139
Albert Camus Der Fremde Deutsch von Uli Aumüller Roman Rowohlt

Albert Camus - Der Fremde

Embed Size (px)

DESCRIPTION

"Der Fremde" von Albert Camus(L' Etranger auf deutsch)

Citation preview

Page 1: Albert Camus - Der Fremde

Albert Camus

Der Fremde

Deutsch von Uli Aumüller

Roman

Rowohlt

Page 2: Albert Camus - Der Fremde

Der Übersetzung liegt die 1962in der <Bibliothèque de la Pléiade>erschienene Fassung zugrundeUmschlag- und EinbandgestaltungWalter Hellmann

1. Auflage der Neuübersetzung September 1994Copyright © 1994 by Rowohlt Verlag GmbH,Reinbek bei Hamburg«L'Éstranger»Copyright © 1942,1953,1962 by ÉditionsGallimard, ParisAlle deutschen Rechte vorbehaltenGesetzt aus der Garamond (Linotronic 500)Gesamtherstellung Clausen & Bosse, LeckPrinted in GermanyISBN 3 498 00903 6

Page 3: Albert Camus - Der Fremde

I.

Page 4: Albert Camus - Der Fremde

5

I

Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ichweiß nicht. Ich habe ein Telegramm vom Heim bekom-men: «Mutter verstorben. Beisetzung morgen. Hoch-achtungsvoll.» Das will nichts heißen. Es war vielleichtgestern.

Das Altersheim ist in Marengo, achtzig Kilometervon Algier entfernt. Ich werde den Bus um zwei neh-men und nachmittags ankommen. Auf die Weise kannich Totenwache halten und bin morgen abend wiederzurück. Ich habe meinen Chef um zwei Tage Urlaubgebeten, und bei so einem Entschuldigungsgrundkonnte er sie mir nicht abschlagen. Aber er sah nichterfreut aus. Ich habe sogar gesagt: «Es ist nicht meineSchuld.» Er hat nicht geantwortet. Da habe ich gedacht,daß ich das nicht hätte sagen sollen. Ich brauchte michja nicht zu entschuldigen. Vielmehr hätte er mir seinBeileid aussprechen müssen. Aber das wird er wahr-scheinlich übermorgen tun, wenn er mich in Trauersieht. Vorläufig ist es ein bißchen so, als wäre Mama garnicht tot. Nach der Beerdigung allerdings wird es eineabgeschlossene Sache sein, und alles wird einen offiziel-leren Anstrich bekommen haben.

Ich habe den Bus um zwei genommen. Es war sehr

Page 5: Albert Camus - Der Fremde

6

heiß. Ich habe im Restaurant von Céleste gegessen, wiegewöhnlich. Sie hatten alle viel Mitgefühl mit mir, undCéleste hat gesagt: «Man hat nur eine Mutter.» Als ichgegangen bin, haben sie mich zur Tür begleitet. Ich waretwas abgelenkt, weil ich noch zu Emmanuel hinaufmußte, um mir einen schwarzen Schlips und eineTrauerbinde von ihm zu borgen. Er hat vor ein paarMonaten seinen Onkel verloren.

Ich bin gelaufen, um den Bus nicht zu verpassen.Diese Hetze, dieses Laufen - wahrscheinlich war es alldas, zusammen mit dem Gerüttel, dem Benzingeruch,der Spiegelung der Straße und des Himmels, weswegenich eingenickt bin. Ich habe fast während der ganzenFahrt geschlafen. Und als ich aufgewacht bin, war ichgegen einen Soldaten gerutscht, der mich angelächelthat und gefragt hat, ob ich von weit her käme. Ich habe«Ja» gesagt, um nicht weiterreden zu müssen.

Das Heim ist zwei Kilometer vom Dorf entfernt. Ichbin zu Fuß hingegangen. Ich wollte sofort zu Mama.Aber der Pförtner hat gesagt, ich müßte erst den Heim-leiter sprechen. Da der beschäftigt war, habe ich ein we-nig gewartet. Während dieser ganzen Zeit hat derPförtner geredet, und dann habe ich den Heimleiter zuGesicht bekommen: er hat mich in seinem Büro emp-fangen. Es war ein kleiner Alter, mit einem Orden derEhrenlegion. Er hat mich mit seinen hellen Augen an-gesehen. Dann hat er mir die Hand gedrückt und sie solange festgehalten, daß ich nicht recht wußte, wie ich siezurückziehen sollte. Er hat in einer Akte nachgelesen

Page 6: Albert Camus - Der Fremde

7

und hat gesagt: «Madame Meursault ist vor drei Jahrenhierhergekommen. Sie waren ihr einziger Beistand.»Ich habe geglaubt, er wollte mir etwas vorwerfen, undhabe angefangen, es ihm zu erklären. Aber er hat michunterbrochen: «Sie brauchen sich nicht zu rechtferti-gen, mein liebes Kind. Ich habe die Akte Ihrer Muttergelesen. Sie konnten sie nicht versorgen. Sie brauchtePflege. Ihre Einkünfte sind bescheiden. Und alles inallem war sie hier glücklicher.» Ich habe gesagt: «Ja,Monsieur le Directeur.» Er hat hinzugefügt: «WissenSie, sie hatte Freunde, Leute in ihrem Alter. Sie hattengemeinsame Interessen, die aus einer anderen Zeitstammen. Sie sind jung, und mit Ihnen mußte sie sich jalangweilen.»

Das stimmte. Als Mama noch zu Hause war, ver-brachte sie ihre Zeit damit, mir schweigend mit demBlick zu folgen. In den ersten Tagen im Heim weinte sieoft. Aber das war wegen der Umstellung. Nach ein paarMonaten hätte sie geweint, wenn man sie wieder ausdem Heim herausgeholt hätte. Wieder wegen der Um-stellung. Das war ein wenig der Grund, weshalb ich imvergangenen Jahr fast nicht mehr hingefahren bin. Undauch, weil es mich um meinen Sonntag brachte - ganzabgesehen von der Mühe, zum Bus zu gehen, Fahrkar-ten zu lösen und zwei Stunden zu fahren.

Der Heimleiter hat noch weitergeredet. Aber ichhörte ihm kaum noch zu. Dann hat er gesagt: «Ichnehme an, Sie wollen Ihre Mutter sehen.» Ich bin auf-gestanden, ohne etwas zu sagen, und er ist mir zur Tür

Page 7: Albert Camus - Der Fremde

8

vorausgegangen. Auf der Treppe hat er mir erklärt:«Wir haben sie in unsere kleine Leichenhalle gebracht.Um die anderen nicht aufzuregen. Jedesmal, wenn einHeimbewohner stirbt, sind die anderen zwei oder dreiTage nervös. Und das erschwert die Arbeit.» Wir sindüber einen Hof gegangen, auf dem viele alte Leute wa-ren, die in kleinen Gruppen miteinander plauderten.Sie verstummten, als wir vorbeigingen. Und hinter unssetzten die Unterhaltungen wieder ein. Wie das ge-dämpfte Schnattern von Sittichen. An der Tür eineskleinen Gebäudes hat der Leiter sich verabschiedet.«Ich gehe jetzt, Monsieur Meursault. Ich stehe Ihnenin meinem Büro zur Verfügung. Im Prinzip ist die Be-erdigung für zehn Uhr morgens angesetzt. Wir habengedacht, daß Sie so Totenwache bei der Verstorbenenhalten können. Noch eins: Ihre Mutter hat, wie esscheint, ihren Mitbewohnern gegenüber oft denWunsch geäußert, kirchlich beerdigt zu werden. Ichhabe es übernommen, das Nötige zu veranlassen.Aber ich wollte Sie davon in Kenntnis setzen.» Ichhabe ihm gedankt. Mama hatte, ohne daß sie Atheistinwar, zu ihren Lebzeiten nie an die Kirche gedacht.

Ich bin hineingegangen. Es war ein sehr heller Raum,weiß gekalkt und mit einem Glasdach. Er war mit Stüh-len und x-förmigen Gestellen ausstaffiert. Zwei davon,in der Mitte, trugen einen Sarg, auf dem der Deckel lag.Man sah nur glänzende, kaum angezogene Schraubensich von den nußbraun gebeizten Brettern abheben.Neben dem Sarg saß eine arabische Krankenpflegerin

Page 8: Albert Camus - Der Fremde

9

im weißen Kittel und mit einem grellen Tuch um denKopf.

In dem Moment ist der Pförtner hinter meinem Rük-ken hereingekommen. Er war wohl gelaufen. Er hat einbißchen herumgestottert: «Man hat sie zugemacht,aber ich muß den Sarg nur aufschrauben, damit Sie siesehen können.» Er näherte sich schon dem Sarg, als ichihn zurückgehalten habe. Er hat gesagt: «Wollen Sienicht?» Ich habe «Nein» geantwortet. Er hat innege-halten, und ich war verlegen, weil ich merkte, daß ichdas nicht hätte sagen sollen. Nach einer Weile hat ermich angesehen und hat gefragt: «Warum nicht?», aberohne Vorwurf, so als wollte er sich informieren. Ichhabe gesagt: «Ich weiß nicht.» Da hat er seinen weißenSchnurrbart gezwirbelt und hat, ohne mich anzusehen,erklärt: «Ich verstehe.» Er hatte schöne Augen, hell-blau, und eine etwas rote Gesichtsfarbe. Er hat mireinen Stuhl gegeben und hat sich selbst etwas hinter mirhingesetzt. Die Pflegerin ist aufgestanden und zumAusgang gegangen. Im gleichen Moment hat der Pfört-ner zu mir gesagt: «Das ist ein Schanker, was sie dahat.» Weil ich nicht verstand, habe ich die Kranken-schwester angeschaut und habe gesehen, daß sie unterden Augen eine Binde trug, die um den ganzen Kopfging. In Höhe der Nase war die Binde platt. Man sahnur das Weiß der Binde in ihrem Gesicht.

Als sie weg war, hat der Pförtner gesagt: «Ich lasseSie jetzt allein.» Ich weiß nicht, was für eine Geste ichgemacht habe, aber er ist hinter mir stehengeblieben.

Page 9: Albert Camus - Der Fremde

10

Diese Anwesenheit hinter meinem Rücken störte mich.Der Raum war von einem schönen Spätnachmittags-licht erfüllt. Zwei Hornissen brummten gegen dasGlasdach. Und ich fühlte, wie mich Müdigkeit über-kam. Ich habe, ohne mich umzudrehen, zum Pförtnergesagt: «Sind Sie schon lange hier?» Prompt hat er ge-antwortet: «Fünf Jahre», als hätte er schon immer aufmeine Frage gewartet.

Danach hat er viel geschwatzt. Er hätte schön ge-staunt, wenn man ihm gesagt hätte, daß er als Pförtnerim Heim von Marengo enden würde. Er wäre vierund-sechzig Jahre alt und käme aus Paris. Da habe ich ihnunterbrochen: «Ach, Sie sind nicht von hier?» Dann istmir eingefallen, daß er von Mama geredet hatte, bevorer mich zum Heimleiter brachte. Er hatte gesagt, siemüßte sehr schnell beerdigt werden, weil es im Flach-land heiß wäre, besonders in dieser Gegend. In demZusammenhang hatte er mir mitgeteilt, daß er in Parisgelebt hätte und es ihm schwerfiele, es zu vergessen. InParis bliebe man drei, manchmal vier Tage mit dem To-ten zusammen. Hier hätte man nicht die Zeit dazu, manhätte sich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, undschon müßte man hinter dem Leichenwagen herlaufen.Da hatte seine Frau zu ihm gesagt: «Sei still, solche Sa-chen darfst du dem Herrn nicht erzählen.» Der Altewar rot geworden und hatte sich entschuldigt. Ich hattemich eingemischt und gesagt: «Ach wo. Ach wo.» Ichfand das, was er erzählte, richtig und interessant.

In der kleinen Leichenhalle hat er mir erzählt, daß er

Page 10: Albert Camus - Der Fremde

11

als Mittelloser in das Heim gekommen wäre. Da er sichkräftig fühlte, hätte er sich um diese Stelle als Pförtnerbeworben. Ich habe ihn darauf hingewiesen, daß er ge-naugenommen ein Heimbewohner wäre. Er hat es ver-neint. Mir war schon seine Art aufgefallen, «sie», «dieanderen» und, seltener, «die Alten» zu sagen, wenn ervon den Heimbewohnern sprach, von denen manchenicht älter waren als er. Aber das war natürlich etwasanderes. Er war Pförtner und war ihnen bis zu einemgewissen Grad übergeordnet.

In dem Moment ist die Pflegerin eingetreten. DerAbend war jäh hereingebrochen. Sehr schnell war dieDunkelheit über dem Glasdach undurchdringlich ge-worden. Der Pförtner hat den Schalter gedreht, und ichwar vom plötzlichen Aufspritzen des Lichts geblendet.Er hat mich eingeladen, zum Abendessen in den Speise-saal zu gehen. Aber ich hatte keinen Hunger. Er hatdaraufhin angeboten, mir eine Tasse Milchkaffee zubringen. Da ich Milchkaffee sehr gern mag, habe ichangenommen, und er ist nach einer Weile mit einemTablett zurückgekommen. Ich habe getrunken. Dannhabe ich Lust bekommen zu rauchen. Aber ich habegezögert, weil ich nicht wußte, ob ich es vor Mama tunkönnte. Ich habe nachgedacht, das machte gar nichts.Ich habe dem Pförtner eine Zigarette angeboten, undwir haben geraucht.

Irgendwann hat er gesagt: «Übrigens, die FreundeIhrer Frau Mutter kommen auch gleich zur Totenwa-che. Das ist so üblich. Ich muß Stühle und schwarzen

Page 11: Albert Camus - Der Fremde

12

Kaffee holen.» Ich habe ihn gefragt, ob man eine derLampen ausmachen könnte. Das Gleißen des Lichts aufden weißen Wänden ermüdete mich. Er hat gesagt, dasginge nicht. Die Anlage wäre nun einmal so: entwederalles oder nichts. Ich habe ihn nicht mehr besondersbeachtet. Er ist hinausgegangen, ist wiedergekommen,hat Stühle aufgestellt. Auf einen hat er Tassen rings umeine Kaffeekanne gestapelt. Dann hat er sich mir gegen-übergesetzt, auf die andere Seite von Mama. Die Pflege-rin saß auch hinten, mit dem Rücken zu mir. Ich konntenicht sehen, was sie machte. Aber der Bewegung ihrerArme nach konnte ich vermuten, daß sie strickte. Eswar mild, der Kaffee hatte mich aufgewärmt, und durchdie offene Tür drang ein Duft von Nacht und von Blu-men. Ich glaube, ich habe ein bißchen gedöst.

Ein Rascheln hat mich geweckt. Weil ich die Augengeschlossen hatte, ist mir das Weiß des Raums nochgreller erschienen. Vor mir war nicht ein Schatten, undjeder Gegenstand, jede Kante, alle Krümmungen zeich-neten sich mit einer Klarheit ab, die den Augen weh tat.In diesem Moment sind Mamas Freunde hereingekom-men. Es waren insgesamt etwa zehn, und sie huschtenlautlos in dieses blendende Licht. Sie haben sich ge-setzt, ohne daß ein einziger Stuhl knarrte. Ich sah sie,wie ich nie jemanden gesehen habe, und keine Einzel-heit in ihren Gesichtern oder an ihrer Kleidung entgingmir. Dabei hörte ich sie nicht und hatte Mühe, an ihreRealität zu glauben. Fast alle Frauen trugen eineSchürze, und das Band, das ihre Taille schnürte, ließ

Page 12: Albert Camus - Der Fremde

13

ihren gewölbten Bauch noch mehr hervortreten. Ichhatte noch nie bemerkt, was für einen Bauch alteFrauen haben können. Die Männer waren fast alle sehrdünn und hielten Spazierstöcke in der Hand. Was miran ihren Gesichtern auffiel, war, daß ich ihre Augennicht sah, sondern nur einen glanzlosen Schimmer mit-ten in einem Faltennest. Als sie sich setzten, haben diemeisten mich angesehen und verlegen mit dem Kopfgenickt, die Lippen ganz von ihrem zahnlosen Mundverschluckt, ohne daß ich erkennen konnte, ob sie michgrüßten oder ob es sich um einen Tic handelte. Ichglaube eher, sie grüßten mich. In dem Moment habe ichbemerkt, daß sie mir alle gegenübersaßen, um denPförtner herum, und mit dem Kopf wackelten. Ichhabe einen Moment lang den lächerlichen Eindruck ge-habt, sie wären da, um über mich zu richten.

Kurz darauf hat eine der Frauen angefangen zu wei-nen. Sie saß in der zweiten Reihe, von einer ihrer Mit-bewohnerinnen verdeckt, und ich konnte sie schlechtsehen. Sie weinte stetig, in kurzen Schluchzern: mirschien, sie würde nie aufhören. Die anderen sahen aus,als hörten sie sie nicht. Sie saßen zusammengesackt,trübsinnig und schweigend da. Sie sahen den Sarg anoder ihren Stock oder irgend etwas, aber sie sahen nurdas an. Die Frau weinte immer noch. Ich war sehr ver-wundert, weil ich sie nicht kannte. Ich hätte gewünscht,sie nicht mehr zu hören. Ich wagte jedoch nicht, es ihrzu sagen. Der Pförtner hat sich zu ihr hingebeugt, hatmit ihr gesprochen, aber sie hat den Kopf geschüttelt,

Page 13: Albert Camus - Der Fremde

14

hat etwas gestammelt und mit derselben Stetigkeit wei-tergeweint. Der Pförtner ist dann auf meine Seite her-übergekommen. Er hat sich neben mich gesetzt. Nacheiner ganzen Weile hat er mir, ohne mich anzusehen,erklärt: «Sie war sehr eng mit Ihrer Frau Mutter be-freundet. Sie sagt, es wäre ihre einzige Freundin hiergewesen und jetzt hätte sie niemand mehr.»

Wir sind eine ganze Weile so sitzen geblieben. DieSeufzer und Schluchzer der Frau wurden seltener. Sieschniefte viel. Sie ist endlich still geworden. Ich warnicht mehr müde, aber erschöpft, und das Kreuz tat mirweh. Jetzt war es das Schweigen all dieser Leute, dasmich quälte. Nur hin und wieder hörte ich ein eigen-tümliches Geräusch und konnte nicht herausfinden,was es war. Mit der Zeit habe ich dann erraten, daßeinige der alten Leute die Innenseite ihrer Wangen ein-sogen und dieses sonderbare Schnalzen von sich gaben.Sie waren so sehr in Gedanken versunken, daß sie esnicht merkten. Ich hatte sogar den Eindruck, daß diesein ihrer Mitte aufgebahrte Tote ihnen nichts bedeutete.Aber ich glaube jetzt, daß das ein falscher Eindruckwar.

Wir haben alle den vom Pförtner ausgeschenktenKaffee getrunken. Was dann war, weiß ich nicht mehr.Die Nacht verging. Ich erinnere mich, daß ich irgend-wann die Augen aufgemacht habe und gesehen habe,daß die alten Leute in sich zusammengesunken schlie-fen, bis auf einen, der mich, das Kinn auf dem Rückenseiner den Stock umklammernden Hände, starr ansah,

Page 14: Albert Camus - Der Fremde

15

als wartete er nur auf mein Erwachen. Dann habe ichwieder geschlafen. Ich bin aufgewacht, weil meinKreuz immer mehr schmerzte. Über dem Glasdachwurde es hell. Kurz darauf ist einer der alten Männeraufgewacht und hat viel gehustet. Er spuckte in ein gro-ßes kariertes Taschentuch, und jedesmal war es, alswenn er den Auswurf aus sich herausrisse. Er hat dieanderen geweckt, und der Pförtner hat gesagt, sie müß-ten gehen. Sie sind aufgestanden. Von dieser unbeque-men Totenwache hatten sie Aschegesichter. Beim Hin-ausgehen, und zu meinem großen Erstaunen, habenmir alle die Hand gedrückt - als hätte diese Nacht, inder wir kein Wort gewechselt hatten, unsere Verbun-denheit vergrößert.

Ich war erschöpft. Der Pförtner hat mich mit inseine Wohnung genommen, und ich habe mich ein biß-chen frisch machen können. Ich habe noch einenMilchkaffee getrunken, der sehr gut war. Als ich hin-ausgegangen bin, war es heller Tag. Über den Hügeln,die Marengo vom Meer trennen, war der Himmel vol-ler Rottöne. Und der Wind, der darüberstrich, trugeinen Salzgeruch hierher. Ein schöner Tag stand bevor.Es war lange her, daß ich auf dem Land gewesen war,und ich fühlte, welchen Spaß es mir gemacht hätte, spa-zierenzugehen, wenn da nicht Mama gewesen wäre.

Aber ich habe im Hof unter einer Platane gewartet.Ich atmete den Geruch der kühlen Erde ein und warnicht mehr müde. Ich habe an die Kollegen im Bürogedacht. Um diese Zeit standen sie auf, um zur Arbeit

Page 15: Albert Camus - Der Fremde

16

zu gehen: für mich war das immer der schwierigsteAugenblick. Ich habe noch ein wenig über diese Dingenachgedacht, aber ich bin von einer Glocke abgelenktworden, die im Innern der Gebäude läutete. Es hat einHin und Her hinter den Fenstern gegeben, dann ist al-les wieder ruhig geworden. Die Sonne war am Himmeletwas höher gestiegen: sie begann meine Füße zu wär-men. Der Pförtner ist über den Hof gekommen und hatmir gesagt, der Heimleiter wollte mich sprechen. Ichbin in sein Büro gegangen. Er hat mich eine ReiheSchriftstücke unterschreiben lassen. Ich habe gesehen,daß er schwarz gekleidet war, mit einer gestreiftenHose. Er hat den Telefonhörer in die Hand genommenund hat mich dabei angesprochen: «Die Angestelltendes Bestattungsinstituts sind eben gekommen. Ichwerde sie herbitten, damit sie den Sarg schließen. Wol-len Sie Ihre Mutter vorher ein letztes Mal sehen?» Ichhabe nein gesagt. Er hat mit leiserer Stimme ins Telefonbefohlen: «Figeac, sagen Sie den Männern, sie könnenhingehen.»

Danach hat er mir gesagt, daß er an der Beerdigungteilnehmen würde, und ich habe ihm gedankt. Er hatsich hinter seinen Schreibtisch gesetzt, hat seine kurzenBeine übereinandergeschlagen. Er hat mich davon un-terrichtet, daß ich und er allein sein würden, mit derdiensthabenden Krankenpflegerin. Im Prinzip dürftendie Heimbewohner nicht an den Beerdigungen teilneh-men. Er ließe sie nur die Totenwache halten. «Es isteine Frage der Menschlichkeit», hat er angemerkt.

Page 16: Albert Camus - Der Fremde

17

Aber im vorliegenden Fall hätte er einem alten Freundvon Mama die Erlaubnis erteilt, im Trauerzug mitzuge-hen: «Thomas Pérez.» Hier hat der Heimleiter gelä-chelt. Er hat gesagt: «Sie müssen wissen, es ist ein etwaskindisches Gefühl. Aber er und Ihre Mutter waren fastunzertrennlich. Im Heim hat man sie geneckt, mansagte zu Pérez: <Das ist Ihre Braut.> Er lachte. Dasmachte ihnen Spaß. Und tatsächlich ist ihm MadameMeursaults Tod sehr nahegegangen. Ich dachte, ichdürfte ihm die Erlaubnis nicht verwehren. Aber aufAnraten des Hausarztes habe ich ihm die gestrige To-tenwache verboten.»

Wir haben ziemlich lange geschwiegen. Der Heim-leiter ist aufgestanden und hat aus dem Bürofenster ge-sehen. Irgendwann hat er festgestellt: «Da ist schon derPfarrer von Marengo. Er ist zu früh da.» Er hat michdarauf hingewiesen, daß man zu Fuß mindestens eineDreiviertelstunde bis zur Kirche brauchte, die im Dorfselbst wäre. Wir sind hinuntergegangen. Vor dem Ge-bäude waren der Pfarrer und zwei Chorknaben. Dereine hielt ein Weihrauchfaß, und der Pfarrer bücktesich zu ihm hinunter, um die Länge der silbernen Kettezu regulieren. Als wir gekommen sind, hat der Priestersich wieder aufgerichtet. Er hat mich «mein Sohn» ge-nannt und mir ein paar Worte gesagt. Er ist hineinge-gangen; ich bin ihm gefolgt.

Ich habe sofort gesehen, daß die Schrauben am Sargfestgezogen waren und daß vier schwarze Männer indem Raum waren. Ich habe den Heimleiter zu mir sä-

Page 17: Albert Camus - Der Fremde

18

gen hören, daß der Wagen auf der Straße wartete, undgleichzeitig den Priester seine Gebete beginnen hören.Von diesem Moment an ist alles sehr schnell gegangen.Die Männer haben sich dem Sarg mit einem Tuch genä-hert. Der Priester, sein Gefolge, der Heimleiter und ichsind hinausgegangen. Vor der Tür stand eine Dame, dieich nicht kannte. «Monsieur Meursault», hat der Leitergesagt. Ich habe den Namen dieser Dame nicht verstan-den und habe nur begriffen, daß sie die diensthabendeKrankenpflegerin war. Sie hat ohne ein Lächeln ihrknochiges, langes Gesicht geneigt. Dann sind wir bei-seite getreten, um die Leiche vorbeizulassen. Wir sindden Trägern gefolgt und haben das Heim verlassen. Vordem Tor stand der Wagen. Lackiert, länglich, glänzend,erinnerte er an einen Federkasten. Daneben standen derOrdner, ein kleiner Mann in lächerlicher Kleidung, undein unbeholfen wirkender Alter. Ich habe gleich ge-wußt, daß es Monsieur Pérez war. Er trug einen wei-chen Filzhut mit runder Kappe und breiter Krempe (erhat ihn abgenommen, als der Sarg durch das Tor ge-kommen ist), einen Anzug, dessen Hose sich in Zieh-harmonikafalten auf den Schuhen staute, und eineFliege aus schwarzem Stoff, die für sein Hemd mit gro-ßem weißem Kragen zu klein war. Seine Lippen bebtenunter einer mit Mitessern gespickten Nase. Sein ziem-lich feines weißes Haar ließ merkwürdige, ausgefransteSchlappohren frei, deren blutrote Farbe in diesem fah-len Gesicht mich überraschte. Der Ordner wies uns un-sere Plätze zu. Der Pfarrer ging vornweg, dann der Wa-

Page 18: Albert Camus - Der Fremde

19

gen. Um ihn herum die vier Männer. Dahinter derHeimleiter, ich und, den Zug beschließend, die dienst-habende Pflegerin und Monsieur Pérez.

Der Himmel war schon voll Sonne. Sie begann aufdie Erde zu drücken, und die Hitze nahm schnell zu.Ich weiß nicht, warum wir ziemlich lange gewartet ha-ben, bevor wir uns in Bewegung setzten. Mir war heißin meiner dunklen Kleidung. Der kleine Alte, der sei-nen Hut wieder aufgesetzt hatte, nahm ihn wieder ab.Ich hatte mich ein wenig zu ihm umgewandt und sahihn an, als der Heimleiter von ihm gesprochen hat. Erhat mir gesagt, daß meine Mutter und Monsieur Pérezabends oft von einer Pflegerin begleitet bis zum Dorfspazierten. Ich sah die Landschaft um mich her an. Beiden Zypressenreihen, die zu den Hügeln am Himmelführten, diesem rotbraunen und grünen Land, diesenvereinzelten, klar gezeichneten Häusern verstand ichMama. Der Abend mußte in dieser Gegend wie einemelancholische Atempause sein. Heute machte dieübermäßige Sonne, unter der die Landschaft erzitterte,sie unmenschlich und deprimierend.

Wir haben uns in Bewegung gesetzt. In dem Momenthabe ich bemerkt, daß Pérez leicht hinkte. Der Wagengewann allmählich an Fahrt, und der alte Mann verloran Boden. Einer der Männer, die neben dem Wagengingen, hatte sich auch überholen lassen und ging jetztauf meiner Höhe. Ich war überrascht von der Schnellig-keit, mit der die Sonne am Himmel stieg. Ich habe ge-merkt, daß das Land schon lange vom Zirpen der In-

Page 19: Albert Camus - Der Fremde

20

sekten und vom Knistern von Gras summte. Schweißlief mir über die Wangen. Weil ich keinen Hut hatte,fächelte ich mir mit meinem Taschentuch Luft zu.Der Angestellte des Bestattungsinstituts hat daraufhinetwas zu mir gesagt, was ich nicht verstand. Gleichzei-tig wischte er sich den Schädel mit einem Taschentuchab, das er in der linken Hand hielt, während die rechteden Rand seiner Mütze anhob. Ich habe zu ihm gesagt:«Wie bitte?» Er hat auf den Himmel deutend wieder-holt: «Die knallt ganz schön.» Ich habe «Ja» gesagt.Kurz darauf hat er mich gefragt: «Ist das Ihre Mutter dadrin?» Ich habe noch einmal «Ja» gesagt. «War sie alt?»Ich antwortete: «Ziemlich», weil ich die genaue Zahlnicht wußte. Danach hat er geschwiegen. Ich habe michumgedreht und habe den alten Pérez ungefähr fünfzigMeter hinter uns gesehen. Er beeilte sich, wobei er sei-nen Filzhut in der Hand hin- und herschwenkte. Ichhabe auch den Heimleiter angesehen. Er marschiertemit großer Würde ohne eine unnötige Bewegung. Einpaar Schweißperlen standen auf seiner Stirn, aber erwischte sie nicht ab.

Es schien mir, als bewegte sich der Trauerzug etwasschneller fort. Um mich herum war immer noch die-selbe leuchtende, von Sonne gesättigte Landschaft. DieHelligkeit des Himmels war unerträglich. Irgendwannsind wir über ein Stück Straße gekommen, das kurz zu-vor ausgebessert worden war. Die Sonne hatte den Teeraufplatzen lassen. Die Füße versanken darin und legtensein glänzendes Fleisch frei. Oberhalb des Wagens

Page 20: Albert Camus - Der Fremde

21

schien der Lederhut des Kutschers aus diesem schwar-zen Schlamm geformt zu sein. Ich war ein bißchenverloren zwischen dem blauweißen Himmel und derMonotonie dieser Farben, dem klebrigen Schwarz desaufgerissenen Teers, dem matten Schwarz der Kleider,dem Lackschwarz des Wagens. All das, die Sonne, derGeruch des Wagens nach Leder und Pferdemist, dernach Lack und nach Weihrauch, die Müdigkeit nacheiner schlaflosen Nacht, trübte meinen Blick und meineGedanken. Ich habe mich noch einmal umgedreht: Pe-rez schien mir sehr weit weg, in einem Schwall Hitzeversunken, dann habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ichhabe nach ihm Ausschau gehalten und habe bemerkt,daß er die Straße verlassen hatte und querfeldein ging.Ich habe auch festgestellt, daß vor mir die Straße einenBogen machte. Mir wurde klar, daß Pérez, der die Ge-gend kannte, den kürzesten Weg nahm, um uns einzu-holen. In der Kurve war er wieder bei uns. Dann habenwir ihn verloren. Er ist wieder querfeldein gelaufen,und so mehrmals. Ich fühlte, wie mir das Blut in denSchläfen pochte.

Danach ist alles so überstürzt, vorschriftsmäßig undnatürlich abgelaufen, daß ich mich an nichts mehr erin-nere. Nur an eines: am Dorfeingang hat die dienst-habende Pflegerin mit mir gesprochen. Sie hatte eineeigenartige Stimme, die nicht zu ihrem Gesicht paßte,eine klangvolle, tremolierende Stimme. Sie hat zu mirgesagt: «Wenn man langsam geht, riskiert man einenSonnenstich. Aber wenn man zu schnell geht, ist man

Page 21: Albert Camus - Der Fremde

22

verschwitzt und holt sich in der Kirche eine Erkäl-tung.» Sie hatte recht. Es war ausweglos. Ich habe nocheinige Bilder von diesem Tag behalten: zum BeispielPérez' Gesicht, als er uns zum letzten Mal in der Nähedes Dorfes eingeholt hat. Dicke Tränen der Entkräf-tung und des Kummers rannen über seine Wangen.Aber wegen der Falten liefen sie nicht ab. Sie breitetensich aus, flössen wieder zusammen und bildeten einenWasserfirnis auf diesem zerstörten Gesicht. Dann wa-ren da noch die Kirche und die Dorfbewohner auf denBürgersteigen, die roten Geranien auf den Friedhofs-gräbern, Pérez' Ohnmacht (als wäre er ein verrenkterHampelmann), die blutrote Erde, die auf Mamas Sargpolterte, das weiße Fleisch der Wurzeln, die sich dar-unter mischten, wieder Leute, Stimmen, das Dorf, dasWarten vor einem Café, das unaufhörliche Dröhnendes Motors und meine Freude, als der Bus in das Lich-ternest von Algier eingefahren ist und ich gedacht habe,daß ich gleich ins Bett gehen und zwölf Stunden schla-fen würde.

Page 22: Albert Camus - Der Fremde

23

II

Als ich aufwachte, ist mir klargeworden, warum meinChef verstimmt aussah, als ich ihn um zwei Tage Ur-laub gebeten habe: heute ist Sonnabend. Ich hatte essozusagen vergessen, aber beim Aufstehen ist es mireingefallen. Mein Chef hat natürlich gedacht, daß ich somit meinem Sonntag vier Tage Urlaub hätte, und daskonnte ihn nicht freuen. Aber einerseits ist es nichtmeine Schuld, daß man Mama gestern und nicht heutebeerdigt hat, und andererseits hätte ich auf alle Fällemeinen Sonnabend und meinen Sonntag gehabt. Selbst-verständlich kann ich meinen Chef deswegen trotzdemverstehen.

Das Aufstehen ist mir schwergefallen, weil ich vomgestrigen Tag müde war. Beim Rasieren habe ich michgefragt, was ich tun sollte, und habe beschlossen, badenzu gehen. Ich habe die Straßenbahn genommen, um zurBadeanstalt am Hafen zu fahren. Dort habe ich michins Getümmel gestürzt. Es waren viele junge Leute da.Im Wasser habe ich Marie Cardona wiedergetroffen,eine frühere Sekretärin aus meinem Büro, auf die ichdamals scharf war. Sie auch auf mich, glaube ich. Abersie ist wenig später ausgeschieden, und wir haben keineGelegenheit gehabt. Ich habe ihr geholfen, auf eine

Page 23: Albert Camus - Der Fremde

24

Boje zu steigen, und bei dieser Bewegung habe ich ihreBrüste gestreift. Ich war noch im Wasser, als sie schonbäuchlings auf der Boje lag. Sie hat sich zu mir umge-dreht. Das Haar hing ihr in die Augen, und sie lachte.Ich habe mich neben sie auf die Boje gehievt. Es tatgut, und ich habe wie zum Spaß den Kopf nach hintensinken lassen und auf ihren Bauch gelegt. Sie hat nichtsgesagt, und ich bin so liegengeblieben. Ich hatte denganzen Himmel in den Augen, und er war blaugolden.Unter meinem Nacken fühlte ich Maries Bauch leisepochen. Wir sind lange auf der Boje geblieben, halbeingeschlafen. Als die Sonne zu stark wurde, ist sie insWasser gesprungen, und ich hinterher. Ich habe sieeingeholt, habe die Hand um ihre Taille gelegt, undwir sind zusammen geschwommen. Sie lachte im-merzu. Auf dem Kai hat sie, während wir uns abtrock-neten, zu mir gesagt: «Ich bin brauner als Sie.» Ichhabe gefragt, ob sie abends mit ins Kino kommenwollte. Sie hat wieder gelacht und gesagt, sie hätteLust, einen Film mit Fernandel zu sehen. Als wir unsanzogen, hat sie sehr überrascht gewirkt, mich miteinem schwarzen Schlips zu sehen, und hat gefragt, obich in Trauer wäre. Ich habe ihr gesagt, daß Mama totwäre. Da sie wissen wollte, seit wann, habe ich geant-wortet: «Seit gestern.» Sie ist ein bißchen zusammen-gezuckt, hat aber keine Bemerkung dazu gemacht. Ichhätte ihr am liebsten gesagt, daß es nicht meine Schuldwäre, habe aber an mich gehalten, weil ich dachte, daßich es schon zu meinem Chef gesagt hatte. Das bedeu-

Page 24: Albert Camus - Der Fremde

25

tete nichts. Man ist sowieso immer ein bißchen schul-dig.

Am Abend hatte Marie alles vergessen. Der Film wardann und wann komisch und dann wieder wirklich zudumm. Sie hatte ihr Bein an meinem. Ich streichelteihre Brüste. Gegen Ende der Vorstellung habe ich siegeküßt, aber schlecht. Nach dem Kino ist sie mit zu mirgekommen.

Als ich aufgewacht bin, war Marie weg. Sie hatte mirerklärt, sie müßte zu ihrer Tante. Ich habe gedacht, daßSonntag war, und das hat mich angeödet: ich mag denSonntag nicht. Also habe ich mich im Bett umgedreht,habe im Kopfpolster den Salzgeruch gesucht, den Ma-ries Haar darin hinterlassen hatte, und habe bis zehnUhr geschlafen. Ich habe dann Zigaretten geraucht,immer noch im Bett, bis mittags. Ich wollte nicht beiCéleste essen wie sonst, weil sie mir bestimmt Fragengestellt hätten, und das mag ich nicht. Ich habe mirSpiegeleier gemacht und sie direkt aus der Pfanne ge-gessen, ohne Brot, weil ich keins mehr hatte und nichthinuntergehen wollte, um welches zu kaufen.

Nach dem Essen habe ich mich ein bißchen gelang-weilt und bin in der Wohnung herumgewandert. Siewar bequem, als Mama da war. Jetzt ist sie zu groß fürmich, und ich habe den Eßzimmertisch in mein Zim-mer räumen müssen. Ich wohne nur noch in diesemZimmer, zwischen den etwas durchgesessenen Stroh-stühlen, dem Schrank, dessen Spiegel gelb verfärbt ist,dem Toilettentisch und dem Messingbett. Das übrige

Page 25: Albert Camus - Der Fremde

26

ist verwahrlost. Etwas später habe ich, um irgend etwaszu tun, eine alte Zeitung genommen und habe sie gele-sen. Ich habe eine Werbung für Kruschen-Salz ausge-schnitten und sie in ein altes Heft eingeklebt, in dem ichdie Sachen sammle, die mich in der Zeitung amüsieren.Ich habe mir auch die Hände gewaschen, und schließ-lich bin ich auf den Balkon getreten.

Mein Zimmer geht auf die Hauptstraße der Vorstadthinaus. Der Nachmittag war schön. Doch das Pflasterwar glitschig, vereinzelt Leute und noch in Eile. ZuerstFamilien, die einen Spaziergang machten, zwei kleineJungen im Matrosenanzug, mit Hosen bis unter dasKnie, etwas von ihrer steifen Kleidung eingeengt, undein kleines Mädchen mit einer großen rosa Schleife undschwarzen Lackschuhen. Hinter ihnen eine ungeheuerdicke Mutter in braunem Seidenkleid und der Vater, einziemlich schmächtiger kleiner Mann, den ich vom Se-hen kenne. Er trug einen flachen Strohhut und einenQuerbinder und hatte in der Hand einen Spazierstock.Und als ich ihn mit seiner Frau sah, habe ich begriffen,warum man im Viertel von ihm sagte, er wäre vornehm.Etwas später kamen die jungen Männer der Vorstadtvorbei - pomadisiertes Haar und roter Schlips, eng tail-lierter Sakko mit einem bestickten Ziertüchlein undSchuhe mit eckigen Kappen. Ich habe gedacht, daß siein die Kinos im Zentrum gingen. Deshalb machten siesich so früh auf den Weg und eilten unter lautem La-chen zur Straßenbahn.

Nach ihnen wurde die Straße allmählich leer. Die

Page 26: Albert Camus - Der Fremde

27

Vorstellungen hatten überall angefangen, glaube ich.Auf der Straße waren nur noch Ladenbesitzer und Kat-zen. Der Himmel war klar, aber glanzlos über den Fei-genbäumen, die die Straße säumen. Auf dem gegen-überliegenden Bürgersteig hat der Tabakhändler einenStuhl herausgeholt, hat ihn vor seine Tür gestellt undsich, die Arme auf die Lehne stützend, rittlings daraufgesetzt. Die vorhin überfüllten Straßenbahnen warenfast leer. In dem kleinen Café «Chez Pierrot», nebendem Tabakhändler, kehrte der Kellner in dem ausge-storbenen Lokal Sägemehl zusammen. Es war wirklichSonntag.

Ich habe meinen Stuhl umgedreht und so gestellt wieden des Tabakhändlers, weil ich fand, daß es bequemerwar. Ich habe zwei Zigaretten geraucht, bin hineinge-gangen, um ein Stück Schokolade zu holen, und habees, wieder am Fenster, gegessen. Kurz darauf hat sichder Himmel verdunkelt, und ich habe geglaubt, wirwürden ein Sommergewitter bekommen. Es hat sich je-doch nach und nach wieder aufgeklart. Aber das Vor-überziehen der Wolken hatte auf der Straße etwas wieeine Ankündigung von Regen hinterlassen, die siedunkler gemacht hat. Ich habe lange den Himmel be-trachtet.

Um fünf Uhr sind Straßenbahnen angerattert ge-kommen. Sie brachten aus dem Vorortstadion Traubenvon Zuschauern zurück, die auf den Trittbrettern undan den Haltegriffen hingen. Die folgenden Straßenbah-nen haben die Spieler zurückgebracht, die ich an

Page 27: Albert Camus - Der Fremde

28

ihren Köfferchen erkannte. Sie grölten und sangen ausvollem Hals, daß ihr Verein nie untergehen würde.Mehrere haben mir zugewinkt. Einer hat mir sogar zu-gerufen: «Wir haben sie fertiggemacht.» Und ich habebejahend mit dem Kopf genickt. Von diesem Momentan hat ein Zustrom von Autos eingesetzt.

Der Tag hat sich noch etwas verändert. Über den Dä-chern ist der Himmel rötlich geworden, und mit ein-brechendem Abend haben sich die Straßen belebt. DieSpaziergänger kamen nach und nach zurück. Ich habeden vornehmen Herrn inmitten von anderen erkannt.Die Kinder weinten oder ließen sich ziehen. Fast gleichdaraufhat sich aus den Kinos des Viertels ein Strom vonZuschauern auf die Straße ergossen. Die jungen Män-ner unter ihnen hatten entschiedenere Gesten als sonst,und ich habe gedacht, daß sie einen Abenteuerfilm ge-sehen hatten. Die Besucher der Kinos in der Stadt ka-men etwas später an. Sie wirkten ernster. Sie lachtennoch, aber hin und wieder schienen sie müde und ver-sonnen. Sie sind auf der Straße geblieben und auf demBürgersteig gegenüber auf und ab gegangen. Die jun-gen Mädchen des Viertels, ohne Kopfbedeckung, hiel-ten sich untergehakt. Die jungen Männer hatten es soeingerichtet, daß sie ihren Weg kreuzten, und riefenscherzhafte Bemerkungen, über die die Mädchen mitabgewandtem Kopf lachten. Mehrere von ihnen, die ichkannte, haben mir zugewinkt.

Die Straßenlampen sind dann plötzlich angegangenund haben die ersten Sterne, die in der Nacht aufstie-

Page 28: Albert Camus - Der Fremde

29

gen, verblassen lassen. Ich habe gespürt, wie es meineAugen ermüdete, so die Bürgersteige mit ihrer Frachtvon Menschen und von Lichtern anzusehen. Die Lam-pen ließen das feuchte Pflaster schimmern, und dieStraßenbahnen warfen in regelmäßigen Abständen de-ren Widerschein auf glänzendes Haar, auf ein Lächelnoder ein silbernes Armband. Wenig später, als die Stra-ßenbahnen seltener wurden und die Nacht über denBäumen und Lampen schon schwarz war, hat sich dasViertel unmerklich geleert, bis die erste Katze langsamdie wieder ausgestorbene Straße überquerte. Da habeich gedacht, daß ich zu Abend essen müßte. Der Halstat mir ein bißchen davon weh, daß ich so lange auf dieLehne meines Stuhls gestützt dagesessen hatte. Ich binBrot und Nudeln einkaufen gegangen, habe gekochtund im Stehen gegessen. Ich wollte eine Zigarette amFenster rauchen, aber die Luft hatte sich abgekühlt,und ich habe ein bißchen gefroren. Ich habe meine Fen-ster zugemacht und beim Umdrehen im Spiegel einStück Tisch gesehen, auf dem meine Spirituslampe ne-ben Brotresten stand. Ich habe gedacht, daß immerhinein Sonntag herum war, daß Mama jetzt beerdigt war,daß ich wieder zur Arbeit gehen würde und daß sicheigentlich nichts geändert hatte.

Page 29: Albert Camus - Der Fremde

30

III

Heute habe ich im Büro viel gearbeitet. Der Chef warfreundlich. Er hat mich gefragt, ob ich nicht zu müdewäre, und er wollte auch Mamas Alter wissen. Ich habegesagt, «So ungefähr sechzig», um mich nicht zu ver-tun, und ich weiß nicht, warum er erleichtert ausgese-hen hat und so, als hielte er die Sache für erledigt.

Auf meinem Tisch stapelte sich ein Haufen See-frachtbriefe, und ich mußte sie alle durchsehen. Bevorich das Büro verließ, um essen zu gehen, habe ich mirdie Hände gewaschen. Mittags mag ich diesen Augen-blick sehr. Abends macht er mir weniger Spaß, weil dasRollhandtuch, das man dabei gebraucht, ganz feuchtist: es ist den ganzen Tag benutzt worden. Ich habemeinen Chef eines Tages darauf hingewiesen. Er hatgeantwortet, er fände das bedauerlich, aber es wäredoch eine belanglose Nebensache. Ich bin etwas spätgegangen, um halb eins, mit Emmanuel, der im Versandarbeitet. Das Büro geht aufs Meer hinaus, und wir ha-ben einen Moment damit verloren, die Frachter in derSonnenglut des Hafens anzusehen. In dem Augenblickist ein Lastwagen mit ohrenbetäubendem Klirren undKnattern angekommen. Emmanuel hat mich gefragt,«ob wir den nehmen wollten», und ich habe angefan-

Page 30: Albert Camus - Der Fremde

31

gen zu laufen. Der Lastwagen hat uns überholt, und wirsind hinter ihm hergerannt. Ich versank im Lärm undim Staub. Ich sah nichts mehr und fühlte nur dieseskopflose Voranstürmen inmitten von Winden und Ma-schinen, von Masten, die am Horizont tanzten, undvon Schiffsrümpfen, an denen wir vorbeirasten. Ichhabe als erster einen Halt gefunden und bin aufge-sprungen. Dann habe ich Emmanuel heraufgeholfen.Wir waren außer Atem, der Lastwagen holperte überdas unebene Pflaster des Kais, inmitten von Staub undvon Sonne. Emmanuel lachte, daß ihm die Luft weg-blieb.

Wir sind in Schweiß gebadet bei Céleste angekom-men. Er war immer noch da, mit seinem dicken Bauch,seiner Schürze und seinem weißen Schnurrbart. Er hatmich gefragt, ob «es trotzdem gutginge». Ich habe jagesagt und daß ich Hunger hätte. Ich habe sehr schnellgegessen und habe einen Kaffee getrunken. Dann binich nach Hause gegangen, habe ein bißchen geschlafen,weil ich zuviel Wein getrunken hatte, und als ich auf-wachte, habe ich Lust gehabt zu rauchen. Es war spät,und ich bin gelaufen, um eine Straßenbahn zu erwi-schen. Ich habe den ganzen Nachmittag gearbeitet. Eswar sehr heiß im Büro, und abends, beim Weggehen,war ich froh, langsam über die Kais zurückzuschlen-dern. Der Himmel war grün, ich fühlte mich wohl.Trotzdem bin ich direkt nach Hause gegangen, weil ichmir Kartoffeln kochen wollte.

Beim Hinaufgehen bin ich auf der dunklen Treppe

Page 31: Albert Camus - Der Fremde

32

mit dem alten Salamano zusammengestoßen, meinemFlurnachbarn. Er hatte seinen Hund bei sich. Seit achtJahren sieht man sie zusammen. Der Spaniel hat eineHautkrankheit, die Räude, glaube ich, von der ihm fastdas ganze Fell ausgeht und die ihn mit braunen Fleckenund Schorf überzieht. Durch das Zusammenleben mitihm, zu zweit allein in einem kleinen Zimmer, ist deralte Salamano ihm schließlich ähnlich geworden. Er hatrötlichen Schorf im Gesicht und schütteres gelbesHaar. Der Hund hat von seinem Herrchen eine Artgebeugten Gang angenommen, mit vorgestreckterSchnauze und gerecktem Hals. Sie sehen aus wie einund dieselbe Rasse, und dabei hassen sie sich. Zweimaltäglich, um elf und um sechs, führt der Alte seinenHund spazieren. Seit acht Jahren haben sie ihre Routenicht geändert. Man kann sie in der Rue de Eyon unter-wegs sehen, wo der Hund den Mann so lange zieht,, bisder alte Salamano stolpert. Dann schlägt er seinen Hundund beschimpft ihn. Der Hund kriecht vor Schreck undläßt sich ziehen. Jetzt ist es der Alte, der ihn zieht. Wennder Hund es vergessen hat, zieht er wieder seinen Herrnund wird wieder geschlagen und beschimpft. Dann blei-ben beide auf dem Bürgersteig stehen und sehen sich an,der Hund voller Schrecken, der Mann voller Haß. Undso geht es jeden Tag. Wenn der Hund Wasser lassen will,läßt der Alte ihm keine Zeit dazu und zieht an ihm, undder Spaniel läßt eine Spur kleiner Tropfen hinter sich.Wenn der Hund zufällig ins Zimmer macht, wird erwieder geschlagen. Acht Jahre dauert das schon. Ce-

Page 32: Albert Camus - Der Fremde

33

leste sagt immer, «Es ist ein Jammer», aber im Grundekann es niemand wissen. Als ich ihm auf der Treppebegegnet bin, war Salamano dabei, seinen Hund zu be-schimpfen. Er sagte: «Du Biest! Du Aas!», und derHund winselte. Ich habe «Guten Abend» gesagt, aberder Alte schimpfte weiter. Da habe ich ihn gefragt, wasder Hund ihm denn getan hätte. Er hat nicht geantwor-tet. Er sagte nur: «Du Biest! Du Aas!» Ich ahnte, daßer, über seinen Hund gebeugt, dabei war, etwas amHalsband zu richten. Ich habe lauter gesprochen. Dahat er mir, ohne sich umzudrehen, wie in einer Art un-terdrückter Wut geantwortet: «Er ist immer da.» Dannist er losgegangen und zerrte das Tier, das sich auf sei-nen vier Pfoten ziehen ließ und winselte, hinter sichher.

Genau in dem Moment ist mein anderer Flurnachbarhereingekommen. Im Viertel heißt es, er lebe vonFrauen. Wenn man ihn jedoch nach seinem Beruf fragt,ist er « Lagerverwalter». Im allgemeinen ist er nicht sehrbeliebt. Aber er unterhält sich oft mit mir, und manch-mal verbringt er einen Moment bei mir, weil ich ihmzuhöre. Ich finde, was er sagt, ist interessant. Im übri-gen habe ich keinerlei Grund, nicht mit ihm zu reden.Er heißt Raymond Sintes. Er ist ziemlich klein, hatbreite Schultern und eine Boxernase. Er ist immer sehrkorrekt gekleidet. Auch er hat, als er über Salamanosprach, gesagt: «Das ist doch ein Jammer!» Er hat michgefragt, ob mich das nicht anekelte, und ich habe ver-neint.

Page 33: Albert Camus - Der Fremde

34

Wir sind hinaufgegangen, und ich wollte mich geradevon ihm verabschieden, als er gesagt hat: «Ich habeBlutwurst und Wein im Haus. Wollen Sie vielleichteinen Happen mit mir essen?» Ich habe gedacht, daßich dann nicht zu kochen brauchte, und habe angenom-men. Er hat auch nur ein Zimmer, mit einer Kücheohne Fenster. Über seinem Bett hat er einen Engel ausrosa und weißem Stuck, Fotos von berühmten Sport-lern und zwei oder drei Bilder von nackten Frauen. DasZimmer war schmutzig und das Bett ungemacht. Er hatzuerst seine Petroleumlampe angezündet, dann hat ereinen ziemlich schmuddeligen Verband aus der Taschegezogen und hat seine rechte Hand damit umwickelt.Ich fragte, was er hätte. Er hat gesagt, er hätte eineSchlägerei mit einem Typ gehabt, der Streit mit ihmsuchte.

«Verstehen Sie, Monsieur Meursault», hat er gesagt,«nicht, daß ich bösartig wäre, aber ich bin hitzig. Derandere, der hat zu mir gesagt: <Steig aus der Straßen-bahn aus, wenn du ein Mann bist.> Ich habe zu ihmgesagt: <Komm, bleib ruhig.> Er hat gesagt, ich wärekein Mann. Da bin ich ausgestiegen und habe zu ihmgesagt: <Jetzt reicht's aber, sonst mach ich dich fertig.>Er hat < Ach ja?> geantwortet. Da habe ich ihm eine ver-paßt. Er ist gestürzt. Ich wollte ihn aufheben. Aber erhat von unten nach mir getreten. Da habe ich ihm ei-nen Stoß mit dem Knie und zwei Kinnhaken gegeben.Sein Gesicht war voll Blut. Ich habe ihn gefragt, ob ergenug hätte. Er hat <Ja> gesagt.» Während der ganzen

Page 34: Albert Camus - Der Fremde

35

Zeit brachte Sintes seinen Verband in Ordnung. Ich saßauf dem Bett. Er hat gesagt: «Wie Sie sehen, habe ichnicht angefangen. Sondern er ist frech geworden.» Dasstimmte, und ich habe es bestätigt. Da hat er mir er-klärt, daß er mich gerade wegen dieser Sache um Ratfragen wollte, daß ich ein Mann wäre und das Lebenkennen würde, daß ich ihm helfen könnte und daß erdann mein Kumpel wäre. Ich habe nichts gesagt, und erhat mich wieder gefragt, ob ich sein Kumpel seinwollte. Ich habe gesagt, das wäre mir egal: darüberschien er froh zu sein. Er hat Blutwurst herausgeholt,hat sie in der Pfanne angebraten und hat Gläser, Teller,Bestecke und zwei Flaschen Wein hingestellt. Das allesschweigend. Dann haben wir uns gesetzt. Beim Essenhat er angefangen, mir seine Geschichte zu erzählen. Erzögerte zuerst etwas. «Ich habe eine Dame gekannt...es war sozusagen meine Geliebte.» Der Mann, mit demer sich geprügelt hätte, wäre der Bruder dieser Frau. Erhat mir gesagt, er hätte sie ausgehalten. Ich habe nichtserwidert, und trotzdem hat er gleich hinzugefügt, erwüßte, was im Viertel geredet würde, er hätte aber einreines Gewissen, und er wäre Lagerverwalter.

«Um zu meiner Geschichte zu kommen», hat er ge-sagt, «ich habe gemerkt, daß Betrug im Spiel war.» Ergab ihr gerade genug zum Leben. Er bezahlte selbst dieMiete für ihr Zimmer und gab ihr zwanzig Francs amTag für das Essen. «Dreihundert Francs das Zimmer,sechshundert Francs das Essen, ab und zu ein PaarStrümpfe, das machte tausend Francs. Und die gnädige

Page 35: Albert Camus - Der Fremde

36

Frau arbeitete nicht. Aber sie sagte mir, es wäre knapp,sie käme mit dem, was ich ihr gäbe, nicht aus. Dabeisagte ich ihr: <Warum arbeitest du nicht halbtags? Duwürdest mich bei all diesen Kleinigkeiten sehr ent-lasten. Ich habe dir diesen Monat eine Garnitur ge-kauft, ich bezahle dir zwanzig Francs am Tag, ich be-zahle deine Miete, und du, du trinkst nachmittags mitdeinen Freundinnen Kaffee. Du schenkst ihnen denKaffee und den Zucker. Ich schenke dir das Geld. Ichwar anständig zu dir, und du dankst es mir so schlecht.>Aber sie arbeitete nicht, sie sagte immer, sie würde esnicht schaffen, und auf die Weise habe ich gemerkt, daßBetrug im Spiel war.»

Er hat mir dann erzählt, er hätte ein Lotterielos inihrer Tasche gefunden, und sie hätte ihm nicht erklärenkönnen, wovon sie es gekauft hatte. Etwas später hätteer bei ihr «einen Beleg» des Leihhauses gefunden, derbewies, daß sie zwei Armbänder versetzt hatte. Bis da-hin hätte er nichts von der Existenz dieser Armbändergewußt. «Ich habe genau gemerkt, daß Betrug im Spielwar. Da habe ich sie verlassen. Aber erst mal habe ichsie versohlt. Und dann habe ich ihr die Meinung gesagt.Ich habe ihr gesagt, alles, was sie wollte, wäre Spaß mitihrem Ding haben. Verstehen Sie, Monsieur Meursault,was ich ihr gesagt habe, war: <Du siehst nicht, daß dichalle um das Glück beneiden, das ich dir schenke. Späterwirst du das Glück erkennen, das du hattest.>»

Er hatte sie bis aufs Blut geschlagen. Vorher schlug ersie nicht. «Ich versohlte sie, aber liebevoll sozusagen.

Page 36: Albert Camus - Der Fremde

37

Sie schrie ein bißchen. Ich schloß die Fensterläden, undes endete wie immer. Aber jetzt ist es ernst. Und fürmein Gefühl habe ich sie nicht genug bestraft.»

Er hat mir dann erklärt, daß er deswegen einen Ratbrauchte. Er hat sich unterbrochen, um den Docht derLampe zu regulieren, der rußte. Ich hörte ihm immernoch zu. Ich hatte fast einen Liter Wein getrunken, undmir war sehr heiß an den Schläfen. Ich rauchte Ray-monds Zigaretten, weil ich keine mehr hatte. Die letz-ten Straßenbahnen fuhren vorbei und trugen die jetztfernen Geräusche der Vorstadt mit sich. Raymond hatweitergeredet. Was ihn ärgerte, war, «daß er nochetwas für ihren Beischlaf übrig hatte». Aber er wolltesie bestrafen. Er hatte zuerst daran gedacht, sie in einHotel mitzunehmen und die «Sitte» zu rufen, um einenSkandal zu verursachen und ihr eine Registrierung ein-zuhandeln. Danach hatte er sich an Freunde gewandt,die er im Milieu hatte. Ihnen war nichts eingefallen.Und wie Raymond mir klarmachte, lohnte es sich dochwirklich, zum Milieu zu gehören. Er hatte es ihnen ge-sagt, und daraufhatten sie vorgeschlagen, sie zu «zeich-nen». Aber das wollte er nicht. Er würde nachdenken.Vorher wollte er mich etwas fragen. Außerdem wollteer, bevor er es mich fragte, wissen, was ich zu dieserGeschichte meinte. Ich habe geantwortet, daß ichnichts dazu meinte, daß es aber interessant wäre. Er hatmich gefragt, ob ich dächte, daß Betrug im Spiel wäre,und mir schien es allerdings so, daß Betrug im Spielwar, ob ich fände, daß man sie bestrafen müßte, und

Page 37: Albert Camus - Der Fremde

38

was ich an seiner Stelle täte, ich habe gesagt, mankönnte nie wissen, aber ich verstände, daß er sie bestra-fen wollte. Ich habe noch etwas Wein getrunken. Er hatsich eine Zigarette angesteckt und hat mir seine Ideeverraten. Er wollte ihr einen Brief schreiben «mit Ge-meinheiten und gleichzeitig mit Sachen, daß sie es be-reute». Danach, wenn sie zurückkäme, würde er mitihr schlafen, «und genau in dem Moment, wenn sie so-weit wäre», würde er ihr ins Gesicht spucken und siehinauswerfen. Ich fand, daß sie auf diese Weise tatsäch-lich bestraft wäre. Aber Raymond hat mir gesagt, daßer sich nicht imstande fühlte, den nötigen Brief hinzu-kriegen, und daß er an mich gedacht hätte, ihn zuschreiben. Da ich nichts sagte, hat er mich gefragt, ob esmir lästig wäre, es gleich zu tun, und ich habe mit Neingeantwortet.

Er ist dann aufgestanden, nachdem er ein Glas Weingetrunken hat. Er hat die Teller und das bißchen kalteBlutwurst, das wir übriggelassen hatten, weggescho-ben. Er hat das Wachstuch auf dem Tisch sorgfältigabgewischt. Er hat aus einer Schublade seines Nacht-tischchens ein Blatt kariertes Papier, einen gelben Um-schlag, einen kleinen Federhalter aus rotem Holz undein viereckiges Tintenfaß mit violetter Tinte geholt. Alser mir den Namen der Frau genannt hat, habe ich ge-merkt, daß es eine Maurin war. Ich habe den Briefaufgesetzt. Ich habe ihn ein bißchen aufs Geratewohlgeschrieben, aber ich habe mich bemüht, Raymond zu-friedenzustellen, weil ich keinen Grund hatte, ihn nicht

Page 38: Albert Camus - Der Fremde

39

zufriedenzustellen. Dann habe ich den Brief vorgele-sen. Er hat mir zugehört, und dabei rauchte er undnickte mit dem Kopf, dann hat er mich gebeten, ihnnoch einmal zu lesen. Er war völlig zufrieden. Er hatgesagt: «Ich wußte doch, daß du das Leben kennst.»Ich habe zuerst nicht bemerkt, daß er mich duzte. Erstals er mir erklärt hat: «Jetzt bist du ein richtiger Kum-pel», ist es mir aufgefallen. Er hat seinen Satz wieder-holt, und ich habe «Ja» gesagt. Mir war es egal, seinKumpel zu sein, und er sah wirklich so aus, als wäre ererpicht darauf. Er hat den Brief zugemacht, und wirhaben den Wein ausgetrunken. Dann haben wir eineWeile geraucht, ohne etwas zu sagen. Draußen war al-les ruhig, wir haben das Sausen eines vorbeifahrendenAutos gehört. Ich habe gesagt: «Es ist spät.» Raymondmeinte das auch. Er hat angemerkt, daß die Zeit schnellverginge, und in gewisser Weise stimmte es. Ich warmüde, aber es fiel mir schwer aufzustehen. Ich mußabgespannt ausgesehen haben, weil Raymond zu mirgesagt hat, man dürfte sich nicht gehenlassen. Zuersthabe ich nicht verstanden. Er hat mir dann erklärt, daßer von Mamas Tod gehört hätte, daß es aber etwas wäre,was irgendwann kommen mußte. Das war auch meineMeinung.

Ich bin aufgestanden, Raymond hat mir sehr fest dieHand gedrückt und gesagt, unter Männern verständeman sich immer. Beim Hinausgehen habe ich die Türzugemacht und bin einen Moment im Dunkeln auf demTreppenabsatz stehengeblieben. Das Haus war still,

Page 39: Albert Camus - Der Fremde

40

und aus den Tiefen des Treppenhauses stieg ein kaumspürbarer feuchter Hauch auf. Ich hörte nur das Pulsie-ren meines Blutes, das in meinen Ohren pochte. Ichhabe mich nicht gerührt. Aber im Zimmer des altenSalamano hat der Hund dumpf gewinselt.

Page 40: Albert Camus - Der Fremde

41

IV

Ich habe die ganze Woche fleißig gearbeitet. Raymondist gekommen und hat mir gesagt, er hätte den Briefabgeschickt. Ich bin zweimal mit Emmanuel ins Kinogegangen, der nicht immer versteht, was auf der Lein-wand geschieht. Man muß es ihm dann erklären. Ge-stern war Sonnabend, und Marie ist gekommen, wiewir verabredet hatten. Ich hatte große Lust auf sie, weilsie ein schönes Kleid mit rot-weißen Streifen und Le-dersandalen anhatte. Man ahnte ihre straffen Brüste,und die Sonnenbräune gab ihr das Gesicht einer Blume.Wir haben einen Bus genommen und sind ein paar Ki-lometer aus Algier hinausgefahren, an einen zwischenFelsen eingeengten und landwärts von Schilf gesäum-ten Strand. Die Vieruhrsonne war nicht sehr heiß, aberdas Wasser war warm, mit langen und trägen kleinenWellen. Marie hat mir ein Spiel beigebracht. Manmußte beim Schwimmen vom Kamm der WellenSchaum trinken, ihn im Mund ansammeln und sich aufden Rücken legen, um ihn in den Himmel zu spritzen.So entstand ein sprühender Spitzenschleier, der in derLuft zerstäubte oder mir als warmer Regen wieder aufsGesicht fiel. Aber nach einiger Zeit brannte mein Mundvon der Schärfe des Salzes. Marie ist dann zu mir ge-

Page 41: Albert Camus - Der Fremde

42

schwommen und hat sich im Wasser an mich ge-schmiegt. Sie hat ihren Mund auf meinen gedrückt. IhreZunge erfrischte meine Lippen, und wir haben uns eineZeitlang in den Wellen herumgewälzt.

Als wir uns am Strand wieder angezogen haben, sahMarie mich mit glänzenden Augen an. Ich habe sie ge-küßt. Von dem Moment an haben wir nicht mehr ge-sprochen. Ich habe sie an mich gedrückt gehalten, undwir hatten es eilig, einen Bus zu erreichen, zurückzu-fahren, zu mir zu gehen und uns auf mein Bett zu wer-fen. Ich hatte mein Fenster offengelassen, und es warschön, die Sommernacht über unsere braunen Körperfließen zu fühlen.

An diesem Morgen ist Marie geblieben, und ich habeihr gesagt, wir würden zusammen zu Mittag essen. Ichbin Fleisch einkaufen gegangen. Als ich zurückkam,habe ich in Raymonds Zimmer eine Frauenstimme ge-hört. Etwas später hat der alte Salamano mit seinemHund geschimpft, wir haben das Geräusch von Schuh-sohlen und Krallen auf den hölzernen Treppenstufengehört und dann: «Du Biest, du Aas», und sie sind aufdie Straße hinausgegangen. Ich habe Marie die Ge-schichte des Alten erzählt, und sie hat gelacht. Sie trugeinen meiner Schlafanzüge, dessen Ärmel sie aufge-krempelt hatte. Als sie gelacht hat, bekam ich wiederLust auf sie. Kurz darauf hat sie mich gefragt, ob ich sieliebte. Ich habe geantwortet, daß das nichts hieße, daßes mir aber nicht so schiene. Sie hat traurig ausgesehen.Aber während des Kochens und wegen nichts hat sie

Page 42: Albert Camus - Der Fremde

43

wieder so gelacht, daß ich sie geküßt habe. Genau indem Moment ist bei Raymond ein lautstarker Streitausgebrochen.

Man hat zuerst eine schrille Frauenstimme gehörtund dann Raymond, der sagte: «Du hast mich belei-digt, du hast mich beleidigt. Ich werd dir zeigen, michzu beleidigen.» Ein paar dumpfe Geräusche, und dieFrau hat geheult, aber so schrecklich, daß der Trep-penabsatz sofort voller Leute war. Marie und ich sindauch hinausgegangen. Die Frau schrie immer noch,und Raymond schlug immer noch. Marie hat zu mirgesagt, das wäre schrecklich, und ich habe nichts ge-antwortet. Sie hat mich gebeten, einen Polizisten zuholen, aber ich habe gesagt, daß ich Polizisten nichtmag. Trotzdem ist einer mit dem Mieter aus demzweiten Stock gekommen, der Klempner ist. Er hat andie Tür geklopft, und man hat nichts gehört. Er hatlauter geklopft, und nach einer Weile hat die Frau ge-weint, und Raymond hat aufgemacht. Er hatte eineZigarette im Mund und eine zuckersüße Miene. DasMädchen ist zur Tür gestürzt und hat dem Polizistenerklärt, Raymond hätte sie geschlagen. «Dein Name»,hat der Polizist gesagt. Raymond hat geantwortet.«Nimm die Zigarette aus dem Mund, wenn du mit mirsprichst», hat der Polizist gesagt. Raymond hat gezö-gert, hat mich angesehen und an seiner Zigarette gezo-gen. Da hat der Polizist ihm mit voller Wucht eine saf-tige, feste Ohrfeige mitten auf die Wange gegeben. DieZigarette ist ein paar Meter weiter zu Boden gefallen.

Page 43: Albert Camus - Der Fremde

44

Raymond hat die Farbe gewechselt, aber zuerst einmalhat er nichts gesagt, und dann hat er unterwürfig ge-fragt, ob er seine Kippe aufheben dürfte. Der Polizisthat erklärt, er dürfte, und hat hinzugefügt: «Aber beimnächsten Mal weißt du, daß ein Polizist kein Hans-wurst ist.» Währenddessen weinte das Mädchen, und eshat wiederholt: «Er hat mich verprügelt. Das ist einZuhälter.» - «Herr Polizist», hat Raymond da gefragt,«ist das denn gesetzlich erlaubt, Zuhälter zu einemMann zu sagen?» Aber der Polizist hat ihm befohlen,«die Schnauze zu halten». Raymond hat sich dann zudem Mädchen umgedreht und hat gesagt: «Warte nur,Kleine, wir sehen uns wieder.» Der Polizist hat«Schnauze» zu ihm gesagt, daß das Mädchen gehenund er in seinem Zimmer bleiben sollte, bis er auf dasKommissariat vorgeladen würde. Er hat hinzugefügt,Raymond sollte sich schämen, so besoffen zu sein, daßer dermaßen zitterte. Da hat Raymond ihm erklärt:«Ich bin nicht besoffen, Herr Polizist. Bloß, ich stehehier vor Ihnen, und ich zittere, das ist unvermeidlich.»Er hat seine Tür zugemacht, und alle Leute sind gegan-gen. Marie und ich haben das Mittagessen fertig zube-reitet. Aber sie hatte keinen Hunger, ich habe fast allesallein gegessen. Sie ist um ein Uhr gegangen, und ichhabe ein bißchen geschlafen.

Gegen drei Uhr hat es an meiner Tür geklopft, undRaymond ist hereingekommen. Ich bin liegengeblie-ben. Er hat sich auf meine Bettkante gesetzt. Er hat eineWeile ohne zu reden dagesessen, und ich habe ihn ge-

Page 44: Albert Camus - Der Fremde

45

fragt, wie seine Sache gelaufen wäre. Er hat mir erzählt,er hätte getan, was er wollte, daß sie ihm aber eine Ohr-feige gegeben und er sie dann geschlagen hätte. Das üb-rige hätte ich ja gesehen. Ich habe gesagt, mir schiene,daß sie jetzt bestraft wäre und er zufrieden sein müßte.Das war auch seine Meinung, und er hat angemerkt,daß der Polizist sich noch so sehr bemühen könnte, diePrügel hätte sie jedenfalls weg. Er hat hinzugefügt, erwürde Polizisten gut kennen und er wüßte, wie manmit ihnen umgehen muß. Er hat dann gefragt, ob icherwartet hätte, daß er die Ohrfeige des Polizisten erwi-derte. Ich habe geantwortet, daß ich überhaupt nichtserwartet hätte und daß ich außerdem Polizisten nichtleiden könnte. Raymond hat sehr zufrieden gewirkt. Erhat gefragt, ob ich mit ihm ausgehen wollte. Ich binaufgestanden und habe angefangen mich zu kämmen.Er hat gesagt, ich müßte mich ihm als Zeuge zur Verfü-gung stellen. Mir war das egal, aber ich wußte nicht,was ich sagen sollte. Laut Raymond genügte es, zu er-klären, daß das Mädchen ihn beleidigt hätte. Ich habeeingewilligt, mich ihm als Zeuge zur Verfügung zu stel-len.

Wir sind in ein Lokal gegangen, und Raymond hatmir einen Cognac spendiert. Dann wollte er eine PartieBillard spielen, und ich habe knapp verloren. Danachwollte er ins Bordell gehen, aber ich habe nein gesagt,weil ich das nicht mag. Also sind wir nach Hause ge-schlendert, und er sagte mir, wie froh er wäre, daß esihm gelungen war, seine Geliebte zu bestrafen. Ich fand

Page 45: Albert Camus - Der Fremde

46

ihn sehr nett mir gegenüber und habe gedacht, daß esangenehm mit ihm war.

Von weitem habe ich auf der Türschwelle den altenSalamano gesehen, der aufgeregt wirkte. Als wir nähergekommen sind, habe ich gemerkt, daß sein Hundnicht bei ihm war. Er schaute nach allen Seiten, drehtesich um sich selbst, versuchte das Dunkel des Hausflurszu durchdringen, murmelte zusammenhanglose Wör-ter und begann von neuem die Straße mit seinen kleinenroten Augen abzusuchen. Als Raymond ihn fragte, waser hätte, hat er nicht gleich geantwortet. Ich habe un-deutlich gehört, daß er «Biest, Aas» murmelte, und erbewegte sich weiter aufgeregt herum. Ich habe ihn ge-fragt, wo sein Hund wäre. Er hat schroff geantwortet,er wäre weg. Und dann auf einmal sprudelte es aus ihmhervor: «Ich habe ihn zum Champ de Manoeuvres mit-genommen, wie gewöhnlich. Es war viel Betrieb ringsum die Jahrmarktsbuden. Ich bin stehengeblieben, ummir den <Entfesselungskönig> anzusehen. Und als ichweitergehen wollte, war er nicht mehr da. Natürlich,ich wollte ihm schon lange ein engeres Halsband kau-fen. Aber ich hätte nie gedacht, daß dieses Aas einfachso weglaufen könnte.»

Raymond hat ihm dann erklärt, daß der Hund sichverlaufen haben könnte und daß er zurückkommenwürde. Er hat ihm Beispiele von Hunden genannt, die-zig Kilometer gelaufen waren, um ihren Herrn wie-derzufinden. Trotzdem hat der Alte noch aufgeregtergewirkt. «Aber sie werden ihn mir wegnehmen, verste-

Page 46: Albert Camus - Der Fremde

47

hen Sie. Wenn ihn wenigstens jemand aufnehmenwürde. Aber das ist ausgeschlossen, er ekelt alle an,mit seinem Schorf. Die Polizisten werden ihn mirwegnehmen, das ist sicher.» Ich habe ihm darauf ge-sagt, er sollte zum Pfandstall gehen, und gegen Zah-lung einer Gebühr würde man ihn ihm zurückgeben.Er hat mich gefragt, ob diese Gebühr hoch wäre. Ichwußte es nicht. Da ist er in Wut geraten: «Auch nochGeld für dieses Aas hinlegen. Ha, soll er doch krepie-ren!» Und er hat angefangen, ihn zu beschimpfen.Raymond hat gelacht und ist ins Haus gegangen. Ichbin ihm gefolgt, und wir haben uns oben auf demTreppenabsatz verabschiedet. Nach einer Weile habeich den Schritt des Alten gehört, und er hat an meineTür geklopft. Als ich aufgemacht habe, ist er einenMoment auf der Schwelle stehengeblieben und hatgesagt: «Verzeihen Sie, verzeihen Sie.» Ich habe ihnhereingebeten, aber er wollte nicht. Er blickte aufseine Schuhspitzen, und seine grindigen Hände zitter-ten. Ohne mich anzusehen, hat er gefragt: «Sie wer-den ihn mir doch nicht wegnehmen, oder, MonsieurMeursault? Sie werden ihn mir zurückgeben. Was sollsonst aus mir werden?» Ich habe ihm gesagt, derPfandstall hielte die Hunde drei Tage für ihre Besitzerbereit, und dann würde er mit ihnen machen, was ihmbeliebte. Er hat mich schweigend angesehen. Dann hater «Gute Nacht» gesagt. Er hat seine Tür zugemacht,und ich habe ihn hin und her gehen hören. Sein Betthat gequietscht. Und an dem eigentümlichen leisen

Page 47: Albert Camus - Der Fremde

48

Geräusch, das durch die Zwischenwand drang, habeich erkannt, daß er weinte. Ich weiß nicht, warum ichan Mama gedacht habe. Aber ich mußte am nächstenTag früh aufstehen. Ich hatte keinen Hunger und binohne Abendessen ins Bett gegangen.

Page 48: Albert Camus - Der Fremde

49

V

Raymond hat mich im Büro angerufen. Er hat mir ge-sagt, einer seiner Freunde (er hatte ihm von mir erzählt)lüde mich ein, den ganzen Sonntag in seinem Strand-haus in der Nähe von Algier zu verbringen. Ich habegeantwortet, das täte ich gern, aber ich hätte für denTag einer Freundin zugesagt. Raymond hat mir soforterklärt, daß er sie auch einlüde. Die Frau seines Freun-des würde heilfroh sein, wenn sie nicht allein unter lau-ter Männern wäre.

Ich wollte gleich auflegen, weil ich weiß, daß derChef es nicht mag, wenn wir von auswärts angerufenwerden. Aber Raymond hat mich gebeten zu wartenund hat gesagt, er hätte diese Einladung auch am Abendan mich weitergeben können, er wolle mir aber nochetwas anderes mitteilen. Er wäre den ganzen Tag voneiner Gruppe von Arabern verfolgt worden, unter de-nen sich der Bruder seiner ehemaligen Geliebten be-fand. «Wenn du heute abend nach Hause kommst undihn in der Nähe siehst, sag mir Bescheid.» Ich habe ge-sagt, das ginge in Ordnung.

Kurz darauf hat der Chef mich rufen lassen, und ichwar erst einmal verärgert, weil ich gedacht habe, erwürde mir sagen, ich sollte weniger telefonieren und

Page 49: Albert Camus - Der Fremde

50

besser arbeiten. Das war es aber gar nicht. Er hat mirerklärt, er wollte mit mir über ein noch sehr vages Pro-jekt sprechen. Er wollte nur meine Meinung dazu wis-sen. Er hätte die Absicht, in Paris ein Büro zu eröffnen,das seine Geschäfte mit den großen Firmen an Ort undStelle und direkt führen sollte, und er wollte wissen, obich bereit wäre hinzugehen. Das würde es mir ermög-lichen, in Paris zu leben und auch einen Teil des Jahreszu reisen. «Sie sind jung, und mir scheint, es ist ein Le-ben, das Ihnen gefallen muß.» Ich habe ja gesagt, daß esmir im Grunde aber egal wäre. Da hat er mich gefragt,ob mich eine Änderung in meinem Leben nicht reizenwürde. Ich habe geantwortet, daß man sein Leben nieänderte, daß eins so gut wie das andere wäre und daßmein Leben hier mir keineswegs mißfiele. Er hat einunzufriedenes Gesicht gemacht, hat gesagt, ich würdeimmer ausweichend antworten, ich hätte keinen Ehr-geiz, und das wäre im Geschäftsleben katastrophal. Ichbin dann wieder an meine Arbeit gegangen. Es wäre mirlieber gewesen, ihm keinen Anlaß zur Unzufriedenheitzu geben, aber ich sah keinen Grund, mein Leben zuändern. Wenn ich recht darüber nachdachte, war ichnicht unglücklich. Als ich studierte, hatte ich viele der-artige Ambitionen. Aber als ich mein Studium aufge-ben mußte, ist mir sehr schnell klargeworden, daß dasalles ohne wirklichen Belang ist.

Abends hat Marie mich abgeholt und hat mich ge-fragt, ob ich sie heiraten wollte. Ich habe gesagt, daswäre mir egal, und wir könnten es tun, wenn sie es

Page 50: Albert Camus - Der Fremde

51

wollte. Sie hat dann wissen wollen, ob ich sie liebte. Ichhabe geantwortet wie schon einmal, daß das nichts hei-ßen wollte, daß ich sie aber zweifellos nicht liebte.«Warum willst du mich dann heiraten?» hat sie gesagt.Ich habe ihr erklärt, daß das völlig belanglos wäre unddaß wir, wenn sie es wünschte, heiraten könnten. Imübrigen wäre sie es, die fragte, und ich würde lediglichja sagen. Sie hat dann zu bedenken gegeben, daß die Eheeine ernste Sache wäre. Ich habe «Nein» geantwortet.Sie hat eine Weile geschwiegen und mich stumm ange-sehen. Dann hat sie geredet. Sie wollte nur wissen, obich den gleichen Vorschlag auch von einer anderen Frauangenommen hätte, mit der ich auf die gleiche Weiseverbunden wäre. Ich habe «Natürlich» gesagt. Da hatsie sich gefragt, ob sie mich liebte, und ich konnte dazunichts sagen. Nach einem weiteren Moment desSchweigens hat sie gemurmelt, daß ich seltsam wäre,daß sie mich wahrscheinlich deswegen liebte, daß ichihr aber vielleicht eines Tages aus ebendiesen Gründenzuwider sein würde. Da ich schwieg, weil ich nichtshinzuzufügen hatte, nahm sie mich lächelnd beim Armund erklärte, sie wollte mich heiraten. Ich habe geant-wortet, wir täten es, sobald sie wollte. Ich habe ihr dannvom Vorschlag des Chefs erzählt, und Marie hat gesagt,sie würde Paris gern kennenlernen. Sie erfuhr von mir,daß ich früher einmal dort gelebt hatte, und sie hat michgefragt, wie es wäre. Ich habe gesagt: «Es ist schmutzig.Es gibt Tauben und finstere Höfe. Die Leute sind ganzblaß.»

Page 51: Albert Camus - Der Fremde

52

Dann sind wir auf den Hauptstraßen quer durch dieStadt gegangen. Die Frauen waren schön, und ich habeMarie gefragt, ob es ihr auffiele. Sie hat ja gesagt unddaß sie mich verstände. Eine Zeitlang haben wir nichtmehr gesprochen. Ich wollte jedoch, daß sie bei mirblieb, und habe ihr gesagt, wir könnten zusammen beiCéleste zu Abend essen. Sie hatte große Lust dazu, abersie hatte zu tun. Wir waren in der Nähe meiner Woh-nung, und ich habe ihr auf Wiedersehen gesagt. Sie hatmich angesehen: «Willst du nicht wissen, was ich zutun habe?» Ich wollte es gern wissen, aber ich hattenicht daran gedacht, und ebendas schien sie mir vorzu-werfen. Bei meinem betretenen Gesicht hat sie dannwieder gelacht und hat sich mir mit dem ganzen Körperzugewandt, um mir ihren Mund anzubieten.

Ich habe bei Céleste zu Abend gegessen. Ich hatteschon angefangen, als eine seltsame kleine Frau herein-kam, die mich gefragt hat, ob sie sich an meinen Tischsetzen dürfte. Natürlich durfte sie das. Sie hatte ruck-artige Bewegungen und glänzende Augen in einemkleinen Apfelgesicht. Sie hat ihre Jacke abgelegt, hatsich hingesetzt und fieberhaft die Speisekarte studiert.Sie hat Céleste gerufen und mit zugleich präziser undhastiger Stimme alle Gänge auf einmal bestellt. Wäh-rend sie auf die Vorspeise wartete, hat sie ihre Hand-tasche geöffnet, hat einen kleinen Zettel und einenBleistift herausgeholt, hat im voraus die Rechnung zu-sammengezählt, hat dann aus einer Westentasche dengenauen Betrag zuzüglich Trinkgeld genommen, den

Page 52: Albert Camus - Der Fremde

53

sie vor sich hingelegt hat. In diesem Moment ist ihr dieVorspeise gebracht worden, die sie in Windeseile hin-untergeschlungen hat. Während sie auf den nächstenGang wartete, hat sie wieder einen blauen Stift und eineZeitschrift mit dem Rundfunkprogramm der Wocheaus ihrer Tasche gezogen. Mit großer Sorgfalt hat sienacheinander fast alle Sendungen angekreuzt. Da dieZeitschrift etwa zwölf Seiten hatte, hat sie diese Arbeitwährend des ganzen Essens pingelig fortgesetzt. Ichwar schon fertig, als sie mit demselben Eifer noch im-mer ankreuzte. Dann ist sie aufgestanden, hat mit dengleichen roboterhaft präzisen Bewegungen ihre Jackewieder angezogen und ist gegangen. Da ich nichts zutun hatte, bin ich auch gegangen und bin ihr eine Weilegefolgt. Sie hatte sich auf den Bordstein begeben undging mit unglaublicher Geschwindigkeit und Sicherheitihren Weg, ohne abzuweichen und ohne sich umzudre-hen. Ich habe sie schließlich aus den Augen verlorenund bin umgekehrt. Ich habe gedacht, daß sie abson-derlich wäre, aber ich habe sie ziemlich schnell verges-sen.

Vor meiner Tür habe ich den alten Salamano ange-troffen. Ich habe ihn hereingebeten, und er hat mir mit-geteilt, sein Hund wäre verloren, denn er wäre nicht imPfandstall. Die Angestellten hätten ihm gesagt, er wärevielleicht überfahren worden. Er hätte gefragt, ob er esnicht auf den Polizeirevieren erfahren könnte. Manhätte ihm geantwortet, daß solche Sachen nicht regi-striert würden, weil sie täglich vorkommen. Ich habe

Page 53: Albert Camus - Der Fremde

54

dem alten Salamano gesagt, er könnte doch einen ande-ren Hund haben, aber er hat mich zu Recht darauf hin-gewiesen, daß er an diesen gewöhnt wäre.

Ich hockte auf meinem Bett, und Salamano hatte sichauf einen Stuhl am Tisch gesetzt. Er saß mir gegenüberund hatte die Hände auf den Knien. Er hatte seinen al-ten Filzhut aufbehalten. Er murmelte Halbsätze unterseinem gelb verfärbten Schnurrbart hervor. Er lang-weilte mich ein bißchen, aber ich hatte nichts zu tunund war nicht müde. Um etwas zu sagen, habe ich ihnüber seinen Hund ausgefragt. Er hat mir gesagt, er hätteihn nach dem Tod seiner Frau bekommen. Er hätteziemlich spät geheiratet. In seiner Jugend hätte er Lustgehabt, Schauspieler zu werden: beim Militär hätte erin Soldatenschwänken mitgewirkt. Aber schließlichwäre er zur Eisenbahn gegangen, und er bereute esnicht, weil er jetzt eine kleine Rente hätte. Er wäre mitseiner Frau nicht glücklich gewesen, aber im ganzenhätte er sich gut an sie gewöhnt. Als sie gestorben wäre,hätte er sich sehr einsam gefühlt. Da hätte er einen Ka-meraden in der Werkstatt um einen Hund gebeten undhätte diesen sehr jung bekommen. Er hätte ihn mit derFlasche aufziehen müssen. Doch da ein Hund ein kür-zeres Leben hat als ein Mensch, wären sie schließlichzusammen alt geworden. «Er hatte einen schlechtenCharakter», hat Salamano gesagt. «Ab und zu gerietenwir aneinander. Aber er war trotzdem ein guterHund.» Ich habe gesagt, er hätte Rasse gehabt, und Sa-lamano hat erfreut ausgesehen. «Und dabei haben Sie

Page 54: Albert Camus - Der Fremde

55

ihn nicht vor seiner Krankheit gekannt», hat er hinzu-gefügt. «Das Fell war das Schönste an ihm.» Seit erdiese Hautkrankheit hatte, schmierte Salamano ihn je-den Abend und jeden Morgen mit Salbe ein. Aber sei-ner Ansicht nach war seine wahre Krankheit das Alter,und das Alter kann man nicht heilen.

In dem Moment habe ich gegähnt, und der Alte hatmir angekündigt, daß er gleich ginge. Ich habe ihm ge-sagt, daß er bleiben könnte und daß es mir leid täte, wasmit seinem Hund passiert wäre: er hat mir gedankt. Erhat gesagt, Mama hätte seinen Hund sehr gern ge-mocht. Er sprach von ihr als «Ihrer armen Mutter». Erhat die Vermutung geäußert, ich müßte sehr unglück-lich sein, seit Mama tot wäre, und ich habe nichts ge-antwortet. Er hat mir dann, sehr schnell und verlegen,gesagt, er wüßte, daß man im Viertel eine schlechteMeinung von mir hätte, weil ich meine Mutter insHeim gebracht hätte, aber er würde mich kennen under wüßte, daß ich Mama sehr liebte. Ich habe geantwor-tet, ich weiß noch immer nicht, warum, ich hätte bisjetzt nicht gewußt, daß man deswegen eine schlechteMeinung von mir hätte, daß das Heim mir aber als einenatürliche Sache erschienen wäre, da ich nicht genugGeld hätte, Mama pflegen zu lassen. «Außerdem»,habe ich hinzugefügt, «hatte sie mir seit langem nichtszu sagen und langweilte sich ganz allein.» - «Ja, und imHeim findet man wenigstens Freunde», hat er gesagt.Dann hat er sich entschuldigt. Er wollte schlafen. SeinLeben hätte sich jetzt verändert, und er wüßte nicht so

Page 55: Albert Camus - Der Fremde

56

recht, was er tun sollte. Zum erstenmal, seit ich ihnkannte, hat er mir mit einer verstohlenen Geste dieHand gegeben, und ich habe seine Hautschuppen ge-fühlt. Er hat ein wenig gelächelt und hat, bevor er ging,zu mir gesagt: «Ich hoffe, die Hunde bellen heute nachtnicht. Ich denke immer, es ist meiner.»

Page 56: Albert Camus - Der Fremde

57

VI

Am Sonntag hatte ich Mühe aufzuwachen, und Mariemußte mich rufen und schütteln. Wir haben nicht ge-gessen, weil wir früh baden wollten. Ich fühlte michvöllig leer und hatte ein bißchen Kopfschmerzen.Meine Zigarette schmeckte bitter. Marie hat sich übermich lustig gemacht, weil sie sagte, ich hätte «eine Lei-chenbittermiene». Sie hatte ein weißes Leinenkleid anund trug das Haar offen. Ich habe ihr gesagt, sie wäreschön, und sie hat vor Freude gelacht.

Im Hinuntergehen haben wir an Raymonds Tür ge-klopft. Er hat uns geantwortet, er käme herunter. We-gen meiner Müdigkeit und auch weil wir die Jalousiennicht geöffnet hatten, hat mich auf der Straße das schonsonnenpralle Tageslicht wie eine Ohrfeige getroffen.Marie hüpfte vor Freude und sagte unaufhörlich, wieschön das Wetter wäre. Ich habe mich besser gefühltund habe gemerkt, daß ich Hunger hatte. Ich habe esMarie gesagt, die mir ihre Wachstuchtasche zeigte, indie sie unsere beiden Badeanzüge und ein Handtuchgesteckt hatte. Mir blieb nichts anderes übrig, als zuwarten, und wir hörten, wie Raymond seine Türschloß. Er trug eine blaue Hose und ein weißes Hemdmit kurzen Ärmeln. Aber er hatte einen flachen Stroh-

Page 57: Albert Camus - Der Fremde

58

hut aufgesetzt, worüber Marie lachen mußte, und seineUnterarme waren unter den schwarzen Härchen sehrweiß. Es hat mich ein bißchen abgestoßen. Er pfiff beimHinuntergehen und sah sehr zufrieden aus. Er hat«Salut, alter Junge» zu mir gesagt und hat Marie«Mademoiselle» genannt.

Am Tag zuvor waren wir auf das Kommissariat ge-gangen, und ich hatte bezeugt, daß das Mädchen Ray-mond «in seiner Ehre verletzt» hätte. Er ist mit einerVerwarnung davongekommen. Meine Behauptungwurde nicht überprüft. Vor der Haustür haben Ray-mond und ich darüber gesprochen, dann haben wir be-schlossen, den Bus zu nehmen. Es war nicht weit bis zumStrand, aber so würden wir schneller hinkommen. Ray-mond meinte, sein Freund würde sich freuen, wenn wirfrüh kämen. Wir wollten gerade gehen, als Raymondmir auf einmal einen Wink gegeben hat, auf die andereStraßenseite zu schauen. Ich habe eine Gruppe vonArabern gesehen, die an das Schaufenster des Tabak-ladens gelehnt standen. Sie sahen uns schweigend an,aber auf ihre Weise, nicht anders, als wenn wir Steineoder abgestorbene Bäume wären. Raymond hat mir ge-sagt, der zweite von links wäre sein Mann, und er sahbesorgt aus. Er hat hinzugefügt, die Sache wäre j etzt abererledigt. Marie verstand nicht so recht und hat gefragt,was los wäre. Ich habe ihr gesagt, daß das Araber wären,die es auf Raymond abgesehen hätten. Sie wollte, daßwir sofort gingen. Raymond hat sich gereckt, hat gelachtund gesagt, wir müßten uns beeilen.

Page 58: Albert Camus - Der Fremde

59

Wir sind zur Bushaltestelle gegangen, die ein Stückweiter war, und Raymond hat mich darauf aufmerksamgemacht, daß die Araber uns nicht folgten. Ich habemich umgedreht. Sie standen immer noch am selbenFleck und betrachteten mit derselben Gleichgültigkeitdie Stelle, die wir gerade verlassen hatten. Wir habenden Bus genommen. Raymond, der ganz erleichtertwirkte, scherzte unaufhörlich mit Marie. Ich habe ge-merkt, daß sie ihm gefiel, aber sie ging fast nicht auf ihnein. Ab und zu sah sie ihn lachend an.

Wir sind im Außenbezirk von Algier ausgestiegen.Der Strand ist nicht weit von der Bushaltestelle ent-fernt. Aber wir mußten über ein kleines Plateau gehen,das über dem Meer liegt und dann zum Strand hin ab-fällt. Es war übersät mit gelblichen Steinen und Affo-dillen, die schneeweiß gegen das schon grelle Blau desHimmels standen. Marie machte sich einen Spaß dar-aus, die Blüten durch heftige Schläge mit ihrer Wachs-tuchtasche zu entblättern. Wir sind zwischen Reihenkleiner Villen mit grünen oder weißen Zäunen entlang-gelaufen, von denen manche mit ihren Veranden vonden Tamarisken überwuchert waren, andere nackt in-mitten der Steine standen. Bevor man an den Rand desPlateaus kam, konnte man schon das unbewegte Meerund weiter entfernt ein im klaren Wasser schlummern-des, wuchtiges Kap sehen. Ein leises Motorengeräuschist in der stillen Luft bis zu uns hinaufgedrungen. Undwir haben sehr weit draußen einen kleinen Schlepp-netzdampfer gesehen, der sich unmerklich auf dem

Page 59: Albert Camus - Der Fremde

60

glänzenden Meer vorwärts bewegte. Marie hat ein paarFelslilien gepflückt. Von dem Abhang aus, der sichzum Meer herabsenkte, haben wir gesehen, daß schoneinige Badende da waren.

Raymonds Freund bewohnte eine kleine Holzhütteam äußersten Ende des Strandes. Das Haus war hintengegen Felsen gebaut, und die Pfähle, die es an der Vor-derseite stützten, standen schon im Wasser. Raymondhat uns vorgestellt. Sein Freund hieß Masson. Er warein großer Kerl, massig in der Statur und in den Schul-tern, mit einer runden und freundlichen kleinen Fraumit Pariser Akzent. Er hat uns sofort gesagt, wir solltenes uns bequem machen und es gäbe gebratene Fische,die er am Morgen gefangen hätte. Ich habe ihm gesagt,wie hübsch ich sein Haus fände. Er erzählte, daß er denSamstag, den Sonntag und alle seine Urlaubstage hierverbrächte. «Mit meiner Frau kommt man gut aus», hater hinzugefügt. Gerade da lachte seine Frau mit Marie.Zum erstenmal vielleicht habe ich wirklich gedacht,daß ich heiraten würde.

Masson wollte baden, aber seine Frau und Raymondwollten nicht mitkommen. Wir drei sind hinunterge-gangen, und Marie hat sich gleich ins Wasser gestürzt.Masson und ich haben ein wenig gewartet. Er sprachlangsam, und ich habe bemerkt, daß er die Angewohn-heit hatte, alles, was er von sich gab, mit einem «und ichwürde sogar sagen» zu ergänzen, auch wenn er eigent-lich der Aussage seines Satzes nichts hinzufügte. ÜberMarie hat er mir gesagt: «Sie ist toll, und ich würde

Page 60: Albert Camus - Der Fremde

61

sogar sagen reizend.» Dann habe ich diesen Tick nichtmehr beachtet, weil ich mit dem Empfinden beschäftigtwar, daß die Sonne mir guttat. Der Sand begann sichunter den Füßen zu erwärmen. Ich habe meine Lust aufdas Wasser noch hingezogen, aber schließlich habe ichzu Masson gesagt: «Gehen wir rein?» Ich bin hineinge-taucht. Er ist langsam ins Wasser gegangen und hat sicherst hineingestürzt, als er keinen Grund mehr unter denFüßen hatte. Er schwamm in Brustlage und ziemlichschlecht, so daß ich ihn allein gelassen habe, um Marieeinzuholen. Das Wasser war kalt, und ich war froh zuschwimmen. Marie und ich sind weit hinausge-schwommen, und wir fühlten uns eins in unseren Be-wegungen und in unserer Freude.

Im offenen Meer haben wir den toten Mann gemacht,und die Sonne beseitigte auf meinem dem Himmel zu-gewandten Gesicht den letzten Wasserfilm, der mir inden Mund rann. Wir haben gesehen, daß Masson zumStrand zurückschwamm und sich in die Sonne legte.Von weitem wirkte er hünenhaft. Marie wollte, daß wirzusammen schwammen. Ich habe mich hinter sie be-wegt, um sie um die Taille zu fassen, und sie schwammnur mit den Armen vorwärts, während ich ihr half, in-dem ich mit den Füßen schlug. Das leichte Klatschendes Wassers hat uns in den Vormittag begleitet, bis ichmich erschöpft fühlte. Da habe ich Marie losgelassenund bin in gleichmäßigen Stößen und tief atmend zu-rückgeschwommen. Am Strand habe ich mich bäuch-lings neben Masson ausgestreckt und habe das Gesicht

Page 61: Albert Camus - Der Fremde

62

in den Sand gelegt. Ich habe zu ihm gesagt, daß «es gut-täte», und er war der gleichen Meinung. Kurz darauf istMarie gekommen. Ich habe mich umgedreht, um ihrzuzusehen, wie sie auf mich zuging. Sie war ganz kleb-rig vor Salzwasser und hielt ihr Haar nach hinten. Siehat sich dicht neben mich gelegt, und die Wärme ihresKörpers und die der Sonne haben mich ein bißchen ein-schlafen lassen.

Marie hat mich gerüttelt und hat gesagt, Massonwäre ins Haus hinaufgegangen, wir müßten essen. Ichbin sofort aufgestanden, weil ich Hunger hatte, aberMarie hat gesagt, ich hätte sie seit dem Morgen nichtgeküßt. Das stimmte, und dabei hatte ich Lust dazu.«Komm mit ins Wasser», hat sie gesagt. Wir sind gelau-fen, um uns in die ersten kleinen Wellen zu legen. Wirsind ein paar Züge geschwommen, und sie hat sich anmich gepreßt. Ich habe ihre Beine um meine gefühltund habe sie begehrt.

Als wir zurückkamen, hat Masson schon gerufen.Ich habe gesagt, ich hätte großen Hunger, und er hatseiner Frau gleich verkündet, daß ich ihm gefiele. DasBrot war gut, ich habe meine Portion Fisch verschlun-gen. Dann gab es Fleisch und Pommes frites. Wir aßenalle, ohne zu sprechen. Masson trank oft Wein und goßmir ständig nach. Beim Kaffee hatte ich einen etwasschweren Kopf und habe viel geraucht. Masson, Ray-mond und ich haben erwogen, den August zusammenam Strand zu verbringen, auf gemeinsame Kosten. Ma-rie hat auf einmal gesagt: «Wißt ihr, wieviel Uhr es ist?

Page 62: Albert Camus - Der Fremde

63

Es ist halb zwölf.» Wir waren alle erstaunt, aber Mas-son hat gesagt, wir hätten sehr früh gegessen, und daswäre normal, weil die Zeit fürs Mittagessen die Zeitwäre, wo man Hunger hat. Ich weiß nicht, warum Ma-rie darüber lachen mußte. Ich glaube, sie hatte ein biß-chen zuviel getrunken. Masson hat mich dann gefragt,ob ich mit ihm am Strand Spazierengehen wollte.«Meine Frau legt sich nach dem Essen immer hin. Ichmag das nicht. Ich muß laufen. Ich sage ihr immer, daßes gesünder ist. Aber schließlich ist es ihr Recht.» Mariehat erklärt, sie bliebe da, um Madame Masson beim Ab-wasch zu helfen. Die kleine Pariserin hat gesagt, deswe-gen müßte man die Männer hinauswerfen. Wir dreisind an den Strand hinuntergegangen.

Die Sonne fiel fast senkrecht auf den Sand, und ihrGlanz auf dem Meer war unerträglich. Es war keinMensch mehr am Strand. Aus den Hütten, die am Randdes Plateaus über dem Meer standen, hörte man dasKlappern von Tellern und von Besteck. Man atmete mitMühe in der trockenen Hitze, die vom Boden aufstieg.Anfangs haben Raymond und Masson über Dinge undLeute geredet, die ich nicht kannte. Mir ist klargewor-den, daß sie sich schon lange kannten und daß sie sogarirgendwann zusammengewohnt hatten. Wir sind ansWasser gegangen und sind am Meer entlanggelaufen.Manchmal hat eine längere kleinere Welle unsere Segel-tuchschuhe umspült. Ich dachte an nichts, weil dieseSonne auf meinem bloßen Kopf mich schläfrig gemachthatte.

Page 63: Albert Camus - Der Fremde

64

In dem Moment hat Raymond etwas zu Masson ge-sagt, was ich nicht recht verstanden habe. Aber ich habegleichzeitig ganz am Ende des Strandes und sehr weitweg von uns zwei Araber in Blaumännern erblickt, dieauf uns zukamen. Ich habe Raymond angesehen, und erhat zu mir gesagt: «Das ist er.» Wir sind weitergegan-gen. Masson hat gefragt, wie sie uns bis hierher hättenfolgen können. Ich habe gedacht, daß sie gesehen habenmußten, wie wir mit einer Badetasche in den Bus stie-gen, aber ich habe nichts gesagt.

Die Araber rückten langsam vor und waren schonviel näher. Wir haben unser Tempo nicht geändert, aberRaymond hat gesagt: «Wenn es eine Schlägerei gibt,nimmst du, Masson, den zweiten. Ich übernehme mei-nen Typ. Du, Meursault, wenn noch einer kommt, ister für dich.» Ich habe «Ja» gesagt, und Masson hat dieHände in die Taschen gesteckt. Der überhitzte Sanderschien mir jetzt rot. Wir gingen mit gleich großenSchritten auf die Araber zu. Der Abstand zwischen unshat sich stetig verringert. Als wir ein paar Schritte aus-einander waren, sind die Araber stehengeblieben. Mas-son und ich haben unseren Schritt verlangsamt. Ray-mond ist schnurstracks auf seinen Typ zugegangen. Ichkonnte nicht verstehen, was er zu ihm gesagt hat, aberder andere hat Anstalten gemacht, ihm einen Kopfstoßzu geben. Da hat Raymond ein erstes Mal zugeschlagenund hat sofort Masson gerufen. Masson ist auf den los-gegangen, der ihm zugewiesen worden war, und hatzweimal mit voller Wucht zugeschlagen. Der Araber ist

Page 64: Albert Camus - Der Fremde

65

flach ins Wasser gefallen, mit dem Gesicht auf denGrund, und ist ein paar Sekunden so liegengeblieben,während rings um seinen Kopf Blasen an der Oberflä-che platzten. Unterdessen hat auch Raymond zuge-schlagen, und der andere hatte das Gesicht voll Blut.Raymond hat sich zu mir umgedreht und hat gesagt:«Gleich kannst du sehen, was der abbekommt.» Ichhabe ihm zugerufen: «Vorsicht, er hat ein Messer!»Aber schon hatte Raymond einen Schnitt im Arm undeinen aufgeschlitzten Mund.

Masson ist nach vorn gesprungen. Aber der andereAraber hatte sich wieder aufgerappelt und hat sichhinter den, der bewaffnet war, gestellt. Wir habennicht gewagt, uns zu rühren. Sie sind langsam zurück-gewichen, wobei sie uns unablässig ansahen und mitdem Messer in Schach hielten. Als sie merkten, daß siegenug Abstand hatten, sind sie sehr schnell davonge-laufen, während wir wie angewurzelt in der Sonne ste-henblieben und Raymond seinen bluttriefenden Armfesthielt.

Masson hat gleich gesagt, es gäbe einen Doktor, derseine Sonntage auf dem Plateau verbrächte. Raymondwollte gleich hingehen. Aber jedesmal, wenn ersprach, bildete das Blut aus der Wunde Blasen in sei-nem Mund. Wir haben ihn gestützt und sind so schnellwie möglich zur Hütte zurückgekehrt. Dort hat Ray-mond gesagt, seine Verletzungen wären oberflächlichund er könnte zum Doktor gehen. Er hat sich mitMasson auf den Weg gemacht, und ich bin dageblie-

Page 65: Albert Camus - Der Fremde

66

ben, um den Frauen zu erklären, was passiert war.Madame Masson weinte, und Marie war sehr blaß. Mirwar das langweilig, es ihnen zu erklären. Ich habeschließlich geschwiegen und habe rauchend aufs Meergeschaut.

Gegen halb zwei ist Raymond mit Masson zurückge-kommen. Er hatte den Arm verbunden und ein Pflasterauf dem Mundwinkel. Der Doktor hatte ihm gesagt, eswäre nicht schlimm, aber Raymond sah sehr düster aus.Masson hat versucht, ihn zum Lachen zu bringen. Aberer redete immer noch nicht. Als er gesagt hat, er gingean den Strand hinunter, habe ich ihn gefragt, wohin erdenn wollte. Er hat geantwortet, er wollte an die frischeLuft. Masson und ich haben gesagt, wir würden ihn be-gleiten. Da ist er wütend geworden und hat uns be-schimpft. Masson hat erklärt, man dürfte ihn nicht rei-zen. Ich bin ihm trotzdem gefolgt.

Wir sind lange am Strand entlanggegangen. DieSonne war jetzt drückend. Sie zerbrach auf dem Sandund auf dem Meer in Splitter. Ich hatte den Eindruck,daß Raymond wußte, wohin er ging, aber das war wohlfalsch. Ganz am Ende des Strandes sind wir schließlichzu einer kleinen Quelle hinter einem großen Felsen ge-kommen, die durch den Sand floß. Dort sind wir aufunsere beiden Araber gestoßen. Sie lagen in ihrem öli-gen Blaumann da. Sie wirkten vollkommen ruhig undfast zufrieden. Unser Kommen hat nichts geändert.Der, der auf Raymond eingestochen hatte, sah ihn an,ohne etwas zu sagen. Der andere blies auf einer kleinen

Page 66: Albert Camus - Der Fremde

67

Flöte und wiederholte, während er uns aus dem Augen-winkel ansah, unentwegt die drei Töne, die er aus sei-nem Instrument herausholen konnte.

Während dieser ganzen Zeit war da nichts als dieSonne und diese Stille mit dem leisen Murmeln derQuelle und den drei Tönen. Dann hat Raymond dieHand an seine hintere Hosentasche geführt, aber derandere hat sich nicht gerührt, und sie sahen sich immernoch an. Ich habe bemerkt, daß der, der Flöte spielte,sehr weit auseinanderstehende Zehen hatte. Aber ohneseinen Gegner aus den Augen zu lassen, hat Raymondmich gefragt: «Soll ich ihn abknallen?» Ich habe ge-dacht, daß er, wenn ich nein sagte, von ganz allein inRage geraten und bestimmt schießen würde. Ich habebloß gesagt: «Er hat noch nichts zu dir gesagt. Daswürde gemein aussehen, einfach so zu schießen.» Manhat wieder das leise Geräusch des Wassers und derFlöte im Herzen der Stille und der Hitze gehört. Dannhat Raymond gesagt: «Also, ich beschimpfe ihn, undwenn er antwortet, knalle ich ihn ab.» Ich habe geant-wortet: «Genau. Aber wenn er sein Messer nicht zieht,kannst du nicht schießen.» Raymond geriet allmählichetwas in Rage. Der andere spielte immer noch, undbeide beobachteten jede Geste von Raymond. «Nein»,habe ich zu Raymond gesagt. «Schlag dich mit ihm vonMann zu Mann und gib mir deinen Revolver. Wenn derandere eingreift oder wenn er sein Messer zieht, knalleich ihn ab.»

Als Raymond mir seinen Revolver gegeben hat, ist

Page 67: Albert Camus - Der Fremde

68

die Sonne darüber hinweggehuscht. Doch wir habenuns immer noch nicht gerührt, als hätte sich allesum uns herum geschlossen. Wir sahen uns an, ohneden Blick zu senken, und alles kam hier zwischendem Meer, dem Sand und der Sonne, der zweifachenStille der Flöte und des Wassers zum Stillstand. Ichhabe in dem Moment gedacht, man könnte schießenoder nicht schießen. Aber plötzlich haben sich dieAraber rückwärts hinter den Felsen verzogen. Ray-mond und ich sind darauf wieder umgekehrt. Er sahbesser aus, und er hat von dem Bus für die Rückfahrtgesprochen.

Ich habe ihn bis zur Hütte begleitet, und währender die Holztreppe hinaufstieg, bin ich an der unterstenStufe stehengeblieben, mit vor Sonne dröhnendemKopf, abgeschreckt von der Anstrengung, die nötigwar, um auf die Holzplattform zu steigen und wiedermit den Frauen zu sprechen. Aber die Hitze war sogroß, daß es auch qualvoll war, unter dem blendendenRegen, der vom Himmel fiel, stillzustehen. Hierblei-ben oder weggehen lief auf dasselbe hinaus. Nacheiner Weile bin ich wieder an den Strand zurückge-kehrt und losgegangen.

Es war dieselbe rote Explosion. Auf dem Sand he-chelte das Meer mit den schnellen, erstickten Atemzü-gen seiner kleinen Wellen. Ich ging langsam in Rich-tung der Felsen und fühlte meine Stirn unter der Sonneanschwellen. Diese ganze Hitze stemmte sich auf michund widersetzte sich meinem Vorankommen. Und je-

Page 68: Albert Camus - Der Fremde

69

desmal, wenn ich ihren starken heißen Atem auf mei-nem Gesicht fühlte, biß ich die Zähne zusammen, balltedie Fäuste in den Hosentaschen, spannte mich ganz an,um die Sonne und diesen undurchdringlichen Taumel,den sie über mich ergoß, zu bezwingen. Bei jedemLichtschwert, das aus dem Sand emporgeschossenkam, aus einer gebleichten Muschel oder einer Glas-scherbe, verkrampften sich meine Kiefer. Ich bin langegegangen.

Ich sah von weitem die kleine dunkle Masse des Fel-sens, umgeben von einem blendenden Hof aus Lichtund Meeresdunst. Ich dachte an die kühle Quelle hinterdem Felsen. Ich hatte Lust, das Murmeln ihres Wasserswiederzuhören, Lust, der Sonne, der Anstrengung undden Frauentränen zu entfliehen, Lust, den Schatten undseine Ruhe wiederzufinden. Aber als ich näher heranwar, habe ich gesehen, daß Raymonds Typ zurückge-kommen war.

Er war allein. Er lag entspannt auf dem Rücken, dieHände unter dem Nacken, den Kopf im Schatten desFelsens, mit dem Körper ganz in der Sonne. Sein Blau-mann dampfte in der Hitze. Ich war ein bißchen über-rascht. Für mich war diese Geschichte erledigt, und ichwar dahin gekommen, ohne daran zu denken.

Sobald er mich sah, hat er sich ein wenig aufgerichtetund hat die Hand in die Tasche gesteckt. Ich habe na-türlich Raymonds Revolver in meiner Jacke fester um-faßt. Dann hat er sich wieder nach hinten sinken lassen,aber ohne die Hand aus der Tasche zu nehmen. Ich war

Page 69: Albert Camus - Der Fremde

70

ziemlich weit von ihm entfernt, etwa zehn Meter. Ichahnte hin und wieder seinen Blick durch seine halb-geschlossenen Lider. Aber meistens tanzte sein Bildvor meinen Augen in der lodernden Luft. Das Ge-räusch der Wellen war noch träger, noch verhaltenerals am Mittag. Es war dieselbe Sonne, dasselbe Lichtauf demselben Sand, der sich bis hierhin erstreckte.Schon seit zwei Stunden rückte der Tag nicht weitervor, zwei Stunden, seit er in einem Ozean aus kochen-dem Metall Anker geworfen hatte. Am Horizont istein kleiner Dampfer vorbeigezogen, und ich habe sei-nen schwarzen Fleck am Rande meines Blickfelds ge-ahnt, weil ich ununterbrochen den Araber angesehenhabe.

Ich habe gedacht, daß ich nur umzukehren brauchte,und es wäre vorbei. Aber der ganze vor Sonne flim-mernde Strand drängte sich hinter mir. Ich bin einpaar Schritte auf die Quelle zugegangen. Der Araberhat sich nicht gerührt. Trotz allem war er noch ziem-lich weit weg. Vielleicht wegen der Schatten auf sei-nem Gesicht sah er so aus, als ob er lachte. Ich habegewartet. Das Brennen der Sonne stieg mir in die Wan-gen, und ich habe gespürt, daß sich Schweißtropfen inmeinen Augenbrauen sammelten. Es war dieselbe Sonnewie an dem Tag, als ich Mama beerdigt habe, und wieneulich tat mir vor allem die Stirn weh, und alle ihreAdern pochten auf einmal unter der Haut. Wegen diesesBrennens, das ich nicht mehr aushaken konnte, habe icheine Bewegung nach vorn gemacht. Ich wußte, daß es

Page 70: Albert Camus - Der Fremde

71

dumm war, daß ich die Sonne nicht los würde, wennich mich einen Schritt von der Stelle bewegte. Aber ichhabe einen Schritt gemacht, einen einzigen Schrittnach vorn. Und diesmal hat der Araber, ohne sich auf-zurichten, sein Messer gezogen und es mir in derSonne vorgezeigt. Das Licht ist auf dem Stahl aufge-spritzt, und es war wie eine lange funkelnde Klinge,die mich an der Stirn traf. Im selben Augenblick ist derin meinen Brauen angesammelte Schweiß mit einem-mal über die Lider gelaufen und hat sie mit einemwarmen, zähen Schleier überzogen. Meine Augen wa-ren hinter diesem Vorhang aus Tränen und Salz blind.Ich fühlte nur noch die Beckenschläge der Sonne aufmeiner Stirn und, undeutlich, das aus dem Messer her-vorgeschossene glänzende Schwert, das immer nochvor mir war. Diese glühende Klinge zerfraß meineWimpern und wühlte in meinen schmerzenden Au-gen. Und da hat alles gewankt. Das Meer hat einen zä-hen, glühenden Brodem verbreitet. Es ist mir vorge-kommen, als öffnete sich der Himmel in seiner ganzenWeite, um Feuer herabregnen zu lassen. Mein ganzesSein hat sich angespannt, und ich habe die Hand umden Revolver geklammert. Der Abzug hat nachgege-ben, ich habe die glatte Einbuchtung des Griffes be-rührt, und da, in dem zugleich harten und betäuben-den Knall, hat alles angefangen. Ich habe den Schweißund die Sonne abgeschüttelt. Mir wurde klar, daß ichdas Gleichgewicht des Tages zerstört hatte, die außer-gewöhnliche Stille eines Strandes, an dem ich glücklich

Page 71: Albert Camus - Der Fremde

72

gewesen war. Da habe ich noch viermal auf einen leblo-sen Körper geschossen, in den die Kugeln eindrangen,ohne daß man es ihm ansah. Und es war wie vier kurzeSchläge, mit denen ich an das Tor des Unglücks häm-merte.

Page 72: Albert Camus - Der Fremde

73

II.

Page 73: Albert Camus - Der Fremde

74

I

Gleich nach meiner Verhaftung bin ich mehrmals ver-hört worden. Aber es handelte sich um Vernehmungenzur Person, die nicht lange gedauert haben. Beim er-stenmal auf dem Polizeirevier schien meine Sache nie-mand zu interessieren. Acht Tage später hat der Unter-suchungsrichter mich dagegen neugierig angesehen.Aber zunächst einmal hat er mich nur nach meinemNamen und meiner Anschrift, meinem Beruf, dem Ge-burtsdatum und -ort gefragt. Dann wollte er wissen, obich mir einen Anwalt ausgesucht hätte. Ich habe zuge-geben, daß ich es nicht getan hätte, und habe ihn aus-gefragt, ob es unbedingt nötig wäre, einen zu haben.«Warum?» hat er gesagt. Ich habe geantwortet, ichfände meine Sache sehr einfach. Er hat lächelnd gesagt:«Das ist auch eine Ansicht. Doch dafür ist das Gesetzda. Wenn Sie sich keinen Anwalt aussuchen, werdenwir einen Pflichtverteidiger bestellen.» Ich fand, daß essehr bequem war, daß die Justiz sich um diese Einzel-heiten kümmerte. Ich habe es ihm gesagt. Er hat mirzugestimmt und hat den Schluß gezogen, daß das Ge-setz gut wäre.

Anfangs habe ich ihn nicht ernstgenommen. Er hatmich in einem Zimmer mit geschlossenen Vorhängen

Page 74: Albert Camus - Der Fremde

75

empfangen, er hatte auf seinem Schreibtisch eine ein-zige Lampe, die den Sessel beleuchtete, in dem er michPlatz nehmen ließ, während er selbst im Dunkeln blieb.Ich hatte eine ähnliche Beschreibung schon in Bücherngelesen, und das alles ist mir wie ein Spiel vorgekom-men. Nach unserem Gespräch dagegen habe ich ihngenauer betrachtet und habe einen Mann mit feinen Zü-gen, tiefliegenden blauen Augen, groß, mit einem lan-gen grauen Schnurrbart und vollem, fast weißem Haargesehen. Er ist mir sehr vernünftig erschienen und allesin allem sympathisch, trotz einiger nervöser Tics, dieseinen Mund verzerrten. Im Hinausgehen wollte ichihm sogar die Hand geben, aber mir ist noch rechtzeitigeingefallen, daß ich einen Menschen getötet hatte.

Am nächsten Tag hat mich ein Anwalt im Gefängnisbesucht. Er war klein und rund, ziemlich jung, mitsorgfältig geschniegeltem Haar. Trotz der Hitze (ichwar in Hemdsärmeln) hatte er einen sonderbarenSchlips mit breiten schwarz-weißen Streifen an. Er hatdie Aktentasche, die er unterm Arm trug, auf mein Bettgelegt, hat sich vorgestellt und gesagt, er hätte meineAkte studiert. Mein Fall wäre heikel, aber er zweifeltenicht am Erfolg, wenn ich ihm vertraute. Ich habe ihmgedankt, und er hat gesagt: «Kommen wir zum Kernder Sache.»

Er hat sich aufs Bett gesetzt und hat mir erklärt, manhätte Erkundigungen über mein Privatleben eingezo-gen. Man hätte gehört, daß meine Mutter kürzlich imAltersheim gestorben wäre. Man hätte dann in Ma-

Page 75: Albert Camus - Der Fremde

76

rengo ermittelt. Die Untersuchungsrichter hätten er-fahren, daß ich bei Mamas Beerdigung «Gefühllosig-keit an den Tag gelegt» hätte. «Wissen Sie, es ist mir einbißchen peinlich, Sie das zu fragen», hat mein Anwaltgesagt. «Aber es ist sehr wichtig. Und es wird ein star-kes Argument für die Anklage sein, wenn ich demnichts entgegenhalten kann.» Ich sollte ihm helfen. Erhat mich gefragt, ob ich an jenem Tag Kummer gefühlthätte. Diese Frage hat mich sehr gewundert, und mirschien, daß es mir sehr peinlich gewesen wäre, wenn ichsie hätte stellen müssen. Ich habe jedoch geantwortet,ich hätte es mir ein bißchen abgewöhnt, mich selbst zubefragen, und es fiele mir schwer, ihm Auskunft zu ge-ben. Sicher hätte ich Mama gern gehabt, aber das hießenichts. Alle vernünftigen Menschen hätten mehr oderweniger den Tod derer gewünscht, die sie liebten. Hierhatte der Anwalt mich unterbrochen und hat sehr auf-geregt gewirkt. Ich mußte ihm versprechen, das wederbei der Verhandlung noch vor dem Untersuchungs-richter zu sagen. Dennoch habe ich ihm erklärt, es lägein meiner Natur, daß meine körperlichen Bedürfnisseoft meine Gefühle störten. An dem Tag, als ich Mamabeerdigt hätte, wäre ich sehr erschöpft und müde gewe-sen. So daß mir nicht klargeworden wäre, was geschah.Was ich mit Sicherheit sagen könnte, wäre, daß ich eslieber gehabt hätte, Mama wäre nicht gestorben. Abermein Anwalt sah nicht zufrieden aus. Er hat gesagt:«Das ist nicht genug.»

Er hat nachgedacht. Er hat mich gefragt, ob er sagen

Page 76: Albert Camus - Der Fremde

77

dürfte, ich hätte an jenem Tag meine natürlichen Ge-fühle beherrscht. Ich habe gesagt: «Nein, weil das nichtstimmt.» Er hat mich seltsam angesehen, so als würdeich ihm ein bißchen Ekel einflößen. Er hat fast boshaftzu mir gesagt, daß in jedem Fall der Leiter und das Per-sonal des Heims als Zeugen gehört würden und daß mir«das einen ganz gemeinen Streich spielen könnte». Ichhabe ihn darauf aufmerksam gemacht, daß diese Ge-schichte nichts mit meiner Sache zu tun hätte, aber erhat bloß erwidert, es läge auf der Hand, daß ich nochnie mit der Justiz zu tun gehabt hätte.

Er ist mit verärgertem Gesicht gegangen. Ich hätteihn gern zurückgehalten, ihm gern erklärt, daß ich mirseine Sympathie wünschte, nicht um besser verteidigtzu werden, sondern, wenn ich so sagen darf, ganz nor-mal. Vor allem merkte ich, daß ich ihm Unbehagen ein-flößte. Er verstand mich nicht und nahm es mir ein biß-chen übel. Ich hatte den Wunsch, ihm zu versichern,daß ich so war wie alle, ganz genauso wie alle. Aber dasalles war im Grunde nicht sehr nützlich, und ich habeaus Trägheit darauf verzichtet.

Kurze Zeit darauf wurde ich wieder dem Untersu-chungsrichter vorgeführt. Es war zwei Uhr nachmit-tags, und diesmal war sein Büro von Licht erfüllt, dasdurch einen Voilevorhang kaum gedämpft wurde. Eswar sehr heiß. Er hat mich Platz nehmen lassen und mirsehr höflich erklärt, daß mein Anwalt «infolge einerVerhinderung» nicht hätte kommen können. Ich hätteaber das Recht, seine Fragen nicht zu beantworten und

Page 77: Albert Camus - Der Fremde

78

zu warten, bis mein Anwalt mir beistehen könnte. Ichhabe gesagt, ich könnte allein antworten. Er hat mitdem Finger einen Knopf auf dem Tisch berührt. Einjunger Gerichtsschreiber ist gekommen und hat sichfast direkt hinter mich gesetzt.

Wir haben es uns beide in unseren Sesseln bequemgemacht. Das Verhör hat begonnen. Er hat mir zu-nächst gesagt, daß ich als ein schweigsamer und ver-schlossener Charakter beschrieben würde, und erwollte wissen, was ich davon hielte. Ich habe geantwor-tet: «Es ist so, daß ich nie viel zu sagen habe. Dannschweige ich.» Er hat gelächelt wie beim erstenmal, hatzugegeben, daß das der allerbeste Grund wäre, und hathinzugefügt: «Im übrigen ist das völlig unwichtig.» Erist verstummt, hat mich angesehen und hat sich ziem-lich abrupt aufgerichtet, um sehr schnell zu sagen:«Was mich interessiert, sind Sie.» Ich habe nicht rechtverstanden, was er damit meinte, und habe nichts ge-antwortet. «Einiges an Ihrer Tat begreife ich nicht», hater hinzugefügt. «Ich bin sicher, Sie werden mir helfen,es zu verstehen.» Ich habe gesagt, alles wäre sehr ein-fach. Er hat mich gedrängt, ihm meinen Tagesverlaufzu schildern. Ich habe ihm geschildert, was ich ihm be-reits erzählt hatte: Raymond, der Strand, das Bad, derStreit, wieder der Strand, die kleine Quelle, die Sonneund die fünf Schüsse. Bei jedem Satz sagte er: «Schön,schön.» Als ich zu dem hingestreckten Körper gekom-men bin, hat er zustimmend «Gut» gesagt. Ich war esleid, in der Weise dieselbe Geschichte zu wiederholen,

Page 78: Albert Camus - Der Fremde

79

und es kam mir vor, als hätte ich noch nie soviel gere-det.

Nach kurzem Schweigen ist er aufgestanden und hatgesagt, er wollte mir helfen, daß ich ihn interessierteund daß er mit Gottes Hilfe etwas für mich tun würde.Aber vorher wollte er mir noch einige Fragen stellen.Ohne Übergang hat er mich gefragt, ob ich Mamaliebte. Ich habe gesagt: «Ja, so wie alle», und der Ge-richtsschreiber, der bis dahin stetig tippte, muß sich inden Tasten vertan haben, denn er ist durcheinanderge-raten und mußte noch einmal zurückgehen. Immernoch ohne erkennbare Logik hat der Richter mich danngefragt, ob ich die fünf Schüsse hintereinanderweg ab-gegeben hätte. Ich habe überlegt und deutlich gemacht,daß ich zuerst einmal und ein paar Sekunden späternoch viermal geschossen hätte. «Warum haben Sie zwi-schen dem ersten und dem zweiten Schuß gewartet?»hat er da gesagt. Noch einmal habe ich den roten Strandvor mir gesehen und habe auf meiner Stirn das Brennender Sonne gefühlt. Aber diesmal habe ich nichts geant-wortet. Während des folgenden Schweigens hat derRichter so ausgesehen, als regte er sich auf. Er hat sichgesetzt, hat in seinem Haar gewühlt, hat die Ellbogenauf den Schreibtisch gestützt und sich mit seltsamerMiene etwas zu mir vorgebeugt: «Warum, warum ha-ben Sie auf eine am Boden liegende Leiche geschos-sen?» Darauf habe ich wieder nicht zu antworten ge-wußt. Der Richter hat sich mit den Händen über dieStirn gestrichen und hat seine Frage mit etwas anderer

Page 79: Albert Camus - Der Fremde

80

Stimme wiederholt: «Warum? Sie müssen es mir sagen.Warum?» Ich schwieg immer noch.

Plötzlich ist er aufgestanden, ist mit großen Schrittenzum einen Ende des Büros gegangen und hat eineSchublade eines Aktenschranks aufgezogen. Er hat einsilbernes Kruzifix herausgeholt, das er geschwungenhat, während er wieder auf mich zukam. Und mit völligveränderter, fast bebender Stimme hat er gerufen:«Kennen Sie ihn, den hier?» Ich habe gesagt: «Ja, na-türlich.» Da hat er mir sehr schnell und leidenschaftlichgesagt, er glaubte an Gott, seine Überzeugung wäre es,daß kein Mensch so schuldig wäre, als daß Gott ihmnicht vergäbe, daß dazu aber nötig wäre, daß derMensch durch seine Reue zum Kind werde, dessenSeele leer ist und bereit, alles aufzunehmen. Sein ganzerKörper war über den Tisch gebeugt. Er schwenkte seinKreuz fast über mir. Offen gestanden konnte ich seinenAusführungen sehr schlecht folgen, einmal weil ichschwitzte und in seinem Arbeitszimmer dicke Fliegenwaren, die sich auf mein Gesicht setzten, und auch weiler mir ein bißchen angst machte. Ich erkannte gleich-zeitig, daß das lächerlich war, weil schließlich ich derVerbrecher war. Er hat jedoch weitergeredet. Ich habeungefähr verstanden, daß es seiner Meinung nach nureinen dunklen Punkt in meinem Geständnis gäbe, dieTatsache, daß ich gewartet hätte, bis ich meinen zwei-ten Schuß abfeuerte. Alles übrige wäre sehr gut, aberdas verstände er einfach nicht.

Ich wollte ihm sagen, daß es ein Fehler von ihm wäre,

Page 80: Albert Camus - Der Fremde

81

sich zu verbeißen: dieser letzte Punkt wäre nicht sowichtig. Aber er hat mich unterbrochen und hat mich,zu seiner vollen Größe aufgerichtet, ein letztes Mal er-mahnt und gefragt, ob ich an Gott glaubte. Ich habe mitNein geantwortet. Er hat sich entrüstet hingesetzt. Erhat mir gesagt, das wäre unmöglich, alle Menschenglaubten an Gott, sogar jene, die sich von seinem Ant-litz abwandten. Das wäre seine Überzeugung, undwenn er je daran zweifeln müßte, hätte sein Leben kei-nen Sinn mehr. «Wollen Sie», hat er ausgerufen, «daßmein Leben keinen Sinn hat?» Meiner Ansicht nachging mich das nichts an, und ich habe es ihm gesagt.Aber schon streckte er Christus über den Tisch hinwegvor meine Augen und rief wie von Sinnen: «Ich binChrist. Ich bitte den hier um Vergebung deiner Sünden.Wie kannst du nicht glauben, daß er für dich gelittenhat?» Ich habe wohl gemerkt, daß er mich duzte, aberich hatte es satt. Die Hitze wurde immer größer. Wieimmer, wenn ich jemanden loswerden möchte, dem ichkaum zuhöre, habe ich scheinbar zugestimmt. Zu mei-ner Überraschung hat er triumphiert: «Siehst du, siehstdu», sagte er. «Nicht wahr, du glaubst, und du wirstdich ihm anvertrauen?» Natürlich habe ich wiederumnein gesagt. Er ist in seinen Sessel zurückgefallen.

Er wirkte sehr erschöpft. Er hat eine Weile geschwie-gen, während die Maschine, die dem Dialog unaufhör-lich gefolgt war, noch die letzten Sätze nachholte. Dannhat er mich aufmerksam und etwas traurig angesehen.Er hat gemurmelt: «Ich habe noch nie eine so verhär-

Page 81: Albert Camus - Der Fremde

82

tete Seele wie die Ihre gesehen. Die Verbrecher, die mirvorgeführt worden sind, haben bei diesem Bild desSchmerzes immer geweint.» Ich wollte schon antwor-ten, das wäre so, weil es sich eben um Verbrecher han-delte. Aber ich habe gedacht, daß ich auch so war wie isie. Das war eine Vorstellung, an die ich mich nicht ge- fwohnen konnte. Der Richter ist dann aufgestanden, alswollte er mir bedeuten, daß das Verhör beendet war. Erhat mich nur mit demselben etwas müden Ausdruckgefragt, ob ich meine Tat bereute. Ich habe nachgedachtund habe gesagt, daß ich eher als wirkliche Reue einengewissen Verdruß empfände. Ich hatte den Eindruck,daß er mich nicht verstand. Aber weiter sind die Dingean diesem Tag nicht gegangen.

In der Folge habe ich den Untersuchungsrichternoch oft wiedergesehen. Nur war jedesmal meinAnwalt bei mir. Man beschränkte sich darauf, michbestimmte Punkte meiner bisherigen Aussagengenauer erläutern zu lassen. Oder aber der Richterdiskutierte mit meinem Anwalt die Anklagepunkte.Aber eigentlich kümmerten sie sich dann nie ummich. Allmählich jedenfalls hat sich der Ton derVerhöre geändert. Es schien, daß der Richter sichnicht mehr für mich interessierte und daß er meinenFall gewissermaßen als erledigt ansah. Er hat nichtmehr von Gott geredet, und ich habe ihn nie wiederin so einer Erregung gesehen wie am ersten Tag. DasErgebnis war, daß unsere Unterhaltungen herzlichergeworden sind. Ein paar Fragen, ein kurzesGespräch mit meinem Anwalt, und die Verhöre

Page 82: Albert Camus - Der Fremde

83

waren beendet. Meine Sache ging ihren Gang, wie derRichter sich ausdrückte. Manchmal auch, wenn dasGesprächsthema allgemein war, bezog man mich ein.Ich begann aufzuatmen. Niemand war in diesen Stun-den böse zu mir. Alles war so natürlich, so gut geregeltund so nüchtern ausgeführt, daß ich den lächerlichenEindruck hatte, «zur Familie zu gehören». Und amEnde der elf Monate, die diese Ermittlung gedauert hat,kann ich sagen, daß ich mich fast wunderte, mich jemalsüber etwas anderes gefreut zu haben als über diese sel-tenen Augenblicke, in denen der Richter mich zur Türseines Arbeitszimmers geleitete, mir auf die Schulterklopfte und herzlich sagte: «Für heute ist Schluß, HerrAntichrist.» Man übergab mich dann wieder den Gen-darmen.

Page 83: Albert Camus - Der Fremde

84

II

Es gibt Dinge, über die ich nie gern gesprochen habe.Als ich ins Gefängnis gekommen bin, ist mir nach einpaar Tagen klargeworden, daß ich über diesen Teil mei-nes Lebens nicht gern sprechen würde.

Später habe ich diesen Widerwillen nicht mehr wich-tig gefunden. Tatsächlich war ich in den ersten Tagennicht wirklich im Gefängnis: ich wartete unbestimmtauf irgendein neues Ereignis. Erst nach Maries erstemund einzigem Besuch hat alles angefangen. Von demTag an, an dem ich ihren Brief bekommen habe (sieschrieb, daß man ihr nicht mehr erlaubte zu kommen,weil sie nicht meine Frau wäre), von diesem Tag anhabe ich gefühlt, daß ich in meiner Zelle zu Hause warund daß mein Leben hier aufhörte. Am Tag meinerVerhaftung hat man mich zuerst in einen Raum ge-sperrt, in dem schon mehrere Gefangene waren, größ-tenteils Araber. Sie haben gelacht, als sie mich sahen.Dann haben sie mich gefragt, was ich getan hätte. Ichhabe gesagt, ich hätte einen Araber getötet, und sie sindverstummt. Aber wenig später ist der Abend hereinge-brochen. Sie haben mir erklärt, wie man die Matte zu-rechtlegen mußte, auf der ich schlafen sollte. Indemman das eine Ende einrollte, konnte man ein Kopfpol-

Page 84: Albert Camus - Der Fremde

85

ster daraus machen. Die ganze Nacht sind Wanzenüber mein Gesicht gekrochen. Einige Tage später hatman mich in einer Zelle abgesondert, wo ich auf einerHolzpritsche schlief. Ich hatte einen Toilettenkübelund eine Waschschüssel aus Blech. Das Gefängnis warganz oben in der Stadt, und durch ein kleines Fensterkonnte ich das Meer sehen. Eines Tages, als ich, die Git-terstäbe umklammernd, das Gesicht dem Licht entge-genstreckte, ist ein Wärter hereingekommen und hatmir gesagt, ich hätte Besuch. Ich habe gedacht, daß esMarie wäre. Sie war es auch.

Ich bin, um in das Sprechzimmer zu kommen, durcheinen langen Flur, dann über eine Treppe und schließ-lich durch noch einen Flur gegangen. Ich bin in einensehr großen, durch ein breites Fenster erhellten Raumgetreten. Der Raum wurde von zwei hohen Gittern, dieihn der Länge nach durchschnitten, in drei Teile geteilt.Zwischen den beiden Gittern war ein acht bis zehn Me-ter breiter Zwischenraum, der die Besucher von denHäftlingen trennte. Ich habe Marie mir gegenüber er-blickt, mit ihrem gestreiften Kleid und ihrem gebräun-ten Gesicht. Auf meiner Seite waren etwa zehn Gefan-gene, größtenteils Araber. Marie war von Maurinnenumgeben und stand zwischen zwei Besucherinnen:einer schwarzgekleideten kleinen Alten mit zusam-mengepreßten Lippen und einer dicken Frau ohneKopfbedeckung, die sehr laut mit vielen Handbewe-gungen sprach. Wegen des Abstands zwischen denGittern mußten die Besucher und die Häftlinge sehr

Page 85: Albert Camus - Der Fremde

86

laut sprechen. Als ich eintrat, riefen der Stimmenlärm,der von den hohen kahlen Wänden des Raums zurück-prallte, und das grelle Licht, das vom Himmel über dieScheiben strömte und in den Raum zurückstrahlte, eineArt Betäubung in mir hervor. Meine Zelle war stillerund dunkler. Ich brauchte ein paar Sekunden, um michumzustellen. Doch ich habe schließlich jedes Gesichtdeutlich, im hellen Licht hervorgehoben gesehen. Ichhabe festgestellt, daß ein Wärter am Ende des Gangeszwischen den Gittern saß. Die meisten arabischen Ge-fangenen sowie ihre Familien hatten sich einander ge-genüber hingehockt. Sie schrien nicht. Trotz des Tu-mults gelang es ihnen, sich sehr leise zu verständigen.Ihr dumpfes Gemurmel von weiter unten her bildete soetwas wie einen Generalbaß für die Unterhaltungen,die sich über ihren Köpfen kreuzten. Das alles habe ichsehr schnell bemerkt, während ich mich Marie näherte.Schon an das Gitter gedrückt, lächelte sie mir aus Lei-beskräften zu. Ich habe sie sehr schön gefunden, aberich konnte es ihr nicht sagen.

«Na?» hat sie sehr laut gesagt. «Na ja.» - «Geht's dirgut, hast du alles, was du brauchst?» - «Ja, alles.»

Wir haben geschwiegen, und Marie lächelte immernoch. Die dicke Frau brüllte zu meinem Nachbarn her-über, ihrem Mann vermutlich, einem großen blondenTyp mit offenem Blick. Es war die Fortsetzung einesschon laufenden Gesprächs.

«Jeanne wollte ihn nicht nehmen», schrie sie laut-hals. «Ja, ja», sagte der Mann. «Ich habe ihr gesagt, du

Page 86: Albert Camus - Der Fremde

87

würdest ihn wieder abholen, wenn du rauskommst,aber sie wollte ihn nicht nehmen.»

Marie hat ihrerseits geschrien, Raymond ließe michgrüßen, und ich habe «Danke» gesagt. Aber meineStimme wurde von meinem Nachbarn übertönt, dergefragt hat, «ob es ihm gutginge». Seine Frau hat la-chend gesagt, «daß es ihm nie besser gegangen wäre».Mein Nachbar zur Linken, ein kleiner junger Mann mitzarten Händen, sagte nichts. Ich habe bemerkt, daß erder kleinen Alten gegenüberstand und daß die beidensich eindringlich ansahen. Aber ich hatte keine Zeit, sielänger zu beobachten, weil Marie mir zugerufen hat,man müßte hoffen. Ich habe «Ja» gesagt. Gleichzeitigsah ich sie an und hatte Lust, durch ihr Kleid hindurchihre Schulter zu drücken. Ich hatte Lust auf diesen fei-nen Stoff, und ich wußte nicht so recht, worauf mansonst noch hoffen müßte. Aber ebendas wollte Mariewohl sagen, denn sie lächelte immer noch. Ich sah nurnoch das Strahlen ihrer Zähne und ihre Augenfältchen.Sie hat wieder gerufen: «Du kommst raus, und wir hei-raten!» Ich habe geantwortet: «Meinst du?», aber dastat ich vor allem, um etwas zu sagen. Sie hat dann sehrschnell und wieder sehr laut ja gesagt, daß ich freige-sprochen würde und daß wir wieder baden gehen wür-den. Aber die andere Frau brüllte ihrerseits und sagte,sie hätte in der Gerichtskanzlei einen Korb abgegeben.Sie zählte alles auf, was sie hineingetan hatte. Manmüßte kontrollieren, denn das alles wäre teuer. Meinanderer Nachbar und seine Mutter sahen sich immer

Page 87: Albert Camus - Der Fremde

88

noch an. Das Gemurmel der Araber unter uns ging wei-ter. Draußen schien sich das Licht gegen die Fensteröff-nung zu blähen.

Mir war ein bißchen schlecht, und ich wäre gern ge-gangen. Der Krach tat mir weh. Aber andererseitswollte ich noch etwas von Maries Anwesenheit haben.Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist. Marie hat mirvon ihrer Arbeit erzählt, und sie lächelte unentwegt.Das Gemurmel, das Geschrei und die Gespräche über-lagerten sich. Die einzige Insel der Stille war neben mirder kleine junge Mann und diese Alte, die sich ansahen.Nach und nach hat man die Araber weggeführt. Fastalle sind verstummt, sobald der erste hinausgegangenist. Die kleine Alte ist dicht an die Gitterstäbe getreten,und im selben Moment hat ein Wärter ihrem Sohn einZeichen gegeben. Er hat gesagt: «Auf Wiedersehen,Mama», und sie hat die Hand durch zwei Stäbe ge-steckt, um ihm zart, langsam und anhaltend zu winken.

Sie ist gegangen, während ein Mann mit dem Hut inder Hand eintrat und ihren Platz einnahm. Man hateinen Gefangenen hereingeführt, und sie haben sichlebhaft unterhalten, aber halblaut, weil es im Raumwieder still geworden war. Mein Nachbar zur Rechtenwurde abgeholt, und seine Frau hat, ohne die Stimmezu senken, als hätte sie nicht gemerkt, daß man nichtmehr zu schreien brauchte, zu ihm gesagt: «Bleib ge-sund und paß auf dich auf.» Dann bin ich drangekom-men. Marie hat zu verstehen gegeben, daß sie michküßte. Ich habe mich umgedreht, bevor ich verschwun-

Page 88: Albert Camus - Der Fremde

89

den bin. Sie stand reglos da, das Gesicht ans Gitter ge-drückt, mit demselben zerrissenen, verkrampften Lä-cheln.

Kurz darauf hat sie mir dann geschrieben. Und vondiesem Moment an haben die Dinge eingesetzt, überdie ich nie gern gesprochen habe. Wie dem auch sei,man soll nichts übertreiben, und es ist für mich leichtergewesen als für andere. Doch zu Beginn meiner Haftwar das härteste, daß ich Gedanken eines freien Manneshatte. Zum Beispiel überkam mich die Lust, an einemStrand zu sein und ans Meer hinunterzugehen. Wennich mir das Schwappen der ersten Wellen unter meinenFußsohlen vorstellte, das Eintauchen des Körpers insWasser und die Befreiung, die ich darin fand, fühlteich auf einmal, wie eng die Mauern meines Gefängnis-ses waren. Aber das dauerte einige Monate. Dannhatte ich nur noch Häftlingsgedanken. Ich wartete aufden täglichen Ausgang, den ich im Hof machte, oderauf den Besuch meines Anwalts. Mit meiner übrigenZeit kam ich sehr gut zurecht. Ich habe damals oft ge-dacht, daß ich, wenn man mich in einem verdorrtenBaumstamm hätte leben lassen, mit keiner anderenBeschäftigung, als die Oberfläche des Himmels übermeinem Kopf anzusehen, mich allmählich daran ge-wöhnt hätte. Ich hätte auf das Vorbeifliegen von Vögelnoder auf das Zusammentreffen von Wolken gewartet, sowie ich hier auf die merkwürdigen Schlipse meinesAnwalts wartete und wie ich mich in einer anderenWelt bis zum Samstag geduldete, um Maries Körper zu

Page 89: Albert Camus - Der Fremde

90

umarmen. Nun war ich, wenn ich es recht bedachte,aber nicht in einem verdorrten Baum. Es gab Unglück-lichere als mich. Das war übrigens ein Gedanke vonMama, und sie wiederholte ihn oft, daß man sich amEnde an alles gewöhnt.

Übrigens ging ich gewöhnlich nicht soweit. Die er-sten Monate waren hart. Aber gerade daß ich mich an-strengen mußte, half, sie herumzubringen. Zum Bei-spiel wurde ich vom Verlangen nach einer Frau gequält.Das war natürlich, ich war jung. Ich dachte dabei niespeziell an Marie. Aber ich dachte so sehr an eine Frau,an die Frauen, an alle, die ich gekannt hatte, an alleSituationen, in denen ich sie geliebt hatte, daß meineZelle sich mit all den Gesichtern bevölkert und von allmeinem Verlangen erfüllt wurde. In einer Hinsichtbrachte mich das aus dem Gleichgewicht. In einer an-deren aber schlug es die Zeit tot. Ich hatte schließlichdie Sympathie des Oberaufsehers gewonnen, der beider Essensausgabe den Küchenjungen begleitete. Er hatmich zuerst auf die Frauen angesprochen. Er hat mirgesagt, das wäre das erste, worüber die anderen klagten.Ich habe ihm gesagt, daß ich wie sie wäre und daß ichdiese Behandlung ungerecht fände. «Aber gerade des-wegen steckt man euch ins Gefängnis», hat er gesagt. -«Wie, deswegen?» - «Ja, ebendas ist doch die Freiheit.Man nimmt euch die Freiheit.» Daran hatte ich nie ge-dacht. Ich habe ihm zugestimmt: «Das ist wahr», habeich gesagt, «wo wäre sonst die Strafe?» - «Ja, Sie verste-hen die Dinge. Die anderen nicht. Aber am Ende schaf-

Page 90: Albert Camus - Der Fremde

91

fen sie sich selbst Erleichterung.» Der Aufseher istdann gegangen.

Dann waren da noch die Zigaretten. Als ich ins Ge-fängnis gekommen bin, hat man mir meinen Gürtel,meine Schnürsenkel, meinen Schlips und alles, was ichin den Taschen hatte, abgenommen, vor allem meineZigaretten. In der Zelle habe ich dann darum gebeten,daß man sie mir zurückgibt. Aber man hat mir gesagt,das wäre verboten. Die ersten Tage waren sehr hart.Das hat mich vielleicht am meisten mitgenommen. Ichlutschte Holzstücke, die ich von meinem Bettrost ab-riß. Den ganzen Tag über hatte ich ständigen Brechreiz.Ich verstand nicht, warum man mir das nahm, was dochkeinem weh tat. Später habe ich begriffen, daß auch dasTeil der Strafe war. Aber da hatte ich mich daran ge-wöhnt, nicht mehr zu rauchen, und diese Strafe war garkeine mehr für mich.

Abgesehen von diesen Unannehmlichkeiten war ichnicht besonders unglücklich. Das Hauptproblem warwieder einmal, die Zeit totzuschlagen. Von dem Au-genblick an, als ich gelernt habe, mich zu erinnern, habeich mich dann überhaupt nicht mehr gelangweilt. Ichbeschäftigte mich manchmal damit, an mein Zimmer zudenken, und in der Phantasie ging ich von einer Eckeaus und wieder dorthin zurück, wobei ich im Geistealles unterwegs registrierte. Am Anfang war es schnellerledigt. Aber jedesmal, wenn ich wieder anfing, dau-erte es etwas länger. Ich erinnerte mich nämlich an jedesMöbelstück, und bei jedem einzelnen an jeden dazuge-

Page 91: Albert Camus - Der Fremde

92

hörigen Gegenstand, und bei jedem Gegenstand an alleEinzelheiten, und bei den Einzelheiten wiederum aneine Ablagerung, einen Riß oder eine schartige Kante,an ihre Farbe oder an ihre Körnung. Gleichzeitig ver-suchte ich, den Faden meiner Bestandsaufnahme nichtzu verlieren, eine vollständige Aufzählung zu machen.So konnte ich nach einigen Wochen Stunden allein mitdem Aufzählen dessen verbringen, was sich in meinemZimmer befand. Je mehr ich nachdachte, desto mehrunbeachtete und vergessene Dinge holte ich so aus mei-nem Gedächtnis hervor. Da ist mir klargeworden, daßein Mensch, der nur einen einzigen Tag gelebt hat, mü-helos hundert Jahre in einem Gefängnis leben könnte.Er hätte genug Erinnerungen, um sich nicht zu lang-weilen. In gewisser Weise war das ein Vorteil.

Dann war da noch das Schlafen. Anfangs schlief ichnachts schlecht und am Tag überhaupt nicht. Nach undnach sind meine Nächte besser geworden, und ich habeauch tagsüber schlafen können. Ich kann sagen, daß ichin den letzten Monaten sechzehn bis achtzehn Stundenpro Tag schlief. Ich mußte also noch sechs Stunden mitden Mahlzeiten, den natürlichen Bedürfnissen, meinenErinnerungen und der Geschichte des Tschechoslowa-ken totschlagen.

Zwischen meinem Strohsack und dem Bettrost hatteich nämlich ein fast an den Stoff geklebtes, vergilbtes,durchsichtiges altes Stück Zeitung gefunden. Es berich-tete von einem Vorfall, dessen Anfang fehlte, der sichaber in der Tschechoslowakei ereignet haben mußte.

Page 92: Albert Camus - Der Fremde

93

Ein Mann war aus einem tschechischen Dorf aufgebro-chen, um sein Glück zu machen. Nach fünfundzwan-zig Jahren war er reich und mit Frau und Kind zurück-gekehrt. Seine Mutter unterhielt mit seiner Schwesterin seinem Geburtsort ein Hotel. Um sie zu überra-schen, hatte er seine Frau und sein Kind in einem ande-ren Gasthof gelassen, war zu seiner Mutter gegangen,die ihn nicht erkannt hatte, als er hereinkam. Er war aufdie Idee gekommen, zum Spaß ein Zimmer zu nehmen.Er hatte sein Geld gezeigt. Nachts hatten seine Mutterund seine Schwester ihn mit einem Hammer totge-schlagen, um ihn auszurauben, und hatten seine Leichein den Fluß geworfen. Am Morgen war die Frau ge-kommen, hatte, ohne es zu wissen, die Identität desReisenden enthüllt. Die Mutter hatte sich erhängt. DieSchwester hatte sich in einen Brunnen gestürzt. Ichhabe diese Geschichte wohl Tausende Male gelesen.Einerseits war sie unwahrscheinlich. Andererseits warsie normal. Jedenfalls fand ich, daß der Reisende es einbißchen verdient hatte und daß man nie spielen soll.

So, mit den Stunden des Schlafens, den Erinnerun-gen, dem Lesen dieser Geschichte und dem Wechselvon Licht und Dunkelheit ist die Zeit vergangen. Ichhatte zwar gelesen, daß man im Gefängnis schließlichdas Bewußtsein für Zeit verliert. Aber das ergab nichtviel Sinn für mich. Ich hatte nicht verstanden, in wel-chem Maße Tage zugleich lang und kurz sein können.Lang zu durchleben, zweifellos, aber so auseinanderge-zogen, daß sie schließlich ineinanderflossen. Dabei ver-

Page 93: Albert Camus - Der Fremde

94

loren sie ihren Namen. Die Wörter gestern oder heutewaren die einzigen, die einen Sinn für mich behielten.

Als der Wärter mir eines Tages gesagt hat, ich wäreseit fünf Monaten da, habe ich es geglaubt, aber ichhabe es nicht begriffen. Für mich war es unaufhörlichderselbe Tag, der sich in meiner Zelle breitmachte, unddieselbe Aufgabe, der ich nachging. An jenem Tag habeich mich, nachdem der Aufseher weg war, in meinemBlechnapf angesehen. Es schien mir, als bliebe meinBild ernst, selbst als ich versuchte, es anzulächeln. Ichhabe es vor mir geschüttelt. Ich habe gelächelt, und eshat denselben strengen, traurigen Ausdruck behalten.Der Tag ging zu Ende, und es war die Stunde, über dieich nicht sprechen will, die namenlose Stunde, in derdie Abendgeräusche aus allen Stockwerken des Ge-fängnisses in einem Geleit von Stille aufstiegen. Ich binan die Luke getreten und habe im schwindenden Lichtnoch einmal mein Bild betrachtet. Es war immer nochernst, und was war erstaunlich daran, da ich es in demMoment ja auch war? Aber gleichzeitig, und zum er-stenmal seit Monaten, habe ich deutlich den Klang mei-ner Stimme gehört. Ich habe sie als die erkannt, dieschon seit vielen Tagen an meinen Ohren ertönte, undmir ist klargeworden, daß ich während dieser ganzenZeit Selbstgespräche geführt hatte. Da habe ich mich andas erinnert, was die Krankenschwester bei MamasBeerdigung sagte. Nein, es gab keinen Ausweg, undniemand kann sich vorstellen, was die Abende im Ge-fängnis sind.

Page 94: Albert Camus - Der Fremde

95

III

Ich kann sagen, daß der Sommer eigentlich sehr schnellwieder an die Stelle des Sommers getreten ist. Ichwußte, daß mit dem Einsetzen der ersten Hitze sichetwas Neues für mich ereignen würde. Mein Prozeßwar für die letzte Sitzungsperiode des Schwurgerichtsangesetzt, und diese Periode würde mit dem MonatJuni enden. Die Verhandlung wurde eröffnet, als drau-ßen pralle Sonne schien. Mein Anwalt hatte mir versi-chert, sie würde nicht länger als zwei oder drei Tagedauern. «Übrigens», hatte er hinzugefügt, «hat das Ge-richt es eilig, weil Ihr Fall nicht der wichtigste der Sit-zungsperiode ist. Gleich anschließend wird ein Vater-mord verhandelt.»

Morgens um halb acht hat man mich abgeholt, undder Zellenwagen hat mich zum Gerichtsgebäude ge-bracht. Die beiden Gendarmen haben mich in einenkleinen Raum geführt, in dem es nach Dunkelheit roch.Wir haben uns gesetzt und in der Nähe einer Tür ge-wartet, hinter der Stimmen, Rufe, Stühlerücken und einHin- und Hergeschiebe zu hören waren, das mich anjene Feste im Viertel erinnerte, bei denen nach demKonzert der Saal ausgeräumt wird, um tanzen zu kön-nen. Die Gendarmen haben mir gesagt, wir müßten auf

Page 95: Albert Camus - Der Fremde

96

das Gericht warten, und einer von ihnen hat mir eineZigarette angeboten, die ich abgelehnt habe. Er hatmich kurz darauf gefragt, «ob ich Manschetten hätte».Ich habe verneint. Und in gewisser Hinsicht würde esmich sogar interessieren, einen Prozeß mit anzusehen.Ich hätte nie in meinem Leben Gelegenheit dazu ge-habt. «Ja», hat der zweite Gendarm gesagt, «aber aufdie Dauer wird es langweilig.»

Nach einiger Zeit hat eine kleine Klingel im Raumgeläutet. Da haben sie mir die Handschellen abgenom-men. Sie haben die Tür aufgemacht und mich zur An-klagebank geführt. Der Saal war brechend voll. Trotzder Markisen drang an manchen Stellen die Sonne ein,und die Luft war schon zum Ersticken. Man hatte dieFenster geschlossen gelassen. Ich habe mich gesetzt,rechts und links von mir die Gendarmen. Im gleichenMoment habe ich eine Reihe von Gesichtern vor mirerblickt. Alle sahen mich an: mir ist klargeworden, daßes die Geschworenen waren. Aber ich kann nicht sagen,was sie voneinander unterschied. Ich hatte nur einenEindruck: ich war vor einer Straßenbahnbank, und allediese anonymen Fahrgäste belauerten den Neuan-kömmling, um seine lächerlichen Seiten herauszufin-den. Ich weiß wohl, daß das ein alberner Gedanke war,denn hier suchten sie ja nicht nach dem Lächerlichen,sondern nach dem Verbrechen. Doch der Unterschiedist nicht groß, und das war jedenfalls der Gedanke, dermir gekommen ist.

Ich war auch ein bißchen betäubt von all diesen Leu-

Page 96: Albert Camus - Der Fremde

97

ten in diesem geschlossenen Saal. Ich habe wieder inden Zuhörerraum geschaut und habe kein Gesicht er-kannt. Ich glaube, daß mir zuerst nicht bewußt wurde,daß diese ganze Menge sich da drängelte, um mich zusehen. Gewöhnlich kümmerten sich die Leute nicht ummich. Ich mußte mich anstrengen, um zu verstehen,daß ich der Grund für diesen ganzen Trubel war. Ichhabe zu dem Gendarmen gesagt: «Was für eine Men-ge!» Er hat geantwortet, das läge an den Zeitungen,und hat mir eine Gruppe gezeigt, die neben einem Tischunter der Geschworenenbank herumstand. Er hat ge-sagt: «Da sind sie.» Ich habe gefragt: «Wer?», und erhat wiederholt: «Die Zeitungen.» Er kannte einen derJournalisten, der ihn in dem Moment gesehen hat undzu uns herüberkam. Es war ein schon älterer sympathi-scher Mann mit einem etwas grimassierenden Gesicht.Er hat dem Gendarmen sehr herzlich die Hand ge-schüttelt. Ich habe in dem Moment bemerkt, daß allesich trafen, sich ansprachen und unterhielten wie ineinem Club, wo man froh ist, unter seinesgleichen zusein. Das erklärte mir auch meinen seltsamen Eindruck,überflüssig, so etwas wie ein Eindringling zu sein. DerJournalist allerdings hat mich lächelnd angesprochen.Er hat gesagt, er hoffte, daß alles gut für mich ausginge.Ich habe ihm gedankt, und er hat hinzugefügt: «WissenSie, wir haben Ihren Fall etwas aufgebauscht. Der Som-mer ist die Sauregurkenzeit für Zeitungen. Und nurIhre Geschichte und die des Vatermörders taugteetwas.» Er hat mir dann in der Gruppe, aus der er ge-

Page 97: Albert Camus - Der Fremde

98

kommen war, einen kleinen Mann gezeigt, der Ähn-lichkeit mit einem gemästeten Wiesel hatte, mit einerriesigen, schwarz gerahmten Brille. Er hat mir gesagt,das wäre der Sonderkorrespondent einer Pariser Zei-tung. «Er ist übrigens nicht Ihretwegen gekommen.Aber da er über den Prozeß des Vatermörders berich-ten soll, hat man ihn gebeten, Ihren Fall gleich mitzu-kabeln.» Da hätte ich ihm beinah wieder gedankt. Aberich habe gedacht, das wäre lächerlieh. Er hat mir herz-lich zugewinkt und ist gegangen. Wir haben noch einpaar Minuten gewartet.

Mein Anwalt, in Robe, ist, von vielen anderen Kolle-gen umringt, eingetroffen. Er ist zu den Journalistengegangen, hat Hände geschüttelt. Sie haben gescherzt,gelacht und wirkten ganz unbekümmert, bis zu demMoment, als die Klingel im Gerichtssaal geläutet hat.Alle haben sich wieder zu ihrem Platz begeben. MeinAnwalt ist zu mir herübergekommen, hat mir die Handgedrückt und mir geraten, auf die Fragen, die man mirstellen würde, kurz zu antworten, keine Initiativen zuergreifen und mich bei allem übrigen auf ihn zu verlas-sen.

Zu meiner Linken habe ich das Scharren eines Stuhlsgehört, der zurückgeschoben wurde, und habe einengroßen, schlanken, rotgekleideten Mann mit einemKneifer gesehen, der beim Hinsetzen seine Robe sorg-fältig glattstrich. Das war der Staatsanwalt. Ein Ge-richtsdiener hat das Gericht angekündigt. Im gleichenMoment haben zwei große Ventilatoren angefangen zu

Page 98: Albert Camus - Der Fremde

99

brummen. Drei Richter, zwei in Schwarz, der dritte inRot, sind mit Akten hereingekommen und sehr schnellauf das Podium gegangen, das den Saal beherrschte.Der Mann in der roten Robe hat sich auf den mittlerenArmstuhl gesetzt, hat sein Barett vor sich hingelegt, sei-nen kleinen kahlen Schädel mit einem Taschentuch ab-gewischt und erklärt, die Sitzung wäre eröffnet.

Die Journalisten hielten schon ihren Stift in derHand. Sie machten alle dasselbe gleichgültige und einwenig spöttische Gesicht. Einer von ihnen allerdings,sehr viel jünger, in grauem Flanell mit blauem Schlips,hatte seinen Stift vor sich liegenlassen und sah mich an.In seinem etwas unregelmäßigen Gesicht sah ich nurseine sehr hellen Augen, die mich aufmerksam muster-ten, ohne etwas Bestimmbares auszudrücken. Und ichhatte das sonderbare Gefühl, von mir selbst angesehenzu werden. Vielleicht deswegen und auch, weil ich diedortigen Gepflogenheiten nicht kannte, habe ich alles,was danach geschehen ist, nicht so recht verstanden:die Auslosung der Geschworenen, die Fragen, die vomVorsitzenden an den Verteidiger, an den Staatsanwaltund an die Geschworenenbank gestellt wurden (bei je-der wandten sich die Köpfe aller Geschworenen gleich-zeitig dem Gericht zu), ein schnelles Verlesen der An-klageschrift, in der ich Namen von Orten und Personenerkannte, und neue Fragen an meinen Verteidiger.

Aber der Vorsitzende hat gesagt, man müßte jetzt dieZeugen aufrufen. Der Gerichtsdiener hat Namen vor-gelesen, die meine Aufmerksamkeit erregt haben. Mit-

Page 99: Albert Camus - Der Fremde

100

ten aus diesem eben noch formlosen Publikum habe ichnacheinander den Leiter und den Pförtner des Alters-heims, den alten Thomas Pérez, Raymond, Masson, Sa-lamano, Marie aufstehen und dann durch eine Seitentürverschwinden sehen. Marie hat mir ängstlich zuge-winkt. Ich wunderte mich noch, daß ich sie nicht früherbemerkt hatte, als beim Aufrufen seines Namens derletzte, Céleste, aufgestanden ist. Ich habe neben ihm diekleine Frau aus dem Restaurant wiedererkannt mit ih-rer Jacke und ihrem bestimmten, entschlossenen Ge-sicht. Sie sah mich eindringlich an. Aber ich hatte keineZeit nachzudenken, weil der Vorsitzende das Wort er-griffen hat. Er hat gesagt, die eigentliche Verhandlungwürde gleich beginnen, und er hielte es für unnötig, dasPublikum zur Ruhe zu ermahnen. Ihm zufolge war erda, um die Verhandlung einer Strafsache, die er objek-tiv erwägen wollte, unparteiisch zu leiten. Das von denGeschworenen gefällte Urteil würde im Geiste der Ge-rechtigkeit getroffen, und er würde den Saal auf jedenFall bei der geringsten Störung räumen lassen.

Die Hitze nahm zu, und ich sah die Zuhörer im Saalsich mit Zeitungen Luft zufächeln. Das erzeugte einununterbrochenes leises Papierrascheln. Der Vorsit-zende hat ein Zeichen gegeben, und der Gerichtsdienerhat drei Fächer aus geflochtenem Stroh gebracht, diedie drei Richter gleich benutzt haben.

Mein Verhör hat sofort begonnen. Der Vorsitzendehat mich ruhig und, so schien es mir, sogar mit einerSpur Herzlichkeit befragt. Man hat mich noch einmal

Page 100: Albert Camus - Der Fremde

101

meine Personalien angeben lassen, und trotz meinerGereiztheit habe ich gedacht, daß es eigentlich ganznormal war, weil es zu schlimm wäre, einen Mann an-stelle eines anderen zu verurteilen. Dann hat der Vor-sitzende noch einmal geschildert, was ich getan hatte,wobei er sich nach jedem dritten Satz an mich wandteund fragte: «Ist es so?» Jedesmal habe ich geantwortet:«Ja, Herr Vorsitzender», entsprechend den Anweisun-gen meines Verteidigers. Das hat lange gedauert, weilder Vorsitzende viel Gründlichkeit auf seine Schilde-rung verwandte. Während dieser ganzen Zeit schriebendie Journalisten. Ich spürte die Blicke des jüngsten vonihnen und der roboterhaften kleinen Frau. Die Straßen-bahnbank war vollständig dem Vorsitzenden zuge-wandt. Der hat gehustet, in seiner Akte geblättert, sichan mich gewandt und sich dabei Luft zugefächelt.

Er hat mir gesagt, er müßte jetzt Fragen anschneiden,die mit meiner Sache scheinbar nichts zu tun hätten, diesie aber vielleicht ganz unmittelbar beträfen. Ich habeverstanden, daß er wieder über Mama sprechen würde,und habe gleichzeitig gespürt, wie sehr mich das lang-weilte. Er hat mich gefragt, warum ich Mama ins Heimgebracht hätte. Ich habe geantwortet, weil ich nicht ge-nug Geld gehabt hätte, um sie pflegen und behandelnzu lassen. Er hat gefragt, ob mir das persönlich schwer-gefallen wäre, und ich habe geantwortet, sowohl Mamawie ich hätten nichts mehr voneinander erwartet, nochvon sonst jemand übrigens, und wir hätten uns beide anunser neues Leben gewöhnt. Der Vorsitzende hat dann

Page 101: Albert Camus - Der Fremde

102

gesagt, er wollte diesen Punkt nicht vertiefen, und hatden Staatsanwalt gefragt, ob er mir dazu noch eineFrage stellen wollte.

Dieser kehrte mir halb den Rücken zu und hat, ohnemich anzusehen, erklärt, daß er mit Erlaubnis des Vor-sitzenden gern wissen wollte, ob ich mit der Absicht,den Araber zu töten, ganz allein zu der Quelle zurück-gekehrt wäre. «Nein», habe ich gesagt. «Warum war erdann bewaffnet, und warum mußte er ausgerechnet andiese Stelle zurückgehen?» Ich habe gesagt, daß es Zu-fall war. Und der Staatsanwalt hat in ungutem Ton fest-gestellt: «Das wäre vorläufig alles.» Danach ist alles einbißchen verworren gewesen, zumindest für mich. Abernach einigem Getuschel hat der Vorsitzende erklärt, dieSitzung wäre unterbrochen und auf den Nachmittagzur Anhörung der Zeugen vertagt.

Ich habe keine Zeit zum Nachdenken gehabt. Manhat mich weggeführt, in den Zellenwagen steigen lassenund ins Gefängnis gefahren, wo ich gegessen habe.Nach sehr kurzer Zeit, gerade genug, um zu merken,daß ich müde war, wurde ich wieder abgeholt; alles hatwieder angefangen, und ich habe mich in demselbenSaal denselben Gesichtern gegenüber befunden. Nurdie Hitze war viel größer, und wie durch ein Wunderhatten alle Geschworenen, der Staatsanwalt, mein Ver-teidiger und auch einige Journalisten Strohfächer. Derjunge Journalist und die kleine Frau waren immer nochda. Aber sie fächelten sich keine Luft zu und sahenmich wieder an, ohne etwas zu sagen.

Page 102: Albert Camus - Der Fremde

103

Ich habe mir den Schweiß vom Gesicht gewischtund bin mir erst wieder des Ortes und meiner selbst einwenig bewußt geworden, als ich gehört habe, wie derHeimleiter aufgerufen wurde. Man hat ihn gefragt, obMama sich über mich beschwert hätte, und er hat jagesagt, daß es aber eine Marotte der Heimbewohnerwäre, sich über ihre Angehörigen zu beschweren. DerVorsitzende wollte genauer wissen, ob sie es mir vor-warf, sie ins Altersheim gebracht zu haben, und derHeimleiter hat wieder bejaht. Aber diesmal hat ernichts hinzugefügt. Auf eine andere Frage hat er geant-wortet, daß er sich am Tag der Beerdigung über meineRuhe gewundert hätte. Man hat ihn gefragt, was er mitRuhe meinte. Da hat der Heimleiter auf seine Schuhegeblickt und hat gesagt, ich hätte Mama nicht sehenwollen, ich hätte kein einziges Mal geweint und ichwäre sofort nach der Beerdigung weggegangen, ohnean ihrem Grab in Andacht zu verweilen. Noch etwashätte ihn gewundert: ein Angestellter des Bestattungs-instituts hätte ihm gesagt, ich wüßte nicht, wie altMama war. Einen Moment hat Schweigen geherrscht,und der Vorsitzende hat ihn gefragt, ob er tatsächlichvon mir gesprochen hätte. Da der Heimleiter die Fragenicht verstand, hat er gesagt: «Das Gesetz will es so.»Dann hat der Vorsitzende den Angklagevertreter ge-fragt, ob er noch eine Frage an den Zeugen hätte, undder Staatsanwalt hat so schallend und mit einem sotriumphierenden Blick in meine Richtung «Oh, nein,das genügt» gerufen, daß ich zum erstenmal seit vielen

Page 103: Albert Camus - Der Fremde

104

Jahren das unsinnige Bedürfnis zu weinen hatte, weilich gespürt habe, wie sehr ich von all diesen Leuten ver-abscheut wurde.

Nachdem der Vorsitzende die Geschworenen undmeinen Anwalt gefragt hatte, ob sie Fragen dazu hät-ten, hat er den Pförtner vernommen. Bei ihm wie beiallen anderen hat sich das gleiche Zeremoniell wieder-holt. Beim Hereinkommen hat der Pförtner mich ange-sehen und hat die Augen abgewandt. Er hat die ihmgestellten Fragen beantwortet. Er hat gesagt, ich hätteMama nicht sehen wollen, ich hätte geraucht, geschla-fen und Milchkaffee getrunken. Da habe ich etwas ge-spürt, was den ganzen Saal ergriff, und zum erstenmalhabe ich verstanden, daß ich schuldig war. Man hat denPförtner die Geschichte mit dem Milchkaffee und diemit der Zigarette wiederholen lassen. Der Ankläger hatmich mit einem ironischen Leuchten in den Augen an-gesehen. In dem Moment hat mein Anwalt den Pfört-ner gefragt, ob er nicht mir mir zusammen gerauchthätte. Aber der Staatsanwalt hat heftig gegen dieseFrage Einspruch erhoben: «Wer ist hier der Verbre-cher, und was sind das für Methoden, die die Zeugender Anklage verunglimpfen wollen, um Aussagen zubagatellisieren, die nichtsdestoweniger vernichtendbleiben?» Trotz allem hat der Vorsitzende den Pförtneraufgefordert, die Frage zu beantworten. Der Alte hatverlegen gesagt: «Ich weiß, daß es ein Fehler war. Aberich habe nicht gewagt, die Zigarette abzulehnen, die derHerr mir angeboten hat.» Zu guter Letzt hat man mich

Page 104: Albert Camus - Der Fremde

105

gefragt, ob ich noch etwas hinzuzufügen hätte. «Nein,nichts», habe ich geantwortet, «bloß, daß der Zeugerecht hat. Es stimmt, daß ich ihm eine Zigarette ange-boten habe.» Da hat mich der Pförtner etwas erstauntund irgendwie dankbar angesehen. Er hat gezögert,dann hat er gesagt, den Milchkaffee hätte er mir ange-boten. Mein Anwalt hat laut triumphiert und hat er-klärt, die Geschworenen würden es zu beurteilen wis-sen. Aber der Staatsanwalt hat donnernd über unsereKöpfe hinweg gesagt: «Jawohl, die Herren Geschwo-renen werden es zu beurteilen wissen. Und sie werdenzu dem Schluß kommen, daß ein Fremder Kaffee an-bieten durfte, daß ein Sohn im Angesicht des Leich-nams derer, die ihm das Leben geschenkt hat, ihn aberablehnen mußte.» Der Pförtner ist zu seiner Bank zu-rückgegangen.

Als die Reihe an Thomas Pérez kam, mußte ein Ge-richtsdiener ihn bis zum Zeugenstand führen. Pérez hatgesagt, er hätte vor allem meine Mutter gekannt undhätte mich nur einmal, am Tag der Beerdigung, gese-hen. Man hat ihn gefragt, was ich an jenem Tag gemachthätte, und er hat geantwortet: «Sie müssen verstehen,ich selbst hatte zuviel Kummer. Darum habe ich nichtsgesehen. Vor lauter Kummer war ich nicht in der Lage,etwas zu sehen. Und ich bin sogar ohnmächtig gewor-den. Darum habe ich den Herrn nicht sehen können.»Der Ankläger hat ihn gefragt, ob er mich wenigstenshätte weinen sehen. Pérez hat verneint. Da hat derStaatsanwalt seinerseits gesagt: «Die Herren Geschwo-

Page 105: Albert Camus - Der Fremde

106

renen werden es zu beurteilen wissen.» Aber mein Ver-teidiger ist böse geworden. Er hat Pérez in einem Ton,der mir übertrieben schien, gefragt, «ob er gesehenhätte, daß ich nicht weinte». Pérez hat «Nein» gesagt.Das Publikum hat gelacht. Und mein Anwalt hat einenÄrmel hochgeschoben und kategorisch gesagt: «Das istbezeichnend für diesen Prozeß. Alles ist wahr, undnichts ist wahr!» Der Staatsanwalt machte ein ver-schlossenes Gesicht und stach mit einem Stift in dieAufschriften seiner Akten.

Nach einer fünfminütigen Unterbrechung, in dermein Anwalt mir sagte, alles liefe bestens, wurde Ce-leste vernommen, der von der Verteidigung vorgeladenwar. Die Verteidigung, das war ich. Céleste warf ab undzu Blicke zu mir hinüber und drehte einen Panamahutin den Händen. Er trug den neuen Anzug, den er an-hatte, wenn er manchmal sonntags mit mir zum Pferde-rennen ging. Aber ich glaube, er hatte seinen Kragennicht anlegen können, denn sein Hemd wurde nur voneinem Kupferknopf zusammengehalten. Er wurde ge-fragt, ob ich Gast bei ihm wäre, und er hat gesagt: «Ja,aber er war auch ein Freund»; was er von mir hielte,und er hat geantwortet, ich wäre ein Mann; was er da-mit meinte, und er hat erklärt, jeder wüßte doch, wasdas hieße; ob er bemerkt hätte, daß ich verschlossenwar, und er hat nur eingeräumt, daß ich nicht redete,um nichts zu sagen. Der Ankläger hat ihn gefragt, obich regelmäßig mein Kostgeld bezahlte. Céleste hat ge-lacht und hat erklärt: «Das war nebensächlich zwi-

Page 106: Albert Camus - Der Fremde

107

schen uns.» Er wurde noch gefragt, was er von meinemVerbrechen hielte. Da hat er die Hände auf das Gelän-der gelegt, und man sah, daß er etwas vorbereitet hatte.Er hat gesagt: «Für mich ist es ein Unglück. Ein Un-glück, jeder weiß, was das ist. Dagegen ist man schutz-los. Jawohl, für mich ist es ein Unglück.» Er wolltefortfahren, aber der Vorsitzende hat ihm gesagt, eswäre gut und man dankte ihm. Da war Céleste ein biß-chen verdutzt. Aber er hat erklärt, er wollte noch etwassagen. Man hat ihn aufgefordert, sich kurz zu fassen. Erhat noch einmal wiederholt, daß es ein Unglück wäre.Und der Vorsitzende hat zu ihm gesagt: «Ja, gut. Aberwir sind da, um über solche Unglücksfälle zu urteilen.Wir danken Ihnen.» Da hat sich Céleste, als wäre er mitseinem Latein und mit seinem guten Willen am Ende,zu mir umgedreht. Mir schien, daß seine Augen schim-merten und seine Lippen zitterten. Er sah aus, alswürde er mich fragen, was er noch tun könnte. Ich habenichts gesagt, habe keine Geste gemacht, aber zum er-stenmal in meinem Leben hatte ich Lust, einen Mannzu küssen. Der Vorsitzende hat ihm noch einmal be-fohlen, den Zeugenstand zu verlassen. Céleste ist in denZuhörerraum gegangen und hat sich gesetzt. Währendder ganzen übrigen Sitzung hat er, etwas vorgebeugt,die Ellbogen auf den Knien, den Panamahut in denHänden, so dagesessen und hat sich alles angehört, wasgesagt wurde. Marie ist hereingekommen. Sie hatteeinen Hut auf und war wieder schön. Aber mir gefiel siemit offenem Haar besser. Von meinem Platz aus ahnte

Page 107: Albert Camus - Der Fremde

108

ich das leichte Gewicht ihres Busens, und mir fiel ihreimmer etwas geschwollene Unterlippe wieder auf. Siewirkte sehr nervös. Sofort hat man sie gefragt, seitwann sie mich kennen würde. Sie hat die Zeit angege-ben, als sie bei uns arbeitete. Der Vorsitzende wolltewissen, welche Beziehung sie zu mir hätte. Sie hat ge-sagt, sie wäre meine Freundin. Auf eine andere Fragehat sie geantwortet, es stimmte, daß sie die Absichthätte, mich zu heiraten. Der Staatsanwalt, der in einerAkte blätterte, hat sie plötzlich gefragt, seit wann wirein Verhältnis hätten. Sie hat den Tag angegeben. DerStaatsanwalt hat mit gleichgültiger Miene bemerkt, esschiene ihm der Tag nach Mamas Tod zu sein. Dann hater etwas ironisch gesagt, er wollte eine delikate Situa-tion nicht breittreten, er verstände Maries Skrupel, aber(und hier wurde sein Ton härter) seine Pflicht geböteihm, sich über die Konventionen hinwegzusetzen. Erhat Marie also aufgefordert, den Tag kurz zu schildern,an dem ich sie näher kennengelernt hatte. Marie wolltenicht reden, aber angesichts der Beharrlichkeit desStaatsanwalts hat sie von unserem Bad, unserem Kino-besuch und unserer Rückkehr zu mir erzählt. Der An-kläger hat gesagt, er hätte im Anschluß an Maries Aus-sagen während der Ermittlung die Kinoprogrammejenes Tages durchgesehen. Er hat hinzugefügt, Marieselbst würde sagen, welcher Film damals lief. Mit fasttonloser Stimme hat sie tatsächlich angegeben, daß esein Film mit Fernandel war. Es herrschte vollkommeneStille im Saal, als sie geendet hatte. Der Staatsanwalt hat

Page 108: Albert Camus - Der Fremde

109

sich dann sehr ernst erhoben, hat mit dem Zeigefingerauf mich gedeutet und mit einer Stimme, die ich füraufrichtig erschüttert hielt, langsam und deutlich ge-sagt: «Meine Herren Geschworenen, einen Tag nachdem Tod seiner Mutter ging dieser Mann zum Baden,begann ein ungehöriges Verhältnis und ging ins Kino,um über einen komischen Film zu lachen. Ich habe Ih-nen nichts weiter zu sagen.» Er hat sich, immer nochvon Stille umgeben, gesetzt. Aber auf einmal hat Marieangefangen laut zu schluchzen, hat gesagt, daß es nichtso wäre, daß es um etwas anderes ginge, daß man siezwänge, das Gegenteil von dem zu sagen, was siedächte, daß sie mich gut kennen würde und daß ichnichts Böses getan hätte. Aber der Gerichtsdiener hatsie auf einen Wink des Vorsitzenden hin weggeführt,und die Sitzung ging weiter.

Dann hat man so gerade eben Masson angehört, dererklärte, ich wäre ein anständiger Mensch, «und erwürde sogar sagen, ein guter Kerl». Wieder so geradeeben hat man Salamano angehört, als er daran erinnerte,daß ich gut zu seinem Hund gewesen wäre, und als ereine Frage zu meiner Mutter und zu mir beantwortete,nämlich, daß ich Mama nichts mehr zu sagen gehabthätte und sie deshalb ins Heim gebracht hätte. «Manmuß das verstehen», sagte Salamano, «man muß dasverstehen.» Aber niemand schien zu verstehen. Manhat ihn weggeführt.

Dann kam die Reihe an Raymond, der der letzteZeuge war. Raymond gab mir ein kleines Zeichen und

Page 109: Albert Camus - Der Fremde

110

hat sofort gesagt, ich wäre unschuldig. Aber der Vorsit-zende hat erklärt, man wollte von ihm keine Beurtei-lungen, sondern Tatsachen hören. Er hat ihn aufgefor-dert, Fragen abzuwarten, bevor er antwortete. Man hatihn seine Beziehung zu dem Opfer erläutern lassen.Raymond hat dies genutzt, um zu sagen, daß das Opferihn haßte, seit er dessen Schwester geohrfeigt hatte. DerVorsitzende hat ihn jedoch gefragt, ob das Opfer kei-nen Grund gehabt hätte, mich zu hassen. Raymond hatgesagt, meine Anwesenheit am Strand hätte sich zufäl-lig ergeben. Der Staatsanwalt hat ihn dann gefragt,wie es käme, daß der Brief, mit dem das Drama seinenAusgang nahm, von mir geschrieben worden war. Ray-mond hat geantwortet, das wäre ein Zufall. Der Staats-anwalt hat entgegnet, der Zufall hätte bei dieser Ge-schichte schon viele Missetaten auf dem Gewissen. Erwollte wissen, ob es Zufall gewesen wäre, daß ich nichteingegriffen hatte, als Raymond seine Geliebte geohr-feigt hatte, Zufall, daß ich auf dem Polizeirevier alsZeuge aufgetreten war, wieder Zufall, daß meine dama-ligen Aussagen sich als pure Gefälligkeit erwiesen hät-ten. Zum Schluß hat er Raymond gefragt, was seineExistenzgrundlage wäre, und als dieser «Lagerverwal-ter» antwortete, hat der Ankläger den Geschworenenerklärt, es wäre allgemein bekannt, daß der Zeuge denBeruf Zuhälter ausübte. Ich wäre sein Komplize undsein Freund. Es handelte sich hier um ein abscheulichesDrama der niedrigsten Sorte, zu dem erschwerend hin-zukäme, daß man es mit einem moralischen Ungeheuer

Page 110: Albert Camus - Der Fremde

111

zu tun hätte. Raymond wollte sich verteidigen, undmein Anwalt hat protestiert, aber man hat ihnen gesagt,sie müßten den Staatsanwalt ausreden lassen. Dieser hatgesagt: «Ich habe dem nur wenig hinzuzufügen. War erIhr Freund?» hat er Raymond gefragt. «Ja», hat der ge-sagt, «er war mein Kumpel.» Der Ankläger hat mirdann dieselbe Frage gestellt, und ich habe Raymond an-gesehen, der die Augen nicht abgewandt hat. Ich habe«Ja» geantwortet. Da hat sich der Staatsanwalt zu denGeschworenen umgedreht und hat erklärt: «DerselbeMann, der sich einen Tag nach dem Tod seiner Mutterder schändlichsten Ausschweifung hingab, hat ausnichtigen Gründen und um eine widerliche Bettge-schichte zu regeln getötet.»Er hat sich dann gesetzt. Aber mein Anwalt, amEnde mit seiner Geduld, hat die Arme gehoben, so daßseine herunterrutschenden Ärmel die Falten eines ge-stärkten Hemdes entblößten, und hat ausgerufen: «Ister eigentlich angeklagt, seine Mutter beerdigt zu habenoder einen Menschen getötet zu haben?» Das Publi-kum hat gelacht. Aber der Staatsanwalt hat sich wiedererhoben, hat den Faltenwurf seiner Robe zurechtgelegtund hat erklärt, man müßte schon die Naivität des eh-renwerten Verteidigers haben, um nicht zu merken,daß es zwischen diesen beiden Tatbeständen einen tie-fen, erregenden, wesentlichen Zusammenhang gäbe.«Jawohl», hat er mit Nachdruck gerufen, «ich beschul-dige diesen Mann, mit dem Herzen eines Verbrecherseine Mutter beerdigt zu haben.» Diese Erklärung

Page 111: Albert Camus - Der Fremde

112

schien einen gewaltigen Eindruck auf das Publikum zumachen. Mein Anwalt hat die Achseln gezuckt und sichden Schweiß abgewischt, der ihm auf der Stirn stand.Aber er wirkte selbst erschüttert, und mir ist klarge-worden, daß es nicht gut für mich lief.

Die Sitzung wurde geschlossen. Als ich aus dem Ge-richtsgebäude herauskam, um in den Wagen zu steigen,habe ich einen kurzen Augenblick lang den Geruch unddie Farbe des Sommerabends wiedererkannt. In derDunkelheit meines rollenden Gefängnisses habe ichnacheinander, wie aus der Tiefe meiner Erschöpfung,alle vertrauten Geräusche einer Stadt wiedergefunden,die ich liebte, und einer bestimmten Stunde, in der esvorkam, daß ich mich wohl fühlte. Der Schrei der Zei-tungsverkäufer m der schon weichen Luft, die letztenVögel in der Grünanlage, der Ruf der Sandwichhänd-ler, das Ächzen der Straßenbahnen in den hochgelege-nen kurvigen Straßen der Stadt und dieses Brausen desHimmels, ehe die Nacht über dem Hafen zusam-menschlägt - all das setzte eine unsichtbare Route fürmich zusammen, die ich gut kannte, bevor ich ins Ge-fängnis kam. Ja, es war die Stunde, in der ich mich, vorlanger Zeit, wohl fühlte. Dann erwartete mich immerein leichter, traumloser Schlaf. Und doch war etwas an-ders geworden, denn mit dem Warten auf den nächstenTag habe ich meine Zelle wiedergefunden. Als könntendie in den Sommerhimmel gezeichneten vertrautenWege genausogut ins Gefängnis wie in unschuldigenSchlaf führen.

Page 112: Albert Camus - Der Fremde

113

IV

Selbst auf einer Anklagebank ist es immer interessant,von sich sprechen zu hören. Ich kann sagen, daß wäh-rend der Plädoyers des Staatsanwalts und meines Ver-teidigers viel von mir gesprochen wurde und vielleichtmehr von mir als von meinem Verbrechen. Waren sieübrigens so verschieden, diese Plädoyers? Der Vertei-diger hob die Arme und plädierte auf schuldig, aber mitmildernden Umständen. Der Staatsanwalt streckte dieHände aus und prangerte meine Schuld an, aber ohnemildernde Umstände. Etwas störte mich jedoch ir-gendwie. Trotz meiner Bedenken war ich manchmalversucht, mich einzumischen, und mein Anwalt sagtedann zu mir: «Seien Sie still, das ist besser für Ihre Sa-che.» Man schien diese Sache gewissermaßen unabhän-gig von mir zu verhandeln. Alles lief ohne mein Zutunab. Mein Schicksal wurde geregelt, ohne daß man nachmeiner Meinung fragte. Hin und wieder hatte ich Lust,jeden zu unterbrechen und zu sagen: «Wer ist denn ei-gentlich der Angeklagte? Es ist doch wichtig, der Ange-klagte zu sein. Und ich habe etwas zu sagen!» Aber beigenauerer Überlegung hatte ich nichts zu sagen. Au-ßerdem muß ich zugeben, daß der Reiz des Interessan-ten, den es hat, wenn sich die Leute mit einem beschäf-tigen, nicht lange anhält. Zum Beispiel hat mich das

Page 113: Albert Camus - Der Fremde

114

Plädoyer des Staatsanwalts sehr schnell gelangweilt.Nur Fragmente, Gesten oder ganze, aus dem Zusam-menhang gelöste Tiraden sind mir aufgefallen oder ha-ben mein Interesse geweckt.

Der Kern seiner Überlegungen war, wenn ich rechtverstanden habe, daß ich mein Verbrechen vorsätzlichbegangen hatte. Zumindest hat er versucht, es zu be-weisen. Wie er selbst sagte: «Ich werde den Beweis er-bringen, meine Herren, und zwar den doppelten Be-weis. Einmal im grellen Licht der Fakten und dann imdunklen Schein, den mir die Psychologie dieser verbre-cherischen Seele liefern wird.» Er hat die Tatsachen seitMamas Tod zusammengefaßt. Er hat an meine Gefühl-losigkeit erinnert, an meine Unkenntnis, was MamasAlter betraf, an mein Bad mit einer Frau am nächstenTag, an das Kino, an Fernandel und schließlich daran,daß ich Marie mit nach Haus genommen hatte. Ich habein dem Moment einige Zeit gebraucht, um ihn zu ver-stehen, weil er «seine Geliebte» sagte, und für mich warsie doch Marie. Dann ist er auf Raymonds Geschichtezu sprechen gekommen. Ich fand, daß seine Art, dieEreignisse zu sehen, ziemlich klar war. Was er sagte,war plausibel. Ich hätte den Brief in Übereinstimmungmit Raymond geschrieben, um dessen Geliebte anzu-locken und sie den Mißhandlungen eines Mannes von«zweifelhafter Moral» auszusetzen. Ich hätte amStrand Raymonds Gegner provoziert. Raymond wäreverletzt worden. Ich hätte seinen Revolver verlangt. Ichwäre allein zurückgekehrt, um mich seiner zu bedie-

Page 114: Albert Camus - Der Fremde

115

nen. Ich hätte den Araber niedergeschossen, wie ich esgeplant hätte. Ich hätte gewartet. Und «um sicherzuge-hen, daß die Arbeit ordentlich erledigt war», hätte ichnoch vier Kugeln verschossen, bedächtig, auf sichereSchußweite, gewissermaßen mit Überlegung.

«So, meine Herren», hat der Ankläger gesagt. «Ichhabe Ihnen den Lauf der Ereignisse vor Augen geführt,der diesen Mann dazu gebracht hat, im vollen Bewußt-sein seines Tuns zu töten. Ich betone das», hat er ge-sagt. «Es handelt sich nämlich nicht um einen gewöhn-lichen Mord, um eine unbedachte Tat, der Sie mil-dernde Umstände zubilligen könnten. Dieser Mann,meine Herren, dieser Mann ist intelligent. Sie haben ihngehört, nicht wahr. Er weiß zu antworten, er kennt dieBedeutung der Worte. Und man kann nicht sagen, erhätte gehandelt, ohne sich seines Tuns bewußt zu sein.»

Ich hörte zu und vernahm, daß man mich für in-telligent hielt. Aber ich verstand nicht, wie aus denEigenschaften eines gewöhnlichen Menschen erdrük-kende Belastungsmomente für einen Schuldigen wer-den konnten. Zumindest hat mich das verblüfft, undich habe dem Staatsanwalt bis zu dem Augenblick nichtmehr zugehört, als ich ihn sagen hörte: «Hat er wenig-stens sein Bedauern ausgedrückt? Nie, meine Herren.Nicht ein einziges Mal im Laufe der Ermittlung schiendieser Mann von seiner abscheulichen Missetat be-rührt.» In dem Moment hat er sich mir zugewandt undmit dem Finger auf mich gezeigt, während er michgleichzeitig weiter unter Druck setzte, ohne daß ich in

Page 115: Albert Camus - Der Fremde

116

Wirklichkeit richtig verstand, wieso. Sicher, ich mußtezugeben, daß er recht hatte. Ich bereute meine Tatnicht sehr. Aber soviel Verbissenheit wunderte mich.Ich hätte gern versucht, ihm herzlich, sogar liebevollzu erklären, daß ich nie irgend etwas wirklich hatte be-reuen können. Ich war immer von dem beansprucht,was gleich geschehen würde, vom Heute oder vom Mor-gen. Aber natürlich konnte ich in der Lage, in die manmich gebracht hatte, mit niemand in diesem Ton reden.Ich hatte kein Recht, mich liebevoll zu zeigen, gutwilligzu sein. Und ich habe versucht, wieder zuzuhören, weilder Staatsanwalt angefangen hatte, von meiner Seele zusprechen.

Er sagte, er hätte sich über sie gebeugt und hättenichts gefunden, meine Herren Geschworenen. Ersagte, eine Seele, die hätte ich in Wirklichkeit gar nicht,und ich wäre für nichts Menschliches und keines dermoralischen Prinzipien zugänglich, die das Herz derMenschen behüten. «Gewiß können wir es ihm nichtvorwerfen», fügte er hinzu. «Wir können uns nicht be-schweren, daß ihm das, was er nicht erwerben kann,fehlt. Aber hier, vor diesem Gericht, muß sich die ganznegative Tugend der Toleranz in die weniger leichte,aber höhere der Gerechtigkeit verwandeln. Zumal,wenn die Leere des Herzens, wie sie bei diesem Mannzu beobachten ist, ein Abgrund wird, in dem die Ge-sellschaft umkommen kann.» In dem Zusammenhanghat er über meine Einstellung zu Mama gesprochen. Erhat wiederholt, was er während der Verhandlung ge-

Page 116: Albert Camus - Der Fremde

117

sagt hatte. Aber er ist viel ausführlicher gewesen als beiseiner Darstellung meiner Verbrechen, so ausführlichsogar, daß ich schließlich nur noch die Hitze dieses Vor-mittags gefühlt habe. Bis zu dem Augenblick zumindest,als der Ankläger innegehalten hat und nach kurzemSchweigen mit sehr tiefer, sehr ergriffener Stimme fort-gefahren ist: «Dieses selbe Gericht, meine Herren, wirdmorgen über die allerabscheulichste Untat urteilen: denMord an einem Vater.» Ihm zufolge schreckte die Vor-stellungskraft vor diesem entsetzlichen Anschlag zu-rück. Er wagte zu hoffen, daß die menschliche Gerech-tigkeit unnachsichtig bestrafen würde. Aber er scheutesich nicht zu sagen, daß das Grauen, welches ihm jenesVerbrechen einflößte, fast von dem übertroffen würde,das er angesichts meiner Gefühllosigkeit empfände.Noch immer ihm zufolge stellte sich ein Mann, der seineMutter moralisch tötete, in derselben Weise außerhalbder menschlichen Gesellschaft wie jener, der mörderi-sche Hand an den Urheber seines Lebens legte. Auf je-den Fall bereitete der eine die Taten des anderen vor, erkündigte sie gewissermaßen an und legitimierte sie. «Ichbin davon überzeugt, meine Herren», hat er die Stimmehebend hinzugefügt, «Sie werden meinen Gedankennicht zu kühn finden, wenn ich sage, daß der Mann, derauf jener Bank sitzt, auch des Mordes schuldig ist, überden dieses Gericht morgen wird urteilen müssen. Ermuß dementsprechend bestraft werden.» Hier hat sichder Staatsanwalt sein schweißglänzendes Gesicht abge-wischt. Er hat schließlich gesagt, seine Pflicht wäre

Page 117: Albert Camus - Der Fremde

118

schmerzlich, aber er würde sie unerschütterlich erfül-len. Er hat erklärt, ich hätte nichts mit einer Gesell-schaft gemein, deren grundlegende Regeln ich nichtanerkennen wollte, und ich könnte nicht an dasmenschliche Herz appellieren, dessen elementarste Re-gungen mir unbekannt wären. «Ich fordere von Ihnenden Kopf dieses Mannes», hat er gesagt, «und ich for-dere ihn leichten Herzens von Ihnen. Denn wenn es imLaufe meiner schon langen beruflichen Tätigkeit vor-gekommen ist, daß ich die Todesstrafe forderte, habeich diese unerquickliche Pflicht niemals so sehr wieheute vom Bewußtsein eines unabweislichen, heiligenGebots und von dem Grauen, das ich vor dem Gesichteines Menschen empfinde, in dem ich nichts als Ab-scheuliches lese, ausgeglichen, aufgewogen und über-strahlt gefühlt.»

Als der Staatsanwalt sich wieder gesetzt hat,herrschte ziemlich lange Schweigen. Ich war betäubtvor Hitze und vor Überraschung. Der Vorsitzende hatgehüstelt und hat mich sehr leise gefragt, ob ich etwasdazu zu sagen hätte. Ich bin aufgestanden, und da ichLust hatte zu reden, habe ich, ein bißchen aufs Gerate-wohl übrigens, gesagt, ich hätte nicht die Absicht ge-habt, den Araber zu töten. Der Vorsitzende hat erwi-dert, daß das eine Behauptung wäre, daß er meineVerteidigungstaktik bisher schlecht verstände und frohwäre, sich von mir die Motive für meine Tat erläuternzu lassen, bevor er meinen Anwalt anhörte. Ich sagteschnell, wobei ich die Wörter durcheinanderbrachte

Page 118: Albert Camus - Der Fremde

119

und mir meiner Lächerlichkeit bewußt war, daß es we-gen der Sonne gewesen wäre. Im Saal wurde gelacht.Mein Verteidiger hat die Achseln gezuckt, und gleichdarauf wurde ihm das Wort erteilt. Aber er hat erklärt,es wäre spät, er würde mehrere Stunden brauchen undbeantrage Vertagung auf den Nachmittag. Das Gerichthat zugestimmt.

Am Nachmittag rührten die großen Ventilatorennoch immer die dicke Luft des Saals um, und die buntenkleinen Fächer der Geschworenen wedelten alle in die-selbe Richtung. Das Plädoyer meines Verteidigersschien mir nie enden zu wollen. Irgendwann jedochhabe ich ihm zugehört, weil er sagte: «Es ist wahr, daßich getötet habe.» Dann hat er in diesem Stil weiter-geredet und hat jedesmal, wenn er von mir sprach,«ich» gesagt. Ich war sehr verwundert. Ich habe michzu einem Gendarmen hinübergebeugt und habe ihn ge-fragt, warum. Er hat mir gesagt, ich sollte still sein,und nach einer Weile hat er hinzugefügt: «Alle An-wälte tun das.» Ich habe gedacht, daß man mich da-durch noch mehr aus der Sache ausschloß, zu einerNull machte, sich gewissermaßen an meine Stellesetzte. Aber ich glaube, ich war schon weit von diesemSitzungssaal entfernt. Übrigens ist mein Anwalt mirlächerlich vorgekommen. Er hat sehr schnell auf pro-vozierten Angriff plädiert, und dann hat er von meinerSeele gesprochen. Aber mir schien, er hatte viel wenigerTalent als der Staatsanwalt. «Auch ich», hat er gesagt,«habe mich über diese Seele gebeugt, aber im Gegen-

Page 119: Albert Camus - Der Fremde

120

satz zum hervorragenden Vertreter der Anklage habeich etwas gefunden, und ich kann sagen, daß ich wie ineinem aufgeschlagenen Buch darin gelesen habe.» Erhätte darin gelesen, daß ich ein anständiger Mannwäre, der zuverlässig, unermüdlich und treu für dieFirma arbeitete, die ihn beschäftigte, bei allen beliebtund voll Mitgefühl für die Leiden anderer. Für ihnwäre ich ein vorbildlicher Sohn, der seine Mutter solange unterstützt hätte, wie er konnte. Schließlichhätte ich gehofft, ein Altersheim würde der alten Frauden Komfort verschaffen, den ich ihr mit meinen Mit-teln nicht bieten konnte. «Ich wundere mich, meineHerren», hat er hinzugefügt, «daß von diesem Heimsoviel Aufhebens gemacht wurde. Wenn nämlich einBeweis für den Nutzen und die Großartigkeit dieserEinrichtung nötig wäre, so brauchte man nur zu sa-gen, daß der Staat selbst sie subventioniert.» Nur hater nicht von der Beerdigung gesprochen, und ich habegespürt, daß das in seinem Plädoyer fehlte. Aber we-gen all dieser langen Sätze, all dieser endlosen Tageund Stunden, in denen man von meiner Seele gespro-chen hatte, habe ich den Eindruck gehabt, alles würdegewissermaßen ein farbloses Wasser, in dem mirschwindlig wurde.

Letzten Endes erinnere ich mich nur, daß, währendmein Anwalt weiterredete, von der Straße her durchdie ganze Flucht von Sälen und Hallen die Trompeteeines Eismanns zu mir gedrungen ist. Ich wurde vonden Erinnerungen an ein Leben überfallen, das nicht

Page 120: Albert Camus - Der Fremde

121

mehr mir gehörte, in dem ich aber meine kärgsten undbeharrlichsten Freuden gefunden hatte: Sommergerü-che, das Viertel, das ich liebte, einen bestimmten Him-mel, das Lachen und die Kleider von Marie. Die ganzeNutzlosigkeit dessen, was ich an diesem Ort tat, istmir da wieder aufgestoßen, und ich wollte es nur nochschleunigst hinter mich bringen und in meine Zellesamt dem Schlaf zurückkehren. Nur undeutlich habeich meinen Anwalt abschließend rufen hören, die Ge-schworenen wollten doch wohl einen ehrlichen Arbei-ter, den ein Augenblick der Verwirrung ins Verderbengestürzt hätte, nicht in den Tod schicken, und habeihn um mildernde Umstände für ein Verbrechen bittenhören, für das ich schon als sicherste Strafe ewigeSchuldgefühle mit mir herumtrüge. Das Gericht hatdie Sitzung unterbrochen, und der Anwalt hat sich er-schöpft hingesetzt. Aber seine Kollegen sind zu ihmgekommen, um ihm die Hand zu schütteln. Ich habegehört: «Großartig, mein Lieber.» Einer hat mich so-gar als Zeugen angerufen: «Nicht?» hat er zu mir ge-sagt. Ich habe zugestimmt, aber mein Komplimentwar nicht ehrlich, weil ich zu müde war.

Doch draußen neigte sich der Tag, und die Hitze warweniger stark. Aus den wenigen Straßengeräuschen,die ich hörte, konnte ich die Milde des Abends heraus-spüren. Wir saßen alle da und warteten. Und das,worauf wir zusammen warteten, betraf nur mich. Ichhabe noch einmal in den Zuhörerraum geschaut. Alleswar genauso wie am ersten Tag. Ich bin dem Blick des

Page 121: Albert Camus - Der Fremde

122

Journalisten im grauen Jackett und dem der Robo-terfrau begegnet. Das brachte mich darauf, daß ichwährend des ganzen Prozesses nicht nach Marie Aus-schau gehalten hatte. Ich hatte sie nicht vergessen, aberich hatte zuviel zu tun. Ich habe sie zwischen Célesteund Raymond gesehen. Sie hat mir ein kleines Zeichengegeben, als wollte sie sagen: «Endlich», und ich habeihr ein wenig ängstliches lächelndes Gesicht gesehen.Aber ich fühlte, daß mein Herz verschlossen war, undhabe nicht einmal ihr Lächeln erwidern können.

Das Gericht ist zurückgekommen. Sehr schnell hatman den Geschworenen eine Reihe von Fragen vorgele-sen. Ich habe «des Mordes schuldig»... «Vorsatz»...«mildernde Umstände» gehört. Die Geschworenensind hinausgegangen, und ich wurde in den kleinenRaum gebracht, in dem ich schon einmal gewartet hatte.Mein Anwalt ist dazugekommen: er war sehr redseligund hat zuversichtlicher und herzlicher denn je mit mirgesprochen. Er meinte, alles würde gutgehen und ich mitein paar Jahren Gefängnis oder Zuchthaus davonkom-men. Ich habe ihn gefragt, ob es im Falle eines ungünsti-gen Urteils Aussichten auf eine Revision gäbe. Er hat esverneint. Seine Taktik wäre gewesen, keine Einsprüchezu erheben, um die Jury nicht zu verstimmen. Er hat mirerklärt, ein Urteil würde nicht einfach so, wegennichts, aufgehoben. Das schien mir einleuchtend, undich habe mich seinen Argumenten gebeugt. Bei kühlerBetrachtung der Sache war es ganz normal. Sonst gäbees ja zuviel unnötigen Papierkrieg. «In jedem Fall gibt

Page 122: Albert Camus - Der Fremde

123

es noch das Gnadengesuch», hat mein Anwalt gesagt.«Aber ich bin überzeugt, daß es günstig ausgeht.»

Wir haben sehr lange gewartet, fast eine Dreiviertel-stunde, glaube ich. Nach Ablauf dieser Zeit hat eineKlingel geläutet. Mein Anwalt hat mich allein gelassenund vorher gesagt: «Der Obmann der Geschworenenverliest jetzt die Antworten. Sie werden erst zur Ur-teilsverkündung hereingeholt.» Türen haben geschla-gen. Leute liefen auf Treppen, von denen ich nichtwußte, ob sie nah oder fern waren. Dann habe ich einegedämpfte Stimme etwas im Gerichtssaal lesen hören.Als die Klingel wieder geläutet hat, als die Tür zur An-klagebank sich geöffnet hat, ist mir die Stille des Saalsentgegengeschlagen, die Stille und dieses eigenartigeGefühl, das mich überkam, als ich festgestellt habe,daß der junge Journalist die Augen abgewandt hatte.Ich habe nicht zu Marie hingesehen. Ich habe keineZeit dazu gehabt, weil der Vorsitzende mir in einersonderbaren Form gesagt hat, daß mir im Namen desfranzösischen Volkes auf einem öffentlichen Platz derKopf abgeschlagen würde. Da schien es mir, daß ichdas Gefühl erkannte, das ich auf allen Gesichtern las.Ich glaube, es war Achtung. Die Gendarmen warensehr liebenswürdig zu mir. Der Anwalt hat seineHand auf mein Handgelenk gelegt. Ich dachte annichts mehr. Aber der Vorsitzende hat mich gefragt,ob ich noch etwas hinzuzufügen hätte. Ich habe nach-gedacht. Ich habe «Nein» gesagt. Darauf hat manmich weggebracht.

Page 123: Albert Camus - Der Fremde

124

V

Zum drittenmal habe ich mich geweigert, den Anstalts-geistlichen zu empfangen. Ich habe ihm nichts zu sa-gen, ich habe keine Lust zu reden, ich werde ihn schonnoch früh genug sehen. Was mich im Moment interes-siert, ist, dem Mechanismus zu entrinnen, herauszufin-den, ob es einen Ausweg aus dem Unvermeidlichen ge-ben kann. Man hat mich in eine andere Zelle verlegt.Von dieser aus sehe ich, wenn ich liege, den Himmel,und ich sehe nur ihn. Alle meine Tage vergehen damit,auf seinem Antlitz das Nachlassen der Farben zu be-trachten, das vom Tag in die Nacht überleitet. Im Lie-gen verschränke ich die Hände unter dem Kopf undwarte. Ich weiß nicht, wie oft ich mich gefragt habe, obes Beispiele für zum Tode Verurteilte gab, die dem un-erbittlichen Mechanismus entronnen sind, vor derHinrichtung verschwunden sind, die Polizeikettendurchbrochen haben. Ich warf mir dann vor, daß ichden Hinrichtungsberichten nicht genug Aufmerksam-keit geschenkt hatte. Man sollte sich immer für solcheSachen interessieren. Man weiß nie, was passierenkann. Wie jeder hatte ich Schilderungen in der Zeitunggelesen. Aber es gab bestimmt Spezialwerke, in denennachzulesen ich nie neugierig genug gewesen war. Dort

Page 124: Albert Camus - Der Fremde

125

hätte ich vielleicht Fluchtberichte gefunden. Ich hätteerfahren, daß wenigstens in einem Fall das Rad ange-halten hatte, daß Zufall und Glück nur einmal etwas andiesem unwiderstehlichen Vorsatz geändert hatten.Einmal! In gewisser Weise hätte mir das, glaube ich,genügt. Mein Inneres hätte das übrige getan. Die Zei-tungen sprachen oft von einem Tribut, den man derGesellschaft schuldete. Ihnen zufolge mußte man ihnbezahlen. Aber das spricht die Phantasie nicht an. Wor-auf es ankam, war eine Fluchtmöglichkeit, ein Sprungaus dem unerbittlichen Ritus heraus, ein wahnsinnigerLauf, der jede mögliche Hoffnung zuließ. Natürlichbestand die Hoffnung darin, an einer Straßenecke imvollen Lauf von einer Kugel im vollen Flug niederge-streckt zu werden. Aber alles wohl erwogen, erlaubtemir nichts diesen Luxus, alles verbot ihn mir, der Me-chanismus erfaßte mich wieder.

Trotz meines guten Willens konnte ich mich mit die-ser anmaßenden Gewißheit nicht abfinden. Dennschließlich bestand ein lächerliches Mißverhältnis zwi-schen dem Urteil, das sie herbeigeführt hatte, und demunerschütterlichen Ablauf von dem Moment an, alsdieses Urteil verkündet worden war. Die Tatsache, daßdas Urteil um zwanzig Uhr statt um siebzehn Uhr ver-lesen worden war, die Tatsache, daß es ganz andershätte sein können, daß es von Menschen gefällt wordenwar, die das Hemd wechseln, daß es im Vertrauen aufeinen so ungenauen Begriff wie das französische (oderdeutsche oder chinesische) Volk erlassen worden war -

Page 125: Albert Camus - Der Fremde

126

dies alles schien mir einer solchen Entscheidung vielvon ihrer Seriosität zu nehmen. Dennoch mußte ich an-erkennen, daß von der Sekunde an, in der sie gefälltworden war, ihre Auswirkungen so sicher und so ernstwurden wie das Vorhandensein dieser Wand, gegendie ich in ganzer Länge meinen Körper quetschte.

Ich habe mich in solchen Momenten an eine Ge-schichte erinnert, die Mama mir von meinem Vater er-zählte. Ich habe ihn nicht gekannt. Das einzig Zuverläs-sige, was ich über diesen Mann wußte, war vielleichtdas, was Mama mir damals über ihn sagte: er war alsZuschauer zur Hinrichtung eines Mörders gegangen.Er war krank bei dem Gedanken hinzugehen. Er hattees trotzdem getan, und nach seiner Rückkehr hatte ersich fast den ganzen Vormittag übergeben. Mein Vaterstieß mich damals etwas ab. Jetzt verstand ich, das warso natürlich. Wie hatte ich übersehen können, daßnichts wichtiger ist als eine Hinrichtung und daß esalles in allem das einzig wirklich Interessante für einenMenschen ist. Wenn ich je aus diesem Gefängnis her-auskommen sollte, würde ich mir alle Hinrichtungenansehen. Ich glaube, es war ein Fehler, an diese Mög-lichkeit zu denken. Denn bei der Vorstellung, eines frü-hen Morgens als freier Mann hinter einer Polizeikettezu stehen, gewissermaßen auf der anderen Seite, bei derVorstellung, der Zuschauer zu sein, der zusieht undsich hinterher übergeben kann, stieg mir eine Woge gif-tiger Freude ins Herz. Aber das war unvernünftig. Eswar ein Fehler, mich zu solchen Annahmen hinreißen

Page 126: Albert Camus - Der Fremde

127

zu lassen, weil ich im nächsten Augenblick so entsetzlichfror, daß ich mich unter meiner Decke zusammenrollte.Meine Zähne klapperten, ohne daß ich an mich haltenkonnte.

Aber natürlich kann man nicht immer vernünftig sein.Manchmal zum Beispiel machte ich Gesetzentwürfe.Ich reformierte die Strafbestimmungen. Ich hatte be-merkt, daß es wesentlich war, dem Verurteilten eineChance zu geben. Eine einzige von tausend, das genügte,um vieles besser zu machen. So könnte man, schien mir,eine chemische Verbindung finden, bei deren Einnahmeder Patient (ich dachte: der Patient) in neun von zehnFällen getötet würde. Er wüßte es, das war Bedingung.Bei genauer Überlegung, bei ruhiger Betrachtung derDinge stellte ich nämlich fest, daß das Fehlerhafte amFallbeil darin bestand, daß es dabei keine, absolut keineChance gab. Der Tod des Patienten war ja ein für allemalbeschlossen worden. Das war eine erledigte Sache, eineabgemachte Maßnahme, eine entschiedene Vereinba-rung, und es kam nicht in Frage, sie zu revidieren. Wennes ausnahmsweise nicht klappte, fing man noch einmalan. Folglich war das Ärgerliche dabei, daß der Verur-teilte das gute Funktionieren der Maschine wünschenmußte. Ich sage, daß dies das Fehlerhafte daran war. Dasstimmt einerseits. Aber andererseits mußte ich zugeben,daß darin das ganze Geheimnis einer guten Organisa-tion lag. Genaugenommen mußte der Verurteilte mora-lisch mitarbeiten. Es lag in seinem Interesse, daß allesreibungslos klappte.

Page 127: Albert Camus - Der Fremde

128

Ich mußte auch feststellen, daß ich bisher zu diesenFragen Vorstellungen gehabt hatte, die nicht stimmten.Ich habe lange geglaubt - und ich weiß nicht, warum -,daß man, um zur Guillotine zu gelangen, auf ein Schafottsteigen, Stufen hinaufklettern muß. Ich glaube, das lagan der Revolution von 1789, ich meine, an allem, wasman mir zu diesen Fragen beigebracht oder gezeigthatte. Aber eines Morgens habe ich mich an ein Fotoerinnert, das die Zeitungen anläßlich einer aufsehener-regenden Hinrichtung veröffentlicht hatten. In Wirk-lichkeit stand die Maschine zu ebener Erde, ganzschlicht und einfach. Sie war viel schmaler, als ichdachte. Es war ziemlich komisch, daß ich das nicht frü-her bemerkt hatte. Diese Maschine auf dem Bild hattemich dadurch verblüfft, daß sie wie ein Präzisionswerk-stück aussah - vollendet und glänzend. Man macht sichimmer übertriebene Vorstellungen von dem, was mannicht kennt. Ich mußte dagegen feststellen, daß alleseinfach war: die Maschine ist auf derselben Ebene wieder Mensch, der auf sie zugeht. Er gelangt zu ihr, wieman jemandem entgegengeht. Auch das war ärgerlich.Der Aufstieg zum Schafott, das Emporsteigen in denfreien Himmel - daran konnte sich die Phantasie klam-mern. Wohingegen hier das Mechanische wieder ein-mal alles zunichte machte: man wurde diskret getötet,ein bißchen verschämt und sehr präzise.

Es gab noch zwei Dinge, über die ich die ganze Zeitnachdachte: das Morgengrauen und mein Gnadenge-such. Ich redete mir jedoch gut zu und versuchte, nicht

Page 128: Albert Camus - Der Fremde

129

mehr daran zu denken. Ich legte mich hin, betrachteteden Himmel, bemühte mich, Interesse für ihn aufzu-bringen. Er wurde grün, es war Abend. Ich riß michnoch einmal zusammen, um den Gang meiner Gedan-ken abzulenken. Ich lauschte meinem Herzen. Ichkonnte mir nicht vorstellen, daß dieses Geräusch, dasmich schon so lange begleitete, jemals aufhören könnte.Ich habe nie wirkliche Phantasie gehabt. Ich versuchtetrotzdem, mir eine bestimmte Sekunde vorzustellen, inder das Schlagen dieses Herzens nicht mehr in meinemKopf weitergehen würde. Aber vergeblich. Das Mor-gengrauen oder mein Gnadengesuch waren da. Schließ-lich sagte ich mir, das Vernünftigste wäre, mir keinenZwang anzutun.

Im Morgengrauen kamen sie nämlich, das wußte ich.Genaugenommen habe ich meine Nächte damit zuge-bracht, auf dieses Morgengrauen zu warten. Ich habemich nie gern überraschen lassen. Wenn mir etwas pas-siert, bin ich lieber ganz da. Deshalb habe ich schließ-lich tagsüber nur noch ein bißchen geschlafen, und dieganzen Nächte hindurch habe ich geduldig darauf ge-wartet, daß das Licht am Fenster des Himmels aufkam.Am schwierigsten war die zwielichtige Stunde, in dersie, wie ich wußte, gewöhnlich tätig wurden. WennMitternacht vorbei war, wartete und lauerte ich. Niehatte mein Ohr so viel Geräusche gehört, so schwacheTöne vernommen. Ich kann übrigens sagen, daß ich ingewisser Weise während dieser ganzen Zeit Glückhatte, da ich nie Schritte gehört habe. Mama sagte oft,

Page 129: Albert Camus - Der Fremde

130

daß man nie ganz und gar unglücklich ist. Ich stimmteihr in meinem Gefängnis zu, wenn der Himmel sichfärbte und ein neuer Tag in meine Zelle kroch. Denngenausogut hätte ich Schritte hören und hätte meinHerz zerspringen können. Auch wenn das leisesteSchlurfen mich an die Tür trieb, auch wenn ich, dasOhr ans Holz gepreßt, krampfhaft wartete, bis ich meineigenes Atmen hörte und erschrak, daß es sich heiserund so ähnlich wie das Röcheln eines Hundes anhörte,zersprang mein Herz letzten Endes doch nicht, und ichhatte wieder vierundzwanzig Stunden gewonnen.

Den ganzen Tag über war da mein Gnadengesuch.Ich glaube, ich habe das Beste aus diesem Gedankengemacht. Ich dosierte meine Mittel und holte die besteAusbeute aus meinen Überlegungen heraus. Ich gingimmer vom Schlimmsten aus: mein Gnadengesuchwurde abgelehnt. «Na gut, ich werde also sterben.»Früher als andere, das war klar. Aber jeder weiß, daßdas Leben nicht lebenswert ist. Im Grunde wußte ichwohl, daß es wenig ausmacht, ob man mit dreißig odermit siebzig stirbt, da natürlich in beiden Fällen andereMänner und andere Frauen leben werden, und das Tau-sende von Jahren hindurch. Nichts war ja klarer. Im-mer war ich es, der starb, ob jetzt oder in zwanzig Jah-ren. Was mich in dem Moment ein bißchen in meinerÜberlegung störte, war dieser furchtbare Schock, denich bei dem Gedanken an zwanzig Jahre künftigen Le-bens in mir fühlte. Aber ich brauchte ihn nur mit derVorstellung zu unterdrücken, welche Gedanken ich in

Page 130: Albert Camus - Der Fremde

131

zwanzig Jahren haben würde, wenn ich trotzdem da-hin kommen müßte. Wenn man stirbt, ist es egal, wieund wann, das war klar. Folglich (und das Schwierigewar, alles, was in diesem «folglich» an Überlegungensteckte, nicht aus den Augen zu verlieren), folglichmußte ich die Ablehnung meines Gnadengesuchs ak-zeptieren.

In dem Moment, erst in dem Moment hatte ich sozu-sagen das Recht, erteilte ich mir gewissermaßen die Er-laubnis, die zweite Hypothese zu durchdenken: ichwurde begnadigt. Unangenehm daran war, daß die un-gestüme Regung des Blutes und des Körpers gedrosseltwerden mußte, die mir als wahnsinnige Freude in denAugen stach. Ich mußte mich anstrengen, diesen Auf-schrei zu mäßigen, ihn zur Räson zu bringen. Ichmußte sogar bei dieser Hypothese unbefangen sein, ummeine Ergebung in die andere annehmbarer zu machen.Wenn es mir gelungen war, hatte ich eine Stunde Ruhegewonnen. Das war immerhin beachtlich.

In einem solchen Moment habe ich es wieder einmalabgelehnt, den Anstaltsgeistlichen zu empfangen. Ichhatte mich hingelegt und ahnte das Nahen des Sommer-abends an einem bestimmten hellen Gelb des Himmels.Ich hatte gerade mein Gnadengesuch abgelehnt undkonnte die Wellen meines Blutes gleichmäßig in mirzirkulieren fühlen. Ich hatte nicht das Bedürfnis, denGeistlichen zu sehen. Zum erstenmal seit langer Zeithabe ich an Marie gedacht. Sie schrieb mir schon langenicht mehr. An dem Abend habe ich nachgedacht und

Page 131: Albert Camus - Der Fremde

132

habe mir gesagt, daß sie es vielleicht leid war, die Ge-liebte eines zum Tode Verurteilten zu sein. Mir istauch der Gedanke gekommen, daß sie womöglichkrank oder tot war. Das war normal. Wie hätte ich eserfahren sollen, da uns außer unseren jetzt getrenntenKörpern nichts verband und aneinander erinnerte.Von dem Moment an wäre mir die Erinnerung an Ma-rie übrigens gleichgültig gewesen. Als Tote interes-sierte sie mich nicht mehr. Ich fand das normal, wieich auch sehr gut verstand, daß die Leute mich nachmeinem Tod vergaßen. Sie hatten nichts mehr mit mirzu tun. Ich konnte nicht einmal sagen, daß der Ge-danke hart war.

Genau in diesem Moment ist der Anstaltsgeistlichehereingekommen. Als ich ihn sah, hat mich ein leich-tes Zittern erfaßt. Er hat es bemerkt und hat gesagt,ich sollte keine Angst haben. Ich habe gesagt, er kämegewöhnlich doch zu einer anderen Zeit. Er hat geant-wortet, es wäre ein ganz freundschaftlicher Besuch,der nichts mit meinem Gnadengesuch zu tun hätte,über das er nichts wüßte. Er hat sich auf meine Prit-sche gesetzt und mich aufgefordert, neben ihm Platzzu nehmen. Ich habe abgelehnt. Ich fand, daß er trotz-dem sehr nett aussah.

Er ist eine Weile sitzen geblieben und hat, die Un-terarme auf den Knien, den Kopf gesenkt, seineHände angesehen. Sie waren zart und kräftig, sie erin-nerten an zwei behende Tiere. Er hat sie bedächtig ge-rieben. Dann ist er solange, immer noch mit gesenk-

Page 132: Albert Camus - Der Fremde

133

tem Kopf, so sitzen geblieben, daß ich einen Augen-blick lang den Eindruck gehabt habe, ich hätte ihn ver-gessen.

Aber er hat plötzlich den Kopf gehoben und hat mirins Gesicht gesehen: «Warum lehnen Sie meine Besu-che ab?» hat er gesagt. Ich habe geantwortet, daß ichnicht an Gott glaubte. Er wollte wissen, ob ich dessenganz sicher wäre, und ich habe gesagt, das brauchte ichmich nicht zu fragen: das wäre eine Frage ohne Belang.Da hat er sich zurücksinken lassen und sich an dieWand gelehnt, die Hände flach auf den Oberschenkeln.Beinah ohne daß es so aussah, als spräche er mit mir, hater eingewandt, daß man sich manchmal für sicher hielteund es in Wirklichkeit nicht wäre. Ich sagte nichts. Erhat mich angesehen und gefragt: «Was halten Sie da-von?» Ich habe geantwortet, das wäre möglich. Auf alleFälle wäre ich vielleicht nicht sicher, was mich wirklichinteressierte, aber ich wäre völlig sicher, was mich nichtinteressierte. Und gerade das, wovon er sprach, interes-sierte mich nicht.

Er hat die Augen abgewandt und hat, immer nochohne seine Stellung zu verändern, gefragt, ob ich nichtaus äußerster Verzweiflung so spräche. Ich habe ihmerklärt, daß ich nicht verzweifelt wäre. Ich hätte bloßAngst, das wäre ganz natürlich. «Gott würde Ihnendann helfen», hat er bemerkt. «Alle, die ich in IhrerLage gekannt habe, wandten sich ihm zu.» Ich habeeingeräumt, daß sie das Recht dazu hätten. Das bewieseauch, daß sie die Zeit dafür hätten. Ich dagegen wollte

Page 133: Albert Camus - Der Fremde

134

nicht, daß man mir hilft, und mir würde gerade die Zeitfehlen, um mich für das zu interessieren, was michnicht interessierte.

In dem Moment machten seine Hände eine gereizteGeste, aber er hat sich aufgerichtet und hat die Faltenseiner Soutane zurechtgelegt. Als er fertig war, hat ersich mit der Anrede «Mein Freund» an mich gewandt:wenn er so mit mir spräche, dann nicht, weil ich zumTode verurteilt war; seiner Ansicht nach wären wir allezum Tode verurteilt. Aber ich habe ihn unterbrochenund sagte ihm, das wäre nicht dasselbe und das könnteim übrigen keinesfalls ein Trost sein. «Gewiß», hat erzugestimmt. «Aber Sie werden später sterben, wenn Sienicht heute sterben. Dann stellt sich dieselbe Frage.Wie werden Sie diese schreckliche Prüfung angehen?»Ich habe geantwortet, ich würde sie genauso angehen,wie ich sie in diesem Moment anginge.

Er ist bei diesen Worten aufgestanden und hat mirgerade in die Augen gesehen. Das ist ein Spiel, das ichgut kannte. Ich machte es oft zum Spaß mit Emmanueloder Céleste, und meistens wandten sie die Augen ab.Der Geistliche kannte dieses Spiel auch gut, das habeich gleich begriffen: sein Blick flackerte nicht. Undauch seine Stimme hat nicht gebebt, als er gesagt hat:«Haben Sie denn keine Hoffnung, und leben Sie mitdem Gedanken, daß Sie ganz und gar sterben werden?»- «Ja», habe ich geantwortet.

Da hat er den Kopf gesenkt und sich wieder gesetzt.Er hat mir gesagt, er bedauerte mich. Er meinte, das

Page 134: Albert Camus - Der Fremde

135

wäre für einen Menschen unmöglich zu ertragen. Ichhabe nur gespürt, daß er mich allmählich langweilte.Ich habe mich auch abgewandt und bin unter die Fen-sterluke gegangen. Ich lehnte mich mit der Schulter andie Wand. Ohne dem, was er sagte, richtig zu folgen,habe ich gehört, daß er wieder anfing, mich auszufra-gen. Er sprach mit unruhiger, eindringlicher Stimme.Mir ist klargeworden, daß er erregt war, und ich habeihm genauer zugehört.

Er teilte mir seine Gewißheit mit, daß mein Gnaden-gesuch angenommen würde, aber ich trüge die Lasteiner Sünde, von der ich mich befreien müßte. SeinerAnsicht nach wäre die Gerechtigkeit der Menschennichts und die Gottes alles. Ich habe angemerkt, daß dieerstere mich verurteilt hätte. Er hat erwidert, daß siemich deswegen doch nicht von meiner Sünde reingewa-schen hätte. Ich habe gesagt, ich wüßte nicht, was eineSünde ist. Man hätte mir nur beigebracht, daß ichschuldig wäre. Ich wäre schuldig, ich bezahlte dafür,mehr könnte man nicht von mir verlangen. Da ist erwieder aufgestanden, und ich habe gedacht, wenn ersich in dieser so engen Zelle bewegen wollte, hätte erkeine Wahl. Er müßte sich entweder setzen oder auf-stehen.

Ich starrte auf den Boden. Er hat einen Schritt aufmich zugemacht und ist stehengeblieben, als wagte ersich nicht näher heran. Er sah den Himmel durch dieGitterstäbe an. «Sie irren sich, mein Sohn», hat er ge-sagt, «man könnte mehr von Ihnen verlangen. Man

Page 135: Albert Camus - Der Fremde

136

wird es vielleicht von Ihnen verlangen.» - «Und daswäre?» - «Man könnte von Ihnen verlangen zu sehen.»- «Was zu sehen?»

Der Priester hat sich ganz umgesehen und hat miteiner Stimme geantwortet, die mir plötzlich sehr müdeerschien: «Aus all diesen Steinen sickert Schmerz, dasweiß ich. Ich habe sie nie ohne Beklommenheit ange-schaut. Aber tief im Herzen weiß ich, daß die Elende-sten unter euch aus ihrer Finsternis ein göttliches Ant-litz haben hervortreten sehen. Dieses Antlitz zu sehen,wird man von Ihnen verlangen.»

Ich bin ein bißchen lebhafter geworden. Ich habe ge-sagt, ich hätte diese Mauern seit Monaten angesehen. Esgäbe niemanden und nichts auf der Welt, das ich besserkennen würde. Vielleicht hätte ich vor langer Zeit ein-mal ein Gesicht darin gesucht. Aber dieses Gesichthätte die Farbe der Sonne und die Glut des Begehrensgehabt: es wäre das von Marie. Ich hatte es vergebensgesucht. Jetzt wäre es vorbei. Und ich hätte jedenfallsnichts aus diesem Stein hervorsickern sehen.

Der Geistliche hat mich mit einer Art Traurigkeit an-gesehen. Ich lehnte jetzt ganz an der Wand, und dasLicht floß mir über die Stirn. Er hat ein paar Wortegesagt, die ich nicht verstand, und hat mich sehr schnellgefragt, ob ich ihm erlaubte, mich zu küssen. «Nein»,habe ich geantwortet. Er hat sich umgedreht und ist zuder Wand gegangen, über die er langsam mit der Handgestrichen hat: «Lieben Sie diese Erde denn so sehr?»hat er gemurmelt. Ich habe nichts geantwortet.

Page 136: Albert Camus - Der Fremde

137

Er ist ziemlich lange abgewandt stehengeblieben.Seine Anwesenheit bedrückte und reizte mich. Ichwollte gerade sagen, er sollte gehen, mich allein lassen,als er sich auf einmal zu mir umgedreht und in einer ArtAusbruch geschrien hat: «Nein, ich kann Ihnen nichtglauben. Ich bin sicher, daß Sie sich manchmal ein an-deres Leben gewünscht haben.» Ich habe geantwortet,daß ich das natürlich getan hätte, daß das aber nichtmehr bedeutete, als sich zu wünschen, reich zu sein,sehr schnell schwimmen zu können oder einen bessergeformten Mund zu haben. Das läge auf der gleichenLinie. Aber er hat mich unterbrochen und wollte wis-sen, wie ich dieses andere Leben sähe. Da habe ich ihnangeschrien: «Ein Leben, in dem ich mich an dieseserinnern kann», und habe gleich hinzugefügt, daß esmir reichte. Er wollte noch weiter über Gott sprechen,aber ich bin auf ihn zugetreten und habe versucht, ihmein letztes Mal zu erklären, daß mir wenig Zeit bliebe.Ich wollte sie nicht mit Gott verlieren. Er hat versucht,das Thema zu wechseln, indem er mich fragte, wiesoich ihn mit «Herr» und nicht mit «Vater» anredete. Dashat mich aufgeregt, und ich habe ihm geantwortet, erwäre nicht mein Vater: er wäre auf der Seite der ande-ren.

«Nein, mein Sohn», hat er gesagt und mir dabei dieHand auf die Schulter gelegt. «Ich bin auf Ihrer Seite.Aber Sie können es nicht wissen, weil Ihr Herz blindist. Ich werde für Sie beten.»

Da ist, ich weiß nicht warum, irgend etwas in mir

Page 137: Albert Camus - Der Fremde

138

geplatzt. Ich habe angefangen, aus vollem Hals zu brül-len, und habe ihn beschimpft und ihm gesagt, er solltenicht beten. Ich hatte ihn beim Kragen seiner Soutanegepackt. Ich schüttete, abwechselnd vor Freude undvor Wut auftrumpfend, alles aus der Tiefe meines Her-zens über ihm aus. Er schiene so gewiß zu sein, nichtwahr? Dabei wäre keine seiner Gewißheiten das Haareiner Frau wert. Er wäre ja nicht einmal sicher, am Le-ben zu sein, da er leben würde wie ein Toter. Ichschiene mit leeren Händen dazustehen. Aber ich wäremeiner sicher, aller Dinge sicher, sicherer als er, meinesLebens sicher und dieses Todes, der bald kommenwürde. Ja, ich hätte nur das. Aber zumindest besäße ichdiese Wahrheit, genauso wie sie mich besäße. Ich hätterecht gehabt, ich hätte noch recht, ich hätte immerrecht. Ich hätte so gelebt, und ich hätte auch anders le-ben können. Ich hätte das eine getan, und ich hätte dasandere nicht getan. Ich hätte die eine Sache nicht ge-macht, während ich eine andere gemacht hätte. Na und?Es wäre so, als hätte ich die ganze Zeit hindurch auf dieseMinute und auf dieses frühe Morgengrauen gewartet,in dem ich gerechtfertigt würde. Nichts, nichts wärevon Bedeutung, und ich wüßte genau, warum nicht. Erwüßte es auch. Aus der Tiefe meiner Zukunft stiegewährend dieses ganzen absurden Lebens, das ich ge-führt hätte, ein dunkler Atem zu mir auf, durch Jahrehindurch, die noch nicht gekommen wären, und dieserAtem machte auf seinem Weg all das gleich, was manmir in den genauso unwirklichen Jahren böte, die ich

Page 138: Albert Camus - Der Fremde

139

lebte. Was scherte mich der Tod der anderen, die Liebeeiner Mutter, was scherte mich sein Gott, die Leben,die man wählt, die Bestimmungen, die man erwählt, daeine einzige Bestimmung mich erwählen sollte, michund mit mir Milliarden von Privilegierten, die sich, wieer, meine Brüder nannten. Begriffe er denn nicht? AlleWelt wäre privilegiert. Es gäbe nur Privilegierte. Auchdie anderen würden eines Tages verurteilt. Auch erwürde verurteilt. Was machte es, wenn er, des Mordesangeklagt, hingerichtet würde, weil er bei der Beerdi-gung seiner Mutter nicht geweint hatte? SalamanosHund wäre genausoviel wert wie dessen Frau. Diekleine Roboterfrau wäre genauso schuldig wie die Pari-serin, die Masson geheiratet hatte, oder wie Marie, diegerne wollte, daß ich sie heiratete. Was machte es, daßRaymond genauso mein Freund wäre wie Céleste, dermehr taugte als er? Was machte es, daß Marie heuteihren Mund einem neuen Meursault darböte? Begriffeer denn nicht, dieser Verurteilte, und daß aus der Tiefemeiner Zukunft... Ich erstickte, während ich all dasherausschrie. Aber schon riß man mir den Geistlichenaus den Händen, und die Wärter bedrohten mich. Erjedoch hat sie beschwichtigt und hat mich eine Weileschweigend angesehen. Seine Augen waren voller Trä-nen. Er hat sich abgewandt und ist verschwunden.

Als er weg war, habe ich meine Ruhe wiedergefun-den. Ich war erschöpft und habe mich auf meine Prit-sche geworfen. Ich glaube, ich habe geschlafen, dennich bin mit Sternen über dem Gesicht wach geworden.

Page 139: Albert Camus - Der Fremde

140

Landgeräusche stiegen zu mir herauf. Gerüche nachNacht, Erde und Salz erfrischten meine Schläfen.Der wunderbare Frieden dieses schlafenden Sommersdrang in mich ein wie eine Flut. In dem Moment und ander Grenze der Nacht haben Sirenen geheult. Sie kün-digten Abreisen in eine Welt an, die mir jetzt für immergleichgültig war. Zum erstenmal seit sehr langer Zeithabe ich an Mama gedacht. Mir schien, daß ich ver-stand, warum sie sich am Ende eines Lebens einen«Bräutigam» zugelegt hatte, warum sie gespielt hatte,daß sie neu anfinge. Dort, auch dort, rings um diesesAltersheim, in dem Leben erloschen, war der Abendwie eine melancholische Atempause. Dem Tod so nahe,hatte Mama sich dort befreit gefühlt und bereit, allesnoch einmal zu leben. Niemand, niemand hatte dasRecht, sie zu beweinen. Als hätte diese große Wut michvom Bösen geläutert, von Hoffnung entleert, öffneteich mich angesichts dieser Nacht voller Zeichen undSterne zum erstenmal der zärtlichen Gleichgültigkeitder Welt. Als ich spürte, wie ähnlich sie mir war, wiebrüderlich letzten Endes, habe ich gefühlt, daß ichglücklich gewesen war und daß ich es noch war. Damitsich alles erfüllte, damit ich mich weniger allein fühlte,brauchte ich nur zu wünschen, daß am Tag meinerHinrichtung viele Zuschauer dasein würden und daßsie mich mit Schreien des Hasses empfangen.