus dafürhält), dass zu einer Kur nichtsbesser täte als die Erfahrenheit; denn man ist es ge-wahr worden, dass dadurch die allergelehrtesten Me-dici von einer alten Bauersfrau oftermals sind über-troffen worden, und dass dieselbe mit einem ihrerKräuterchen mehr ausgerichtet habe als die berühmte-sten Medici mit allen ihren kostbaren und weither ge-holten Arzneien. Denn indem sie mit ihren vielfälti-gen Mixturen (da doch die Natur solche Mittel, diefür sich alleine genug sind, uns an die Hand gibet)alles durcheinander mischen, und durch die Komposi-tion so vieler Ingredientien die Krankheit wegzutrei-ben suchen, nichts anders tun als dass sie ihre Kunsteher auf Konjekturen als auf die wahren Ursachen

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10.088 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 86Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

gründen, das Leben des Kranken also dem Raten unddem Zufall anheimstellen. So eine alte Frau kenntaber vielleicht oftermals ein Simplex oder eine Arzneifür sich alleine und kann, wann sie nur desselbenKraft und Wirkung verstanden, die Krankheit leichterheilen.

Die Medici aber überreden die Patienten, als wannsie mit nichts anders als mit kostbaren und aus Indienoder Spanien mit grossen Unkosten hergeholten Arz-neien kurieren könnten, da doch durch diejenigen Mit-tel und Kräuter, welche leicht zu finden und ein Ge-ringes kosten, auch wir in unseren Gärten wohl selb-sten haben, und also durch solche Hausmittel und ge-ringe Kräuterchen der Patient seine Gesundheit vieleher erlangen könnte. Überdieses so gebrauchen siesich unterweilen mit einer sonderbaren Klugheit einerwunderlichen Kur, die sie etwan aus einem betrügli-chen Buche gelesen, damit sie dadurch ihren Wucherdesto besser treiben können, da doch die Natur unsauf die Kräuter weiset, und derselben Eigenschaften,Farben, Gestalt, Geschmack und Geruch zu betrach-ten uns lehret; auch die vornehmsten Medici selbstenmüssen bekennen, dass sie oftermals von alten Wei-bern solche köstliche Mittel gelernet haben, welche,dass sie unsern Nachkommen zum Besten aufge-schrieben würden, wert wären, wie dergleichen Medi-kament wider die Kopf-Wehetage der Avicenna

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10.089 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 87Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

hochgehalten.Dieweil nun eine Medizin, welche uns die Gesund-

heit wiederbringen soll, in einer gewissen Proportionder Ingredientien nach Proportion des menschlichenLeibes bestehen soll, wie das die alten grossen Ärzterichtig erkannt haben, so sollte ja dieses der Medico-rum grösste Sorge sein, damit recht zu gebaren. Wasist das nur bei ihnen für eine unverschämte Kühnheit,dass sie solches nach ihrem Gefallen mischen, verän-dern, etwas darvon oder darzu tun, oder gar davonnichts wissen oder solches verachten; dahero ge-schicht es oftermals, dass zwar durch Konsonanz derArznei die Gesundheit könnte hergestellt werden,durch die Dissonanz zwischen Arznei und Körper sienichts als Schmerzen, Schauer und Vermehrung derKrankheit verursachen, ja auch bisweilen den Todselbsten zuwege bringen. Daher es kommet, dass of-termals ein alt Bauernweiblein mit einem und dem an-dern schlechten Kräutchen viel sicherer kurieret, alsein vornehmer Medicus mit seinen kostbaren Wunder-arzneien, die doch nach nichts anders als nach betrüg-lichen Konjekturen zusammengesetzt sind. Es sinddieser Meinung viel erfahrene Leute, sowohl Philoso-phi als Medici gewesen, welche dafürgehalten, dassman nicht anders als mit Simplicibus kurieren sollte.Dahero sie viel schöne Schriften von deren Kraft undWirkung der Nachwelt hinterlassen haben; also hat

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10.090 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 87Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

geschrieben Chrysippus vom Kohl, Marchion vomRettig, Diocles von der Rübe, Phanias von der Bren-nessel, Apulejus von der Betonica und viel anderevon anderen Sachen.

Aber die Medici von der heutigen Welt, die haltennicht allein von Simplicibus nichts, sondern verlachendiese Kur, als wann die Alten gar Narren gewesenwären, und nennen noch auf diese Stunde diejenigenSimplices und einfältige Leute, die von Simplicibuswas halten. Derowegen wollte ich recht aufrichtigraten, dass, wann man ja Medicos als ein Malum ne-cessarium gebrauchen sollte und müsste, dass mandie, welche mit Simplicibus kurieren, brauchen möch-te; hingegen die von der à la mode Werkstatt alsleichtfertige und betrügerische Versucher meiden undvon sich stossen sollte.

Denn was tun sie doch anders als dass sie durchihre wunderliche Kompositionen unsere Krankheitenzu einem Geldgeschäfte machen und über unserLeben das Los werfen; denn indem sie solche zusam-mengesetzte Arzneien, welche aus so unterschiedenenund oft unter sich streitenden Speciebus bestehen,komponieren, so ist es ja schwer oder fast unmöglich,dass man von einer solchen Medizin etwas Gewissesstatuieren kann, sondern es bestehet nur alles in ihrerPhantasie und in blossem Mutmassen; auch mengetder Medicus oft solche Sachen zusammen, von denen

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jede einzelne nützlich sein könnte, wie sie ihm nureinfallen und das plumpe Los oder der Zufall ihm alsoan die Hand gibet oder wie der Raptus, dieses oderjenes zu erwählen, oder ein Instinctus dem Medico hatbeifallen lassen. Und dieses ist's, was insgemein gesa-get wird und die Medici selbst bekennen müssen, dassein Medicus glücklicher ist als der andere, und ofter-mals der Ungelehrte mehr als der Gelehrte. Ich selb-sten habe einen Medicum gesehen und gekannt, derein gelehrter Mann, aber dabei so unglücklich gewe-sen, dass die wenigsten Patienten unter seiner Handsind lebend davonkommen. Hingegen habe ich einenHalbwisser gekannt, der fast alle seine Patienten,auch die so wegen desperaten Krankheiten von andernÄrzten aufgegeben waren, glücklich kurieret hat. Soerinnere ich mich auch, dass ich von einem Medicogelesen, dem alle vornehme und grosse Patienten da-vonkommen, die geringen aber gestorben sind. So-nach könnet ihr ja leichtlich ermessen, dass Ladenarz-neikunst, bei welcher mehr das Glück als die Kunsttut, auf nichts anderes, als auf ein blosses Geratewohlbestehet; dahero bleibt es wahr, dass solche weit vonsich zu stossen und als eine giftige und tödliche Kunstzu verdammen sei.

Die Römer haben vor Zeiten unter dem CatoneCensorio alle Medicos aus der Stadt Rom und ausganz Italien vertrieben, teils darum, weil sie

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wahrgenommen, dass durch ihre Lügen, Grausamkeitund Betrug mehr Leute ums Leben gebracht, als siegesund gemachet haben; teils darum, weil sie als Gift-erfahrne durch Hass, Ehrgeiz oder Gewinnsucht leichthätten können dahingebracht werden, dass sie einemAndern Gift beibringen anstatt Arznei oder den Men-schen sonsten ums Geld nach seinem Leben stellenmöchten. Wie der Medicus des Pyrrhi (ob es Ti-mocharis, wie Gellius dafür hält, oder Nicias, wie an-dere meinen, gewesen), der dem Fabricio versprochen,dass er mit seiner vergifteten Medizin seinen Herrnwollte ums Leben bringen; dafür gleichwohl Fabri-cius einen Abscheu gebabt und den Pyrrhum, ob erschon sein Feind gewesen, durch einen Brief gewar-net, dass er sich vor seinem Medico hüten sollte.Wovon Claudianus dieses schreibet: die Römer habenallerzeit diejenigen verachtet, welche mit Betrug undHinterlist sind umgegangen. Diesfalls hat auch derFabricius dem Könige Pyrrho entdecket, dass ihn seinLeibmedicus mit giftigen Arzneien hat wollen hin-richten; und ob sie gleich als Todfeinde einander be-kriegeten, war es ihm doch zuwider, dass er sollte soschändlich um sein Leben kommen. Gleicher Gestaltschreibet Cato an seinen Sohn von den griechischenMedicis, dass sie sich miteinander verschworen hät-ten, alle Barbaren mit ihrer Medizin ums Leben zubringen; und das wollten sie um Lohn tun, damit sie

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alles zuverlässiger zugrunde richten könnten. Undkurz darauf spricht er: Daher kommt so grosse Hinter-list bei Aufrichtung der Testamente, daher geschehenMordtaten unter Eheleuten und Ehebrüche, auch wohlbei den grössten Häusern der Fürsten und grossenHerren, wie das Exempel des Kaisers Drusi und derLiviae klar bezeuget.

Socrates selbsten, als einer von den vornehmstenPhilosophis hat (bei dem Platone) verboten, dass derMedicorum in der Stadt nicht zu viel werden möch-ten; und wäre noch heutiges Tags einer Republik undGemeine viel nützlicher und besser, wann entwedergar keine oder doch gar wenige Ärzte in derselben zufinden wären. Ja zu wünschen wäre es, dass ein Ge-setze gegeben würde, dadurch die Nachlässigkeit undUnwissenheit der Medicorum capitaliter möchte ge-strafet werden. Denn es ist ja kapital und ist kein Un-terschied zu machen, ob der Medicus durch Unerfah-renheit oder durch Nachlässigkeit, durch Torheit oderdurch Bosheit, mit Fleiss oder unversehens vor ArzneiGift verordnet, und den Menschen in die äussersteGefahr seines Lebens stürzet; und sollte es (wie Plini-us saget) so einem Medico eine Tötung nicht vor soungenossen oder ungestrafet ausgehen, welcher für-wahr in diesem Stück mit dem Henker gleiche Ehrehat, dass er nämlich einen Menschen ums Lohn tötenkann, und dass ihm solche Mordtat (da doch das

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Gesetze allen Mördern eine gewisse Strafe diktieret)nicht allein ungestraft hinausgehet, sondern er auchnoch gar deswegen reiche Belohnung bekommet; dochist das der Unterschied unter ihm und dem Henker,dass dieser auf eingeholtes Urteil und Recht dieSchuldigen, der Medicus aber ohne rechtliches Er-kenntnis durch seine betrügerische Kunst die Un-schuldigen ums Leben bringet.

Dahero ist das päpstliche Recht gar nicht ungerei-met, wann es den Klerikern verbeut, zu kurieren oderÄrzte zu agieren, weil dieses so eine blutige Kunstist, dass, wann man einem Mönche nachliesse, einenMedicum zu agieren, so müsste ihm auch freistehen,ein Henker oder Scharfrichter zu werden. Portius Catohat daher nicht unweislich alle Medicos von sich weg-gehen lassen, teils weil sie Ruhm in ihrer Wissen-schaft durch neue Sachen erreichen wollen, teils weilsie ihre Experimenta durch den Tod ihrer Patientenversuchen, und so ihre Kunst mit unserer höchstenGefahr lernen und gleichsam nur mit unserm LebenWucher und Gewinst treiben, und das Übel, so einemMenschen zustösset und in kurzer Zeit wegzunehmengewesen wäre, nur verlängern oder oftermals gar ver-mehren.

Diesem greulichen Betrug aber vorzukommen,haben die alten Ägyptier weislich geordnet, dass einMedicus den Kranken bis zum dritten Tage auf seine,

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10.095 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 91Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

des Kranken, nach dem dritten Tage aber auf des Me-dici Gefahr kurieren sollte.

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10.096 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 91Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXXXIV.

De pharmacopoliaoder

Von der Apothekerkunst

Nun zu den Köchen der Medicorum. Die Apothe-ker und Pharmacopolen werden von ihren Büchsenalso genennet, von welchen ein Sprichwort ist: Tituliremedia habent, pyxides venena. Aussen auf demTitul stehen heilsame Mittel geschrieben, inwendigaber in den Büchsen ist nichts als Gift; oder wie Ho-merus schreibet:

»Die Büchsen sind gemischt mit gut und bösenSachen;

Triffts ein, wohl gut; wo nicht, so wird man's dir wohlmachen.«

Denn indem sie ihren Nutzen damit suchen, somüssen wir unsern Tod so teuer kaufen, und weil sieQuid pro Quo geben, auch bisweilen stinkende, ver-dorbene und verlegene Arzneien mit untermischen, somüssen wir manchen schädlichen und tödlichenTrank, davon wir sollten gesund werden, hinunter-schlucken. Da treiben sie mit ihren schon vor langer

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Zeit geschmierten alten Pflastern, mit ihren Augensal-ben, Schmierereien, Morschellen und andern derglei-chen Medikamenten, welche sie aus den Hefen undaus der Grund-Suppe ihrer Ingredienzen zusammenmischen, schändlichen Wucher; das miscieren sie sogut als sie können eines in das andere; und vertrauenden barbarischen Kaufleuten und Wurzelkrämern,wann sie nur von weitem her sind und nur teuere Exo-tica und fremde Sachen mitbringen, am allerersten, dasolche doch auf nichts anders als auf Betrug umgehenund die ganze Welt bescheissen.

Hier könnte ich gar artig weisen ihre schädlicheUneinigkeit, die sie von Simplicibus oder einfachenStoffen statuieren, auch ihre andere Irrtümer, die sieinsgemein von den Medizinen haben, da sie doch of-termals nicht wissen oder verstehen, wo sie herkom-men oder wie sie heissen, und dennoch solche böslichund in den Tag hinein brauchen, was alles NicolausLeonicenus in einem grossen Buch beschrieben hat.

Ich will auch hier nicht viel sagen von ihren wun-derseltsamen Compositionibus und Mixturen fremderund ausländischer Ingredientien, mit welchen sie allesdurcheinander mischen und wollen uns darnach über-reden, sie hätten ein einziges Medikament, welchessich auf aller Menschen Natur schickete, wie sie vonder Composition des Theriaks und von dem Gegengif-te des Mithridates ein Haufen Wesen machen. Darauf

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passen die Worte des Poeten, die er von dem Chaossaget: ein ungeschickter und ungeheurer Klumpen,darinnen alles wider sich selbst lauft und sich nichtvertragen kann. Allwo in einem Leibe das Kalte mitdem Warmen, das Feuchte mit dem Trockenen, dasWeiche mit dem Harten und das Leichte mit demSchweren streitet und einander zuwider ist.

Lass es sein, so wären etliche nützliche Composi-tiones von den alten Medicis erfunden worden, welcheman durch lange Erfahrungen auch wohl brauchenkönnte. Aber sie sind von der alten Art und Methodezu kurieren so abgesondert, dass sie auch von vielenMedicis selber nach Überzeugung ihres eigenen Ge-wissens verworfen worden sind, als vom Plinio,Theophrasto, Plutarcho, Hippocrate, Galeno, Diosco-ride, Erasistrato, Celso, Scribonio und Avicenna. Wasnun diese von solcher Kur gehalten, das würde zulang sein, hier zu erzählen. Dieser Meinung sind nichtallein die Allen, sondern auch viel von den Neuen ge-wesen, aus welchen einer der Arnaldus de Villanovaist, wann er in seinen Aphorismis schreibet: Ubi inpromptu habentur simplicia, dolum esse, si quis com-positis utatur. Das ist: Es ist ein Betrug, Compositazu gebrauchen, wann man Simplicia haben kann.Aber die, welche also kurieren, die werden nun heuti-ges Tages von vielen verachtet und nicht mehr ange-sehen, sondern es müssen jetzo die Medicinalia aus

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den Apotheken und Würzkrämen der beiden vorneh-men Lichter, des Mesue und Nicolai hergesuchet, undaus ihren vergüldeten Büchsen, die so prächtige Ti-tuln und Überschriften haben, die Gesundheit herge-langet werden; daher geschieht's zum öftern, dass sol-che Medici, damit sie ihrer Faulheit desto besser kön-nen abwarten, der Menschen Leben auf das Treibender Apotheker setzen, welche sich auf die betrügeri-schen Spezereikrämer verlassen, und immer die Sa-chen in Tag hinein mischen, ohne etwas gelernt zuhaben; also, dass man mehr von Medikamenten, alsvon der Krankheit selber Gefahr zu erwarten hat.

Jetzo aber wollen wir noch etwas sagen von demBetrug der kostbaren Arzneien, welche oftermals miteiner solchen Art und Finesse verfälscht werden, dassauch die Klügsten und Fleissigsten betrogen worden.Es wäre des Menschen Gesundheit, ja dem ganzenVolk in einer Republik besser, wann solche fremdeund ausländische Arzneien, welche um einen so gros-sen Preis von den betrügerischen Kaufleuten zumhöchsten Schaden des gemeinen Wesens hergebrachtwerden, gänzlich verboten würden, und dass alle Me-dici und die Apotheker dahin gebracht würden, dasssie dergleichen nicht kaufen sollten.

Ein solch Gesetze hat vor Zeiten der Kaiser Nero,als er noch wohl regieret, zu Rom geben und gebietenlassen, dass nur diejenigen Medicinalia, so im eigenen

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Lande gewachsen, haben dürfen gebrauchet werden.Und fürwahr höchst billig; denn unsere Natur istderselben besser gewohnet, können auch viel frischerund neuer, auch mit wenigen Unkosten erlanget wer-den; so ist auch nicht soviel Gefahr dabei als bei denausländischen, welche meistenteils sehr verdächtigund gefährlich sind, indem sie oftermals verfälschtoder verschlechtert sind, von dem Seewasser in Schif-fen ersticket, von der Salzlake ganz verderbet unddurch die Länge der Zeit vermodert gefunden werden.Ja es geschieht oft, dass solche Exotica nicht zu rech-ter Zeit und am rechten Orte (daraus nicht geringe Ge-fahr entstehen kann) geholet und gesamlet wordensind. Denn man hat's erfahren, dass die Coloquinte,wann sie zu zeitlich abgebrochen und nicht reif ist,den Menschen blutend machet und wohl gar umsLeben bringet; und dass der Agaricus oder der Tan-nenschwamm, der masculus nämlich, tödlich, und jeälter er wird, je schädlicher ist. Die Scammonea oderdas Purgierkraut, wie auch die Terra Lemnia ist heuti-ges Tages ganz verfälscht.

Aber, Lieber, sage mir doch, was treibet uns fürNot dazu, solche fremde Sachen zu gebrauchen, diewir eben dergleichen und vielleicht noch von bessererKraft und Wirkung in unserem Lande haben? Ist esnicht eine ausbündige Narrheit, das was wir zu Hausehaben, aus Indien herzuholen, und dass wir uns

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einbilden, dass das, was nicht fremde oder teuer ist,nicht gut sei? Da müssen diejenigen Sachen, welcheunsere Länder herfürbringen, verachtet, hingegen das,was weit von uns und am Ende der Welt wächset,auch mit schweren Unkosten hergeholet wird, wann esnur fremd und fein teuer ist, vorgezogen werden.Kann denn ohne Ammoniak die Milz oder ohne Dat-teln die Leber nicht kurieret werden? Meinest dudenn, dass ohne Bdellio niemand kein inneres Ge-schwür heilen kann? Oder dass dem Kopfe durchnichts andres als durch Moschus oder Ambra kanngeholfen oder der Magen ohne Mastix und Korallennicht wieder zurechte gebracht werden? Wann dieseExotica oder fremde Medicinalia unsern Leibern undunsern Constitutionen gut wären, so würde ohneallem Zweifel die Natur, welche in allen Sachen unse-re Vorsorgerin ist, uns solche wohl auch bei uns gege-ben haben. Haben denn unsere Voreltern, welche vondiesen allen noch nichts gewusst, nicht auch gelebet,sind nicht gesünder gewesen und viel älter worden?

Fürwahr es ist solches unserer Ärzte Faulheit zuzu-schreiben, die nicht besser nach unsern Kräutern undnach ihrer Eigenschaft inquirieren und die Erfindungder Apotheker, welche doch nur ihren eigenen, nichtaber den gemeinen Nutzen suchen; und da lassen wiruns überreden, dass, was am teuersten ist, das helfeauch am besten. Diesem ist es durch den Propheten

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Jeremiam genug gesaget, wann er spricht: Nunquidnon est resina in Galaad aut Medicus non est ibi? Dasist: Ist denn keine Salbe von Harz in Gilead, oder istkein Arzt nicht da? Die Natur gibet einem jedwedenLande, auch einem jedweden Volke nach ihrem Cli-mate und nach ihrer Luft und Himmel ihre Kräuterund Gewächse und temperieret auch solche darnach.

Lass es sein, dass an diesem oder jenem Orte die-ses oder jenes Kraut oder Gewächse mehr Kräfte undWirkung in sich hätte, so wird es doch an einem frem-den Orte, wo es nicht wächst, oder bei andernmenschlichen Temperamenten nicht eben das tun. Esmögen die ausländischen Kräuter stärker sein als dieunserigen, so glaube ich, dass sie denen Leuten alleingesund sind und gut bekommen, unter deren Climatesie wachsen.

Aber es gibet unter uns solche Empiricos, die durchihren Geiz und Raub uns überreden wollen, dass wirnicht können gesund werden, wann wir nicht solcheungeheuerliche Exotica brauchten, und putzen unsarme Leute nur ums Geld; sie mischen dieViper-Schlangen und andere schädliche kriechendeTiere und bereiten so ihre Antidota daraus, machenaus des Menschen Fett, als wann sonsten keine andereMittel vorhanden wären, Salben; sie balsamieren desMenschen Fleisch und ihre Körper (welches sie Mu-mien nennen) und geben solches denen Patienten,

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10.103 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 97Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

wider die menschliche Natur, nicht ohne Todsündeein.

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10.104 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 97Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXXXV.

De chirurgiaoder

Von der Wundarzneikunst

Es ist noch übrig die Chirurgie als der andere Teilder Medizin, welche die Übel, so der Mensch äusser-lich hat, zu kurieren pfleget. Dies sind noch offenbareund sichere Mittel, die der andern Medicorum abersind nur blinde Consilia und blosse Mutmassungen.Die Barbiere oder Wundärzte sehen und betasten, wassie tun, und nehmen nach Gelegenheit eines und dasandere weg, und verändern es oder applizieren wasanders. Diese ist unter allen Heilkünsten am ersten imGebrauch gewesen.

Denn weil die Menschen von alters her im Kriegesich exerzieret, so haben sie einander Wunden ge-schlagen, und solche wiederum zu heilen, Mittel gesu-chet; und dafür gehalten, dass dasjenige Übel, wel-ches ein Mensch dem andern antun kann, dasselbekönnte auch wiederum von den Menschen kurieretund geheilet werden. Die andern Krankheiten aberalle und die innerlichen Peinigungen, als welchedurch der Götter Zorn verursachet wären, die, meintensie, könnten durch natürliche Hilfe und Kräfte nicht

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10.105 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 99Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

kurieret werden. Der erste Erfinder nun dieser Wund-arzneikunst ist gewesen Apis, der Ägyptier König,oder wie Clemens Alexandrinus will, ein viel älterer,Mizraïn genannt, ein Sohn Cham und Kindeskind desgrossen Noah; es hat aber am ersten die Wundmedi-zin der Äsculapius beschrieben; hernach sind hierin-nen berühmt geworden Pythagoras, Empedocles, Par-menides, Democritus, Chiron und Paeon.

Plinius erzählet, dass Archagatus Peloponnensisdiese Kunst am ersten zu Rom exerzieret habe, unddass derselbe wegen seiner Grausamkeit zu schneidenund zu brennen, der Vulnerarius oder der Verwunderöffentlich wäre genennet worden, endlich aber habeman diesen Namen verändert und ihm den Nameneines Carnificis oder eines Henkers gegeben. Auf dieLetzte aber ist diese ganze Kunst für einen Greuel undAbscheu gehalten worden. Derohalben ist die Chirur-gie zwar nicht weniger als die Medizin wegen des An-sehens vieler gelehrter Leute berühmt, jedoch aber,wegen garstigen Unflats und blutiger Grausamkeit,für unehrlich gehalten.

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10.106 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 99Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXXXVI.

De anatomisticaoder

Von der künstlichen Zerteilung menschlicherGliedmassen

Die Chirurgie aber wird von der Anatomie mitihrer Grausamkeit weit übertroffen, und ist diese einerechte Carnifizin oder Schlächterei und Stockmeiste-rei der Heilkunst und Wundarzneikunst, dadurch vorZeiten diejenigen, so öffentlich zum Tode verdammetworden, lebendig, und da sie noch ihre Lebensgeistergehabt, mit erschrecklichen Peinigungen sind sezieretund anatomieret worden. Heutiges Tages aber ist manwegen schuldiger Reverenz zur christlichen Religionetwas gelinder worden, und erst wann der Menschdurch den Arzt selbst oder durch des Henkers Handist ums Leben gebracht, dann erst wird in des Men-schen Kadaver mit dieser unverantwortlichen Sündegrassieret und gewütet, des Menschen Leib zerflei-schet, und insonderheit der Gliedmassen Sitz, Ord-nung, Grösse, Wirkung, Natur und was sonsten ver-borgen ist, durchwühlet und durchgrübelt, und habensie dadurch, wie man recht kurieren solle, lernen wol-len, aber fürwahr mit einem schändlichen Fleiss und

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10.107 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 100Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

zu einem abscheulichen und ganz grässlichen Spekta-cul.

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10.108 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 100Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXXXVII.

De veterinariaoder

Von der Vieharzneikunst

Es ist noch eine andere Praxis und Übung bei derMedizin, welche man die Vieharzneikunst nennet, undzu Heilung der Krankheiten von unvernünftigen Tie-ren angewendet wird; und diese ist sehr nutzbar undgewisser als andere von dem Chirone Centauro, wieman saget, erstlich erfunden und hernachmals vondem Columella, Catone, Varrone, Pelagonio und Ve-getio, allerseits berühmten Scriptoribus, ferner aufge-hellet worden.

Solche aber zu exerzieren, halten die mit Ringenbesteckten und stolz hertrabenden Medici sich füreine Schande; sie verachten dieselbe nicht so sehr, alsdass sie ihrer ganz unwissend sind; auch sind sie sodelikat und zärtlich, dass sie gleich wie der Wiede-hopf oder Dreckhahn (wie er genennet wird) mitnichts anders als mit Menschenkot sich delektieren;dahero wann einer von ihnen für einen Esel oder Och-sen Arznei begehren wollte, so würde er anstatt dergesuchten Hilfe bald einen Injurienprozess an denHals bekommen, gleich als wann sie nicht, wie den

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10.109 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 102Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Menschen, auch den Tieren (sonderlich welche denMenschen grossen Nutzen schaffen) zu helfen schul-dig wären.

Derowegen hat Alphonsus, König in Aragonien,zweien der erfahrensten Ärzte eine stattliche Besol-dung gemachet, die Pferde und Hunde zu kurieren,und hat befohlen, dass sie ja fleissig nachforschensollten, wie die einzelnen Krankheiten unvernünftigerTiere wohl kurieret werden könnten; was sie auchgetan, und haben ein Buch, welches zu diesen Sachensehr nutzbar ist, herausgehen lassen. Dieses hatgleichfalls auch zu unsern Zeiten getan JohannesRuellus zu Paris, ein Mann in Sprachen sehr erfahrenund der vornehmste Physikus allda, welcher von denKrankheiten der Pferde und wie sie zu kurieren, ausdenen gelehrtesten Autoribus ein gross Volumenübersetzet, welches denen, die diese Kunst exerzieren,mit grossem Nutzen des gemeinen Wesens noch heu-tiges Tages zugute kommet.

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10.110 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 103Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXXXVIII.

De diaetariaoder

Von Vorschreibung des Verhaltens im Essenund Trinken

Es ist noch übrig die Medizin, welche in Wohlver-haltung beim Essen und Trinken bestehet, worinnender Asclepiades der vornehmste gewesen ist, welcherguten Teils den Gebrauch der Arzneien aus der Apo-theken verworfen und meistens sein Absehen auf einevernünftige Lebensweise und auf die Natur und Ei-genschaften der Speisen und ihre Würzung und dererZurichtung genommen hat; von welchem zwar auchviel andere Medici nicht abgewichen, aber dafür ge-halten haben, dass eines des andern Hilfe bedürfte,und dass bisweilen die Lebensweise mit den Arzneienund hingegen wiederum die Arzneien mit der Lebens-weise müssten erwogen und mensurieret werden.

Daher kommt's, dass die Medici pflegen zu gebie-ten, zu verbieten, zu verbannen und zu verdammengewisse Speise und Trank, den doch Gott geschaffenhat, und schreiben hierunter scharfe, unbefolgbare Be-guln vor. Ja es geschicht bisweilen, dass sie diejeni-gen Speisen, welchen sie andern kaum ein wenig zu

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10.111 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 103Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

kosten erlauben, selbsten wie die Säue die Eckern undTräbern hineinfressen; und die Reguln oder Gesetze,die sie andern vorschreiben, die sind sie die ersten sieals rechte Ubertreter fürsätziglich und mit Fleiss zuverachten. Denn wann sie selbsten ihre Verordnungenim Essen und Trinken halten und darnach leben soll-ten, so würde fürwahr ihre Gesundheit nicht wenigEinbusse leiden; und wann die Kranken und Patientendas, was die Medici selbsten gerne essen, und wasihnen die Gesetze der Natur im Essen vorgeschrieben,essen und trinken dürften, so würden die Medici ihreBeutel bei weitem nicht so füllen können.

Aber der heilige Ambrosius schreibet von der Diae-taria oder wie man sich im Essen und Trinken verhal-ten solle, dieses: Contraria divinae conditioni prae-cepta medicinae sunt, quae a jejunio revocant, lucu-brare non sinunt, ab intentione meditationis abducunt,ita qui se medicis dederit, se ipsum sibi abnegat. Dasist: Die Medizin ist den göttlichen Gesetzen ganz zu-wider, denn sie verbeut dem Menschen zu fasten, mansoll auch des Nachts nicht sitzen und etwa seine got-tesfürchtigen Meditationes haben; ja wer sich der Me-dizin untergibet, der ist sich selber gram und feind.Und der heil. Bernhardus saget: Hippocrates et Socra-tes docent animas salvas facere in hoc mundo; Chri-stus et discipuli ejus, perdere; quem vos e duobussequi vultis magistrum? Manifestum se facit, qui

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disputat, hoc oculis, hoc capiti, hoc stomacho nocet;legumina ventosa sunt, caseus stomachum gravat, laccapiti nocet, potum aquae pectus non sustinet, quarehoc est, ut totis fluviis, agris, hortis et cellariis vix in-venire possis quod comedas. Das ist: Hippocrates undSocrates lehren, wie man seiner Seelen in dieser Weltraten und helfen soll; Christus und seine Jünger aber,wie man sie in dieser Welt nicht achten soll; welchensoll man nun unter diesen beiden folgen? Durch öf-fentliches Disputieren kann man sich berühmt ma-chen, wenn man etwan saget: das verderbet dieAugen, das das Haupt und den Magen; die Hülsen-früchte zeugen Winde, der Käse beschwert denMagen, das Milchzeug schadet dem Kopfe, und lauterWasser trinken ist der Brust sehr undienlich; auf sol-che Art sollte man wohl weit und breit nichts finden,das einem zur Speise dienlich sei.

Und obschon diese des Ambrosii und BernhardiWorte nur alleine auf die Mönche gehen, welche ebennicht so viel auf ihre Gesundheit, als auf ihr Amt zusehen haben, so mögen doch wohl auch andere Leute,ihrer Gesundheit unbeschadet, der Abwechslung inSpeisen und leckerer Schüsseln sich gebrauchen. Wasdie vernünftige Lebensweise verlanget, das mag dieKunst der Köche ausführen, welche freilich Plato eineschmeichlerische Medizin nennet. Plinius und Seneca,ja auch guten Teils die ganze medizinische Schule,

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10.113 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 105Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

müssen selbst bekennen, dass von der Menge der deli-katen und raren Speisen viel Krankheiten generieretwerden.

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10.114 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 105Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel LXXXIX.

De arte coquinariaoder

Von der Kochkunst

Die Kunst, wohl zu kochen, ist zwar recht nützlichund auch nicht unehrlich, wann sie nur in ihrenSchranken bleibet, dahero sind auch grosse und inihrer Lebensweise bescheidene Leute bewegen wor-den und haben sich nicht geschämet, von dieser Kunstzu schreiben. Die Asiaten aber sind jederzeit so ver-schwenderisch und unmässig gewesen, dass mit ihremNamen die Schlemmer sind genennet worden, welcheman hernach Asoten geheissen hat.

Erst nach den asiatischen Siegen sind (wie TitusLivius meldet) die überflüssigen Schlemmereien indie Stadt Rom eingeführet worden. Denn zu derselbenZeit hat man erst angefangen sich zu bekümmern, wiedie Speisen delikat und mit grossen Unkostenmüssten zugerichtet werden; zu derselben Zeit ist derKoch, der sonsten bei den Alten für einen geringenSklaven war gehalten worden, in grossen Wert undGebrauch kommen; und der, welcher von den Brühender Küche befleckt und vom Russ noch geschwärztgewesen, ist mit seinen Töpfen, Schüsseln und

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10.115 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 106Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Bratspiessen förmlich in die Schulen aufgenommenworden.

Und was vor diesem für eine geringe und gemeineKnechtsarbeit ist gehalten worden, das wird jetzo füreine treffliche Kunst estimieret; ihre Sorge und Be-kümmernis gehet nur alleine dahin, von überall herauszukundschaften, was sie der Kehle zur Anreizunggeben, damit die Gurgel und der Kropf mit vielerleiArt delikater Speisen bis obenauf möchte vollgefülletwerden; wie dergleichen (aus dem Varrone) Gelliuserzählet als: vom Pfau aus Samos, vom phrygischenHaselhuhn, vom melischen Kraniche, vom Bock ausAmbracia, vom chalcedonischen jungen Thunfisch,von tartesischen Muränen, vom pessinuntischenDorsch, von tarentinischen Austern, von chiischenMeermuscheln, von rhodischen Sterlets, von cili-cischen Meerfischen, von Nüssen aus Thaso, vonDatteln aus Ägypten und Eckern aus Iberien, welchebesondere Speisen zu nichts anders aufgesucht sind,als zu einer Befriedigung einer hässlichen Leckereiund gierigen Verschwendung.

Den Ruhm und die Ehre dieser Kunst hat sich fürandern am ersten zugeteilet der Apicius; dahero sinddie Köche (wie Septimus Florus bezeuget) Apicianerpenennet worden, als wären sie eine Philosophen-schule; davon Seneca uns dieses in seinen Schriftenhinterlassen: Apicius hat zu unsern Zeiten gelebet,

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10.116 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 107Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

welcher in derselben Stadt, aus welcher einmal diePhilosophi als Verderber der Jugend mussten wegge-hen, die Wissenschaft der Leckerbisslein gelehret,und hat mit seiner Disziplin das ganze Geschlechtverführet. Diesen Apicium hat Plinius den grösstenSchlemmer und Prasser unter allen Leuten gar ernst-haftig geheissen.

Ja es sind so viel Rüstzeuge der Kehle, so viel An-reizungen zu den Wollüsten, so viel Veränderungenkostbarer Speisen durch Erfindung dieser apiciani-schen Köpfe erdacht worden, dass endlich die Not er-fordert hat, gewisse besetze vorzuschreiben und da-durch den Luxum und die Verschwendung in Speisenim Zaume zu halten; dahero sind gewisse Speisege-setze gegeben worden als die Archia, Fannia, Didia,Licinia, Cornelia, das Gesetz Lepidi und Antii Re-stionis, auch der Lucius Flaccus und sein Collega, alsCensores, haben den Durionium aus dem Rate gestos-sen, weil er Vorhabens gewesen, das Gesetz, welcheszu Vermeidung der übermässigen Gastereien ist gege-ben worden, abzuschaffen. Denn recht unverschämtist dieser Durionius aufgetreten und hat das Volk alsoangeredet: Ihr Herren Römer, was hat man euch füreinen Zaum, der mit nichten zu erdulden ist, angele-get, man hat euch gebunden mit einem harten Bandeder Dienstbarkeit; es ist euch ein Gesetz gegeben,welches euch heisset, mässig leben; aber lasset uns

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10.117 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 108Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

dieses garstige, alte und mit Rost überzogene Gesetzabschaffen. Denn was soll uns die Freiheit, wanneinem, der Lust darzu hat, nicht vergönnet ist durchden Überfluss zu sterben? Es waren noch viel andereEdicta und Gebote, welche nun alle veraltert und ganzaufgehoben sind, also, dass niemals der Kehle,Bauchsorge und Verschwendung mehr Raum ist gege-ben worden, als eben jetzo zu unsern Zeiten. Das istdie Ursache, dass Musonius und nach ihm unser Hie-ronymus gesaget: Wir durchwandern Land und Meer,nur dass Honigmeth und Wein in unsern Schlundneingehe; das beste Essen und Trinken ist unseres Le-bens einige Sorge; so viel Garküchen und Kneipen, soviel Schlemmer- und Hurenwirtschaften, dass dieMenschen durch ihr Fressen und Saufen und durchihre Wollüste zugrunde geben müssen, dass sie nichtohne geringen Schaden des gemeinen Wesens allesdas ihrige verfressen, versaufen und verzehren; undsind so viel Arten der Speisen, so unterschiedlicheZurichtungen, so viel Gebräuche und Zeremonien beider Tafel erfunden worden, dass wir den Asiaten, Mi-lesern, Sybaritern und Tarentinern gleich worden sind.Ja des Sardanapali, des Xerxis, des Claudii, Tiberii,Vitellii, Heliogabali, Galieni, derer Kaiser und ande-rer Schlemmer mehr (welche wegen ihrer Verschwen-dung und Überfluss im Essen und Trinken für andernLeuten und Nationen sind berühmt gewesen) ihre

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10.118 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 108Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

kostbaren Gastereien würden für nichts geachtet undganz ungeschmack und bäuerisch herauskommen,wann man sie gegen unsere beutigen Gastereien hal-ten sollte. Denn es ist nicht genug, dass der überausgrosse Pracht im Essen und Trinken da ist, sondern esmuss auch zugleich bis auf den äussersten Grad undEkel der Überfluss vorhanden sein; ein Überfluss,welcher den Herculem selbst könnte trunken und vollmachen, der doch den gleichen Kahn zum Fahrzeugund zum Trinkgefäss benutzt haben soll, und könnteden Crotoniensem Milonem und den Fresser des Au-relianus, von denen jener auf eine Mahlzeit 30 Broteohne die andern Speisen, dieser aber ein ganz Wild-schwein, hundert Brote, einen Hammel und ein Ferkelgefressen, und mehr als ein Fass voll mit Hilfe einesTrichters ausgetrunken hat, satt machen. Und diesesist auch noch heutiges Tages bei uns auf den Bauer-kindtäufen, Kirchmessen und andern dergleichen Fe-stivitäten bräuchlich; ihr möchtet sagen, es müsste dades Bacchi Fest zelebrieret sein; aber mein, mit wasfür Zanken, Schmeissen, Unsinnigkeiten und vielenLastern des Rausches werden diese Feste besudelt,also dass selten jemand, wie von den Schmausereiender Zentauren, ohne Verletzung oder Verwundungnach Hause kommet; wie Ovidius davon saget undwie er den erisichthonischen Frass beschreibet:

Der Vielfrass fordert ohne einigen Verzug, wasPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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10.119 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 109Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

man aus dem Wasser, vom Lande und aus der Luftvor Arten der Speisen haben kann; und je mehr manihm zu essen aufsetzet, je mehr und mehr klaget erüber Hunger; ja er hat kein Genüge und frisset mehrals wohl eine ganze Stadt oder eine grosse MengeVolks verzehren könnte, und je mehr er in sich neinstopfet, je mehr er haben will. Ja gleich wie das weiteMeer alle Ströme der Erden in sich saufet und den-noch nicht ersättiget wird; oder wie das Feuer allesverzehret, was man hinein wirft; also, je mehr dervielfrässige Erisichthon in sich frisset, je mehr er for-dert und haben will; er wird nicht gesättiget, sondernvielmehr durch die Speisen hungriger gemacht.

Es waren vor Zeiten bei den Griechen, hernachauch bei den Römern gewisse Athleten, Ringer undFechter, sehr fresshaftige Leute, aber sie sind hernachvon den Bürgermeistern und Kaisern an Gier über-wunden worden. Denn Albinus, welcher vor Zeiten inFrankreich regieret hat 100 Pfirsiche, 10 Melonen,500 Feigen und 300 Austern auf eine Abendmahlzeitgefressen, und Maximinus der Kaiser, welcher Alex-andro Servero, dem Sohne Mammeae sukzedieret, hatin einem Tage 40 Pfund Fleisch gegessen und eineAmphora Wein, d.i. 36 Schoppen, getrunken. DerKaiser Geta ist auch dem tollen Frasse so ergeben ge-wesen, dass er die Speisen nach dem Alphabet sollhaben auftragen lassen, und hat dieselben 3 Tage

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10.120 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 110Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

nach einander also eingeschlucket.Jetzo aber, welches noch ein grösser Schelmen-

stücke ist, wann Gott und die Natur zu unserm Bestenund zu unserer Stärkung Speis und Trank ordnet, sobrauchen wir dieselben durch allerhand künstlicheZurichtung zu unserer Üppigkeit und Lust, und gur-geln sie oftermals über unser Vermögen in unsereLeiber hinein, und verursachen uns dardurch unheil-same Krankheiten. Da sehen wir, dass es rechtschaf-fen wahr sei, was Musonius spricht, dass die Armen,die Bauern und welche geringer und einfacher Kostsich gebrauchen, viel gesünder, stärker und lebhaftersind und die Arbeit mehr vertragen können, auchnicht soviel kranken als die Städter und die Reichen,welche sich mit köstlichen und delikaten Speisenvollfüllen; und werden die schweren Krankheiten, alsdie Wassersucht, das Zipperlein, der Stein, die Kolikund andere dergleichen diejenigen mehr plagen, wel-die gemeine Kost verachten und aus teuern Garküchenleben, als diejenigen, welche mit geringer Kost vor-lieb nehmen. Diesem pflichtet auch bei Cornelius Cel-sus, welcher spricht: Homini utilissimus cibus estsimplex, acervatio saporum pestifera et condita omniaduabus de causis inutilia sunt, quoniam et plus prop-ter dulcedinem assumitur, quam modo par est, tum ae-grius concoquitur. Das ist: Dem Menchen ist die ein-fache Speise am gesündesten, die Überhäufung aber

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10.121 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 111Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

und alles Gewürze ist aus zweien Ursachen undien-lich und schädlich, teils weil man wegen Süssigkeitdes Geschmacks mehr davon zu sich nimmt als dien-lich ist, teils weil es schwerlicher kann verdauet wer-den.

Es finden sich aber gleichwohl viel wackere Leuteund gute Schriftsteller, welche der Kehlen Wollüsteund solcher fremder Speise Erfinder verfluchet haben.Hingegen aber auch andere, welche aus lauter Super-stition sogar gewisse Speisen, so doch Gott zu essengeschaffen hat, ganz vermaledeien und wollen keinFleisch essen; auch sich des Weins, aus welchem (wiePaulus der Apostel spricht) Schlemmerei kömmt, zuenthalten und zu fasten simulieren, da sie doch mehrals die Epicurer mit allerhand Art Fischen und dembesten Weine sich vollfüllen. Aber von diesem mages diesmal genug sein, damit wir von der Speiskücheauf die alchymistische Küche kommen, welche nichtweniger des Menschen Vermögen verkochet und ver-zehret hat, als die Speiseküchen.

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10.122 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 111Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel XC.

De alcumisticaoder

Von der Goldmacherkunst

Das Goldmachen, es mag eine Kunst oder einSchwindel oder ein natürlich Nachgrübeln genennetwerden, ist fürwahr eine recht schöne Erfindung undein artiger, unstrafbarer Betrug, dessen Vanität undEitelkeit gar leicht sich herfür tut, indem es dasjenigeverspricht, was die Natur keinesweges leiden noch er-reichen kann; da doch sonsten jedwede Kunst undWissenschaft der Natur nachahmet, niemals aber die-selbe übertrifft, denn die Gewalt der Natur ist vielstärker als die Macht der Kunst. Aber die alchymisti-sche Kunst ist

Ars suspecta probis, ars ipsa invisaque multisInvisos etiam cultores efficit artis.Mendaces adeo multi manifeste videntur,Qui se ipsos aliosque simul frustrantur inertes.

Das ist: Eine Kunst, welche bei allen frommen ehr-liebenden Menschen verhasset, und machet auch die-jenigen, so sie treiben, verhasset; denn man siehet bei

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10.123 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 112Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

vielen, wie sie in Lügen stecken bleiben, wann siesich selbst und viel andere Leute damit betrügen undaufsetzen. Denn indem dieselbe bemühet ist, das ei-gentliche Wesen der Dinge umzukehren, und den ge-segneten philosophischen Stein, wie sie ihn nennen,herfür zu bringen trachtet, so unterstehet sie sich aufArt des Midae Corporische Sachen in Gold und Silberzu verwandeln, und gleichsam aus dem höchstenHimmel eine gewisse Quintessenz zu ziehen, dadurchsie nicht allein mehr als Croesi Reichtümer herfürzu-bringen, sondern auch alte Leute wieder jung zu ma-chen, und ihnen stetswährende Gesundheit, ja baldgar eine Unsterblichkeit zuwege zu bringen ver-spricht.

At nusquam totos inter qui talia curantApparet ullus, qui re miracula tantaComprobet.

Das ist: Aber unter allen, die sich dieser Sachen be-fleissigen, ist keiner, welcher ein solches Wunder-werk, als sie vorgeben, in der Tat bestätiget.

Die Alchymisten sammeln etliche Experimenta ausBleiweiss, Schminke, Seife und andern betrügerischenSchönheitsmitteln der Weiber zusammen (welche dieHeilige Schrift Hurensalbe nennet) und richten damitihre törichte Werkstatt an, dahero ist ein Sprichwort

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10.124 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 113Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

entstanden: Oimnis Alcumista vel Medicus vel Sapo-nista. Das ist: Ein jeder Alchimiste oder Goldmacherist entweder ein Medicus oder Seifensieder. Sie füllenden leichtgläubigen Leuten die Ohren mit leeren Wor-ten, nehmen Geld und machen ihnen ihre Beutel leer;wem sie Reichtum versprechen, dem nehmen sie si-cherlich einige Münzen ab. Dahero gibet sich's ja vonsich selbsten, dass diese Kunst pur lauter nichts seiund nichts anders als ein Geschwätz und vergeblicheErdichtung eines betrügerischen Menschen, und unge-sunden Geistes.

Nichtsdestoweniger finden sie Gemüter, welchenach der Glückseligkeit dieser Kunst begierig sind;wann ihnen von den Goldmachern in einer artlichenManier weisgemachet wird, dass sie in dem Quecksil-ber mehr Reichtum als im Golde erlangen sollen, undobwohl sie allbereit drei oder viermal von ihnen be-trogen worden sind, so gehen sie doch immer wiederdran und lassen sich von ihnen die Augen aufs neueverblenden, dass sie den Alchymisten mit dem Blase-balg Luft in den Goldmacherofen blasen.

Es ist keine süssere Unsinnigkeit, als dass sie glau-ben, dass das Fixum zu einem Volatili, und das Vola-tile zu einem Fixo könne gemachet werden; also sinddiesen törichten Leuten die grässlichen Kohlen, Gift,Schwefel, Dreck und Binkelte süsser als Honig, so-lange bis sie ihr Hab und Gut und ganzes

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10.125 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 113Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Patrimonium verdestillieret und in Asche und Rauchverwandelt haben; sie haben sich eine treffliche Be-lohnung ihrer Mühe und Arbeit versprochen, eine an-nehmliche Geburt grosser Goldklumpen oder neue Ju-gend und immerwährende Gesundheit zuwege zubringen, aber sie erlangen nichts anders, als nach ver-lorener Zeit und Arbeit und vielen Spesen und Unko-sten lauter Ungesundheit, ausgeleerte Beutel und zer-lumpte Kleider, welche nach nichts anders als nachSchwefel, Kohlen und Russ Stinken. Auf die Letztaber werden sie durch das giftige Anrühren desQuecksilbers paralytisch oder gelähmt, und ihr Na-senfluss ist ihr einziger Reichtum und so gehen sieeinem armen und erbärmlichen Ende entgegen; dieseLeute werden so elende, dass sie für 3 Pfennige ihreSeele verkaufen und verdestillieren sollten, da sieendlich an ihnen erfahren haben, dass sie aus Gold-machern Krankmacher und aus Medicis Bettler wur-den, aus Seifensiedern Branntweinverkäufer; sie pro-stituieren sich dergestalt mit ihrer Narrheit, dass sieendlich Fabula vulgi und ein Spott der Leute werden.Und da sie in ihrer Jugend sich nicht damit begnügenwollten, ihr Leben bescheiden und ehrlich hinzubrin-gen, müssen sie jetzt, nachdem sie so lange diesenschändlichen goldmacherischen Betrug ausgeübthaben, in ihrem Alter krepieren oder betteln gehen;und setzen sich also in solches Elend und solche

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10.126 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 114Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Verachtung, dass sie anstatt Gunst und Erbarmnis einAuslachen und Verspotten bei den Leuten wegtragen;ja ihr Bedürfnis und jämmerlicher Zustand zwingetsie oftermals zu verbotenen Künsten, zu Münzverfäl-schungen und andern Betrüglichkeiten, wie wir derExempel genug haben.

Derowegen ist diese Kunst nicht allein bei der rö-mischen Republik öffentlich ausgetrieben, sondernauch durch aas päpstliche Recht in der ganzen christ-lichen Kirche verboten worden; und fürwahr, wannheutiges Tages allen denjenigen, welche die Kunst ex-erzieren (ausgenommen die eine besondere Erlaubnisdes Fürsten haben), das Land verboten und ihre Güterkonfiszieret oder sie mit einer harten Leibesstrafe ge-strafet würden, wir wollten gewisslich nicht sovielfalsche Münzen haben, womit ja alle Reiche und Län-der nicht ohne sonderbaren Schaden voll sind. Ebendieser Ursachen wegen, wie ich dafür halte, hat Ama-sis, der König in Ägypten, ein Gesetz gegeben, da-durch ein jedweder Untertaner ist gezwungen worden,seiner vorgesetzten Obrigkeit jährlich Rechenschaftzu geben, was er für Hantierung treibe und womit ersich ernähre, und wer solches nicht tun wollen, derwurde am Leben gestrafet.

Ich könnte noch viel von dieser Kunst (welcher ich,damit ich's frei bekenne, nicht sehr feind bin) sagen;aber ich habe das, was diejenigen, welche Ihre

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10.127 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 115Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

grossen Mysterien lernen wollen, zu tun pflegen,getan und versprochen und Verschwiegenheit ge-schworen; welches auch jederzeit bei dieser Kunstvon den alten Philosophis und besten Scriptoribus be-ständig und heilig ist gehalten worden, also dass unterihnen nicht einer von Ruhm und Ansehen gewesen,der auch nur ein Wort von diesen Geheimnissen ver-raten hätte; welches vielen Ursache gegeben zu glau-ben, alle Bücher über diese Kunst seien in neuererZeit geschrieben; das zeigt sich klar durch die wenigberühmten Namen der alchymistischen Meister, dieman anderswo gar nicht genannt findet; auch sind dieWörter, die sie gebrauchen, ungewöhnlich, ihre Sätzeschwerfällig und ihre Art zu philosophieren verkehrt.

Gleichwohl finden sich auch die dafür halten, dassdas güldene Vliess ein alt alchymistisch Buch gewe-sen sei, auf eine Haut nach der alten Art geschrieben,darauf die Kunst und Wissenschaft, Gold zu machen,gestanden haben soll. Wir lesen aber, dass Diocletia-nus dergleichen Bücher bei den Ägyptiern, welche indieser Kunst sehr erfahren gewesen, mit grossemFleiss gesammlet und hernach dieselben auf einmalverbrennen lassen, zu dem Ende, damit die Ägyptier,wann sie durch diese Wissenschaft einen Schatz oderviel Gold und Silber gehäutet hätten, dermaleins mitden Römern nicht einen Krieg anfangen möchten; da-hero ist auch hernach ein kaiserlich Edikt

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10.128 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 116Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

angeschlagen und diese Kunst und Wissenschaft fürunehrlich und lasterhaftig gehalten worden.

Aber es würde zu lang werden, alle närrischen Ge-heimnisse dieser Kunst und ihre vergebliche Rätsel-worte zu erzählen, nämlich von dem grünen Löwen,von dem flüchtigen Hirsche, von dem fliegendenAdler, von dem springenden Narren, von dem Dra-chen, der seinen Schwanz frisset, von der aufgebläh-ten Kröte, von dem Rabenkopfe, von derjenigenSchwärze, die schwärzer ist als schwarz, vom Siegeldes Hermetis, vom Dreck der Narrheit (ich wolltesagen der Weisheit) und von unzähligen andern Pos-sen mehr.

Endlich noch etwas zu sagen von diesem einigenalleine, ohne welches kein anderes ist, und doch über-all gefunden wird, nämlich von dem gesegneten Steinder heiligen Weisen oder von dem Lapide philoso-phico, oder aber auch... ich darfs nicht nennen, son-sten möchte ich für einen Meineidigen oder für einenKlätscher oder Kirchenschänder ausgerufen werden.Ich darf's nicht sagen; ich will's aber doch sagen, je-doch mit einem feinen weiten Umschweif und miteiner dunklen Beschreibung, damit es niemand als dieSöhne und die Liebhaber dieser Kunst, und welchesich die Geheimnisse ein wenig haben auslegen las-sen, verstehen können: es ist ein Ding, welches isteine Substanz, und hat ein Wesen nicht ganz feuricht

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10.129 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 116Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

noch ganz irdisch, auch nicht schlechter Dinge wässe-richt, welches an sich hat nicht die schärfeste, auchnicht die stumpfeste Qualität, sanft anzurühren, etwasweich und nicht harte, nicht herbe, sondern dem Ge-schmack nach etwas süsse, dem Geruch nach lieblich,dem Gesichte nach angenehm, dem Gehöre nachfreundlich, den menschlichen Gedanken nach heiter.Mehr aber und was noch wichtiger ist als dieses, wasich jetzo gesaget, ist mir nicht vergönnet zu sagen.

Aber gleichwohl achte ich diese Kunst (denn ichhabe mir sie gar zu familiär gemacht) aller Ehrenwert, und erbebe sie mit einem solchen Lobe, wieThucydides eine ehrbare Frau herausgestrichen hat,sagende: die Ist unter allen die Beste, von welcherman am wenigsten spricht.

Dieses aber muss ich gleichwohl darzu setzen, dassdie Goldmacher die Elendesten unter der Sonne sind,denn Gott hat zwar befohlen: in sudore vultus vescen-dum est pane suo; im Schweiss deines Angesichtssollst du dein Brot essen, und der Prophet saget garan einem andern Orte: Labores manuum tuarum quiamanducabis, ideo beatus es, et bene tibi erit. Das ist:Du wirst dich nähren von deiner Hand Arbeit; wohldir, du hast es gut. Aber diese Verächter dieses heili-gen Gebots und des Versprechens arbeiten ganz an-ders und wollen, wie man zu reden pfleget, aus derWeiber Rocken und aus Kinderspiel güldne Berge

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10.130 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 118Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

zuwege bringen.Ich kann gleichwohl nicht leugnen, dass aus dieser

Wissenschaft viel schöne Kunststücke herfür kommenund aus ihr den Ursprung genommen haben. Aus die-ser kommen her die schönsten Farben, Zinnoher,Mennige, Purpur und was man sonsten singend oderklingend Gold nennet; aus dieser Wissenschaft be-kommen wir das Golderz und alle andere Vermi-schungen der Metalle, Amalgame und Scheidungen.Aus dieser Wunderkunst haben sie erfunden vielWundersachen, die Büchsen und grobe Geschütze;aus dieser Kunst ist herfürkommen das Glasblasenoder Glasmachen, eine der edelsten Künste, so nur hatkönnen gefunden werden, von welcher ein gewisserTheophilus ein absonderlich schön Buch geschriebenhat; Plinius erzählet, dass zu Zeiten des Kaisers Tibe-rii eine Invention bei den Glasmachern wäre erdachtworden, dass man das Glas hat biegen und streckenkönnen wie man gewollt; aber der Kaiser Tiberius hatbefohlen, diese Werkstatt gänzlich wieder zu verstö-ren und abzuschaffen, den Künstler auch oder den Er-finder (wann wir dem lsidoro glauben dürfen) umsLeben bringen lassen, alles zu dem Ende, damit dasGold gegen das Glas nicht möchte geringer geschät-zet, und dem Golde und Silber, auch anderm Erzenicht seine Würde entzogen werden. Aber genug ein-mal von diesem.

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10.131 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 119Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel XCI.

De jure et legibusoder

Vom Rechte und Gesetzen

Es ist nun noch übrig, von der Wissenschaft desRechts etwas zu handeln und zu sagen, welches sichalleine rühmet, dass es das Wahre von dem Unwah-ren, das Billige von dem Unbilligen, das Rechte vondem Unrechten zu unterscheiden wisse. Die Vornehm-sten dieser Wissenschaft sind der Papst und der Kai-ser, welche sich rühmen, dass sie alle Rechte imSchreine ihres Herzens verborgen haben, denen an-statt der Vernunft der blosse Wille genug ist; und siehalten dafür, dass nach ihrem Gutdünken alle Wissen-schaften und Künste, alle Schriften und Meinungenund aller Menschen Tun und Lassen judizieret und re-gieret werden müssen.

Dahero hat der Papst Leo allen Christgläubigen ge-boten, dass niemand in der Kirchen Gottes einen oderetwas abzuurteilen oder etwas zu entscheiden sich un-terstehen sollte, wann es nicht durch die Autorität undAnordnung der heiligen Conciliorum, der Canonesund Dekrete, deren Haupt der Papst ist, geschehe; unddass keinem selbst der gelehrtesten und heiligsten

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10.132 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 119Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Theologorum vergönnet sei, ihrer Interpretationen undSchlüsse sich zu gebrauchen, wann es nicht der bei-lige Vater zugelassen oder mit seinen Canonibus au-torisieret hat. Auch an einem andern Orte gebeut daspäpstliche Recht, dass kein ander Buch (überhauptdurch die ganze Welt) rezipieret werden mag, als das,welches durch die römische Kirche und des PapstesCanones ist gebilliget worden.

Eben dergleichen Botmässigkeit und Recht präten-dieret auch der Imperator über die Philosophie, Medi-zin und andere Wissenschaften, und entziehet denenandern Disziplinen allen jede andre Autorität, als dieihnen durch die Jurisprudenz vergönnet und zugelas-sen wird. Denn wann, wie der Imperator spricht, dieJurisprudenz mit andern Künsten und Wissenschaftensollte verglichen werden, so würden dieselben gar ge-ringe und nutzlos erscheinen. Dahero spricht Ulpia-nus: Lex est rex omnium humanarum et divinarumrerum, cujus virtus est (ut ait Modestinus) imperare,permittere, punire, vetare, quibus dignitatibus nullummunus majus invenitur. Das ist: Das Gesetz ist einKönig aller irdischen und göttlichen Sachen, dessenWirkung (wie Modestinus saget) ist herrschen, zulas-sen, strafen, verbieten, über welche Dignitäten nichtsGrösseres kann gefunden werden. Und Pomponius be-schreibet die Jurisprudenz, dass sie sei: Inventum etdonum Dei, et Dogma Sapientum omnium. Das ist:

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10.133 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 120Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Eine Erfindung und Geschenke Gottes und eine Lehrealler Weisen. Denn die alten Gesetzgeber, damit siebei dem gemeinen Manne sich eine Autorität erweck-ten, haben erdichtet, dass sie ihre Gesetze, welche sieihnen vorschrieben, von den Göttern herhätten; alsobehauptete bei den Ägyptern der Osiris, seine Gesetzevon dem Mercurio erhalten zu haben, bei den Bactria-nern und Persiern der Zoroastes von dem Oromaso,bei den Carthaginensern der Charinundas vom Sa-turno, bei den Atheniensern der Solon von der Miner-va, bei den Arimaspern der Zantrastes von dem gutenGeiste, bei den Skythern der Zamolxis von der Vesta,bei den Kretensern der Minos von dem Gott Jupiter,bei den Lazedämoniern der Lycurgus von dem Apol-line, bei den Römern der Numa Pompilius von derNympha Egeria.

Sehet ihr nun, wie die Wissenschaft des Rechtessich einer Botmässigkeit über die andern alle anmas-set, und wie sie in die andern alle tyrannisieret undgleichsam als eine Tochter der Götter einen Vorzugvor allen Disziplinen prätendieret, und die andern alsgeringe und eitel neben sich verachtet, da sie dochselbsten, wie sie ist, mit Haut und Haar aus nichts an-ders als aus vergänglichen und durch menschlicheSchwachheit ausgesonnenen Erklärungen und Satzun-gen bestehet, welche leicht nach Gelegenheit der Zeitund der Fürsten verändert und verkehrt werden

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10.134 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 121Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

können; und sie hat ihren Anfang genommen von demersten Verbrechen unsers ersten Vaters, welcher dieUrsache alles unsers Übels ist.

Dahero ist erstlich das Gesetz der verderbten Naturkommen, welches sie das Jus naturale oder das natür-liche Recht nennen, dessen treffliche Sätze und Re-guln diese sind: Vim vi repellere licet. Gewalt magman mit Gewalt vertreiben. Fragenti fidem fides fran-gatur eidem; dem, der nicht Glauben hält, ist wiederkein Glauben zu halten. Fallere fallentem non estfraus; den Betrüger zu betrügen ist kein Betrug. Dolo-sus doloso in nullo tenetur; ein Betrüger ist dem an-dern nichts schuldig. Culpa cum culpa compensaripotest; eine Schuld kann durch die andere aufgehobenwerden. Male meriti nulla debent justitia nec fide gau-dere; die sich übel gehalten haben, die haben sich kei-ner Gerechtigkeit noch Glauben zu erfreuen. Volentinon fit injuria; Eigenwille bricht Landrecht. Licitumest contrahentibus se decipere; den Kontrahenten istvergönnet, einander zu betrügen. Tantum valet res,quanti vendi potest; eine Sache gilt nicht mehr als siekann verkaufet werden. Licet sibi consulere cumdamno alterius; man kann sich Rat schaffen mit desandern Schaden. Ad impossibile nemo obligatur; Un-möglichkeit verbindet keinen nicht. Si te vel me con-fundi oporteat potius eligam te confundi quam me;wann ja einer unter uns muss zu schanden werden, ich

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10.135 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 121Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

oder du, so ist es besser, du als ich. Und dergleichennoch viel mehr, welche hernach unter die Gesetze sindgerechnet worden.

So ist auch dieses ein Gesetz der Natur: nicht hun-gern, nicht dursten, nicht frieren, nicht durch Nacht-wachen, noch durch Arbeit abzumergeln, wodurchalle Werke der frommen Busse verworfen, hingegendie Epicurische Wollüste für die höchste Glückselig-keit erklärt werden. Hieraus ist auch kommen das Jusgentium oder das Völkerrecht, aus welchem erstlichentsprungen sind Kriege, Schlachten, Knechtschaftenund der Unterschied der Herrschaften; und endlich istdaraus geflossen das Jus civile oder bürgerlicheRecht, welches ein oder das andere Volk für sich al-leine hat; aus welchen ist kommen so unzähligerStreit und Zank unter den Menschen, dass, wie dieGesetze selbsten Zeugnis geben, man in der Sprachenicht Wörter genug hat, um die Verschiedenheit derRechtsgeschäfte auszudrücken.

Denn, wie die Menschen zu zanken und zu streitendie Neigung haben, da ist es, wie sie sagen, vonnötengewesen, um die Gerechtigkeit zu beobachten, ge-wisse Gesetze zu promulgieren, damit die Bösen imZaum gehalten, die Unschuldigen unter den Bösen si-cher wohnen, und die Frommen geruhig leben könn-ten.

Und das sind die Anfänge dieses auserlesenenPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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Rechtes, unter dessen unzähligen GesetzgebernMoses der erste gewesen, welcher den Jüden Gesetzevorgeschrieben hat; zu welcher Zeit Cecrops denÄgyptiern auch Gesetze gegeben; hernach hat Phero-neus am ersten den Griechen Gesetze gemachet, dar-auf Mercurius Trismegistus den Ägyptiern wiederum,hernach Dracon und Solon den Atheniensern, Lycur-gus den Lazedämoniern; Palamedes aber hat am er-sten ein Gesetz gegeben, wie man im Kriege ein Heerrecht richten soll. Die Römer haben am ersten vondem Romulo ihre Gesetze empfangen, welche Curia-tae sind genennet worden, dann von Numa Pompilliogewisse Religionsgesetze; wornach die römischenKönige ihre Gesetze eingerichtet haben, welche alle indie Bücher des Papirii hernachmals sind eingeschrie-ben und aufgezeichnet worden; nach diesem ist dasRecht der zwölf Tafeln oder das Jus Duodecim Tabu-larum herfür kommen; weiter hernach das Jus Flavia-num, Jus Helianum, Lex Hortensia, das honorarischeJus Praetoris; ferner die Plebiscita, Senatus Consulta,Jus Magistratuum und die Consuetudines; und endlichist die Macht, Gesetze zu geben, den Fürsten überlas-sen worden. Ich will aber hier nichts sagen von derMenge der Juristen, deren ja zu einem guten Teil ge-dacht wird lex 2 de Origine Juris.

Unter denjenigen nun, welche das Jus civile in eineOrdnung zu bringen sich unterstanden haben, ist der

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erste Pompejus gewesen, und hernach Cajus JuliusCäsar; aber alle beide, durch Bürgerkriege gestört,sind darüber gestorben und haben es nicht können zurPerfektion bringen; bernach hat Konstantinus diealten Gesetze wieder neu gemacht; Theodosius derJüngere aber hat den Codicem, der auch von ihm istso genennet worden, am Tag gebracht, bis endlich Ju-stinianus diesen, welchen wir noch auf den heutigenTag haben, herausgegeben hat.

Aber die ganze Macht und Autorität dieses zivi-lischen Rechtes ist bei dem Volke und Fürsten, undist kein ander Recht als dieses, welches die Leutenach ihrem Gutdünken gesetzet haben. Dahero sagetJulianus: Leges non alia de causa nos ligare, quamquod judicio populi receptae sunt; qui communi con-sensu omne imperium ac potestatem in principemcontulit, unde si quid principi ac populo placuerit,hoc, tum per consuetudinem, tum per constitutionesjuris habet vigorem, etiamsi error videatur vel falsitas;nam communis error facit Jus, et res judicata veri-tatem. Das ist: Die Gesetze binden uns aus keiner an-dern Ursache, als weil sie nach Gutachten der Völkersind angenommen worden, welche durch ihre Einwil-ligung alle Macht und Gewalt auf die Fürsten ge-bracht haben; was dahero dem Volk oder dem Fürstengefallen hat, das hat teils durch die langwierige Ge-wohnheit, teils durch der Fürsten Konstitution seine

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10.138 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 123Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

rechtliche Wirkung erlanget, obschon ein Irrtum oderwas Unrechtes hierinnen vorgegangen. Denn ein ge-meiner Irrtum machet das Recht; und eine Sache, dieeinmal res judicata worden, muss wahr bleiben. Wel-ches Ulpianus mit diesen Worten gelehret hat: Inge-nuum accipi debere etiam eum, de quo sententia lataest, quamvis revera fuerit libertinus, quia res judicatapro veritate accipitur. Das ist: Man muss denjenigen,welcher durch Urteil und Recht für frei gesprochenist, auch für frei halten, obgleich er in der Tat nur einFreigelassener gewesen sein mag; weil man dasjenige,worüber einmal gesprochen, für wahr halten muss.Eben bei diesem lesen wir auch, dass ein gewisserPhilippus Barbarius, welcher ein flüchtiger Sklave zuRom gewesen, als er um den Richterdienst angebal-ten, und denselben auch erlanget hat, solches aberendlich am Tag kommen, so ist doch nichts von alledemjenigen, was er als ein Knecht in dem Kleideeiner solchen Dignität verrichtet und abgehandelt hat,geändert oder über den Haufen gestossen worden.Und anderswo ist ein alter Bauer auf Geheiss des Kai-sers hochgehalten worden, dass ein Rechtsgelehrteraus dessen Worten hat müssen eine Rechtsanwendungmachen.

Paulus auch der gelehrteste Juriste bei den Römernsaget: Hodie propter usum imperatorum, si in argentorelatum sit candelabrum argenteum, argenti quoque

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10.139 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 124Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

esse, non autem supellectilis, quoniam error Jus facit.Das ist: Wann heutiges Tages für den Gebrauch desKaisers ein silberner Leuchter zum Silberschatz ge-rechnet wird, so wird er rechtlich für Silber und fürkeinen Hausrat mehr gehalten; weil das Irren einRecht machet. Eben dieser Paulus bekennet frei vonden Gesetzen und Ratschlüssen, dass man von alledem, was unsere Vorfahren geordnet haben, nichtimmer könnte Rechenschaft geben. Dahero sehen underfahren wir es klar, dass alle Vernunft und Weisheitdes zivilischen Gesetzes nur bloss aus der MenschenMeinung und Willkür herkomme, und dass keine an-deren Ursachen die Gesetzgeber hierzu bewegenhaben, als entweder der Wohlstand der Sitten, oderdie Gelegenheit recht gut zu leben oder das Ansehendes Fürsten oder die Gewalt des Krieges; wann nunan diesen Dingen feste gehalten und alles Gute be-schützet wird, so ist es eine gute Disziplin; wo nicht,so ist es eine recht ärgerliche Sache wegen der Unbil-ligkeit, welche entweder durch der Obrigkeit Nachläs-sigkeit oder Duldung oder Gutheissen verursachetworden. Ja es ist Demonactis beständige Meinung ge-wesen, dass alle Gesetze vergebens und umsonstwären, denn die Frommen die brauchen keine Geset-ze, die Bösen aber werden durch dieselben um nichtsfrömmer.

So bekennet ja auch Cato (bei dem Livio), dassPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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10.140 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 125Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

nicht ein einziges Gesetz könnte gegeben werden,welches allen nützlich wäre und nach welchem nichtoftermals die Billigkeit mit der Schärfe des Rechtesstritte; und Aristoteles in seiner Ethica beschreibet dieBilligkeit und nennet sie eine Korrektur des rechtmäs-sigen Gesetzes; da mangelt oft das, was in Specie undinsonderheit hätte sollen gesetzet werden, weil all zugeneral und insgemein der Satz ist gegeben worden.Mein, wird denn nicht dadurch genugsam erwiesen,dass alle Macht der Rechte und der Justiz nicht so-wohl von denen Gesetzen, als von des Richters Billig-keit und Aufrichtigkeit herrühre.

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10.141 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 125Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel XCII.

De jure canonicooder

Vom päpstlichen Recht

Von diesem bürgerlichen oder zivilischen Rechteist hernach das päpstische herkommen, welches beivielen für das heiligste angesehen wird, indem esunter dem Prätext und Vorwand der Gottesfurcht dieGebote des schändlichen Geizes und, wie einer desandern Gut zu sich reissen kann, uns gar artlich wei-set und vorstellet, da doch in demselben das wenigstezu finden ist, was zur Ehre Gottes, zur Gottesfurcht,zur Religion und zum Gebrauch der heiligen Sakra-mente dienlich ist; ja ich will hier verschweigen, dassetliche Sachen darinnen erfunden worden, welchewider Gott und sein Wort laufen.

Alles, was darinnen ist, bandelt fast von nichts an-ders als von Streit, Zank, Hoffart und Pracht. Indemdie Satzungen der römischen Päpste nichts anders alsschnöden Gewinst zu verdienen uns weisen, und istihnen heutiges Tages noch nicht genug, was für Zei-ten ihre Vorfahren gesetzet und canonisieret habensondern sie bringen noch stets mehr neue Dekreta amTag, als die Paleas, Extravagantes und andere

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vielfältige Erklärungen und Erweiterungen mehr, alsodass fast kein Ziel und Mass hat können gefundenwerden; und dieses ist aller römischen Päpste einigeFreude, Lust und Begierde, dass sie neue Canones amTag geben. Dadurch Ist ihr Hochmut dergestalt ge-wachsen, dass sie dafür gehalten werden wollen, alsob sie den Engeln im Himmel gebieten, den Raub ausder Hölle wieder herholen und über die toten SeelenMacht haben könnten.

Mit ihren Explikationen, Interpretationen, Deklara-tionen und Disputationen tyrannisieren sie oft in Got-tes heiliges Gesetze, damit ja der Vollkommenheitihrer grossen Gewalt und Macht nichts abgehenmöchte. Hat nicht der Papst Clemens in einer Bulla,welche noch heutiges Tages zu Vienne und Poitiersbei den Archiven in Blei verwahret wird, den Engelnim Himmel geboten, dass sie die Seelen derer, dienach Rom pilgerten, mit Ablass und Loszählung ausdem Fegefeuer in die ewige Freude einführen sollten,und dabei gesaget: Nolumus quod poena inferni sibialiquatenus infligatur. Das ist: Wir wollen nicht, dasssie mit der Höllenstrafe sollen gepeiniget werden.Und hat ausserdem den Kreuzfahrern zugelassen, dasssie noch etwa drei oder vier Seelen, welche sie woll-ten, aus dem Fegefeuer raus reissen möchten.

Diese irrige und unerträgliche Verwegenheit, ja ichmöchte sagen schändliche Ketzerei, hat die

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10.143 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 127Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Sorbonnische Schule zu Paris öffentlich verdammetund abgeschaffet; das gereuet ihnen aber vielleichtheutiges Tages, dass sie dieses Clementisübermässigen Eifer nicht vielmehr mit einem Gedich-te ausgeleget haben, damit diese Sache hätte bleibenund nicht untergehen mögen; denn wegen ihres Affir-mierens oder Negierens wird nichts verändert bei derpäpstlichen höchsten Autorität und ihrem Wesen; ihreCanones und Decreta haben die ganze Theologie der-gestalt gebunden, dass kein einziger, auch nicht derstreitbarste und tapferste Theologus, sich unterstehendarf, etwas zu statuieren oder eine Meinung, die widerden Papst oder seine Canones liefe, zu behauptenwann er nicht zuvor bei dem Papst Urlaub erhaltenhat. Wie von dem Rufo der Martialis gesungen hat:

Quidquid ait Rufus, nihil est, nisi venia Rufo,Si gaudet, si flet, si tacet aut loquitur,

Coenat, propinat, poscit, negat, innuit, una estVenia, si non sit venia, mutus erit.

Das ist: Alles was Rufus redet oder tut, muss mitzuvor erhaltenem Urlaub geschehen; er mag fröhlichoder traurig sein, er mag reden oder schweigen, ermag essen oder trinken, ja er mag fordern oder begeh-ren, was er will, das muss alles mit sonderlichem Ur-laub geschehen; wo er diesen nicht erst erhalten, muss

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10.144 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 128Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

er gar als ein Stummer bleiben.Aus diesen schönen Gesetzen und Dekreten nun

lernen wir, dass das Priestertum Christi und der Kir-che die Gewalt und das Reich sei, ferner Schenkun-gen, Gründungen und Lehnsgüter, und dass ChristiSchwert die Jurisdiktion und die zeitliche Gewalt undBotmässigkeit, dass der Fels Petri oder das Funda-ment sei die päpstliche Person, dass die Bischöfenicht allein Diener, sondern auch Häupter der Kircheseien; und dass die Güter der Kirchen nicht allein dieLehre, die Begierde des Glaubens, die Verachtung derWelt seien, sondern auch die Zölle, die Zehnten, Ob-lationes, Kollekten, die Kardinalswürde, die Bi-schofsmütze, Gold, Silber und Edelgesteine, Geld undMacht. Dass zu der Macht des Papstes ebenfalls ge-höre Krieg zu führen, Bündnisse zu machen und auf-zuheben, von Eidschwüren oder Obedientien los zuzählen, und aus dem Bethaus eine Mördergrube zumachen. Also kann der Papst ohne Ursache einen Bi-schof absetzen, einem des andern Gut geben und dochkeine Simonie begehen; er kann dispensieren widerGelübde und Eidschwüre, wider das natürliche Rechteund niemand darf fragen: Allerheiligster Vater,warum tust du das? Ja er kann, wie sie sagen, aussonderlichen bewegenden Ursachen wider das ganzeneue Testament dispensieren und den dritten Teil derChristen, und mehr Doch in die Hölle

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10.145 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 128Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

hinunterstossen.Aber der Bischöfe ihr Amt ist nicht mehr Gottes

Wort predigen, sondern die Knaben, wann sie ihnenzuvor Maulschellen gegeben, zu konfirmieren, Wei-hen zu erteilen, Tempel zu weihen, Glocken zu taufen,die Altäre und den Kelch zu konsekrieren, die Bilderund Kleider zu segnen. Diejenigen aber, welche Gottmit einem sonderbaren Verstande begabet hat, über-lassen dies alles gewissen Titularbischöfen, findenihre Verwendung bei der Könige Gesandtschaften,werden ihre Hofbeamten, begleiten Königinnen; undhaben also eine gute Entschuldigung, im Tempelkeine Dienste zu tun, weil sie den Königen bei Hofeaufwarten und wiederum von den Königen prächtigmüssen beehret werden.

Aus diesem Brunnen nun entspringen hübscheKautelen und Ränkchen, dadurch sie trotz des Verbre-chens der Simonie ganze Bischofstümer und andereIntraden kaufen oder verkaufen, und was sie sonstenfür Monopolia im Einkauf und Verkafung der Ämter,in Vergebung der Sünden, in Indulgentien, in Dispen-sationen und andern dergleichen räuberischen Mittelnfür Findchen zu gebrauchen wissen. Von ihnen wirdein gewisser Preis zur Vergebung der Sünden, welcheGott ja nicht ums Geld verkaufet, gesetzet, und hatman also eine Invention erdacht, die Höllenstrafen mitGeld zu lösen. Diesem päpstlichen Rechte ist auch

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10.146 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 129Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

zuzuschreiben des Konstantini erdichtete Schenkung,da man ja, wie Gottes Wort bezeuget, lassen soll demKaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.

Aber damit ich euch nur etliche Gesetze, die desEhrgeizes, Gewinstes und Tyrannei voll sind, erzähle,welche uns dasjenige, was wir anjetzo angeführet, be-kräftigen. So schlaget doch nur auf, wann ihr wollet,in den alten Decretalibus, das Kapitel Significasti unddas Kapitel Venerabilem de Electionibus, das KapitelSolite de Majoratu et Obedientia.

Kapitel Cum olim de Privilegiis, Kapitel Si Sum-mus Pontifex Christi de Sententia und das Kapitelinter caetera. Christi de Officio Iudicis Ordinarii.Weiter in Sexta Decretalium, welches der Papst Boni-facius der Achte gemacht hat; man lese, was in derVorrede und in dem ersten Kapitel de Immunitate Ec-clesiarum zu finden ist, und diese alle übertrifft dieruhmredige Clementina Pastoralis de Sententia et rejudicata, nebenst der Extravaganti des Papstes Johan-nes des Zweiundzwanzigsten, welche anfängt Eccle-siae Romanae usw., und des Papstes Bonifaccii Oc-tavi, welche anfangt Unam Sanctam usw.

Wer diese und dergleichen Canones nun fleissigexaminieret und durchlieset, der wird leicht befinden,dass das grosse und wunderbare Geheimnisse sind,welche etliche römische Päpste in ihren Canonibushaben für sich nutzbar gemachet; sie haben die Worte

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10.147 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 130Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

der Schrift oft missdeutet oder gefälscht, haben sieihren Fiktionen angepasst, haben ihre Konkordantienzwischen der Bibel und ihren Canones aufgestellet.Hierzu haben die Päpste viel räuberische Titel als dePalliis, de Indulgentiis, de Bullis, von Beichten, Ab-lass und andere mehr nachfolgen lassen. Endlich ist jadas ganze päpstliche Recht ganz unbeständig, ja un-beständiger als der Proteus und das Chamäleon, undverwirreter als der gordische Knoten.

Die christliche Religion, an deren Anfang Christusden Ceremonien ein Ende gemachet, hat dieses Rechtmehr am Tag gebracht als vor Zeiten jemals die Jüdenhatten; wann man es wohl konsiderieret, so wird dasleichte und liebliche Joch Christi uns viel schwerergemacht und werden die Christen gezwungen, mehrnach diesen vorgeschriebenen Gesetzen zu leben alsnach dem Evangelium selbsten.

Aber die ganze Wissenschaft beider Rechte handeltvon nichts anders als von eiteln, vergänglichen, un-nützen und heillosen Geschäften, von Schmach undSchande, von Mord und Totschlag, von Diebstahl undder Güterzusammenraffung, von Faktionen, Konspira-tionen, Injurien und Verrätereien. Dazu kommen vielMeineide, der Zeugen falsche Registraturen, Praevari-cationes und leichfertige Causen, Bestechungen derRichter, Ehrgeiz der Räte, Geschenknehmung der Prä-sidenten; dardurch werden unterdrückt die Witwen

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10.148 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 131Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

und Waisen, die Frommen müssen Not leiden und dieArmen werden zertreten, Unschuldige werden ver-dammet, und ist wohl wahr, was bei dem Iuvenali ste-het:

Dat veniam corvis, vexat censura columbas.

Das ist: Die gottlosen Raben lässet man los und diearmen Tauben vexieret mau. Und gleichwohl bildensich die armen blinden Leute ein, dass sie durch die-ses Recht Gerechtigkeit erhalten könnten. Aber mandenke, dass diese Gesetze und Canones nicht vonGott kommen, noch zu Gott gerichtet sind, sondern,dass sie von der verderbten Natur der Menschen undihrem selbstdünkenden Aussinnen erfunden, und zunichts anders als zu Gewinst und Geiz von ihnen er-dacht worden sind.

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10.149 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 132Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel XCIII.

De arte advocatoriaoder

Von Advokaten und ihrer Kunst

Aber es ist bei der Rechten noch ein ander Exerziti-um oder Übung, welche man die Plauderei oder dasAdvozieren nennet; höchst nötig, wie sie sagen, einealte, aber recht betrügerische Kunst, welche mit demDeckmantel der Überredung arglistig und schön ge-ziert ist. Sie ist aber nichts anders als eine Kunst, denRichter mit einer süssen Schmeichelei zu überredenund denselben nach seinem Gefallen zu gebrauchen;sie lehret uns, wie man das Recht verkehren, erdichte-te Glossen darzu machen, die Gesetze nach seinemGefallen drehen und wenden, listige Ränke undSchwanke einschieben und betrügerische Prozesseverlängern soll. Sie lehret uns die Leges so zu zitie-ren, dass das Recht und die Billigkeit umgekehrt wer-den, die Glossatoren so anzuführen, dass der Sensusverkehrt wird und die Meinung des Gesetzgebers eineganz andere Auslegung bekommt. Bei dieser Kunsthilft viel, wacker zu schreien, waschhaftig und lästigzu sein. Für den besten Advokaten wird gehalten, werseine Klienten zum Zank nur wacker anreizt und

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10.150 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 133Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

ihnen Hoffnung machte, dass er ihre Sache vor Ge-richt wohl ausführen werde; wer durch Appellationenfein lange aufzuhalten weiss, wer ein Zungendrescherund Streiturheber ist, wer alle andern niederschreit,wer die kläreste und geradeste Sache krumm undstreitig machet, wer die heilsame Justiz selbsten ver-treibet, verkehret und von sich stösset, so dass dieGerechtigkeit zu einem öffentlichen Handel wird, undder Richter sie oftermals ums Geld verkaufet. Selb-sten das Schweigen hat da seinen Preis; denn so wieda keiner redet, wenn er nicht bezahlt wird, soschweigt er auch nicht, wenn man ihm nicht das Maulmit Geschenken zustopfet.

Nach dem Exempel des Demosthenes, welcher denAristodemum, einen Fabelerzähler, fragte, was er fürLohn bekäme, dass er so redete; ein Talent, sprachder. Ich, antwortete der Demosthenes, bekomme vielmehr, dass ich stillschweige. Denn die Rede des Zun-gendreschers ist so schädlich, dass, wenn sie nicht mitbeschenken verhindert wird, es kaum fehlen kann,dass sie nicht schaden sollte.

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10.151 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 134Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel XCIV.

De arte notariatus et procubatoriaoder

Von der Kunst der Notarien oder Prokuratoren

Diesen Rechtsverdrehern nun können auch an dieSeite gesetzet werden die Procuratores und Notarien,welche die Rechtsgelehrten ihre Urkundenschreibernennen, deren Ungerechtigkeit, Schaden, Schalkheit,Verfälschungen wir alle mit Geduld tragen müssen,weil sie Vertrauen, Freiheit und Gewalt durch die kai-serliche und apostolische Autorität erlangen. Unterdiesen aber sind die Vornehmsten, welche die Gerich-te wacker zu verwirren, die Sachen und Streitigkeitendurcheinander zu mischen, falsche Testamenta zu ma-chen, Instrumenta drüber aufzurichten, Rescripta undDiplomata zu verfertigen und weidlich zu betrügenwissen, und die da, wann es vonnöten tut, falsch zuschwören, wider die Wahrheit eines und das andereniederzuschreiben und zu registrieren sich unterstehenund fleissig zusehen, damit sie mit ihren Listen,Tücken, Fallstricken, Verwirrungen und andern Ge-setzesumgehungen von andern nicht mögen überwun-den werden. So kann auch kein Notarius ein Instru-ment, wie sie es nennen, verfertigen und so gut und

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10.152 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 135Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

perfekt machen, dass es nicht vom Advokaten des Ge-genteils in Streit gezogen werden könnte. Denn erwird sagen, entweder es ist was ausgelassen oder wasunrecht oder ein Betrug darhinter oder was er sonstenfür eine Exzeption vorbringen und dadurch des Nota-rii Ehrlichkeit in Zweifel ziehen wird. Aber diesessind die Rechtsmittel, zu welchen die streitenden Par-teien ihre Zuflucht nehmen sollen; diese sind die Kau-telen und Vorsorgen, die uns die Rechte, wie siesagen, an die Hand geben, wann einer das Seinigenicht verlieren oder lieber drauf schmeissen als zan-ken will. Denn soviel Recht wird jedweder haben, soviel ihm seine Kräfte zulassen zu defendieren, weilwir, wie das Gesetz redet, den Mächtigern nichtgleich sein können.

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10.153 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 135Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel XCV.

De jurisprudentiaoder

Von der Rechtsgelehrsamkeit

Hierher gehören auch diejenigen ungeheuer grossenRiesen, welche wider des Justiniani Gebot soviel un-zählige Bände Glossen, Commentarios und Explica-tiones, die doch immer widereinander laufen, geborenund an den Tag gebracht haben. Denn es gibet sovielScharmützel, so unterschiedene Meinungen, sovielarglistige Consilia, soviel Kautelen und Ränke, wel-che diese Leute mit einer unglückseligen Fruchtbar-keit uns für die Augen stellen, dadurch ihre Bosheitunterhalten, und, wie wir fast durch alle Paragraphosund Periodos sehen, ihre Schande und Schalkheit anden Tag geben, gleich als wann die Wahrheit nichtvielmehr in der Vernunft, als in ihrem verwirreten Be-weis bestünde, welchen sie nirgends anders herneh-men, als aus dem Unflat solcher zankhaftigen Leute,denen Streit und Zank eine Ehre ist und nichts Ange-nehmeres widerfahren kann, als wann sie mit andernnicht übereinstimmen, sondern nur immer kontradi-zieren und alles in Zweifel ziehen. Auch die guten Ge-setze durch zweifelhafte Erklärung bloss nach ihrem

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10.154 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 136Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Gehirne applizieren und alles nach ihrem Gefallenrumdrehen. Daher ist es kommen, dass die ganze Ju-risprudenz nichts anders ist, als ein perverser undheimtückischer Rat und ein betrügerisch Netz vollerUnbilligkeit.

Sehet, das sind nun die schönen Künste und Erfin-dungen, womit heutiges Tages die ganze christlicheWelt regiert wird, dadurch werden ganze Königreiche,Länder und Fürstentümer stabilieret; und aus diesennichtswürdigen Leuten werden von den Königen, Für-sten und Päpsten die Dienste und Ämter besetzet. Ge-richtsherren, Geheime-Räte, Kanzler und Präsidentengeordnet, und werden also diejenigen, welche zuvorböse Advokaten, und Leutbescheisser gewesen, ange-sehene Häupter und Richter der Königreiche und Län-der, vor welchen die Könige selbsten oftermals, wievor Zeiten vor den Titanes Jupiter getan, sich fürchtenmüssen.

Aus diesen kommen nun auch der Kaiser und Kö-nige dickbäuchigte und aufgeblasene und ganz purpu-rierte Erzschreiber herfür, auf welchen das ganzeLand beruhet, bei welchen der Fürsten Befehle,Ämter, Beneficia, Pescripta und Diplomata, ja, wasnoch mehr ist, die Rechte selbsten, die Gesetze, dieBilligkeit und Ehrbarkeit zu feilem Kauf ist und umsGeld erlanget werden kann. Nach deren Gutdünkenmüssen diese oder jene der Könige und Fürsten

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10.155 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 137Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Feinde oder Freunde sein, nach ihrem Gefallen wer-den Bündnisse gemacht, Friede oder Krieg angefan-gen; und wann sie aus dem untersten Kote durch Pro-stitution ihrer Sprache zu dergleichen hoher Dignitätkommen sind, so werden sie oftermals zu einer sol-chen Kühnheit und Frechheit gebracht, dass sie sichunterstehen, den Fürsten selbst in Bann zu tun, unddenselben ohne Ratschluss abzusetzen. Und sind alsodiese der Reiche und Stände rechte Verwirrer undAufwiegler, und bloss zu dem Ende, damit sie sichmit ihren Diebstählen und Räubereien aufblähen kön-nen.

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10.156 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 138Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel XCVI.

De arte inquisitorumoder

Von den papistischen Aufsehern in der Religion

Zu dieser Gesellschaft gehören auch die Prediger-mönche, die Inquisitores der ketzerischen Prädikan-ten, und obgleich derselben Macht und Jurisdiktion inden Traditionibus Theologorum und den heiligenSchriften fundieret sein sollten, so nehmen sie siedoch aus dem Jure Canonico und päpstlichen Dekre-ten, machen eine Harke daraus und exerzieren ihr Amtauf schreckliche Art und Weise, als ob der Papst nichtirren könnte. Die Heilige Schrift aber brauchen sienur als einen toten Buchstaben und gleichsam nur füreinen Schatten der Wahrheit; ja sie halten sie füreinen Schutz und Schirm der Ketzer und verwerfen sieoft gar; sie nehmen auch nicht der alten Lehrer undVäter ihre Traditiones an, sondern sagen, diese kön-nen Irren und betrogen werden, aber die römischeKirche allein, deren Haupt der (wie sie sagen) unfehl-bare Papst ist, die kann nicht irren, die halten dessenKurialstil für den Zweck des Glaubens und inquirie-ren nur auf dieses, ob einer an die römische Kircheglaubt; wann er nun etwas bejahen will, so sagen sie

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10.157 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 138Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

alsobald: dessen Meinung verdammet die katholischeKirche oder hält es für eine ketzerische, ärgerlicheoder der Kirchenmacht nachteilige Opinion, undzwingen ihn, dass er solches alsobald revozieren soll.Wann nun der Inquisit die Richtigkeit dieser seinerOpinion mit der Helligen Schrift und andern Beweis-gründen darzutan sich unterstehet, so fallen sie ihm indie Rede und sagen mit zornigen und aufgeblasenenBacken: Hier gibt es nicht mit Gelehrten und Bacca-laurien ein Disputierens, das gehöret auf die Kathe-der; hier sei er vor dem Richterstuhl, und habe nur zuantworten, ob er seine Opinion revoziere und der rö-mischen Kirche beipflichte, wo nicht, so sagen sie al-sobald: Siehest du nicht den Scheiterhaufen? Gegendie Ketzer muss man nicht mit der Schrift und Argu-menten, sondern mit Feuer, Schwefel und Pech dispu-tieren. Und zwingen also den guten Menschen, derdoch keines Unrechts überwiesen worden ist, dass erwider sein Gewissen dasjenige, was ihm besser be-wusst, verleugnen und abschwören muss; und wann eres nicht tun will, so übergeben sie ihn als einen Ver-ächter der Kirchen dem weltlichen Richter, dass erzum Scheiterhaufen verdammet werde, und sagennoch wohl mit dem Apostel: Auferte malum de mediovestri: Nehmet weg das Böse aus eurer Mitte.

Vor Zeiten aber ist so eine Langmütigkeit der Päp-ste in der Kirche gewesen (wie solches Gratianus in

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quarta distinctione de Consecratione zusammenge-bracht hat), dass auch diejenigen, die in den Judais-mum zurückgefallen oder öffentliche Gotteslästerergewesen sind, nicht sind am Leben gestrafet worden.Auch der Berengarius selbsten, als er in eine abscheu-liche Ketzerei geraten, ist nicht allein nicht getötet,sondem bei seinem Archidiakonat erhalten worden.Aber wer heutiges Tages nur in einen kleinen Irrtumgerät, der wird gleich auf Hals und Kopf angeklaget,und von diesen Inquisitoribus nur wegen eines gerin-gen Verbrechens zur Strafe des Feuers übergeben undkondemnieret. Aber vielleicht ist solche harte Strafeder Kirchen heutiges Tages ihr Nutzen, wann nurnicht die echte Gottesfurcht dabei Schaden litte undunterginge; die Inquisitores dieser Ketzerei sind oftdie ärgsten Ketzer, welches zu der neuen Konstitutiondes Papstes Clementis vielleicht Gelegenheit gegebenhat. Billig sollte es sein, dass diese Inquisitores mitden Ketzern nicht durch finstern Streit und Zank, son-dern durch das wahre Wort Gottes von dem katholi-schen Glauben disputierten und mit der Schrift dieKetzer überwänden und nach dem Beweis der Cano-num oder der Konstitutionen der Konzilien die Sacheschlichteten und den Inquisiten entweder zu der rech-ten Lehre bekehreten oder als einen Ketzer verdam-meten; denn das ist nicht gleich ein Ketzer, welcherunbesonnen ist, auch ist derselbe der Ketzerei nicht

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alsobald zugetan, der einen der vermeinten Ketzer de-fendieret, wann er noch nicht überwunden.

Aber da wird er alsobald von diesen unbilligen In-quisitoren und räuberischen Angebern für den Rich-terstuhl, und also ad loca non tuta, und wo er sichnicht sicher und ohne Gefahr defendieren kann, ge-bracht; da doch ausdrücklich zu Rechte versehen ist,dass die Inquisitores weder Gewalt zu erkennen nocheine Jurisdiktion haben, so mischen doch nichtsdesto-weniger diese blutgierigen Raubvögel über dieMacht, die ihnen in ihrem Amte ist gegeben worden,wider alle Rechte und Satzungen sich in die Jurisdik-tion, massen sich einer päpstlichen Gewalt an, undzwar in solchen Sachen, welche nicht einmal zur Ket-zerei gehören, sondern nur züchtigen Ohren etlicher-massen Ärgernis geben oder skandalös sind, undwüten oftermals so grausam, nur etwa in ein arm Bau-erweibchen, welche sie einer Zauberei oder eines an-dern Lasters beschuldigen und anklagen, ohne redli-che Indicia oder Anzeigungen zur Tortur übergebenund solange und so furchtbar martern, bis sie von ihrein Bekenntnis extorquieren und rauspressen, damitsie was zu strafen bekommen. Und da meinen dieseInquisitores, dass sie ihrem Amte eine Genüge getan,wann sie so eine arme Person entweder auf den Schei-terhaufen gebracht oder sich die Hände haben versil-bern lassen; dann haben sie Mitleid und sagen, sie sei

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10.160 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 140Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

durch die Tortur genugsam gestrafet und gereiniget.Denn der Inquisition kann oftermals die Strafe än-

dern, die Hinrichtung in eine Geldbusse verwandeln,und sich solche selbst zueignen, woraus sie keinenschlechten Gewinst machen, sondern wohl gar vonsolchen armen Weibern bisweilen einen jährlichenTribut erzwingen, damit sie nicht wiederum in ihreHände geraten und aufs neue von der Inquisition zuverhören sind. Auch weil der Ketzer Gut dem Fiscoanheim fället, so raubet der Inquisitor auch mit davon.Ja die blosse Anklage und Denunziation oder derblosse Argwohn der leichtesten Ketzerei oder Zaube-rei, die träget Infamiam mit sich auf dem Rücken;diese nun zu vermeiden, das bringet dem Inquisitorioft ein grosses Geld ein.

Durch diese lose Stückchen habe ich gesehen, wieich bin in Italien gewesen, dass in dem FürstentumMailand viel ehrliche Matronen, auch wohl aus adeli-gem Geschlechte sind vexieret worden, also dass mangrosse Summen Geldes heimlich von ihnen erpressethat; endlich aber als diese Schurkerei der Inquisitorenist entdecket worden, sind sie von den Edelleuten ge-waltig gestrafet worden und konnten kaum demSchwerte oder dem Feuer entgehen.

Ich könnte an dieser Stelle die subtile und mehr alsskotistische Erfindung des berühmten Hochstraßenund meiner andern Kölner Theologen im Prozesse

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gegen die Juden zitieren, auch den zehnjährigenKrieg, den sie gegen Capnion (Reuchlin) geführthaben, diese ganze Tragödie, in der der Ruf, Namenund Gelehrsamkeit dieser Kölner Schiffbruch gelittenhaben; aber diese Geschichten sind allgemein bekanntund berühmt durch den Triumph Capnionis.

Als ich einst zu Met Rat und Advokate gewesen,habe mit einem Inquisitore einen harten Streit gehabt,welcher ein Bauerweib geringer Ursachen wegen vorseine Carnificina oder Schlachtbank gezogen, und alsich ihr die Defension gemachet und soviel ausgefüh-ret, dass kein einziges redliches Indicium oder einzigeAnzeigung vorhanden wäre, die zur scharfen Frageund Tortur genug wäre, hat er mir widersprochen undins Gesichte gesaget: Ist es nicht Gezeugnis genug,dass ihre Mutter als eine Zauberin verbrannt worden?Als ich nun diesen Punkt als impertinent ablehnte,weil aus einem andern Falle herausgezogen, und ver-langte, dass solcher von den Akten weggetan werdenmöchte, hat derselbe alsobald darauf, damit er gleich-wohl auch ohne Vernunft nicht reden möchte, aus desHexenhammers Heimlichkeiten und aus der peripate-tischen Theologie dieses herfür gezogen und gesaget,diese seine Meinung wäre wahr, denn die zauberi-schen Mütter pflegten ihre Geburt alsobald dem Teu-fel zu opfern; dahero geschähe es, dass bei einem sol-chen Kinde, als von einer Erbkrankheit solche

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Bosheit eingewurzelt bliebe.Darauf rief ich: Du arger Pfaffe, du theologizierest

und philosophierest wohl schändlich! Durch diesenBetrug und durch diese Geschichte werden viel un-schuldige Weiber zur Tortur gezogen, durch diesenBetrug verurteilest du die Leute, du bist selber ebenso ein Ketzer wie Faustus und Donatus. Nimmst dunicht dardurch weg den Gnadenbund der Taufe? Hatdenn der Priester umsonst gesaget: Fahre aus, du un-reiner Geist, und gib Raum dem heiligen Geist? Solltedann wegen des höllischen Opfers der bösen Mutterdas Kind des Teufels bleiben? Sollte dir aber etwanderjenigen Meinung belieben zu behaupten, dass einIncubus generieren könnte, so wird fürwahr keiner,der solches bejahet, so närrisch sein, dass er dafürhielte, dass die Teufel mit ihrem einmal ersticktenSamen etwas Natürliches in die Geburt setzen könn-ten; ja ich will dir sagen und zwar höre darauf, ausdem Glauben, dass wir aus unserer eigenen menschli-chen Natur alle geboren sind als ein Haufe vollerSünde und ewiger Verfluchung, wir sind Kinder desVerderbnis, Kinder des Teufels, Kinder des ZornesGottes und Erben der Hölle, aber durch die Gnade derTaufe ist der Teufel von uns ausgejaget; dadurch sindwir neue Kreaturen und Geschöpfe Jesu Christi wor-den, von welchem uns niemand als unsere eigeneSünde scheiden kann. Da können wir ja nicht sagen,

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10.163 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 143Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

dass uns eines andern Schuld schaden kann. Siehestdu nun, wie deine freche Meinung durch Rechtsgrün-de vernichtet und weit von der Vernunft ab ist, aucheine recht ketzerische Behauptung.

Hierüber hat sich dieser obgemeldte grausameHeuchler erzürnet und mir als einem Beschützer derKetzer heftig gedrohet; ich habe doch nicht abgelas-sen, dieses arme Weibchen zu defendieren, habe auchdasselbe durch die Macht der Rechte aus dem Rachendes Löwen rausgerissen, und ist dieser blutgierigeMönch endlich für aller Welt schamrot gestanden,auch wegen seiner Krudelität ewig infam worden; essind auch die Angeber und die so dieses Weib soschändlich verleumdet haben, in dem Kapitel derMetzer Kirche, dessen Untertanen sie waren, mit eineransehnlichen Geldstrafe beleget worden.

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10.164 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 144Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel XCVII.

De theologia scholasticaoder

Von der päpstlichen Schullehrertheologie undWissenschaft von Gott

Endlich ist noch übrig von der Theologie zu reden;ich will aber allhier vorbeigehen der Heiden ihre, wel-che von dem Musäo, Orpheo und Hesiodo längst Istbeschrieben worden; und kann nicht geleugnet wer-den, dass dieselbe eine poetische und erdichtete Theo-logie ist, welche auch allbereits Eusebius und Lactan-tius und andere christliche Lehrer mit starken Beweis-gründen verfolget haben. Dann wollen wir hier auchnicht viel Redens machen von des Platonis und ande-rer Weltweisen ihrer Theologie, welche allesamt Mei-ster des Irrtums, wie wir oben gemeldet, gewesensind, sondern wir wollen nur von der christlichenTheologie etwas herfürbringen; diese, welches gewissist, hänget von nichts anders ab als von dem Vertrau-en zu ihren Lehrern und Doktoren; denn unter keineKunst kann sie gerechnet werden.

Wir wollen aber von der Theologia Scholastica,welche zu Paris in der Sorbonne teils aus göttlichenHeilsprüchen, teils aus philosophischen Gründen

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zusammengemischet und eine wie die Zentauren zwei-gestalte Disziplin worden, erst etwas sagen. Diesenun wird heutiges Tages auf eine neue und von deralten ganz separierte Art durch verzwickte Fragen undscharfsinnige Argumenta ohne Zierlichkeit der Redegelehret, übrigens zu Überwindung der Ketzer bei derKirchen nicht wenig brauchbar. Ihre Urheber und diedarinnen exzellieret haben, sind gewesen der Meisterder Wissenschaften, der Thomas Aquinas, Albertusmit dem Zunamen der Grosse und andere fürtrefflicheLeute; ferner Johannes Scotus, ein Mann subtilenVerstandes, aber zum Disputieren und Zank sehr ge-neiget. Dahero ist die Theologie scholastica allmähligdurch Sophismata oder betrügliche Reden herunterge-kommen, indem die neuen Theosophisten und Krämerdes Wortes Gottes, welche bloss dem erkauften Titulnach Theologi sind, aus einer sonderlichen hohen Ge-walt sich unterstanden haben, solche Schwätzereien inSchulen aufzubringen, frivole Quaestiones zu movie-ren, selbsterdichtete Meinungen zu schmieden, derSchrift ihre Deutung auf-zuzwingen, mit intrikatenWorten ihr einen ganz andern Sensum anzudichtenund Ursache zu Zank und Streit auszusinnen.

Sie waren so frech, den Samen der Zwietracht aus-zusäen und den streitsüchtigen Sophisten Anlass zuihren Debatten zu geben. Sie ziehen die Formen vonden Gegenständen ab, sie zergrübeln die Gabe des

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Verstandes, sie nennen die gleichen Wörter bald Gat-tungen, bald Arten, die einen halten sich an die Sa-chen, die andern an die Namen (was sie diesen neh-men, geben sie jenen); ihre Schüler reden das nach,dadurch sich ein jedweder seinen ketzerischen Glau-ben zu behaupten beflissen hat. Und haben dergestaltunseren heiligen Glauben bei den Gelehrten unsererZeiten (worüber auch schon Thomas Aquinas gekla-get) dem Spott und Misstrauen preisgegeben, indemsie die Schriften des Heiligen Geistes hinter demRücken angesehen und von göttlichen Sachen solchenunnützen Streit erwecket haben, womit sie ihre Ge-lehrsamkeit die Zeit ihres Lebens haben wollen sehenlassen, und haben ihre Lehre so feste darauf gegrün-det, also dass, wann einer wider dieselbe, gestützt aufdas Wort Gottes, was sprechen wollte, der hatte also-bald hören müssen: der Buchstabe an sich selbst tötet,er ist schädlich, er ist unnützlich; aber was dahinterstecket, darnach muss man forschen und grübeln. Dakommen sie auf das Interpretieren, auf das Exponie-ren, auf das Glossieren und Syllogistizieren und strei-chen der Sache ganz eine andere Farbe an. Bleibest duaber fest und urgierest etwas stark, da bekömmst dulose Worte und wirst ein Esel gescholten, weil dunicht verstündest, was hinter dem Buchstaben stäke;du kriechest nur auf der Erden wie die Schlange, spre-chen sie.

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Sehet, das sind die rechten Theologi bei ihnen, diewacker streiten und disputieren, auf alle Fragen guteInstanzien geben, geschwinde etwas erfinden, einenandern Verstand andichten und mit prächtigen Wortennichts als ein bloss Geräusche machen können, derge-stalt, dass oftermals wegen Dunkelheit der Worte,nicht wegen der Diffikultät der Sachen, niemandnichts davon verstehen kann. Ja, die werden Doctorsubtilis, angelicus, seraphicus und divinus genennet,welche das vorbringen, was von den wenigsten odergar von niemanden nicht verstanden wird; da kommteine Menge Zuhörer zugelaufen, welche meinen,wann sie etwan was erschnappen, es wäre aus demAbgrund der Theologie hergeholet; schwören auf dieLehre ihres Lehrmeisters und liessen sich dafür er-schlagen. Ist etwas, das der Lehrer nicht ahnet, someinen sie, dass niemand es wisse, so werden sie vonder Meinung ihrer Meister eingenommen, und lassensich vom Gegenteil nicht überreden, sondern berufensich auf deren Autorität und suchen aus ihr alle ihreKräfte, gleichsam als wie aus dem Busen ihrer Mut-ter, nach Art des Antäi, wie der Dichter saget: Als-dann fleuget der räuberische Stossvogel, nachdem erden Rest des Luders den Hunden überlassen hat, nachseinem Horste zurück, und bringet den Raub heim,den er zu seiner Speise brauchet.

Daher ist es kommen, dass auch die FürstenschulenPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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von dem Irrtum dieser scholastischen Theologie nichtfrei sind. Sehet, soviel Sekten und soviel Ketzerhaben diese elenden Heuchler und frechen Sophisteneingeführet, welche (wie Paulus spricht) nicht ausgutem Willen und Vorsatz, sondern aus lauter Streit-lust Christum predigen. Eher gibt es noch unter denPhilosophen Einigkeit als unter diesen Theologen,welche allen Ruhm und Ehre der alten Theologie mitihren Menschensatzungen und irrigen Meinungen aus-gelöschet haben, und mit ihrem vielfältigen Exponie-ren und verwirreten Auslegungen eine verfluchteLehre profitieret; da gebrauchen sie sich des Namensder heiligen Theologie, nur zum Raube und Dieb-stahl; sie missbrauchen der heiligen Namen und füh-ren also greuliche Sekten ein, wie vor Zeiten in derKirche ist gesaget worden: Ich folge dem Apollo, ichdem Paulus, ich denn Cephas; von denen haben sie esgelernet. Auf ihre Worte schwören sie und nehmennicht in acht, was gesaget oder gelehret wird, sondernnur von wem es gesaget oder gelehret worden.

Heute wird keiner als ein gelehrter Theologus ge-achtet, der nicht auf eine Sekte geschworen hat, dernicht hartnäckig sich auf ihre Lehre festbeisset und sieverteidiget und ihren Namen nicht beständig imMunde führet; der nicht nach ihrer Fahne gerufen wirdals Thomist, Albertist, Skotist, Okkamist. Es ist die-sen berühmten Doctoribus nicht anständig, einfach

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Christ zu heissen; denn so dürfen sich auch alleMetzger, Köche, Bäcker, Schuster, Barbiere, Marke-tender nennen, ja sogar alle Weiberchen und der un-gelehrte Pöbel.

Und diese Lehrer und Spalterer haben unter sichviel neue Spaltungen angerichtet. Denn etliche unterihnen, welchen der Dreck sehr hoch lieget und hohenVerstandes, auch gelehrter als die Propheten undApostel zu sein sich dünken lassen, die bilden sichein, dass auch dasjenige, was durch den Glauben nuralleine kann begriffen werden, mit ihren Schlüssenund Folgerungen könnte herausgefunden und demon-strieret werden; und philosophieren von den göttli-chen Fragen mit einer solchen ungeheuren Sicherheit,auch mit so unterschiedenen, ja oft ganz absurdenMeinungen, also dass etliche das göttliche Wesennach Relationen distinguieren, etliche nach dem Ge-genstande, etliche nach dem Verstande, etliche benüt-zen unendliche Realitäten wie die platonischen Ideen,etliche wieder leugnen das und lachen darüber; siebilden solche Wundergeschichten von dem heiligenGott, auch unterschiedliche Formen des göttlichenWesens durch ihre phantastischen Gedanken und Er-innerungen, lästern Christum, unsern Seligmacher,mit ihren abscheulichen Einfallen, und bekleiden ihnmit vielen Larven ihrer spitzfindigen Reden und dre-hen ihn, wie ein wächsern Bild nach ihrem Gefallen

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herum, und formieren und reformieren diese heiligeDoctrin mit ihren absurden Einschiebungen, also dassihre ganze Lehre nichts anders ist als ein Götzen-dienst.

Ich übergehe andre Streitigkeiten und Ketzereien,welche die Sakramente, das Purgatorium, den Primatund die Verordnungen der Päpste, den Ablass, denkünftigen Antichrist und andres betreffen, worin sieihre törichte Weisheit zeigen, von der geschwollen,wie die fabulosen Giganten sie Quästionen aus Quä-stionen und Argumente aus Argumenten erzeugen; soerheben sie ihre Sätze gegen Gott, dessen Zorn gegenihre Verruchtheit nicht ausbleiben wird.

Andere aber, die sich so hoch in der Theologienicht verstiegen haben, die sammeln die Historien derHeiligen zusammen und lügen aus Liebe der Religionnicht wenig darzu, schieben Reliquien unter, erdich-ten Wunderwerke, erzählen angenehme und bisweilenerschröckliche Fabeln (welche sie Exempel nennen),zählen, der Heiligen Gebete auf und betrachten ihreMeriten und Verdienste, stellen sich heilig, verkaufenAblass und Indulgentien, teilen Vergebung der Sündeaus, verkaufen ihre guten Werke und verschluckenbettelnd also des Volkes Sünde; da machen sie einHaufen Dicentes von Erscheinungen, von Beschwö-rungen der Toten, von ihrer gegebenen Antwort undmachen ein heilig Gesetz draus, und spielen aus des

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Tundali und Brandarii Büchern und aus des heiligenPatricii Höhle Tragödien vom Fegfeuer, agieren Ko-mödien vom Ablass der Sünden; vom Predigtstuhlaber, gleich als von einem Theatro donnern sie wiedie Marktschreier auf das Volk herunter, stellen sicheinem kühnen Soldaten gleich mit einer Thrasoni-schen Ruhmredigkeit, mit aufgesperreten stolzenAugen, mit verändertem Gesichte, mit aufgehobenenArmen, mit wunderlichen und oft veränderlichen Ge-bärden, gleichwie die Poeten den Proteus beschrieben,und gebärden sich ganz närrisch und ungestalt. Wel-che aber unter ihnen sich noch mehr dünken, befleißi-gen sich um ihrer Kenntnisse willen einer zierlichenEloquenz und bringen mit ihrem Geschrei (ich hättesagen sollen Deklamation) schöne Poëmata und Verseherfür, erzählen Historien, disputieren, zitieren denHomerum, Virgilium, Iuvenalem, Persium, Titum Li-vium, Strabonem, Varronem, Senecam, Ciceronem,Aristotelem und Platonem; und anstatt des heiligenEvangelii und Gottes Worts bringen sie nichts alsMärchen vor oder predigen ein neu Evangelium undverfälschen Gottes Lehre, kündigen es nicht an alseine Gnade, sondern nur bloss zu ihrem Nutzen undGewinst; sie leben nicht, wie es Gott haben will, son-dern nach ihrer Fleisches Lust; und wann sie desTages von dem Predigtstuhl herunter ein wenig voneiner Tugend, jedoch nach ihrem Gehirne,

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geschwatzet, so liegen sie des Nachts in ihrenSchlupflöchern und Hurenhäusern, und verrichten mitihren Hintern ihre Arbeit. Sehet, das ist ihre Strassezum Himmel.

Endlich wann sie die Laster strafen sollen, so er-zürnet sich ihre vermaledeite Zunge dergestalt, dasssie nicht wissen, wie sie sich anstellen und mit wasfür greulichen Reden und unverschämten Worten sieauf das Volk herunterspeien sollen, gleich als wannChristus die Prediger seines Worts, nicht als Fischermit einem weichen Netze zu sich gezogen, sondern alsblutdürstige Jäger gewollet hätte; gleich als wann sienicht auch selber Menschen und oftermals mit derglei-chen und noch wohl grösseren Sünden behaftet wärenals die, gegen die sie so heftig losziehen. Diese Men-schenfänger nun, welche die Zunge für das Netz brau-chen sollten, um die Bösen zur Seligkeit zu ziehen,diese sind wie Jäger und jagen auch die Frommen insVerderben. Die haben ein Maul wie einen gespanntenBogen der Lügen und eine schneidende Zunge wie einPfeil.4 Aber wir wollen uns bei diesen nicht längeraufhalten, sondern zu der rechten Theologie eilen,welche zweierlei ist, die prophetische und die inter-pretativa, oder die auslegerische. Von der letzten wol-len wir zuerst handeln.

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10.173 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 150Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel XCVIII.

De theologia interpretativaoder

Von Auslegung der heiligen Schrift

Es meinen die Ausleger in der Theologie, dass,gleichwie durch die Liberaliät der Natur die Wein-trauben, die Oliven, das Getreide, der Flachs und der-gleichen mehr wachsen und reif werden, aus welchenhernach durch der Menschen Geschicklichkeit undHilfe Wein, Öl , Brot, Leinwand und andere Sachengemachet werden, also müssten auch die göttlichenWeissagungen als dunkel und verborgen durch unsereAuslegung erläutert werden; nicht zwar, dass sie nachunsern Kräften und Erfindungen als Gottes Weissa-gungen unserer Hilfe vonnöten hätten wie die Werkeder Natur, sondern, dass solches auf Anregung desHeiligen Geistes geschähe, welcher seine Güter allenausteilet, wie er will und wann er will, indem er etli-che zu Propheten, etliche aber zu Auslegern und Leh-rern machet.

Derowegen könnte diese Theologie, heilige Sachenzu interpretieren, nicht nach peripatetischer Art vorge-hen, definieren und abteilen, denn durch dieses könnteGott, welcher nicht definieret und abgeteilet werden

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kann, keineswegs erreichet werden, sondern es müsstehier ein anderer Weg erfunden werden, welcher ist dermittlere zwischen dieser Art und der prophetischenVision; dieser Weg ist eine Annäherung an die Wahr-heit, durch unsern geläuterten Verstand und gleichsamwie ein Schlüssel zu einem Schlosse ist; und gleich-wie dieser der Wahrheit begierig ist, also ist er auchfähig, alles Intelligible aufzunehmen.

Derowegen wird unser Verstand possibilis genen-net; denn ob wir gleich durch denselben nicht voll-kömmlich verstehen können, was die Propheten unddie Erschauer Gottes ausgegeben haben, so wird unsdoch die Türe geöffnet, dass wir aus der Konformitätder erlangten Wahrheit zu unserm Verstande und ausdem Lichte, welches uns erleuchtet, viel gewisser wer-den als aus der Weltweisen ihren scheinbaren Satzun-gen, Definitionen, Divisionen und Kompositionen; erward uns gegeben, dass wir lesen und verstehen, undnicht allein mit den äusserlichen Augen und Ohrensondern auch mit unsern bessern vernünftigen Sinnenbegreifen sollen; und nachdem wir die überzogeneDecke und was uns im Wege stehet, weggenommen,so können wir die rechte Wahrheit schöpfen, welcheaus dem Mark der Heiligen Schrift herfleusset. Dieje-nigen nun, welche einen wahren Blick getan habenauf das, was den Weisen dieser Welt verborgen ist,die haben solches mit einem solchen Indicio der

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10.175 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 152Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Wahrheit gelehret, also dass aller Zweifel nunmehroaus dem Wege geräumet worden.

Weil derowegen diese Wahrheit in der HeiligenSchrift vielfältig verborgen lieget, so haben Heiligeund geistreiche Leute die Auslegung der HeiligenSchrift verschiedentlich angefangen; etliche gehenlangsam durch die Hülle des Buchstabens, stellen eineEinstimmigkeit an und erklären den Buchstaben durchden Buchstaben nach der Ordnung der Wörter, nachihrer Etymologie und Eigenheit, und nach der Kraftder Wörter erjagen sie den rechten Sensum und diereine Wahrheit, welche Explikation die Ausleger dielitteralem oder buchstäbliche nennen. Andere abersind, die dasjenige, was geschrieben ist, auf das rechteGemüts-Geschäfte und Werk der Gerechtigkeit refe-rieren, deren Erklärung oder Exposition wird moralisgenennet; andere explizieren und bringen die Arcanader Kirchen durch unterschiedene Tropos und Figurenherfür, deren Meinung dahero der Sen-sus tropologi-cus oder allegorisch genennet wird. Andere aber, diehoch hinauf sehen und der Kontemplation des ewigenLebens ergeben sind, die deuten alles auf die Arcanader himmlischen Glorie und Herrlichkeit, welche Ex-position sie Sensum anagogicum oder jenseitige, my-stische Exposition nennen.

Und diese vier sind in der Kirchen die gemeinestenExpositiones der Theologorum, über welche aber

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10.176 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 153Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

noch zwei gefunden werden, davon die erste alles aufden Wandel der Zeit und die Veränderung der Länderund Saecula setzet und wird typica genennet, worin-nen fürnehmlich Cyrillus, Methodius und JoachimAbbas, aus den neuen aber Hieronymus Savonarolavon Ferrarien excellieret haben. Die andere aber wirderforschet aus den Wörtern selbsten der HeiligenSchrift, die ganze sensibele Welt und der Natur undWirkung, Kräfte und Vermögen; und diese Expositi-on wird physica und naturalis genennet; in dieser istberühmet gewesen Rabbi Simeon, Benjoachim, wel-cher über das dritte Buch Mosis ein weitläuftig Buchgeschrieben hat, in welchem er fast aller Sachen Naturergründet und gewiesen hat, wie Moses nach einerdreifachen Welt und ihrer Eigenschaft die Lade desBundes, die Hütten, die Gefässe, die Kleider, die Ge-bräuche, die Opfer und andere göttliche Geheimnisseund himmlische Wirkungen an das Licht gebracht hatzur Reinigung des Bildes Gottes; und diese Expositi-on haben die Kabbalisten in die Welt eingeführet undfürnehmlich diejenigen, welche von den Breschith,das ist von den erschaffenen Dingen traktieren. Denndiejenigen, welche von der Mercana oder von demSitz Gottes durch Zahlen, Figuren, Umdrehungen,durch symbolische Vernunftschlüsse uns was lehren,die schreiben alles dem wahren Erschöpfer zu undbringen daraus einen Sensum anagogicum.

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10.177 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 153Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Derowegen sind dieses die sechs berühmtestenAuslegungen der Heiligen Schrift, deren Urheber,Ausleger und Verdolmetscher alle mit einem WortTheologi genennet werden; von diesen sind aus denunsrigen gewesen: Dionysius, Origenes, Polycarpus,Eusebius, Tertullianus, Irenaeus, Nazianzenus, Chry-sostomus, Athanasius, Basilius, Damascenus, Lactan-tius, Cyprianus, Hieronymus, Augustinus, Ambrosius,Gregorius, Ruffinus, Leo, Cassianus, Bernhardus,Anselmus und viel andere heilige Patres, welche unsdie alten Zeiten gebracht haben. Nachgehends sindgewesen (alle geringer als die alten) Thomas, Alber-tus, Bonaventura, Aegidius, Henricus von Gant, Ger-son und andere mehr. Aber alle diese Ausleser undTheologi sind Menschen, derowegen müssen sie auch,was menschlich ist, leiden; denn da irren sie bald,bald schreiben sie das Widerspiel, bald statuieren sie,was einem andern konträr ist, bald sind sie selbstenmit sich nicht einig, in vielem fehlen sie und alle kön-nen nicht alles sehen. Denn der Heilige Geist alleine,der hat die vollkommene Wissenschaft der göttlichenSachen; derselbe teilet sie einem jedweden aus nachseinem Mass und behält viel für sich, damit dass eruns alle zu Discipuln behalte; denn (wie Paulusspricht): Omnes, non nisi ex parte, cognoscimus etprophetamus. Das ist: Alles erkennen wir nur stück-weise und prophezeien darnach.

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10.178 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 154Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Derowegen bestehet diese ganze Theologia inter-pretativa in der Freiheit des Geistes und ist gleichsameine von der Schrift absonderliche Weisheit, nachwelcher ein jedweder, nachdem er ein Pfund von Gotterlanget hat, eine der Auslegungen, die wir droben ge-meldet, machet, welche alle Paulus mit einem WorteMysteria oder geheime Reden nennet, da nämlich derGeist Geheimnisse redet; dahero nennet sie DionysiusTheologiam mysticam und significativam, welche vondiesen heiligen Lehrern in unbändigen Büchern nichtohne Irrtum ist traktieret worden. Man muss nicht inallem ihnen Glauben beimessen; denn ihrer viel habenverharret in ihren Irrtümern von dem Glauben, welchevon der Kirche als ketzerisch sind verworfen worden;und ist dieses offenbar bei dem Papia, dem Heropoli-tanischen Bischof, bei dem Victorino zu Poitiers, beidem Irenaeo zu Lyon, bei dem Cypriano, bei dem Ori-gene, bei dem Tertuiliano und viel asndern mehr, diein Glaubenssachen geirret haben, und derer Meinungund Lehre als eine ketzerische ist verdammet worden,trotzdem sie doch in Canone Sanctorum gebliebensind.

Allhier aber wird ein höherer Geist erfordert, wel-cher recht zu judizieren und zu unterscheiden weiss;dieser nämlich, welcher nicht aus einem Menschen,nicht aus Fleisch und Blut, sondern noch hierüber vondem Vater des Lichts eingepflanzet wird; denn Gott

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kann niemand denn durch dessen Erleuchtung etwasBeständiges sagen. Aber dieses Licht und diese Er-leuchtung ist das Wort Gottes, durch welches allesgemacht ist und welches alle Menschen, die in dieseWelt kommen, erleuchtet und ihnen Macht gibt, Kin-der Gottes zu werden, die an ihn glauben und ihn an-nehmen. Denn es ist niemand, der aussprechen kann,was Gottes ist, als dessen eigentliches Wort. Und werhat erkennet den Willen des Herrn und ist dessen Ratworden als nur allein Gottes Sohn, das Wort des Va-ters? Und von diesem wollen wir bald reden, wannwir nur die Theologiam propheticam oder die weissa-gerische Theologie werden absolvieret haben.

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10.180 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 156Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel XCIX.

De theologia propheticaoder

Von der weissagerischen Theologie

Gleichwie die Weissagung ist eine Rede der Pro-pheten, also ist diese Theologie nichts anderes, alseine Tradition der wahren Theologen oder mit GottRedenden. Aber gleichwie derjenige, welcher etwasProphetisches vorbringet oder zu verdolmetschenweiss, nicht alsobald ein Prophet ist, sondern erst der-selbige, welcher in göttlichen Sachen mit Heiligkeitund andern göttlichen Tugenden begabet ist, welchermit Gott redet, und nach seinem Gesetze lebet Tagund Nacht: also wird Johannes, der Autor der Offen-barung, in den Schriften Dionysii der Theologus ge-nennet, nämlich von seinen göttlichen Reden, da dieWahrheit selber geredet und gesaget hat: Qui vosaudit, me audit, et qui vos spernit, me spernit. Wereuch höret, der höret mich, und wer euch verachtet,der verachtet mich. Welches Wort er nicht zu unsernzänkischen Theosophisten geredet hat, zu unsern Ab-lassverkäufern, sondern zu den rechten Theologen, zuAposteln und Evangelisten, zu den Boten seines Wor-tes, welche sagen: Non audeo aliquid loqui, quod per

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me non efficit Christus. Das ist: Ich unterstehe michnichts zu reden, was nicht Christus durch mich tut.

Derowegen ist die Tradition vom Glauben undGottesfurcht dieser heiligen Männer die Theologie.Deren Schriften und Worten muss man Glauben bei-messen, weil sie gegründet sind nicht auf zänkischeSchlussreden oder Menschenphantasien und Einbil-dungen, sondern auf die rechte gesunde Lehre, die(wie Paulus spricht) heilig inspirieret ist, nicht auf Artund Weise, wie es die Philosophi oder Weltweisenmit ihrem Definieren, Dividieren und Komponierenmachen, sondern eine gewisse göttliche Berührung,welche in der klaren Vision des göttlichen Lichtesenthalten ist; derer Vision wir in der Heiligen Schriftvielfältig wahrgenommen haben, nach unterschiede-nen Dispositionen der Propheten. Denn wir lesen,dass etliche Gott und die Engel in Gestalt von Men-schen gesehen haben, andere in der Gestalt eines Feu-ers, andere in der Gestalt der Luft und des Windes,andere in der Gestalt eines Flusses oder Wassers, an-dere in der Gestalt eines Vogels, andere in der Gestalteines köstlichen Steines oder Metalles, andere in derGestalt der Charakteren oder Buchstaben oder einerHand eines Schreibers, andere im Klang einer Stim-me, andere im Traum, andere in einem Geist in ihremInnern, andere aber in Kraft ihres Intellectus. Daheronennet die Heilige Schrift die Propheten alle Seher,

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dahero lesen wir: das Gesichte oder die Visio Jere-miae, das Gesichte Jesaiae, das Gesichte Ezechielisetc. Und im neuen Testament saget Johannes: Fui inspiritu in illa Dominica die, in qua subvectus vidithronum Dei. Das ist: Ich bin im Geist gewesen andemselben Gottestage, an welchem ich emporgefüh-ret, Gottes Thron gesehen habe. Und Paulus bezeuget,dass er solche Sachen gesehen habe, über welche kei-nem Menschen gebühret zu reden. Aber dieses Sehenwird von vielen ein Raptus oder Ekstasis oder geistli-cher Tod genennet; denn es wird zu derselben Zeitgleichsam eine Separation oder Scheidung der Seelevon dem Leibe, aber nicht des Leibes von der Seelesein. Von diesem Tode wird gesaget: Deum non vide-bit homo et vivet. Das ist: Der Mensch wird Gottnicht sehen und doch leben. Und anderswo: Pretiosain conspectu Domini mors Sanctorum. Das ist: DerTod der Heiligen ist für Gottes Angesicht wert gehal-ten. Und noch deutlicher durch den Apostel: Mortuiestis, et vita vestra abscondita est cum Christo. Dasist: Ihr seid gestorben und euer Leben ist mit Christoverborgen. Sehet also, diesen Tod muss der sterben,welcher die untersten Geheimnisse der prophetischenTheologie begreifen will.

Es ist aber eine zwiefache Art dieser Vision. Eines,da Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen wird,und da sehen die Propheten, wie Paulus saget, was

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nicht vergönnet ist dem Menschen zu reden, und waskeine, weder des Menschen noch des Engels Zungeaussprechen, noch keine Feder beschreiben kann.Denn es ist ein Anrühren und eine Vereinigung desgöttlichen Wesens, und eine Erleuchtung des reinenund ganz abgesonderten Verstandes ohne Verhüllungdurch Bilder. Dahero legen die Theologi dieses Ge-sichte oder Vision aus und nennen es Visionem meri-dionalem; worüber Augustinus schön und weitläuftigdiskurieret (über das erste Buch Moses) und Origenes(wider Celsum). Das andere Anschauen ist, wann das-jenige angesehen wird, was Gott hinterlassen hat,nämlich, wann der Mensch mit klarem Schauen dieKreaturen Gottes siehet, welche sind Gottes Nach-kömmlinge und Wirkungen, durch deren Betrachtungwird erkennet der Meister und Schöpfer aller Dinge,und die erste Ursache daraus alles kommt, wie derweise Lehrer spricht: A magnitudine speciei et creatu-rae poterit cognosci eorum creator. Das ist: Von derGrösse der Kreaturen kann derselben Schöpfer erken-net werden.

Und Paulus spricht: Invisibilia Dei per ea, quaefacta sunt, intellecta cognoscuntur. Das ist: Die un-sichtbaren Sachen Gottes können durch die, welchegemachet sind, verstanden und erkennet werden.Gleichwie bei den Peripateticis eine gleiche Art zureden ist: die da schliessen von den Effekten auf die

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Ursachen, die schliessen a posteriori.Dieser beider Visionen oder Gesichter gebrauchte

sich Moyses, wie solches die heilige Schrift bezeuget,denn von dem ersten lesen wir, dass Moyses Gott vonAngesicht zu Angesicht gesehen hat; von dem andernaber, dass von dem Herrn ist gesaget worden : Duwirst sehen meine Posteriora. Und nach diesem letz-ten Gesichte hat Moyses das Gesetze gemacht, Opfereingesetzet, gewisse Gebräuche gegeben, die Lade desBundes gebauet und andere Geheimnisse mehr ansLicht gebracht, und hat darunter Gott und der Naturheimliche Werke begriffen. Und diese Vision ist wie-der zweierlei, denn entweder man schaut Gottes Ge-schöpfe und die Kreaturen in Gott an, dann heisst sievisio matutina, oder man schauet Gott selbsten an inden Kreaturen und dann wird sie genennet visio ves-pertina.

Überdieses aber ist noch eine andere prophetischeVision, nämlich diese, welche im Traum erscheinen,wie Gott dem Joseph im Traume erschienen ist. So-dann die Weisen, nachdem sie Christum angebetet,sind im Traum erinnert worden, dass sie auf einemandern Wege in ihr Land umkehren sollten. Derglei-chen Exempel sind viel im alten Testament, und waseigentlich diese Vision sei, das beschreibet uns Job,wann er saget : In horrore visionis nocturnae, quandocadit sopor super homines et dormiunt in lectulo, tunc

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aperit aures et erudiens instruit eos disciplina. Das ist:Im Schrecken des Gesichtes in der Nacht, wann derSchlaf auf die Leute fället, wann sie schlafen auf demBette, da öffnet er ihr Ohr und lehret sie durch seineZucht oder Disziplin. Und diese, als die vierte Vision,wird visio nocturna genennet. Sonsten sind auch nochzwei Arten zu prophezeien, eine, welche mit lauterStimme geschicht, mit welcher sind erleuchtet wordenMoyses auf dem Berge Sinai, Abraham, Jacob, Samu-el und die meisten andern Propheten des alten Testa-ments, im neuen aber die Apostel und Jünger Christi,die sind alle durch Christi lebendige und wahre Stim-me gelehret worden. Die andere Art der Prophezei-hung geschicht durch Antrieb des Geistes, wann näm-lich die Seele von etwas Göttlichem eingenommen,sich ihm verbindet und sich von dem fleischlichenMenschen absondert, und durch Weisheit und Er-kenntnis über alle menschliche Vernunft und Vermö-gen ganz erfüllet wird; welche Verbindung zwar nichtallein aus dem englischen Geiste herkommet, sondernauch oftermals von dem Geist des Herrn selbsten, wievom Saul gelesen wird, dass der Geist des Herrn inihn gesprungen sei und er geweissaget hat; so ist er zueinem ganz andern Manne und unter die Prophetengezählet worden. Und nach der Apostelgeschichte istder Heil. Geist in Gestalt einer feurigen Flamme aufdie Getauften gekommen, und dieser Geist ergreifet

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auch oftmals die Menschen, welche den Sünden unter-worfen sind, ja viel heidnische Wahrsager als Cassan-dra, Helenus, Calchas, Amphiaraus, Tiresias, Mop-sus, Amphilochus, Polybius Corinthius, auch CalanusIndus, Socrates, Diotima, Anaximander, EpimenidesCretensis, wie auch die Magier in Persien und Brach-mani Asiatici, die Gymnosophisten in Mohrenland,die memphitischen Wahrsager, die französischenDruides und die Sybillen, die haben hierinnen exzel-lieret.

Und zwar gehören zu dieser prophetischen Weissa-gung oftermals gewisse vorausgehende Zeremonien,so tut auch des Amtes Autorität und der Opfer Kom-munion viel darbei, wie solches die Schrift von Ba-laam zum Exempel gibt und solches der Evangelistvon Caipha bezeuget, welcher dasselbe Jahr, als erHoherpriester worden, prophezeiet hat. Auch die he-bräischen Mecubales haben sich unterstanden, eineKunst zu prophezeien auszusinnen.

Ich will jetzo nicht ausführen, was die hebräischenTheologi mit einer tiefsinnigen Kontemplation vonden Wegen des Verstandes gelehret haben, und wasAugustinus von gewissen Gradibus desselben berüh-ret, auch was Albertus von Annehmungen der For-men, derer er sieben, so einem im Traum widerfahrenkönnen und auch so viel Erscheinungen bei wachen-dem Leibe, uns erzählet hat. Von diesen allen wollen

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wir nur dieses einige, so wohl zu betrachten ist, erin-nern, nämlich, dass den Propheten nicht allezeit dergöttliche Geist äußerlich und ins Gesichte laufet, son-dern dass er zum öftern bei ihnen erst innerlich cau-sieret wird, wann nämlich der Verstand des Prophetenvon dem heiligen Licht wird eingenommen, dessenErleuchtung mit seinen Strahlen durch sonderlicheMittel auch bis in den groben Leib kommet, und ma-chet die Sinne solcher Glückseligkeit fähig und fähretfort aus dem Verstand in die Vernunft und in gewisseImagination durch das ganze Gemüt und dessen in-nerliche Sinne. In diesen entstehet hernach geheimnis-voll eine Stimme, ein Licht oder eine Rede, welcheeinem jedweden Sinne nach seiner Art von sich selb-sten Anregung machet; und dieses zwar widerfähretgar viel Propheten, manchem bei wachenden Augen,manchem aber im Schlaf und Traum. Also lesen wirbei dem Platone und Proclo von dem Socrate, dass ernicht allein durch die natürliche und begreifliche In-fluxion, sondern auch durch die Stimme und Rede istinspirieret worden; dieses aber geschicht viel leichterund öfter im Schlafe. Aber bis hierher genug von die-sen.

Damit wir nun zu unserm rechten Vorsatz wiederkommen, so ist die prophetische Theologie, welcheaus der intuitiven Inspiration uns das unerschütterli-che Wort Gottes lehret. Die Beweistümer aber, womit

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diese Wahrheit von ihnen bestärket wird, sind nichtMenschensatzungen, nicht langwierige Gebräuche,nicht der Weisen ausgesonnene Erdichtungen, nichtgrossartige Dekrete unterschiedener Sekten, nicht Syl-logismi und Enthymemata, nicht Inductiones und Ob-ligationes, nicht unauflösliche Consequentien undFolgerungen, sondern göttliche und mit sich überein-stimmende, auch von der ganzen Kirchen mit einhelli-gem Consens gebilligte Oracula, welche mit vielenWunderwerken und einer vollkommenen Heiligkeit, jadurch das Zeugnis des vergossenen Blutes bekräftigetsind. Zu Lehrern aber dieser prophetischen Theologiehaben wir Mosen, Job, David, Salomon und viel an-dere Propheten des alten Testamentes; in dem neuenTestament haben wir die Apostel und Evangelisten.Und obwohl diese alle mit dem heiligen Geist erfülletgewesen, so sind sie doch sonsten als Menschen vonder Wahrheit abgewichen und auf gewisse MasseLügner gewesen. Nicht, dass sie wissentlich oder mitArglistigkeit gelogen hätten, denn das sei ferne, dasswir solches sagen; es wäre über der Arianer und Sa-bellianer Ketzerei hinaus ein grosser und gefährlicherIrrtum, welcher der ganzen Heiligen Schrift Autoritätstürzen könnte. In welchem grossen Irrtum doch vorZeiten gewesen ist der grosse und heilige Hieronymusin dem Tadel des Petri, wie er wider den Augustinumdisputieret hat; denn er hat statuieret, nämlich

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Hieronymus, Paulus hätte mit Arglistigkeit gelogen;welches, wann es wahr und dergleichen Lügen in derHeiligen Schrift zugelassen wären, so würde fürwahrbald, wie Augustinus spricht, die Gewissheit der Hei-ligen Schrift übern Haufen geworfen werden, welcherAnsicht endlich Hieronymus nach vieler Kontradikti-on und nach bekanntem Irrtum und erkannter Wahr-heit gefolget und diesem Irrtum abgesaget hat.

Derohalben wann ich sage, dass auf gewisse Massediese Männer sind Lügner gewesen, so wollte ich,dass man es verstünde, dass sie nicht absichtlich odermutwillig geirrt, sondern dass solches aus menschli-cher Schwachheit geschehen sei oder dass der Rat-schluss Gottes geändert worden sei; also hat Moysesgefehlet, als er versprochen, dass er das israelitischeVolk von Ägypten aus und in das gelobte Land ein-führen sollte, da er dasselbe wohl aus Ägypten, abernicht in das gelobte Land eingeführet. Jonas hat ge-fehlet, als er den Niniviten den Untergang auf denvierzigsten Tag prophezeiet hat, welcher aber hernachweiter hinauskommen ist. Es hat gefehlet Elias, wel-cher prophezeiet, dass Böses kommen sollte zu Zeitendes Achabs, welches aber doch bis auf den TodAchabs verschoben worden; es hat gefehlet Jesaias,welcher dem Ezechiä den Tod auf den morgenden Tagverkündiget hat, welcher aber doch noch auf 15 Jahraufgeschoben worden; es haben noch andere

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Propheten gefehlet, derer Prophezeiung entweder garaufgehoben oder differieret worden. Es haben gefehletdie Apostel und Evangelisten; es hat gefehlet Petrus,da er ist vom Paulo gescholten worden; es hat gefehletMatthäus, wann er geschrieben hat, dass Christusnoch nicht gestorben gewesen wäre, wie ihm seineBrust ist mit der Lanze geöffnet worden. Aber dieserFehler ist nicht ein Fehler des Heiligen Geistes, son-dern ein Fehler des Propheten, entweder dass er esnicht recht vernommen, was ihm der Geisteingeflösset hat oder aus einer Veränderung des Factioder der Sachen, darüber er hat weissagen sollen. Da-hero geschicht es, dass bisweilen die Meinung desOraculi entweder gar verändert oder differieret wird;und dahero kommt's, dass es scheinet, als wann allePropheten und Schriftgelehrten Lügner wären, nachder Schrift, wann sie saget: Omnis homo mendax.Alle Menschen sind Lügner. Christus aber allein wah-rer Gott und Mensch, ist jederzeit wahr befunden wor-den und sein Wort fehlet nicht, wird auch nicht verän-dert, er ist allein des Irrtums frei und hat niemalsnichts Vergebliches vorgebracht, wie er selbst saget:Coelum et terra transibunt, verba autem mea nonpraeteribunt. Das ist: Himmel und Erde werden verge-hen, aber meine Worte vergehen nicht.

Und weil alle Wahrheit durch den Heiligen Geistherkommt, so besitzet alleine Christus den Heiligen

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Geist und wird von ihm niemals verlassen, sondern erruhet in ihm. Aber mit andern ist es anders beschaf-fen; denn der Geist ist über Moysen gekommen, aberwie er den Fels zerschlagen, da ist er wieder von ihmgangen. Er ist kommen über Aaron, aber bei Versün-digung des Kalbes ist er wieder von ihm gewichen; erist über Annam, ihre Schwester, kommen, aber als siewider Moysen gemurret, hat er sie wieder verlassen.Er ist kommen über Saul, David, Salomon, Esaiamund andere mehr, aber er ist nicht bei ihnen geblieben.Denn die Propheten sind nicht allezeit Propheten, siehaben keinen kontinuierlichen prophetischen Habi-tum, sondern es ist ein Geschenk, eine Erduldung undein Spiritus transiens, und weil niemand auf der Weltgefunden wird, der nicht sündigen sollte, so wird auchniemand gefunden werden, von dem der Geist nichtwiederum gewichen oder ihn auf eine Zeitlang verlas-sen hätte; sondern allein der Sohn Gottes Jesus Chri-stus, von welchem bei dem Johanne geschrieben steht:Super quem videris spiritum descendentem et manen-tem in eo, hic est filius Dei, qui baptizat in spiritusancto, potens illum etiam aliis impartiri. Das ist:Über welchen du sehen wirst den Geist herabfabrenund auf ihm bleiben, derselbe ist's, der mit dem Heili-gen Geiste taufet.

Dahero hat Gott, wie der Simonides spricht, dieEhre ganz allein, dass er über der Natur oder ein

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Metaphysicus ist. Also können wir auch recht wahr-haftig sagen, dass Christus ganz allein die Ehre habe,dass er ein Theologus sei; deswegen aber darf nie-mand nicht meinen, dass die Schrift des Alten Testa-ments, nachdem wir das Evangelium bekommenhaben, nicht mehr kräftig oder tot sei, denn sie lebetstets im höchsten Ansehen, und aus derselben habendie Apostel ihre Lehre gewonnen und bewiesen, undohne ihr Zeugnis haben sie nichts geredet. Diesernachzuforschen, weiset uns Christus selbsten an, des-sen Evangelium solches nicht aufgehoben, sondern erhat es bis auf den letzten Punkt und Buchstaben erfül-let; aber unten wollen wir hiervon weiter reden.

Dieses ist noch hierbei in acht zu nehmen, dass dieHeilige Schrift noch viel Bücher desiderieret, welchesdaraus zu schliessen ist, dass Moyses zitieret die Bü-cher Bellorum Domini oder der Kriege Gottes, JosuaLibrum Justorum oder das Buch der Gerechten;Esther Libros Memorabilium oder die Bücher denk-würdiger Sachen; das Buch der Machabäer zitieret dieheiligen Bücher de Spartiatis, die Chronik nennet dieBücher des Klagens; die Bücher des Sehers Samuelis,die Bücher Nathan, Gad, Semejae, Haddo, Ahiae Si-lonitis und eines Sohnes Gottes Hammonis und derPropheten. Judas zitieret in einer canonischen Episteldas Buch Enoch. Es wird von Glaubwürdigen zitieretBücher Abrahä des Patriarchen, welche alle weg und

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nicht zu finden sind. Ja auch die, welche wir unter un-sern Händen haben, sind nicht auf einerlei Art undWeise angenommen. Einige Kapitel da und dort unddie ganze Geschichte der Machabäer werden für apo-kryphisch gehalten; das hat sich auch im Neuen Te-stament ereignet. Denn der Dionysius gedenkt desBartholomäi, und Hieronymus gedenkt desselbennach den Nazaräern, und Lucas in der Vorrede seinesEvangelii erinnert, dass ihrer viel sind, welche ange-fangen haben, Evangelia zu schreiben, die aber allenicht mehr da sind; auch viel andere Sachen, welchevon den Ketzern sind depravieret und von Ungewis-sen Autoribus rausgegeben worden, sind hernachmalsvon den Patribus nicht angenommen oder von derchristlichen Kirche gebilliget worden.

Inzwischen will ich nicht berühren die falschenPropheten, welche wegen der eitlen Ehre eingeschli-chen sind und prophezeiet haben, bei welchen nichtist die Beiwohnung des Heiligen Geistes; sie bringenunerhörte Lügen vor, führen allerhand Sekten eingegen die Einheit des Geistes, und machen sichgleichsam zu Gottes Räten und unterstehen sich, dasTestament des Herrn ins Maul zu nehmen und wollenWeissagungen und Evangelia daraus machen, welchesaber nichts als Ketzerei ist und mit dem Heiligen Ge-setze nicht überein kommet. Ja das Lied Salomonisselber ist in den hebräischen Canonibus nicht

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eingetragen und nicht anders blieben, als so ferne sievon dem Propheten Esaia korrigieret und für gut be-funden worden.

Aus diesem allem ist ja leicht zu schliessen, wie dieTheologie selbst, nämlich die Heilige Schrift, vielerBücher beraubet worden ist, also dass sie etlichermas-sen mangelhaft scheinet, und aus vielen etliche ge-wisse übrig sind, welche gleichsam als Bücher desLebens die Heilige Schrift machen.

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10.195 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 167Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel C.

De verbo deioder

Vom Worte Gottes

Ihr habet nun gehöret, wie alle Disziplinen zweifel-haftig, verfänglich, ungewiss und voller Gefahr sind,also dass wir bekennen müssen, dass wir nicht wis-sen, wo die Wahrheit anzutreffen sei, auch nicht beider Theologie, da ferne nicht einer zu finden, der denSchlüssel der Wissenschaft und des Unterscheideshat; denn der Schrein der Wahrheit ist uns verschlos-sen und hinter vielen Geheimnissen verborgen, jaauch den weisen und heiligen Leuten selbsten wirddie Türe zu diesem unschätzbaren Schatz nicht aufge-machet.

Aber wir haben keinen andern Schlüssel dazu alsGottes Wort; dieses alleine unterscheidet die Kraft derWörter; welche Rede aus der sophistischen Kunstherkommet, die bringet nicht die Wahrheit, sondernnur einen blossen Schein und ein Bildnis herfür; dasWort Gottes unterscheidet Schein und Wesen; keineArgumenta, keine Syllogismi und keine sophistischeVerschmitzung können gegen seine Wahrheit beste-hen; wer in Gottes Wort nicht Ruhe findet, sondern

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davon abweichet, derselbe ist, wie Paulus spricht,stolz und verstehet nichts.

Derowegen müssen wir an dem Worte Gottes alleWissenschaften, Disziplinen und Meinungen, gleichwie das Gold an einem Lydischen oder Probiersteinprüfen und zu demselben als zu einem sichern undharten Felsen unsere Zuflucht nehmen. Daraus müs-sen wir allein aller Sachen Wahrheit erjagen und vonallen Disziplinen und Wissenschaften urteilen, unbe-kümmert um andre Meinung der gelehrtesten Herren;denn wie Gregorius saget: Quodcunque ab eo autori-tatem non habet, eadem facilitate contemnitur, quaprobatur. Das ist: Alles was von Gottes Wort nichtseinen Ursprung hat, das wird ebenso leicht übernHaufen geworfen wie angenommen. Aber des ewigenWortes Wissenschaft hat keine Schule der Weltwei-sen, keine Sorbonne, noch eines Menschen Witz undVerstand uns in unsere Herzen gegeben, sondern Gottallein und Jesus Christus durch den Heiligen Geist inder Schrift, welche wir die Richtschnur nennen, unddieser kann nach Gottes Gebot nichts zugesetzet nochabgenommen werden, ja wenn ein Engel vom Himmelkäme und anders lehrete, der soll verflucht sein.

Dieser Heiligen Schrift wird so eine majestätischeKraft und Wirkung zugeschrieben, dass sie keineCommentaria noch menschliche oder englische Glos-sen leidet; sie lässet sich nicht wie Wachs nach des

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Menschen Gehirne drehen oder nimmt nach Art derFabeln unterschiedene Meinungen an sich, wie derpoetische Proteus sich hat kehren lassen, sondern esist dieselbe an sich selbst genug, interpretieret sichselbst, sie judizieret alle und wird von niemanden ju-dizieret. Denn ihr Ansehen ist grösser (wie Augusti-nus spricht) als aller Menschen Vernunft und Wissen-schaften, sie hat allein eine beständige, schlichte undheilige Auslegung, womit man alleine streiten undüberwinden kann. Die fremden moralischen, mysti-schen und alle die andern Auslegungen aber, welchemit vielen ungehörigen Farben angestrichen werden,die lehren uns zwar etwas und können dem gemeinenMann wohl was weiss machen, aber sie können zumBeweis Gottes Wortes und zu dessen Autorität nichtdas Geringste wirken. Denn es probiere nur einer ihreMeinung und führe ihre grosse Autoritär, an, zitieredie Auslegungen, die Glossen und führe an die heili-gen Väter, die werden uns nicht so binden können,dass wir sie nicht widerlegen sollten. Aus der Heili-gen Schrift aber werden uns solche Bande, welcheniemand zerreissen kann; ja diese kann alles auflösenund beantworten, und hier muss man bekennen undsagen, dass Gottes Finger darinnen sei, und dass keinMensch, kein Schriftgelehrter oder Pharisäer so gere-det habe.

Deren Autores sind von Gott also inspirieretPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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worden, dass sie uns diese heilige Gesetze und Cano-nes gegeben haben; deren Magnifizenz und Wirkungist so gross, dass wir derselben alles anvertrauen undohne Widerrede alles fest und heilig halten müssen;wie Augustinus hiervon geredet hat, dass er nur die-sen Büchern, welche Ganonici genennet werden, dieEhre zuteilet und beständig geglaubet hat, dass keinAutor derselben hat irren können; denen andern aber,ob sie schon mit trefflicher Wissenschaft und Autori-tät sind begabet gewesen, wollte er nicht Glauben bei-messen, wann sie uns nicht mit einem unüberwindli-chen Schluss zwingen zu sagen, dass sie mit der Hei-ligen Schrift übereinkommen. Zu diesen weiset unsChristus, wann er lehret, dass wir in der Schrift nach-forschen sollen und befielilet uns der Apostel: Omniaprobare, ut teneamus quae bona sunt, atque probareSpiritus, utrum ex Deo sint, ac in illis potentem essede omnibus rationem reddere, et contradicentes re-darguere, et sie spirituales effecti omnia dijudicemus,et a nullo dijudicemur. Das ist: Wir sollen alles prü-fen und das Gute behalten, wir sollen auch die Geisterunterscheiden, ob sie von Gott sind, und sollen mäch-tig, von allem Rechenschaft zu geben, die Widerspre-cher Lügen strafen, damit wir von allem mögen urtei-len und selbst nicht verwerflich sein.

Aber die Wahrheit und Verstand dieser Schrift,nämlich die also canonisieret ist, die kömmt aleine

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10.199 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 169Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

von Gottes Macht und offenbarter Autorität her, wel-che durch keine Vernunft, durch keine Demonstrationund Schlussrede, durch keine Spekulation, ja durchkeine menschliche Kräfte kann begriffen werden, dennnur allein durch den Glauben an Jesum Christum, vonGott dem Vater durch den heiligen Geist, welcher so-viel höher und beständiger und wahrhaftiger ist alsalle Wissenschaften. Aber was sage ich: wahrhaftiger!Gott allein ist wahrhaftig, der Mensch aber ein Lüg-ner.

Alles nun, was nicht aus der Wahrheit ist, das istIrrtum, wie alles, was nicht aus dem Glauben ist,Sünde ist; denn Gott allein ist der Brunnen der Wahr-heit, aus welchem wir die lautere wahre Lehre schöp-fen müssen, ausser was uns Gott in den natürlichenDingen revelieret und offenbaret hat; denn göttlicheSachen können durch Menschenkräfte nicht verstan-den werden, und die natürlichen Dinge verändern alleAugenblick unsern Sinn; daher geschichts, dass wannwir uns einbilden, wir wüssten was, so ist es nichtsals Irrtum und ein falsches Wesen. Welches also derProphet Esaias den Chaldaischen Philosophis undWeltweisen vorgeworfen hat, wann er also zu ihnensaget: Sapientia tua, et scientia tua, ea ipsa decepit te,defecisti in multitudine adinventionum tuarum. Dasist: Deine Weisheit und deine Wissenschaft selbstenhat dich betrogen; du bist betrogen in der Menge

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10.200 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 170Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

deiner Erfindungen.Der Grammaticus siehet sich mit sonderbarer Be-

hutsamkeit vor, damit er nicht in der Sprache pecciereoder etwan ein ungebildetes und barbarisches Wortvorbringe, bekümmert sich aber inzwischen nicht umsein Leben und sündiget immer in Tag hinein; derPoete will gleichergestalt lieber, dass ihm was an sei-nem Leben als an seinen Versen abgehe. Der Histori-cus beschreibet der Könige und Völker Taten und Ge-schichte, und hinterlässet es der Nachwelt, um seineseigenen Lebens Wohlfahrt aber bekümmert er sichwenig, und wann er sich gleich darum bekümmerte,so wird er wenig davon sagen oder schreiben. DerRhetor hat mehr Abscheu für einer unzierlichen Redeals für einem hässlichen Leben. Der Dialecticus willlieber der offenbaren Wahrheit absagen, als in einersyllogistischen Schlussfigur seinem Gegenpart nach-geben. Die Arithmetici und Feldmesser zählen undmessen alles, aber die Zahl und Mensur ihres Lebensbetrachten sie nicht; deren Musicis ist an dem Gesangund Klange mehr gelegen als an guten Sitten undGaben des Gemütes, wie der Diogenes Sinopäuswahrgenommen hat bei denjenigen, welche die Saitender Leyer artig haben wissen in eine Harmonie zubringen, aber in dem eigenen Gemüte sich ungebärdiggestellet haben. Die Astrologi betrachten die himmli-schen Gestirne und sagen wahr, was einem in der

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10.201 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 171Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Welt begegnen möchte; aber was ihnen fast stündlichfür Augen schwebet oder begegnet, das nehmen sienicht inacht. Die Weltbeschreiber geben uns Nach-richt, wo eines und das andere in der Welt lieget, zei-gen uns die Grösse der Berge, den Lauf der Flüsse,die Grenzen der Länder, im übrigen aber machen siesich und andere Menschen weder klüger noch fröm-mer; die Philosophi erforschen der Sachen Anfangund Ursprung mit einer sonderlichen Jactanz, vonGott aber, als dem Erschöpfer aller Dinge selbsten,wissen sie oftermals wenig, bekümmern sich auchnicht viel darum; unter Fürsten und Obrigkeiten istkein Friede, und einer suchet des andern Verderbenwie er kann und weiss; die Medici kurieren der Kran-ken Leiber, und um ihre eigene Seele bekümmern siesich wenig; die Juristen sagen, wie sie die menschli-chen Gesetze inacht nehmen, aber nach Gottes heili-gem Gebot fragen sie nichts; daher ist es auf einSprichwort hinaus gelaufen: Nec medicum bene vi-vere, nec juristam bene mori. Das is: Kein Medicuslebet wohl, und kein Juriste stirbet wohl. Dass dieMedici eine böse Art unter den Menschen, und die Ju-risten die ärgsten Schälke von der Welt seien, dassehen wir ja täglich, und es bezeuget auch Baldus,welcher einer von den vornehmsten Juristen gewesen,dass diese Leute ohne Bekümmernis um ihrer SeelenWohlfahrt oftermals geschwinde dahin sterben. Aber

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10.202 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 171Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

die Theologi predigen uns mit einem grossen Ge-schrei Gottes Wort, im Leben aber ist es oftermalsganz anders mit ihnen beschaffen; sie sind wohl Er-klärer aber nicht Freunde des göttlichen Gebotes; siekennen die Schrift und verteidigen den Teufel. Dero-halben werden ihrer viel gefunden, die viel wissenund die da recht zu reden, zu schreiben, Verse zu ma-chen, denkwürdige Geschichten der Welt hinterlassen,von einer Sache wohl zu diskurieren, zierliche Oratio-nes vorzubringen, vieler Sachen Geschichte zu erzäh-len, artig zu singen, die Grösse einer Sache abzumes-sen, der Erden und des Meeres Gestalt und Grösseuns für Augen zu stellen, blutige Streite und Kriegezu beschreiben, den Ackerbau zu bestellen, vielerKünstler Fleiss auszuüben, Gemälde und Statuen zubilden, der Seefahrenden Kurs und der Gestirne Lauf,Influentien und Wahrsagungen, oder andere geheimekabbalistische Sachen und natürliche Ursachen, derRepubliken unterschiedene Sitten und Administratio-nes, häusliche Disziplinen, gute Mittel für Krankhei-ten, der Arzeneien Kräfte, Wirkung und Mischung,der Speisen gute Zurichtungen, und aus jedwedemDinge die beste Kraft und Macht rauszuziehen wis-sen, aber was ist es? Es mag einer auch wissen dieRechte und der Advokaten lose Ränke und Schwänke,die Streitigkeiten der Sorbonne, die Heuchelei derMönche, der heiligen Väter andächtige Traditiones; ja

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10.203 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 172Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

sage ich, er mag gleich alles mit seiner Wissenschaftgefressen haben, so weiss er doch nichts, wann ernicht weiss den Willen des Wortes Gottes, und nachdemselben tut.

Wer alles gelernet hat, und hat dieses nicht geler-net, der hat alles umsonst gelernet und weiss umsonstalles; ja in Gottes Worte ist der Weg, die Norma undRichtschnur, das Ziel, dahin man kommen muss,wann man nicht irren, sondern die Wahrheit erreichenwill. Alle andern Wissenschaften sind der Zeit undder Vergessenheit unterworfen, nicht allein die Wis-senschaften und Künste; die Sprachen und Buchsta-ben selbsten, welche wir brauchen, die sind vergäng-lich, sie werden vergehen und andere herfürkommen.Die erste Schreibkunst ist nicht einerlei und bei allenVölkern gleich und zu einer Zeit gewesen; die rechteAusrede der lateinischen Sprache ist jetzo nirgendsmehr zu finden; die alten hebräischen Charakteresoder Buchstaben sind vergangen und man hat keinAndenken mehr von denselben, sondern da sind neue,die Esdras erfunden hat; und ihre Sprache ist von denChaldäern korrumpieret worden, welches auch fastden andern Sprachen allen widerfahren ist; also istheutiges Tages keine Sprache mehr zu finden, in wel-cher wir ihren alten Ursprung erkennen könnten; neueWörter sind aufkommen, alte sind hingegen verwor-fen und hernach wieder angenommen worden, also ist

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10.204 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 173Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

nichts Beständiges und stets Währendes zu finden.Terentius spricht: Es ist nichts gesaget worden, wasnicht zuvor gesaget ist; auch nichts getan, was nichtzuvor getan worden ist. Ja wir erfahren auch, dass dieBüchsen oder das Gewehr, welche wir dafür gehalten,dass es eine neue Invention der Deutschen wäre, fürAlters im Gebrauch gewesen sind, welches wir ausdes Virgilii Versen behaupten wollen:

Ich sahe, dass der Salmon grausam gestrafet wurde,weil er dem mächtigen Jovi seinen Donner und Blitznachahmen wollen; er liess sich triumphierend durchalle Städte durchführen, und wollte mit göttlicher undüberirdischer Ehre beehret sein. Aber er handelte tö-richt, dass er den grausamen Donner durch einschlechtes Erz und Rennen der Pferde vorbilden woll-te. Hat denn nicht auch der Prediger davon geredet,wann er spricht: Was ists, das geschehen ist? Ebendas hernach geschehen wird? Was ists, das man getanhat ? Eben das man hernach wieder tun wird ? Undgeschicht nichts Neues unter der Sonnen. Geschichtauch etwas, davon man sagen möchte, siehe, das istneu; es ist vor auch geschehen, in vorigen Zeiten dievor uns gewesen sind. Man gedenket nicht wie eszuvor geraten ist, also auch dessen, das hernach kom-met wird man nicht gedenken bei denen, die hernachsein werden.

Und ein wenig weiter unten saget er: Es stirbet derPhilosophie von Platon bis Nietzsche

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10.205 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 174Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Gelehrte sowohl als der Ungelehrte; was sollen wirderowegen hier sagen? Nichts anders, als dass alleWissenschaften und Künste der Vergessenheit unddem Tode unterworfen sind, und bleiben nicht stetsbei einem, sondern müssen mit in den Tod gehen.Wie Christus saget: Quia omnis plantatio, quam nonplantaverit pater coelestis, eradicabitur, et in ignemaeternum mittetur. Das ist: Alles das, was meinhimmlischer Vater nicht gepflanzet hat, soll ausgerot-tet und in das ewige Feuer geworfen werden. Derowe-gen sei es ferne von uns, dass wir durch Wissenschaf-ten zu der Unsterblichkeit sollten geführet werden;Gottes Wort aber bleibet alleine ewig, dessen Er-kenntnis uns so nötig ist, dass wer es verachtet odernicht höret (wie das Wort selber spricht), über denschicket Gott den Fluch und das Verderben und dasewige Gerichte.

Derowegen meinet nicht etwan, dass diese Erkennt-nis des heiligen Wortes nur allein die Theologos oderGeistlichen angehe, sondern es gehet alle Menschenan, auch Weiber und Kinder und Fremdlinge, allesind nach ihrem Verstande zur Erkenntnis desselbenverpflichtet, und nicht einen Strohhalm davon abzu-weichen schuldig. Dahero wird im alten Testamentgeboten: Alle diese Worte, die ich dir heute gebiete,sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kin-dern einschärfen und davon reden, wann du in deinem

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10.206 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 174Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Hause sitzest oder auf dem Wege gehest. Wann dudich niederlegest oder aufstehest; und du sollst siebinden zum Zeichen an deine Hand und sollen dir einDenkmal für deinen Augen sein und sollst sie überdeines Hauses Pfosten schreiben und an die Tore.

Also hat Josua Gottes Wort und alles, was ge-schrieben stehet, aufgezeichnet und für der ganzenGemeine, Weibern, Kindern und Fremden vorgelesen;und Esdras hat das Buch des Gesetzes für der ganzenGemeine, Männern und Weibern und allen, die eshaben verstehen können, vorgetragen und öffentlichauf der Strasse gelesen. Und Christus befielet dasEvangelium zu predigen allen Kreaturen durch dieganze Welt; und solches nicht verborgen oder heim-lich, noch in Kammern oder nur gewissen Personenabsonderlich, sondern öffentlich unter freiem Himmelzum Volke und der ganzen Versammlung; denn sosagte er zu seinen Aposteln: Was ich euch sage, dassage ich allen, was ich euch sage im Verborgenen,dass sollet ihr öffentlich verkündigen für den Leuten;und was ich euch im Geheimen sage, das sollet ihr aufden Dächern predigen. Und Petrus in der Apostelge-schichte saget: Er hat uns befohlen zu predigen allemVolk. Und Paulus heisset: Man solle die Kinderauferziehen in der Zucht und Vermahnung zum Herrn.Ja Christus selber hat seine Jünger gescholten, dasssie die Kinder nicht haben wollen zu ihm kommen

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10.207 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 176Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

lassen; deren Einfalt und Niedrigkeit, weil an ihnennoch keine schlechten Vorurteile haften und den Geistnicht aufgeblähet haben von menschlichem Wissen,sei den Hörern von Gottes Wort zuträglich; wer nichtsei wie die Kinder, werde nicht ins Himmelreich kom-men. Dahero will Chrysostomus in einer Predigt, dassdie Knaben stets sollten mit Gottes Wort umgehenund darinnen unterrichtet werden, auch zu Hause dieMänner mit ihren Weibern und Kindern davon redenund darinnen nachforschen.

Der Nicaenische Synodus hat durch seine Decretavorgesehen, dass jedweder aus der Christen Zahl sichsollte die Bibel anschaffen. Wisset derowegen, dassin der Heiligen Schrift nichts so hoch und schwer,nichts so verborgen und nichts so heilig sei, das nichtalle Gläubigen Christi anginge; die ganze Theologiesoll allen Gläubigen gemein sein, und zwar jedwedennach seinem Verstand und Mass der Gabe, damit ihnder Heilige Geist begabet hat, und kömmt einemguten und rechtschaffenen Lehrer zu, einem jedwedendasjenige, was er nach seinem Verstande fassen kann,mitzuteilen, und zwar einem als Milch, dem andernaber als harte Speise. Niemand aber soll von dieserWeide der Wahrheit abgehalten, oder dieselbe ihmverboten werden.

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10.208 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 177Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel CI.

De scientiarum magistrisoder

Von den Meistern der Wissenschaften

Endlich aber, damit ich mich wieder in etwas erho-le, so habet ihr aus dem, was ich von Anfang bis hier-her gesaget, gehöret, dass die Wissenschaften undKünste nichts anders sind, als Menschenüberlieferun-gen und von uns nur in törichter Leichtgläubigkeit an-genommen, und dass solche insgesamt aus nichts an-ders als aus zweifelhaftigen Dingen und UngewissenMeinungen genommen und durch scheinbare Demon-strationes dargetan werden; ja dass sie alle, so vielderer sind, ungewiss und betrüglich, ich könnte fastsagen schädlich und gottlos sind. Daher ist es gottlos,zu glauben, dass sie uns zu unserer Seligkeit wasdienlich sein könnten. Vor diesem hatten die Heidendiesen Aberglauben, dass, wann sie einen sahen, dereine Kunst oder Wissenschaft erfunden hatte oder dar-innen exzellieret, demselben taten sie göttliche Ehrean und rechneten ihn unter die Zahl der Götter; sieweiheten ihm Tempel und Altäre und beteten ihnunter gewissen Figuren an, wie der Vulcanus bei denÄgyptiern, weil er der erste Philosophus war, und die

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10.209 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 177Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Principia naturae dem Feuer zuschriebe, so war erhernach gar als ein Feuer geehret; und der Äsculapius(wie Celsus dafür hält), weil er die annoch rauhe Me-dizin ein wenig subtiler zu traktieren wusste, so warder deswegen unter die Götter gezählet. Also ist dieseund keine andere Gottheit der Wissenschaften beiihnen, als welche die alte Schlange, die dergleichenGötterkünstlerin ist, unseren ersten Eltern verspro-chen hat, wann sie saget: Eiritis sicut Dii, scientesbonum et malum. Das ist: Ihr werdet sein wie dieGötter, sobald ihr Gutes und Böses wisset. In dieserSchlange mag sich rühmen, wer sich einer Wissen-schaft: rühmet; denn fürwahr niemand wird könneneiner Wissenschaft fähig sein und dieselbe besitzen,als aus Gunst und Favor dieser Schlange, deren Lehrenichts anderes als Zauberei und Gaukelei und derenFinal endlich böse ist; also dass auch bei dem geimei-nen Mann ein Sprichwort entstanden: Omnes scientesinsanire. Alle die was wissen, die seien närrisch undunsinnig. Denen pflichtet auch Aristoteles bei, wanner sagt: Nullam magnam esse scientiam sine mixturadementiae. Jedwede grosse Wissenschaft sei mit einerTorheit vermischet. Und Augustinus selbsten bezeu-get, dass manche, durch Begierde viel zu wissen, ihreVernunft verloren haben.

Es ist kein Ding auf der Welt der christlichen Reli-gion und dem Glauben so zuwider, als die

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10.210 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 178Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Wissenschaft, und ist nichts, das sich weniger mitein-ander vertragen kann, als diese beiden; denn wir wis-sen aus den Kirchenhistorien, und hat es auch die Er-fahrung gegeben, wie die Wissenschaften, nachdemder Glaube an Christum aufkommen, verfallen sind,also dass fast der grösste oder doch der vornehmstenTeil gänzlich zugrunde gangen ist. Denn die zauberi-schen Künste meistenteils, die die grössten und vor-nehmsten gewesen sind, die haben sich dergestalt ver-loren, dass keine Spuren mehr da sind; und von allender Philosophorum Sekten ist nicht mehr übrig ge-blieben, als nur allein die peripatetische und zwarauch ganz verstümmelt und unvollkommen. Und hatsich die Kirche niemals besser befunden und mehr instiller Zufriedenheit gelebet, als zu der Zeit, da manvon Künsten und Wissenschaften nichts gewusst hatoder doch, da dieselben in eine Enge gebracht wordensind, nämlich da keine Grammatica gewesen, als nurbei dem Alexander Gallo, keine Dialectica, als beidem Petro Hispano, keine Rhetorica, als bei dem Lau-rentio Aquilegio, ein klein Fasciculus oder Bändchenwar genug für die Historie, für die mathematischenDisziplinen genügte die Ausrechnung des Kirchenka-lenders, allen andern Disziplinen auch stunde der ei-nige Isidorus für. Anjetzo aber, da wieder so vielSprachen aufgekommen, so viel rhetorische Orationesgeschrieben und so viel alte Bücher aufs neue das

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10.211 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 179Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Tageslicht gesehen haben, und die Wissenschaftenwieder excolieret worden, da sehe man nur, wie dieKirche in ihrer Ruhe ist turbieret worden, und was fürneue Sekten und Ketzereien nacheinander an den Tagkommen sind, ja es ist keine Art unter den Menschenweniger geschickt Gottes heilige Lehre an sich zunehmen, als diejenige, so sich in allerhand Wissen-schaften vertiefet hat, denn diese bleiben oftermals soobstinat und halsstarrig auf ihrer Meinung, dass siedem Heiligen Geist keinen Baum lassen wollen, undtrauen ihren eigenen Kräften und Köpfen so viel zu,dass sie der reinen Wahrheit keinesweges welchenwollen, lassen auch nichts zu, als was mit syllogisti-schen Schlüssen erwiesen werden kann, und was sienicht durch ihre Kräfte und Fleiss nachgrübelnmögen, das verachten sie und lachen es aus. Darumhat Christus diese seine heilige Lehre für den Weisenund Klugen verborgen und hat sie den Kleinen undGeringen offenbaret, nämlich denenjenigen, die geist-lich arm sind und mangeln der Wissenschaft; denenje-nigen, welche reinen Herzens und nicht mit diesenvergeblichen Meinungen und Wissenschaften be-flecket sind; deren Seelen wie ein Blatt weissen Pa-pieres sind, auf dem noch nichts geschrieben stehetvon menschlichen Traditionen; denenjenigen, welchefriedfertig sind und nicht gerne streiten oder mit ihrenzänkischen Syllogismis die Wahrheit verjagen,

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10.212 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 179Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

denenjenigen, welche wegen der Wahrheit und Ge-rechtigkeit Verfolgung leiden und als Esel von denargen Sophisten verlachet werden oder als Grün-schnäbel, verrufen in den Schulen, entfernt von denLehrstühlen, verjagt von den Universitäten, als Ketzerverleumdet und verfolgt, auch wohl grausam amLeben gestrafet.

Also ist vor Zeiten zu Athen der Socrates mit Giftvergeben, der Anaxagoras getötet und dem Diagoras,wann er nicht entflohen wäre, hat sollen der Kopf ab-geschlagen werden. Unter den hebräischen Prophetenist Esaias in Stücke zerhauen, Jeremias gesteiniget,Ezechias getötet, Daniel den wilden Tieren vorgewor-fen, Amos mit einem Prügel zu Tode geschlagen, Mi-cheas in den Abgrund gestürzet, Zacharias bei deinAltar ermordet, Elias von der Jezabel, welche vielPropheten hat ums Leben bringen lassen, verfolget; jader heilige Patriarche selbsten, Abrabam, ist von denChaldäern in einen Ofen geworfen worden. Also sindauch des Herrn Christi Apostel und andere unzähligeMärtyrer mehr mit vielen Qualen ums Leben kom-men, und dieses alles ist darum und aus keiner andernUrsache geschehen, als dieweil sie von Gott heiligereGedanken geführet haben, als diese Weltweisen.

Siehest du nun, diese sind es, die in ihrer Armutdes Geistes, in ihrer Reinigkeit des Herzens, in ihrerGewissensruhe klein und demütig, auch parat und

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10.213 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 180Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

freudig sind, wegen der Wahrheit ihr Leben zu lassenund ihr Blut zu vergiessen, diese, sage ich, sind es,welchen allein die wahre und göttliche Weisheit istgegeben worden, die uns zu den himmlischen Heer-scharen versetzen wird; wie uns dieses Christus klarlehret, wann er spricht: Beati pauperes Spiritu, quo-niam eorum est regnum Dei. Beati mundo corde, quo-niam ipsi Deum videbunt. Beati pacifici, quoniamfilii Dei vocabuntur. Beati qui persecutionem patiun-tur propter justitiam, quoniam ipsorum est regnumcoelorum. Das ist; Selig sind, die geistlich arm sind,denn das Himmelreich ist ihre; selig sind, die reinenHerzens sind, denn sie werden Gott schauen; seligsind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinderheissen; selig sind, die Verfolgung leiden um der Ge-rechtigkeit willen, denn das Himmelreich ist ihre.

Derowegen ist es ja besser, ein Idiota und ganzNichtswissender zu sein und durch blossen Glaubenund Liebe seinem Gott glauben und vertrauen undihm nahe sein, als durch die stolzen erdachten Subtili-täten der Wissenschaften in der Schlangen Herrschaftzu fallen. Also lesen wir in dem Evangelio, wie Chri-stus von den Einfältigen, von den Elenden und demrauhen Volke ist aufgenommen worden, da er hinge-gen von den Hohenpriestern und Schriftgelehrten, vondenen Rabbinen und Meistern ist verachtet und garverurteilet, ja bis in den Tod verfolget worden; und

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10.214 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 181Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

hat ja auch Christus die Rabbinen, nicht die Schrift-gelehrten und Meister, nicht die Priester zu seinenAposteln erwählet, sondern aus dem rauhen Volke dieEinfältigen und Idioten, die ganz nichts gewusst undnicht studieret haben gehabt, ja die Unwissenden undEsel.

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10.215 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 182Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Kapitel CII.

Ad encomium asini digressiooder

Ein Zusatz vom Lobe des Esels

Damit nicht etwa einer kaluinnieren oder spöttischdarüber sein möchte, dass ich die Apostel Esel ge-nannt, so will ich die Geheimnisse eines Esels, jedochvon unserm Vorsatz nicht ganz abgesondert, einwenig betrachten und an den Tag geben. Denn die he-bräischen Lehrer sagen, dass ein Esel ein rechtes Vor-bild sei einer trefflichen Stärke und Kraft, auch vonsonderbarer Geduld und Langmütigkeit; dessen Artoder Influxus komme her von Sephiroth, in hebräi-scher Sprache chochma, das ist Weisheit heisset;denn der, welcher die Weisheit studieret, muss not-wendig eines Esels Art an sich haben. Denn ein Esellebet mit geringer Kost und ist mit schlechtem Futterzufrieden; er verträget Hunger, Arbeit, Stösse, er wirdverachtet, hat überall einen Anstoss; sein Geist stehetihm nicht hoch, er weiss unterm Salat und unterm Di-steln keinen Unterscheid, ist unschuldig und rein inseinem Herzen, hat keine Galle und fänget mit keinemTier keinen Krieg an; er nimmt seine Last gar willigauf seinen Buckel, und seine Belohnung besteht darin,

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10.216 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 182Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

dass er keine Ungeziefer und Läuse hat, selten krankwird und länger als ein ander Vieh lebet.

Viel notwendige Arbeit, spricht der Columella, ver-richtet der Esel: er egget und pflüget und ziehet einenstarken Wagen fort; jetzt ist es seine ordentliche Ar-beit, dass er den Müllern diene und das Mehl nach derMühle ab- und zubringe; das Feld kann ihn nicht ent-behren; er weiss auch den Hausrat ein und aus derStadt auf seinem Rücken artlich zu tragen. Was auchnur hierüber der Esel für ein nützlich Tier mit Weis-sagen und Prognostizieren sei, das bezeuget Valeriusde C. Mario; der hatte im Süden und Norden gesieget,wurde dann für des ganzen Vaterlandes Feind erklärt,und vom Sylla verfolget; da ist er der Gefahr durchRat und Führung eines Esels entkommen, und hat sol-ches Glück alleine seinem Esel zugeschrieben. So hatja auch Gott selbsten im alten Testament den Esel sogeehret, dass, wie er befohlen hat, alle erste Geburtzum Opfer zu töten, so hat er alleine des Esels unddes Menschen verschonet; nämlich also, dass derMensch durch ein gewisses Pretium wurde losgekau-fet, der Esel aber für ein Schaf ausgetauschet. Dieserist, wie Christus selbst gewollt, ein Zeuge seiner Ge-burt gewesen; auf einem Esel ist er aus den Händendes Herodis gerettet worden, und der Esel selbsten istauch durch das Anrühren des Leibes Christi konse-krieret und mit dem Zeichen des Kreuzes signieret

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10.217 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 183Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

worden. Denn als Christus zu Erlösung des menschli-chen Geschlechtes triumphierend in Jerusalem einge-ritten, da hat ihn, wie es die Evangelisten bezeugen,ein Esel getragen, welches uns mit einem grossen Ge-heimnisse durch den Zachariam zuvor ist gesagetworden. Auch lieset man, dass der Erzvater Abrahamauf einem Esel geritten habe; dahero ist bei dem Volkdas alte Sprichwort gewesen: Asinum portare myste-ria. Der Esel trage die Geheimnisse. So will ich euchnun, ihr trefflichen Meister der Wissenschaften, jaauch ihr kumanische Esel und vornehmste Meister,erinnert haben, dass, wofern ihr nicht mit Sack undPack der menschlichen Wissenschaften die Löwen-haut (ich meine nicht die von dem Löwen des Stam-mes Juda, sondern dessen, der herumgehet als einbrüllender Löwe und suchet, welchen er verschlucke)abziehet und eine Eselshaut an euch nehmet, so wer-det ihr die göttliche Weisheit und Geheimnisse zu tra-gen recht ungeschickt und nichts nütze sein. Der Apu-lejus wäre zu den Geheimnissen der Isidis nicht zuge-lassen worden, wann er nicht zuvor von einem Philo-sopho wäre zu einem Esel verwandelt worden.

Wir lesen von Wundertaten unterschiedener Tiere,nämlich, dass ein Elefant hat griechisch geschriebenund dass derselbe des Aristophanis, eines Gramma-tici, Rivale gewesen und ein Mädchen geliebet habe,wie solches aus dem Plutarcho zu sehen; wie auch,

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10.218 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 184Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

dass ein Drache sich in ein schön Mädchen verliebethabe, und wann sie gerufen, so ist er zu ihr geflogenkommen. Und bei dem Plinio lesen wir, dass eineSchlange ordentlich und täglich zu Tische bei einengekommen, und als sie wahrgenommen, dass ein Kinddes Wirtes von einer ihrer jungen Schlangen getötetwar, hat sie ihrem Wirt zu Gefallen ihr Junges umge-bracht und ist aus Schamhaftigkeit nicht wieder insein Haus kommen. Es wird von einem Leopardenoder Panthertier erzählet, dass dasselbe einem Men-schen zur Danksagung, weil er einstmals seine Jungenaus einer Gruben errettet, in der Wildnis das Lebengeschenkt habe. So ist ja auch Cyrus von einer Hün-din und Romulus und Remus, die Erbauer der StadtRom, von einer Wölfin ernähret worden; was habendie Meerschweine für Wunder getan, und die Löwenwegen empfangener Guttat für Danksagung erstattet?Ich will hier nicht berühren wie der daunische Bärund der tarentinische Ochse von dem Pythagora istzahm gemachet worden, und andere dergleichen Wun-der mehr; was aber alle Wunderwerke übertrifft undworüber man sich recht wundern muss, das ist, dassder Ammonius Alexandrinus, einer der weisesten Phi-losophen zu seiner Zeit, Präzeptor des Origenis undPorphyrii, der hat einen Esel zu seinem Discipul ge-habt. So lesen wir ja auch in den biblischen Historien,das einsmal der Esel einen prophetischen Geist

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10.219 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 184Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

gehabt habe; denn als Baalam, ein Prophet und ver-ständiger Mann, ausgegangen, das israelitische Volkzu verfluchen, so hat er den Engel Gottes nicht gese-hen, aber der Esel hat ihn gesehen und angeredet.Also, sage ich, siehet oftmals ein simpler und einfälti-ger Mensch dasjenige, was einer, der mit vielen Wis-senschaften verderbt und ein grosser Schulen-Lehrersein will, nicht siehet.

Hat nicht Samson mit einem Esels-Kinnbacken diePhilister geschlagen und den Herrn dürstend gebeten,welcher ihm einen Backzahn in des Esels Kinnbackenaufgetan, daraus das Wasser gegangen ist, wodurch erseine Lebensgeister und Kräfte wieder erquicket hat?Hat nicht Christus durch den Mund seiner Esel dereinfältigen Idioten, nämlich seiner Apostel und Disci-pul, alle Weltweisen der Heiden und der JüdenSchriftgelehrten geschlagen und überwunden und allerMenschen Weisheit zunichte gemacht, indem er unsaus dem Kinnbacken dieser seiner Esel das Wasserdes Lebens und der ewigen Weisheit vorgesetzet hat?

So lesen wir auch in den Kirchenhistorien und Ge-schichten der Heiligen, dass Gott den Tieren vielWohltaten habe widerfahren lassen; wir lesen abergleichwohl, dass nicht ein Tier von den Toten ist auf-erwecket worden, als nur allein derjenige Esel, wel-chen Germanus, ein englischer Bischof, wieder zumLeben bracht hat. Durch dieses sonderbare Wunder

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10.220 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 185Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

ist gewiesen worden, dass der Esel nach diesemLeben etwas an der Unsterblichkeit partizipiere. Ausdiesem allen nun, was jetzo ist gesaget worden, erhel-let ja klarer als die Sonne, dass kein Tier der göttli-chen Sachen so fähig sei als der Esel. Und in diesesTier müsset ihr verwandelt werden, wann ihr die gött-lichen Geheimnisse tragen wollt. So ein Name warübrigens den römischen Christen vor Zeiten ihr Pro-prium, dass sie zum Spotte nach den Eseln genennetworden, und Christi heiliges Bild selbsten haben siemit Eselsohren pflegen abzumalen, wie uns dessenTertullianus Zeugnis gibet. Derowegen haben unsereBischöfe und Äbte nicht Ursache, dass sie böse wer-den, oder sich's für eine Schande halten, wann sie beidiesen elefantischen Riesengelehrten Esel genennetwerden, noch muss das christliche Volk sich verwun-dern, wann unter ihren Kirchenvorstehern und Prie-stern die gelehrtesten nur in geringen Ehren gehaltenwerden; denn ogleich die Esel den Nachtigallen kei-nen schönen Gesang fürsingen, und umgekehret nochaus ihrem unannehmlichen Geschrei kein schöner Lo-besgesang gehöret wird, wie man pfleget im Sprich-wort zu reden, so werden gleichwohl aus den Kno-chen der Esel, wann das Mark herausgenommen ist,die besten Flöten gemachet, welche, wann darauf ge-blasen wird den anmutigsten Vogelgesang und denlieblichsten Leyer- und Zitherklang weit übertreffen;

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und also übertreffen auch diese heilige und simpleIdioten mit ihrem Eselgeschrei die waschhaftigstenund klügesten Sophisten.

Wir lesen, dass etliche heidnische Philosophi zudem Antonio ihn zu besuchen und mit ihm zu disku-tieren gekommen sind, welche aber nach einer kurzenRede von ihm sind ihres Irrtums überführet und mitSchimpf und Schande wieder abgefertiget worden.Wir lesen auch, dass ein einfältiger Mensch, und dernichts studieret gehabt, einen klugen und gelehrtenKetzer mit wenig Worten überwunden und zum Glau-ben bekehret hat, welchen die gelehrtesten Leute undBischöfe, so auf dem Concilio Nicaeno sind ver-sammlet gewesen, mit ihren langen und weitläuftigenDisputen nicht haben bezwingen können; nachdem eraber hernachmals von seinen guten Freunden ist ge-fraget worden, warum er denn sich von diesem elen-den Idioten hätte überwinden lassen, da er doch soviel gelehrten Bischöfen genug zu tun und zu schaffengemachet hätte, so hat er geantworet: für Worte hätteer den Bischöfen leicht wieder Worte geben können;diesem Idioten aber, der da nicht mit menschlicherWeisheit, sondern aus dem Geiste geredet hätte, demhätte er unmöglich widerstehen können.

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10.222 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 187Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Dieses Werkes Schlussrede

Höret derohalben ihr Esel, die ihr mit euren kleinenEselchen aus Befehl Christi durch seine Apostel, dieBoten der rechten Weisheit und Verkündiger desEvangelii, die ihr losgezählet seid von der Finsternisdes Fleisches und des Blutes, ihr Esel, wollet ihr dieseheilige und wahre Weisheit des Lebensbaumes anneh-men, und nicht die Weisheit des Baumes vom Gutenund Bösen, wollet ihr alle andere menschliche Wis-senschaften preisgeben, sie mögen sein, wie sie wol-len, sie mögen bestehen in gewisser Reden Schluss-sätzen oder in der Ursachen Grübeleien oder in an-dern Meditationen und Erfindungen? Ihr seid jetzonicht in der philosophischen Schule und unter denWeltweisen, ihr seid in euch selbsten, darum wissetihr alles; euch ist alles anvertrauet, euch ist gegebendie Erkenntnis aller Dinge; dieses müssen alle Acade-mici bekennen, und bezeuget es auch die HeiligeSchrift, denn Gott hat alles wohl geschaffen, im be-sten und höchsten Grad, darinnen es bestehen kann.Denn gleichwie er die Bäume voller Früchte, also hater auch die Seelen als vernünftige Bäume voller For-men und Erkenntnisse geschaffen; aber durch dieSünde unserer ersten Eltern ist alles wieder verdunkeltworden, und ist die Vergessenheit, die Mutter der

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10.223 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 188Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

Unwissenheit, eingeschlichen. Derowegen tut nunweg die Decke eueres Verstandes, die ihr mit der Fin-sternis der Unwissenheit eingewickelt seid; speiet ausden tödlichen Trank, welcher euch mit einer Verges-senheit trunken gemachet hat; wachet auf zum wahrenLicht, die ihr durch einen unvernünftigen Schlaf ganzeingelullt worden seid, und gehet nun mit erhobenemGesichte von Klarheit zu Klarheit. Denn wie Johan-nes spricht: Uncti estis a spiritu sancto et nostisomnia. Das ist: Ihr seid gesalbte von dem HeiligenGeist und wisset alles. Und wiederum: Non necessehabetis, ut aliquis vos doceat, quia uncetio ejus docetvos de omnibus; ipse enim solus est qui dat os et sa-pientiam. Das ist: Ihr habt nicht vonnöten, dass euchjemand lehre, weil euch des Geistes Salbung vonallem lehret, denn dieser ist allein, welcher den Mundund die Weisheit gibet.

David, Esaia, Ezechiel, Jeremias, Daniel, Johannesder Täufer und andere Propheten und Apostel mehr,die haben nicht studieret, sondern sind aus Bauern,Schäfern und Idioten die Gelehrtesten unter allen wor-den; König Salomo ist in dem Traume einer Nachtaller Weisheit, aller obern und untern Dinge voll wor-den und voll der Erkenntnis des Weltlaufes, und hatalso regieret, dass seinesgleichen nicht gewesen ist;und alle diese Menschen sind sterblich gewesen, wieihr auch seid, ja auch grosse Sünder. Ihr möchtet aber

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10.224 Agrippa-Eitelk. Bd. 2, 189Agrippa von Nettesheim: Ungewißheit ...

vielleicht sagen: Nur wenigen ist dieses widerfahren.Und:

Pauci quos aequus amavitJupiter aut anders evexit ad aethera virtusDiis geniti potuere.

Das ist: Sehr wenige, an welchen der grosse Gottein sonderliches Gefallen durch ihre sonderliche Tu-gend, haben es den Göttern mögen nachtun. Aber ver-zaget nicht, sondern habet guten Mut, denn GottesHand ist nicht verkürzet allen die ihn anrufen und ihnin aller Treue fürchten und gehorsam sind.

Antonius und sein christlicher Knecht Barbarus,die haben durch ein dreitägiges Gebet alle himmli-schen Wissenschaften vollkömmlich erlanget, wieAugustinus dieses bezeuget. Ihr aber, die ihr nichtkönnet gleich den Aposteln und Propheten und andernheiligen Männern mit einem hellleuchtenden Ver-stande solches selber anschauen, nehmet den Verstandvon denjenigen, welche es mit einem wahrhaftigenGesichte angeschauet haben. Diesen Weg muss mansuchen, dieser ist noch überlei, spricht Hieronymus adRufinum, also dass, was der Geist den Propheten undAposteln eingegeben, das müsset ihr mit Fleiss lesenin den Buchstaben, in den Buchstaben, sage ich, wel-che durch heilige Oracula gegeben und von der

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Kirchen mit gleichförmiger Einstimmigkeit sind auf-genommen worden, nicht aber in den Buchstaben,welche Menschenwitz ausgedacht hat; denn diesekönnen mir den Verstand nicht erleuchten, aber wohldunkel machen.

Darum wendet euch zu Mosen, zu den Propheten,zu Salomon, zu den Evangelisten und zu den Apo-steln, welche mit jeglicher Lehre, Weisheit, Sitten,Sprache, Weissagungen, Oraculn, Wundern und Hei-ligkeit durch und durch geglänzet und von den göttli-chen hohen Sachen als von Gott selbsten belehret,von den irdischen Dingen aber übermenschlich gere-det haben und Gottes und der Natur Heimlichkeitenuns mit einem klaren Licht gewiesen.

Denn alle göttlichen und natürlichen Heimlichkei-ten, alle Sitten- und Vernunftgesetze, alle Wissen-schaft vergangener, gegenwärtiger und künftigerDinge, die werden uns in der heiligen Bibel Sprüchengezeiget. Derowegen warum wollet ihr euch dann rui-nieren und ins Verderben stürzen, da ihr die Wissen-schaft suchet bei denjenigen, die selber mit Nachgrü-beln die ganze Zeit ihres Lebens zugebracht, und Zeit,Mühe und Arbeit verloren und keiner Sache Grundund Wahrheit nicht gefunden haben?

O ihr Narren und gottlosen Leute, die ihr dieGaben des Heiligen Geistes verachtet und arbeitet,dass ihr von den treulosen Philosophis und Meistern

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der Irrtümer das lernen wollet, was ihr von Christound dem Heiligen Geiste lernen solltet. Meinet ihrnärrischen Leute denn, dass ihr aus des Socratis Un-wissenheit die rechte Wissenschaft schöpfen könnet?Aus des Anaxagorae Finsternis das Licht? Aus desDemocriti Brunnen eine Tugend? Aus des EmpedoclisUnsinnigkeit einen Verstand? Aus des Diogenis Fasseeine Gottesfurcht? Aus des Carneadis und ArchesilaiDummheit einen Witz? Aus dem gottlosen Aristoteleund ungläubigen Averroë eine Weisheit? Aus der Pla-tonischen Superstition einen Glauben? Ach ihr gutenLeute, wie irret ihr und werdet betrogen von betroge-nen Betrügern.

Aber ich bitte euch, kommt doch zu euch selbsten,die ihr die Wahrheit liebet! Gehet doch weg von demschädlichen und garstigen Nebel der Menschensatzun-gen und kommet doch zu dem wahren Lichte undhöret doch eine Stimme vom Himmel, eine Stimme,die uns von oben her lehret und klärer als die Sonneweiset, dass ihr unrecht seid! Was verziehet ihr doch,die wahre Weisheit anzunehmen? Höret doch dasOraculum Baruch, da er spricht: Deus est et non exi-stimabitur alius ad illum. Hic adinvenit omnem viamdisciplinae, et tradidit eam Jacob puero suo, et Israëlidilecto suo, dans legem et praecepta, atque ordinansSacrificia. Das ist: Dieser ist unser Gott und keiner istihm zu vergleichen. Der hat allen Weg der Weisheit

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funden, und hat sie gegeben Jacob, seinem Diener undIsrael seinem Geliebten. Darnach ist er erschienen aufErden und hat bei den Leuten gewohnet. Er ist aufErden gesehen worden und hat öffentlich gelehret,was in dem Gesetze und bei den Propheten rätsels-weise ist gelehret worden.

Und damit ihr nicht denket, dass solches nur göttli-che Sachen angehe, sondern dass es auch auf natürli-che zu deuten sei, so höret doch was der weise Predi-ger Salomon von sich selber schreibet, wann erspricht: Ipse mihi dedit eorum, quae sunt, scientiamveram ut sciam dispositiones orbis terrarum, et virtu-tes elementorum, initium, consumationem, medieta-tem et vicissitudines temporum, anni cursus, stel-larum dispositiones, naturas animalium, iram besti-arum, vim ventorum, cogitationes hominum, differen-tias virgultorum, virtutes radicum et quaceunque suntabscondita et improvisa didici. Omnium enim artifexdocuit me sapientiam. Das ist: Er selbst hat mir gege-ben gewisse Erkenntnis aller Dinge, dass ich weiss,wie der Erdkreis gemachet ist und die Kraft der Ele-mente, der Zeit Anfang, Ende, Mittel und Wandel,wie der Tag zu- und abnimmet, wie das Jahr herum-lauft, wie die Sterne stehen, die Art der zahmen undwilden Tiere, wie der Wind so stürmet, und was dieLeute im Sinn haben, mancherlei Art der Sträucherund Kraft der Wurzeln, ich weiss alles, was heimlich

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und verborgen ist, denn er, der aller Natur Werkmei-ster ist, lehrete mich's.

Denn die göttliche Wissenschaft ist unendlich; esgehet ihr nichts ab, sie begreifet alles in sich. Wissetderowegen, dass nicht durch langen Fleiss, sonderndurch des Geistes Demut und Gebet und Reinigkeitdes Herzens, nicht durch einen kostbaren Vorrat vie-ler Bücher, sondern durch einen reinen Verstand undSchlüssel der Wahrheit die Wissenschaft muss erlan-get werden; denn die Menge der Bücher beschweretden Leser und machet ihn nichts klüger, und wer vie-len Autoribus folget, der irret mit vielen.

In dem einen Bibelbuche ist alles enthalten undwird uns darinnen alles gelehret, jedoch dergestalt,dass es nur von den Erleuchteten kann verstandenwerden; den andern sind es Parabeln und Rätsel undmit vielen Siegeln verschlossen. Derowegen betet zuGott, eurem Herrn, in wahrem Glauben und zweifeltnicht, es werde das Lamm aus dem Stamm Juda kom-men, und euch das versiegelte Buch der Erkenntnisauftun; dieses ist das heilige und wahre Lamm, wel-ches alleine die Schlüssel der Wissenschaft und derUnterscheidung hat. Er, welcher das Lamm ist, tut aufund niemand schleusset zu; er schliesset zu und nie-mand kann auftun. Das Lamm ist Jesus Christus, dasWort, der Sohn Gottes des Vaters und die gottschaf-fende Weisheit, ein wahrer Lehrer, der Mensch

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worden, wie wir sind, dass er uns zu Kindern Gottesmache, wie er selbsten ist, gesegnet von nun an bis inEwigkeit. Aber, damit ich euch, wie mau saget, nichtüber den Seiger aufhalte, so will ich meiner Rede hie-mit machen ein Ende.

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Fußnoten

1 In der alten deutschen und auch in der alten franzö-sischen Übersetzung fehlt hier: »Blicken wir auf unse-re Zeit. Die deutschen Ketzereien, von dem einen Lu-ther begonnen, sind heute so zahlreich, dass fast jedeStadt ihre eigene Ketzerei hat; und die Führer und Ur-heber waren noch vor wenigen Jahren um ihrer Bered-samkeit und ihrer Federgewandtheit willen so be-rühmt, dass man ihrem Ruhme nichts hinzufügenkonnte; jetzt sind sie Häupter und Fürsten der Ket-zer.«

2 »So fingen wir an, stumme Bilder unserer Heiligenin unsere Kirchen zu tragen, sie mit grossen Ehren aufdie Altäre zu stellen, und wo der Mensch, das Eben-bild Gottes, nicht stehen darf, dorthin stellen wir leb-lose Bilder, verbeugen uns vor ihnen, küssen sie, zün-den ihnen Kerzen an, hängen ihnen Weihgeschenkeauf, schreiben ihnen Wunder zu, kaufen von ihnenAblässe, machen ihnen Wallfahrten und Gelübde,verehren sie, beten sie an.« Diese Stelle ist in deralten Übersetzung fortgelassen.

3 »Wir müssen aber auch erkennen, dass die Heiligenfromme Beter überall erhören können; und wenn das

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auch leichter ist an den Orten, wo irgend ein Pfandvon ihnen vorhanden ist, so besteht doch eine grosseUnsicherheit, weil man an verschiedenen Orten diePfänder oder Reliquien derselben Heiligen zu besitzenglaubt; und so muss das Vertrauen da oder dort tö-richt sein.« Auch diese Zeilen fehlen in der altenÜbersetzung.

4 Hier ist in der alten Übersetzung die folgendefurchtbare Anklage fortgelassen:Doch genug davon; es ist unvorsichtig, sie auf so freieArt anzugreifen. Denn sie pflegen sich im Zorn zuverschwören und ihre Angreifer vor das Inquisitions-gericht zu schleppen, wo sie zum Widerruf gewungenoder gar dem Scheiterhaufen überliefert werden; oderdie Angreifer werden auch durch Gift aus der Weltgeschafft, denn es gehört ja auch zu diesem geheimenGlaubensbekenntnis, dass es ein erlaubtes und from-mes Werk sei, Leute, die in der Religion ein Ärgernisgeben, heimlich zu vergiften, damit die Ordnung nichtdurch eine öffentliche Anklage gestört werde.

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