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 1 SPRECHEN UND SPRACHE ANTHROPOSOPHISCHE PERSPEKTIVEN SPRACHE SER IE: TEI L 4 / 12

Alnatura IV Steiner Sprache

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  • 1SPRECHEN UND SPRACHE

    ANTHROPOSOPHISCHE PERSPEKTIVEN

    SPRACHE

    SERIE: TEIL 4 / 12

  • Mittels Lauten kommunizieren auch Tiere, sogar ber Artgrenzen hinweg. Warnlaute von Vgeln kann sogar der Mensch verstehen. Ein Seelisches wird geuert, das etwa Achtung! bedeutet. Umgekehrt kann man durch Einsatz der menschlichen Stimme mit langsam ge-sprochenen, dunklen Lauten ein aufgeregtes Tier beruhigen. Das Wort Ruhe mit sehr langem u gesprochen eignet sich aufgrund seiner klanglichen Eigenschaften gut dazu. Das Tier wei ja nicht, was Ruuuuhe bedeutet, nimmt aber den lautlichen Eindruck auf und reagiert. Wenn Menschen miteinander sprechen, geht es um die lautlichen Qualitten der Worte, und es geht um ihre mehr oder minder definierte lexikalische Bedeutung. Aber im Wort schwingt mehr mit, ein lebendiges Geistiges. Ein Vogel kme dir wieder. / Nicht dein Wort sagt die Dichterin Hilde Domin, um wenig spter das Wort gar mit einem Messer zu vergleichen: Ein Messer trifft oft / am Herzen vorbei. / Nicht das Wort (Unaufhaltsam). Ein Wort kann tdlich verletzen. Glcklicherweise kann es auch trsten, lindern, heilen. Ein Sprachfehler qult nicht nur den, der mit ihm geschlagen ist. Wie befreiend die Heilung sogar noch in einer nacherzhlten Kino-Geschichte wirken kann, zeigt der Oscar-prmierte Film The Kings Speech, wrtlich bersetzt Des Knigs Rede oder Des Knigs Sprache. Mit Bewusstsein fr die klanglichen wie Bedeutungsgehalte der Sprache lsst sich hchster knstlerischer Ausdruck ebenso erreichen wie soziale Realitt gestalten. Was hier mglich ist, geht ber den reinen Informationsgehalt der gesprochenen Worte weit hinaus.

    Der Sprachgestalter und Regisseur Marc Vereeck sprt im folgenden Beitrag den Mglich-keiten von Sprechen und Sprache nach. Manon Haccius

    EINFHRUNG

    I M P R E S S U M

    Anthroposophische Perspektiven / Zwlfteilige SerieTeil 4: Sprechen und Sprache Autor: Marc Vereeck

    Herausgegeben von: Manon Haccius, Alnatura Produktions- und Handels GmbH, Darmstdter Strae 63, DE-64404 Bickenbach, www.alnatura.deCopyright 2011 by Alnatura Produktions- und Handels GmbH, Bickenbach Gestaltung: usus.kommunikation, BerlinAbbildungen: Rudolf Steiner Archiv, DornachVerlag: mfk corporate publishing GmbH, Prinz-Christians-Weg 1, DE-64287 Darmstadt Druck: alpha print medien AG, Darmstadt

    Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, verboten. Kein Teil des Werks darf ohne schriftliche Genehmi-gung in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme oder Datentrger verarbeitet, vervielfltigt oder verbreitet werden. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Herausgebers und des Autors unzulssig.

  • 3SPRECHEN UND SPRACHE

    Sprechen, wie mir der Schnabel gewachsen ist, gehrt zum Alltag. Wir benutzen die Sprache wie selbstver-stndlich als Medium. Dabei liegt die Aufmerksamkeit vor allem auf dem Gesagten, auf dem Inhalt, nicht so sehr auf dem Wie des Sprechens. Jeder will sich ver-stndlich machen durch Sprache 1.

    Ich sprech halt so, wie mir der Schnabel gewachsen ist, sagt der junge Mann an der Kasse.

    Es tut mir leid, antwortet der Kunde, ich habe Sie wirklich nicht verstanden. Wie viel soll ich jetzt be-zahlen?

    Wie wir etwas sagen, entgeht hufig unserer Auf-merksamkeit. Auch weitere Aspekte der Sprache und des Sprechens: Kraft, Klang der Stimme, Rhythmus, Gebrden et cetera bleiben weitgehend unbewusst, obwohl sie so stark auf das Gegenber wirken und auf einen selbst.

    Sie kennen das: Sie telefonieren mit jemandem, den Sie noch nie gesehen haben. Und was entsteht? Sie fan-gen an, sich diese Person nur ber die Stimme vorzustel-len. Die Stimme ist ein zweiter Mensch im Menschen. Man kann ihn sogar sehen! Es ist immer lustig, wenn man dann spter die Person leibhaftig sieht, die man bis dahin nur am Telefon gehrt hat. Sie sieht wirklich an-ders aus.

    Sprechen nur auf gute Artikulation und Sprechtech-niken zu reduzieren, heit, sich nur auf einen (nicht un-wesentlichen) Teilaspekt zu beschrnken. Sprache und Sprechen ist viel mehr: Bewegung, Mimik, Atem, Stimm-

    fhrung, Stille, Lautcharaktere, Gebrden, Begriffe, In-tentionen, Atmosphre, Sprach- und Versformen, Gram-matik, Satzbogen, Sprecher und Zuhrer, sogar die Her-kunftslandschaft, der Schriftsteller oder Dichter et cetera gehren dazu. Sprache erscheint in Tausenden verschie-denen Sprachen und Dialekten.

    Sprache ist weit grer als der Mensch. Sie stellt sich uns Menschen bedingungslos zur Verfgung. Alles macht

    sie mit. Sie lsst sich verbiegen, benutzen und ist jeder-zeit imstande, dem Menschen ein Ausdrucksforum zu bieten, welches ihm ermglicht, ber sich hinauszugehen.

    SPRACHSTILE

    Eine Kostprobe: Der franzsische Dichter und Schrift-steller Raymond Queneau hat eine kleine alltgliche Ge-schichte in 99 verschiedenen Sprachstilen verfasst (Ray-mond Queneau: Stilbungen). Einige Eindrcke am Beispiel des ersten Satzes:

    Erzhlung: Eines Tages gegen Mittag erblickte ich auf der hinteren Plattform eines fast besetzten Autobusses der Linie S eine Person mit sehr langem Hals, die einen umrandeten weichen Filzhut trug.

    Angaben: Im Autobus der Linie S, zur Hauptverkehrszeit. Ein Kerl von etwa sechsundzwanzig Jahren, weicher Hut mit Kordel anstelle des Bandes, zu langer Hals, als htte man daran gezogen.

    Alexandriner: In einem Obus S erblickte eines Tagesich einen Jmmerling, ich wei nicht welchen Schlages,der quengelte, obgleich um seinen Turbanrander eine Kordel trug anstatt ein schmuckes Band.Und dieser junge Mann mit bermigem Halsaus dem es faulig stank, geschmacklos bestenfalls

    Icke: Icke, icke ne, ha was vorn paar Tarn uff da hintern Plattform von eem Autobus S jesehn. Icke, ick fand den Hals von dem jungen Knlch n biken lang und et Dinge, det aussah wie ne Kordel un wo er um sein Hut rum hatte, nee, det fand ick ja ooch verdammt ulkig

    SPRECHEN UND SPRACHE

    MARC VEREECK

    Sprache ist grer als der Mensch. Sie stellt sich ihm bedingungslos zur Verfgung.

    1 Wenn in den Ausfhrungen vom Sprecher die Rede ist, sind selbst-verstndlich beide Geschlechter gemeint.

  • Freie Verse: BesetztDer AutobusLeerDas Herz LangDer Hals GeflochtenDas Band PlattDie Fe

    Welch verschiedene Zugangsweisen und Stile fr das gleiche, lapidare Thema. Andere Wortwahl, Satzgefge, Rhythmus et cetera, Sprache ist zu jeder Bewegung fhig und hat dennoch ihre eigenen Gesetze. Sie ist kein Be-griffsgerst, nicht einfach Lautmaterial oder Fertigpro-dukt, dessen wir uns bedienen. Jedes gewordene Wort geht, indem wir es ergreifen, sofort in Wirkung ber. Der Sprecher baut auf, probiert aus, spricht an, geht auf ein Lebendiges zu.

    SPRECHEN UND SPRACHE: PRAKTIZIERTE GANZHEITLICHKEIT

    Sprache ist eine Ganzheit, ist mehr als die Summe ihrer Teile. Wir addieren nicht Laute und Wrter zu Stzen, sondern sprechen immer aus einer bewegten Ganzheit heraus. So lesen und hren wir auch.

    Eine weitere Kostprobe: Leesn Sie mal! Wie enie Stuide eneir Unvisitert in

    Eglnand asuasgt, ist es nchit witichg, in welechr Riene-floghe die Bstabchuen in eniem Wrot snid. Wiitchg ist nur, dsas der estre und der leztte Bstabchue an der riti-chegn Sletle setehn, der Rset knan villg druchenianedr und tlotaer Blnisdn sien. Todzterm knan man den Txet onhe sher gore Premoble lseen. Das ist so, wiel wir nchit jeedn Bstachuebn enzelin leesn, snedorn das Wrot als Gnazes. Wie Sie seehn, ghet das wrilkich! (Aus der Postkarte Rienefloghe, Discordia, Morsbach).

    Zur Ganzheit gehrt, dass sogar der ganze mensch-liche Organismus an der Sprache und dem Sprechen be-teiligt ist. Wir alle wissen, wie Krpersprache, Bewegung und Sprechen zusammenhngen. Viele wissen nicht, dass das auch den Hrenden betrifft. Rudolf Steiners Sinnes-forschung und die Forschung der Sinnesphysiologen der letzten Jahrzehnte haben ergeben, dass wir beim Spre-chen unentwegt feinste Bewegungen nicht nur in den Sprechorganen, sondern mit unserem ganzen Leib ma-Der Mensch trgt in seiner Kopf-

    organisation ein Abbild des ganzen Weltalls. Er muss es nur wahrnehmen. Rudolf Steiner im Vortrag am 1. 4. 1922

  • 5SPRECHEN UND SPRACHE

    chen. Wir benutzen nicht nur ber hundert Gesichts-muskeln bei jedem gesprochenen Laut, sondern unseren ganzen Muskelorganismus. Der amerikanische Physio-loge William Condon zeigte dies mit Hilfe von Hochge-schwindigkeitskameras. Er fand sogar heraus, dass die gleichen feinsten Bewegungsregungen in den Muskeln beim Hrer ebenfalls auftreten. Diese Bewegungen, die sich vom Kopf bis zu den Fen ziehen knnen, bleiben unbewusst. Unabhngig von Sprache und Kultur hat jeder gesprochene und gehrte Laut ein spezifisches Bewegungs-bild im ganzen Krper (Wolfgang Held: Der Resonanz-sinn des Menschen; Zeitschrift a tempo, 10/2005).

    SPRACHE IST TTIGKEIT 2

    Sprache tut etwas mit einem, nicht nur der Inhalt. So er-greift die Grammatik die dynamischen Verhltnisse, die Sprachrhythmen geben ganz andere Impulse und Wir-kungen. Ihre griechischen Namen weisen noch auf die aktive Ttigkeit hin: Trochus (lang-kurz) heit grie-chisch Lufer. Jambus (kurz-lang) stammt wohl vom griechischen Wort Schleuderer.

    Sprache ist lebendig, sie entwickelt sich sogar weiter. Daraus folgt aber auch, dass Sprachen sterben kn-nen, wie zum Beispiel Latein. In der Etymologie knnen wir die schpferischen Spuren der Sprache nachvollzie-hen. Jedes Wort hat eine Geschichte, und jedes Wort ist durch die Geschichte gezeichnet. Viele heute gelufige Wrter, wie begreifen, Verstndnis, Eindruck, einleuchten, einsehen et cetera sind zum Beispiel aus der inneren Ttigkeit der Mystiker im 13. und 14. Jahrhundert entstanden. Sie schufen neue Wrter, um ihren geistigen Erfahrungen des Nicht-Sagbaren Aus-druck zu verleihen. Die Sprache hat es mitgemacht, hat der geistigen Erfahrung ein Gewand gegeben. Das setzt sich bis heute fort, von neuen Jugendjargons bis hin zu Wortschpfungen, wie Globalisierung et cetera.

    Die nchste Kostprobe: Das einfache Wort Strae scheint einen Begriff wie-

    derzugeben. In Wirklichkeit ffnet es eine vielschichtige Welt, einen ganzen Kosmos. Da ist das immer wechselnde

    Gesicht der Strae: Staub, spiegelnde Nsse, Schnee, Blt-ter, Sonnenuntergang, die Kurve in den Wald hinein da ist die stete Bewegung: Autos, spielende Kinder, Fugn-ger, Postbote, Mllabfuhr, Pferd da ist die Welt der Ge-rusche: Motoren, Geklff, Geklingel und unzhlige Stimmen, Dialekte, Sprachen, Gesprche aller Art da sind Erinnerungen, die jeder mit irgendeiner Strae ver-bindet: Kindheitsglck, Arbeitsweg, frohe Begebenheit, Gerche, Unfall (Ulrich Hussermann: Friedensfeier). Wir erschaffen eine Welt mit einem Wort! Jedes Wort ist Akt, schpferisch formender Akt des Bewusstseins. Der Schriftsteller Durs Grnbein formuliert das so: Das Wort ist ein Wegweiser, in der das Universum physikali-scher Fakten und die Welt des menschlichen Geistes, der Mythen, Erzhlungen und Bilder eins werden (Durs Grnbein: Booklettext zur CD Das Schmetterlingstal von Inger Christensen und Hanna Schygulla). Das muss man vielleicht zweimal lesen, aber Sie haben das be-stimmt schon erlebt: Whrend des Redens kann pltz-lich jene ruckartige Spannung entstehen, die alles ver-wandelt. Auf einmal spricht sich einer unmittelbar aus. Die Worte sind nicht mehr nur berkommenes Erbe, nicht mehr Geschwtz. Es mag die berraschende Wen-dung in einem Gesprch sein, die dem Menschen, der da spricht, unversehens eine neue Sprache schenkt oder auch nur den Aufbruch eines einzigen Ja. Die Worte knnen auf einmal wie neu entspringen und man horcht auf. Im Sprechen kann jeder an geistige und schpferi-sche Vorgnge anknpfen. Das macht ein Fass mit ge-waltigen Krften auf!

    SPRACHGESTALTUNG

    Die von Rudolf und Marie Steiner entwickelte Sprachge-staltung (sterreichisch fr Sprecherziehung) greift alle Aspekte des Sprechens und der Sprache auf. Sie knpft an eine lange Tradition der Rezitationskunst an, unter-sttzt und bereichert die Berufsfelder des Schauspiels, der Literaturbhne, der Pdagogik, der Therapie und der Erwachsenenbildung. Die Sprachgestaltung findet auch Anwendung im Sprechen zur Bewegungskunst der Eurythmie, im Sprechen von mantrischen Texten und im Chorsprechen.

    Die Sprachgestaltung kann den sprechenden Men-schen immer durchlssiger machen fr alle Dimensionen und Richtungen der Sprache und der Sprachkrfte, die sich im Sprechen offenbaren. Die vielen Sprachgestal-tungsbungen 3 haben dabei einen speziellen Ansatz: Sie

    Die Mystiker des Mittel-alters schufen sich neue Wrter, um Erfahrungen des Nicht-Sagbaren Ausdruck zu verleihen.

    2 Die Sprache ist, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, etwas Bestndiges und in jedem Augenblick Vorbergehendes (). Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Ttigkeit (Energeia) (). Sie ist nmlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artiku-lierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fhig zu machen. Wilhelm von Humboldt, Werke, Band 5.

    3 Die ersten Sprachgestaltungsbungen sind nicht fr Knstler, sondern ganz praktisch bei Anregungen fr Ansprachen in der ffent-lichkeit entstanden. Rudolf Steiner: Anthroposophie, soziale Dreiglie-derung und Redekunst.

  • 6bestehen oft aus Stzen, in denen nicht die Bedeutung, sondern die Lautfolge eine gezielte Sensibilisierung oder Krftigung der Sprachorgane, der Atmung, der Artiku-lationsfhigkeit et cetera erzeugt (Rudolf Steiner: Die Kunst der Rezitation und Deklamation, Methodik und Wesen der Sprachgestaltung). Nach Rudolf Steiner ist das Hren, vor allem das Sich-selber-Zuhren, Aus-gangspunkt jeglicher Sprechttigkeit. Das ist wie ein Fhlen der Laute, was sich durch die Ohren ergiet. Das ermglicht, dass man viel sensibler fhlen lernt, was die verschiedenen Laute an natrlicher Selbstverstnd-lichkeit in der Handhabung der organischen Funktio-nen bewirken.

    Jetzt kommt eine Sprechprobe. Sprechen Sie zgig: Zuwider zwingen zwar zweizweckige Zwacker zu wenig zwanzig Zwerge.Die sehnige KrebseSicher suchend schmausenDas schmatzende SchmachterSchmiegsam schnellstensSchnurrig schnalzen.

    Merken Sie, was es mit Ihnen macht?

    Ein eigener Bereich ist die Stimme. Sie ist unser akusti-scher Fingerabdruck. Kein Mensch auf dieser Erde ist stimmlich identisch mit irgendeinem anderen. Wir sind gewohnt, uns selbst und andere am Stimmklang zu iden-tifizieren. Wir bringen in unsere Stimme unser unruhiges Selbst stndig mit hinein. Stimme spiegelt Stimmung. Stimme gibt wieder, wenn etwas nicht stimmt.

    Die Auseinandersetzung des Sprechers mit der Spra-che verhlt sich nach dem Prinzip der 1996 entdeckten Spiegelneuronen 4: Alles in der Sprache ist Bewegung, das verlangt vom Sprecher eine gleiche Beweglichkeit. Sprache stellt sich zur Verfgung, so ist der Sprecher ver-anlasst, sich ebenfalls zur Verfgung zu stellen. Der

    Sprachgestalter bildet mit der Sprache an sich selbst, in-dem er der Sprache entspricht.

    Ein groes Anliegen der Sprachgestaltung ist die Kunst, Dichtung zu sprechen, von den ltesten berlie-ferungen alter Kulturen bis hin zu den modernsten Sprachschpfungen. Was sich an der Schnittstelle von Sprache und Sprecher an Ereignissen und Gestaltungen entwickelt, kann man als das Kerngebiet der Sprachge-staltung bezeichnen. So erffnen sich ganz andere Hal-tungen, andere Rume und Sprechanstze, sogar andere Artikulationszonen beim Vortragen alter Sagen und My-then als bei der modernen Erzhlung, als bei der Rezita-tion eines Gedichtes, als bei der dramatischen Auseinan-dersetzung zwischen mehreren Akteuren auf der Bhne.

    Der Sprechknstler findet die Zugangsweisen immer am Konkreten der Sprache, sei es, dass er mehr dem Klang nachgeht oder der Satzbildung, der Bewegungsart oder die Gestimmtheit in einem Laut sucht. In Rudolf Steiners Dramatischem Kurs finden sich noch viel unge-wohntere Anregungen, zum Beispiel der gymnastische Fnfkampf der Griechen oder die Schulung in Naturbe-trachtung et cetera, alles in Bezug zu den Offenbarungen der Sprache (Rudolf Steiner: Sprachgestaltung und dra-matische Kunst). Das Sinnliche enthlt nmlich alles Geistige, alles Leben, andersherum gesagt: Das Geistige wird sinnlich im Gewand, das der (Sprech-)Knstler ihm gibt (Rudolf Steiner: Goethe als Vater einer neuen s-thetik). An den sinnlich-konkreten Komponenten kn-nen sich Kreativitt und exakte Fantasie entfalten. Das ist nicht immer leicht, denn die Arbeit an der Sprache fhrt hinein in viele Dimensionen des Lebens, mit allen Hhen und Tiefen, in Bewusstes und Unbewusstes, Be-kanntes und Unbekanntes, Gesagtes und nicht Gesagtes.

    Ein wichtiges Arbeitsfeld fr den bewussten Umgang mit der Sprache ist die Pdagogik. Es ist eine Tatsache, dass wir heute durch alle Arten von elektronischem, phra-senhaften, gleichfrmigen Mll zugeschttet werden, wodurch sogar die Spiegelneuronen im Gehirn nicht mehr anschlagen 5. Es ist aber nicht so, dass die Sprache selbst verloren geht. Die Sprachfhigkeit kann jederzeit an der Sache selbst durch lebendige Begegnung mit echter Dich-tung oder im lebendigen Gesprch wieder auftauchen. Wir knnen jederzeit bergehen von Beeindruckungen von auen zur Ausdrucksfhigkeit von innen. In den Wal-dorfschulen gibt es viele Angebote: tgliches Training mit rhythmischen Sprchen, Vermittlung des Lernstoffs, angereichert durch gesprochene Dichtung im Haupt- und

    4 Im Jahr 1996 gelang dem Chef des Physiologischen Instituts der Uni-versitt Parma, Giacomo Rizzolatti, eine spektakulre Entdeckung. Er erforschte, in diesem Fall zuerst beim Affen, wie die Neuronen im Hirn, welche bei einer bestimmten Handlung aktiv werden, genauso ttig werden, wenn diese Handlung von einem anderen ausgefhrt und vom ersteren nur beobachtet wird. Wir machen alles in der Welt innerlich mit. Die auf diese Weise aktivierten Neuronen bekamen die Bezeich-nung: Spiegelneuronen. Die gewonnenen Erkenntnisse der Tierver-suche wurden spter auch beim Menschen als gltig be sttigt. Und zwar mit erweitertem Wirkungsradius: Beim Menschen gengt es zu hren, wie von einer Handlung gesprochen wird, um die Spiegelneu-ronen in Resonanz treten zu lassen. Diese Resonanz der Spiegelneu-rone erzeugt sogar Handlungsbereitschaften zu dieser Handlung. Das Gleiche gilt fr die Sprachfhigkeit. Im Gehirn befi nden sich die Nervenzellen, die fr die Sprachproduktion zustndig sind, an gleicher Stelle wie die Spiegelneuronen des bewegungssteuernden Systems. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie teilweise identisch sind (Joachim Bau-er: Warum ich fhle, was du fhlst).

    Das Geistige wird sinnlich im Gewand, das der (Sprech-)Knstler ihm gibt Rudolf Steiner

    5 Die Spiegelneuronen werden nur bei leibhaft echten Begegnungen ttig, nicht bei elektronischen bertragungen.

  • SPRECHEN UND SPRACHE

    Fachunterricht (auch Biologie, Mathematik, Fremdspra-chen); zudem ganze Epochen, welche sich mit groen Dichtungen (wie Parzival, Nibelungen, Faust) sowie Me-trik und Poetik auseinandersetzen, und last but not least, die groen Theaterspiele in der achten und elften oder zwlften Klasse und die jhrlichen Oberuferer Weih-nachtsspiele.

    Zum Bettigungsfeld der Sprachgestaltung gehrt zunehmend die Sprechtherapie. Sie geht ber die Repa-ratur der blichen Sprechdefizite beim Menschen hin-aus. Die Forschungen der letzten Jahre konnten nachwei-sen, dass Sprachgestaltungsbungen sogar eine harmo-nisierende Synchronisation von Atem- und Herzrhythmus entwickeln, die sonst nur im erholsamsten Tiefschlaf er-reicht wird, und dass jeder Laut auf spezifische Art den vensen Blutstrom gestaltet (weitere Informationen unter www.therapeutische-sprachgestaltung.de).

    GEISTESWISSENSCHAFT UND SPRACHE

    Es ist in diesem Zusammenhang interessant zu erfahren, welches Verhltnis Rudolf Steiner selbst zur Sprache ge-

    funden hat, weil er doch einen unmittelbaren Zugang zum Geistigen hatte. Wilhelm Keilhau kannte keinen Redner, der es in Atemtechnik und Stimmfhrung mit ihm aufnehmen knnte (Wilhelm Keilhau: Samtiden 37. Jg., Oslo 1926). Steiners Sprache ist zunchst unge-wohnt, denn unsere Sprache ist geprgt von der Erden-welt und oft nur schwer durchlssig fr die Quelle (Ru-dolf Steiner: Das Knstlerische in seiner Weltmission).

    Rudolf Steiner musste um das Wort ringen, sowohl als Redner in ber 5.000 Vortrgen als auch in seinen zahlreichen Dichtungen. Er suchte durch bildreiche Wort schpfungen und neue Wortverbindungen die Spra-che zu finden, welche die Beweglichkeit und Dynamik des Geistigen in irdischen Verhltnissen zur Darstellung bringt. Steiners Sprache ist daher nicht leicht zugnglich fr unsere Ohren oder Denkgewohnheiten, er holte oft weit aus, brachte ungewohnte Satzwendungen, erzeugt aber eine nachhaltig schpferische, innerlich bewegte Ttigkeit in demjenigen, der sich mit seiner Sprache aus-

    Des Menschen uerung durch Ton und Wort. Rudolf Steiner im Vortrag am 2. 12. 1922

  • einandersetzt.Eine Leseprobe aus der Sprachwerkstatt Rudolf Steiners:

    Oster-StimmungWenn aus den WeltenweitenDie Sonne spricht zum MenschensinnUnd Freude aus den SeelentiefenDem Licht sich eint im Schauen,Dann ziehen aus der Selbstheit HlleGedanken in die RaumesfernenUnd binden dumpfDes Menschen Wesen an des Geistes Sein.

    (aus: Anthroposophischer Seelenkalender)

    MYSTERIENDRAMEN

    Wenn bis jetzt vom schpferischen Wort, von der Ganz-heit, vom Geist im Sinnlichen die Rede war, berhren wir zugleich elementare Vorgnge, wie sie in Bildern der Ge-nesis 6, der alten Mysterien und der Kunst berliefert sind. Rudolf Steiner greift das im Schauspiel auf.

    Das Theater hat von seinen Anfngen an Entwick-lungsschritte einzelner Personen in Bezug zum Ganzen gezeigt sei es zu der Zeit, sei es zur Gesellschaft, sei es zu den Gttern oder Teufeln. Das ist auch die Thematik der vier Mysteriendramen von Rudolf Steiner.

    In diesen vier Dramen treten Persnlichkeiten auf, welche in ihrem Ringen um das Geistige auf elementare Grenzerfahrungen stoen, die grten Widerstnde berwinden und individuelle Prfungen bestehen mssen. Diese fhren ebenso zu Begegnungen mit dem Bsen wie auch mit dem eigenen inneren Hter der Schwelle, welcher den Zugang zur Geistwelt ermglicht oder ver-sperrt. Zum ersten Mal in der Theatergeschichte werden dabei Verkrperungen der Hauptfiguren in verschiede-nen Zeitepochen auf der Bhne dargestellt. Sie fhren tiefer in das Verstndnis der Handlungsweisen der Figu-ren und in die Wirklichkeiten, in denen wir leben. Damit erweitert Rudolf Steiner die Mglichkeiten von Spre-chen, Sprache und Drama, man knnte sagen: Er fhrt sie weiter zu ihrem Ursprung.

    Eine Publikation von

    DER AUTORMarc Vereeck geboren 1954 in Antwerpen, Belgien. Pdago-gik- und Sportstudium in Gent (B), Waldorfpdagogik und Bo-thmer-Gymnastik in Stutt gart. Mitbegrnder des Seminars fr Leibeserziehung in Heidenheim.

    Studium Sprachgestaltung und Schauspiel in Stuttgart. Sprachgestalter in der Freien Waldorfschule auf den Fil-dern. Schauspieler bei Art Europa und Theater van het Woord (NL). Rezitationsabende, knstlerische Work-shops, Vortrge und Gastspiele im In- und Ausland. Regisseur in freien Theater produktionen u. a. fr Das Zelt, Dein Theater. Seit 1994 innovative Kunstprojekte und Seminare in der Wirtschaft, u. a. Daimler AG. Mit-begrnder von Abenteuer Kultur in der Lehrlingsausbil-dung bei dm-drogerie markt. 2007/08 Professur imStudiengang Schauspiel an der Alanus Hochschule in Alfter/Bonn. Mitbegrnder und Regisseur des Ensembles Die jungen Klassiker.

    LESE-TIPPS: Slezak-Schindler, Christa Vom Leben mit dem Wort, Verlag am Goetheanum, Dornach 1992.Steiner, Rudolf Sprechen und Sprache, Themen aus dem Gesamtwerk Band 2, 4. Auflage, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2010.Zimmermann, Heinz Vom Sprachverlust zur neuen Bilderwelt des Wortes, 2. Auflage, Verlag am Goethe-anum, Dornach 2000.

    AUSBILDUNGSSTTTEN: AmWort Anthroposophische Akademie fr Therapie und Kunst, www.amwort.chInternationale Schauspielschule Basel www.internationale-schauspielschule-basel.chTheaterakademie Stuttgart www.aka-stuttgart.comMichael Tschechow Studio Berlin, www.mtsb.deArtemis School of Speech and Drama www.artemisspeechanddrama.org.uk

    Das Durchfhlen des Lautlichen. Rudolf Steiner im Vortrag am 21. 9. 1924

    6 Die biblische Schpfungsgeschichte: Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.