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1 Anatomie, Histologie und Entwicklung der Suturen des menschlichen Schädels „Wir müssen die genaue Position und den Zweck jedes Knochens kennen und völlig vertraut sein mit jeder seiner Verbindungen. Wir müssen vollständige Vorstellung der normalen Verbindungen und Gelenke haben, die wir korrigieren möchten.“ A.T. Still Diplomarbeit Beatrix Renaux [email protected] Februar 2007 Schule für Craniosacrale Osteopathie Dr. Rudolf Merkel

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Anatomie, Histologie und Entwicklung der Suturen des menschlichen Schädels

„Wir müssen die genaue Position und den Zweck jedes Knochens kennen und völlig vertraut sein mit jeder seiner Verbindungen. Wir müssen vollständige Vorstellung der normalen Verbindungen und Gelenke haben, die wir korrigieren möchten.“ A.T. Still

Diplomarbeit Beatrix Renaux

[email protected] Februar 2007

Schule für Craniosacrale Osteopathie

Dr. Rudolf Merkel

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Inhaltsverzeichnis Einteilung der Skelettverbindungen Definition Sutur Anatomie der Suturen und des Schädels Histologie der Suturen Formen der Suturen Entwicklung und Ossifikation der Suturen Schädelwachstum und Einfluss von mechanischer Stimulation Funktionen der Suturen Umsetzung in die Praxis Literaturnachweis

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Einteilung der Skelettverbindungen:

1) Diarthrosen (gr. di= zwei) Das sind die echten Gelenke. Sie bestehen aus zwei einander gegenüberliegenden Gleitflächen, die sich bewegen. Sie sind mit einem Gelenkspalt getrennt und sind von einer Kapsel umgeben.

2) Synarthrosen (gr. syn=zusammen, arthron =Gelenk)

Skelettelemente haften unter Vermittlung eines verformbaren Gewebes, d.h Kollagenfasern oder Knorpel, aneinander.

Wir können vier Unterarten einteilen:

a) Syndesmosen: Bindegewebe hält die Skelettteile zusammmen, z.B. Suturen

b) Synchrondrosen: Knorpel ist das verbindende Material, z.B. Synchondrosis sphenobasilaris

c) Synostosen: Sie entstehen durch die Verköcherung von Syndesmosen und Synchondrosen

d) Symphysen: Diese Verbindung setzt sich aus Knorpel und Bindegewebe zusammmen, z.B. Schambeinfuge

Suturen

Das Wort „sutura“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet Naht. Suturen kommen nur am Schädel vor. Durch die Suturen sind die Knochenteile des Schädels miteinander verbunden. In den Nahtspalten befinden sich Kollagenfibrillen, welche die äussere Schicht bilden und mit dem Periost des Schädels verwachsen sind, dann folgt nach innen faseriges Bindegewebe, sowie einzelne Knochenbrücken, Gefässe, Nerven und Rezeptoren.

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Anatomie der Suturen und des Schädels

Der Schädel wird in den Gesichtsschädel-Viscerocranium und den Gehirnschädel- Neurocranium unterteilt. Das Neurocranium teilt sich wiederum in die Schädelbasis-Basis cranii und in das Schädeldach-Calvaria auf.

Viscerocranium setzt sich zusammen aus: Ossa nasalia, Ossa lacrimalia, Ossa zygomatica, Maxillae, Mandibula, Vomer, Ossa palatine, Concha nasalis inferior Neurocranium setzt sich zusammen aus: Os occipitale, Ossa parietalia, Ossa temporalia, Os sphenoidale, Os frontale, Os ethmoidale

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Basis cranii setzt sich zusammen aus: Os frontale, Os ethmoidale, Os sphenoidale, Ossa temporalia , Os occipitale

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Calvaria setzt sich zusammen aus: Os frontale, Ossa parietalia, Os occipitale. Die Scheitelbeine sind die einzigen Knochen, die ausschliesslich zum Schädeldach gehören.

Der Schädel eines Erwachsenen besteht aus 22 Knochen (28, inklusive der 6 Gehörknöchelchen), die untereinander über 100 Verbindungen bilden. Gelenkig verbunden ist nur der Unterkiefer (TMG). Die andern 21 Knochen sind mit Suturen verbunden. Sie tragen die Namen der jeweiligen benachbarten Knochen, wie z. B. Sutura frontonasalis ( Naht zwischen Nasen- und Stirnbein), Sutura temporozygomatica ( Naht zwischen Jochbein und des Processus zygomaticus des Schläfenbeines).

Eigene Namen tragen folgende Suturen: Sutura coronalis: Kranznaht. Sie liegt zwischen Stirnbein und beiden Scheitelbeinen. Sutura sagittalis: Naht zwischen rechtem und linkem Scheitelbein. Sutura lambdoidea: Zwischen Hinterhauptsbein und beiden Scheitelbeinen. Sutura metopica: Naht im paarigen Os frontale beim Kind. Nur der Unterkiefer ist mit dem Schläfenbein gelenkig verbunden. Der Schädel eines Neugeborenen besteht noch aus 45 Knochen.

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Schädel von vorne mit Suturen

Schädel von lateral mit Suturen

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Schädel von unten mit Suturen

Rechte Orbita von vorne mit Suturen

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Histologie der Suturen

Die äussere Faserschicht des Periosts teilt sich an der Sutur in zwei Lagen. Die äussere bindegewebige Periostlage überbrückt die Nahtfuge an der Aussen- und Innfläche des Schädels und bildet so die Verbindungslagen an der Schädelaussen- und -innenseite. Kollagene Fasern sind die überwiegende Bindegewebsstruktur in der Sutur. Bündel kollagener Fasern, so genannnte Sharpey-Fasern, überbrücken die Nahtfuge und dringen in die beiden gegenüberliegenden Knochen ein. Dabei sind diese Fasern an jenen Stellen besonders zahlreich, die am stärksten auseinander ziehenden Kräften ausgesetzt sind. Eine Arteriole und eine oder mehrere nichtmyelisierte Nervenfasern begleiten die Sharpey-Fasern und dringen in den Haversschen

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Kanal des Knochens ein. Die zentrale Zone ist mit lockerem Bindegewebe ausgefüllt. Diese Fasern können dazu dienen, feine Bewegungen zwischen den Schädelknochen zu ermöglichen. Auch elastisches Gewebe wurde von Retzlaff in den Suturen gefunden, das die kollagenen Faselbündel überkreuzt und eine Art kontraktiles Element darstellt.

Innerhalb dieser Zone wurden auch Blutgefässe mit ihren zugehörigen Nerven für die vasomotorische Kontrolle nachgewiesen. Diese Gefässe sind zur Zeit der Geburt und in der frühen Kindheit noch zahlreich und nehmen im Laufe des Wachstums ab.

Es wurden zwei Arten von Nerverfasern gefunden, die in Beziehung zur Vaskularisation der Suturen stehen: Der eine Typ besitzt synaptische Vesikel und verläuft parallel zu den arteriellen Gefässen. Er könnte als Reflexübermittler des autonomen Nervensystems zur vasomotorischen Kontrolle dienen. Der andere Typ wurde in den Venenwänden und im Sinus sagittalis superior gefunden. Diese Nerverfasern könnten als sensorische Rezeptoren in den Venen fungieren. Nichtmyelisierte autonome Fasern innervieren die Arteriolen in den Suturen und in der Dura.

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Formen der Suturen

1) Sutura squamosa oder Schuppennaht: Bei dieser Sutur überlagern sich breite abgeschrägte Knochenkanten schuppenartig. Bei Druck oder Kompression ermöglicht sie eine gleitende, scherenartige Bewegung, indem die eine suturale Fläche über die andere gleitet. Beispiel: Sutura squamosa ( Verbindung Temporale und Parietale)

2) Sutura serrata oder Zackennaht: Die Suturen mit den grössten Zacken stellen die aktivsten Wachstumszonen dar. Diese Wachstumsaktivität scheint in Relation zur Beweglichkeit der Suturen zu stehen, denn je grösser die Zacken bei der Verzahnung sind, desto grösser ist die Bewegungsmöglichkeit. Diese Naht könnte nach Retzlaff eine minimale Drehbewegung ermöglichen. Beispiel: Sutura sagittalis, Sutura temporozygomatica

3) Sutura squamoserrata: Verzahnung mit einer schrägen Gelenkfläche, sodass die Knochen sich nicht nur verzahnen, sondern auch überlappen. Beispiel: Sutura lambdoidea, Sutura coronalis

4) Sutura plana oder glatte Naht: Ermöglicht eine Art gleitende und spreizende Bewegung. Beispiel: Sutura nasomaxillaris

5) Schindylesis: Eine Sutur, bei der die eine Fläche des Schädelknochens in die Leiste des angrenzenden Schädelknochens passt. Beispiel: Sutura sphenovomeralis

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Pivotpunkt

Der Pivotpunkt bezeichnet die Stelle, an der sich nach innen und nach aussen gerichtete Gelenkränder treffen, bzw. die Stelle, an der die Neigungsrichtung der Gelenkränder wechselt. Diese Stellen sind mögliche Achsen für Bewegungen der Schädelknochen.

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Entwicklung und Ossifikation der Suturen

Die Ossifikation des Schädels geschieht auf zwei verschiedene Arten:

1) Desmale Ossifikation: Direkte Verknöcherung aus dem embryonalen Bindegewebe (Mesenchym). Das Schädeldach und die Gesichtsknochen werden so gebildet.

2) Enchondrale Ossifikation: Indirekte Verknöcherung über Knorpelstufe. Die Schädelbasis wird so gebildet.

Die Entwicklung des Schädeldaches

Das Schädeldach verknöchert desmal. Sie geht von 5 Knochenpunkten aus, die als kleine Knochenwülste (Tubera) zeitlebens erkennbar bleiben. Dies sind vorne die beiden Ossa frontalis, seitlich die beiden Ossa parietalia, sowie hinten die unpaare Squama occipitales. Die Naht zwischen den beiden Ossa frontalia, Sutura metopica, kann manchmal sichtbar bleiben. Die Knochenbälkchen verlängern sich in radiärer Richtung von den Tubera aus und stossen im Bereich der Suturen zusammen. Das Bindegewebe der Suturen proliferiert stark und liefert damit immer neues Gewebe für die Verknöcherung. Die Nähte sind daher Wachstumsfugen und unterhalten das Flächenwachstum der Schädelknochen. Das Dickenwachstum vollzieht sich durch einen überwiegenden Knochenanbau von aussen.

An Stellen, an denen mehrere Deckknochen zusammen stossen, verbreiten sich die Suturen zu den Fontanellen. Das sind grössere Lücken zwischen den einzelnen Schädelknochen, die durch Bindegewebe (Dura mater) verschlossen sind. Während des relativ schnellen Wachstums der umliegenden Knochen verkleinern sich die Fontanellen, bis sie die Breite der Schädelnähte erreichen.

Man unterscheidet beim Neugeborenen zwischen zwei paarigen und zwei unpaarigen Fontanellen:

• Grosse Fontanelle, Fonticulus anterior: liegt rautenförmig (2-3 cm lang) dort, wo Kranznaht, Pfeilnaht und Stirnnaht zusammentreffen. Verschluss bis zum 2. Lebensjahr.

• Kleine Fontanelle, Fonticulus posterior: befindet sich in dreieckiger Form dort, wo Pfeilnaht und Lambdanaht zusammentreffen. Verschluss im 3. Monat

• Vordere Seitenfontanelle, Fonticulus anterolateralis: befindet sich zwischen Stirnbein, Scheitelbein, Schläfenbeinschuppe und dem grossen

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Keilbeinflügel. Paarig. Angaben zum Schliessen reichen von der 6. Woche bis zum 12. Monat.

• Hintere Seitenfontanelle, Fonticulus posterolateralis: liegt im Bereich zwischen Hinterhauptsbein, Scheitelbein und Processus mastoideus. Paarig. Angaben zum Schliessen reichen ebenfalls von der 6. Woche bis zum 18. Monat.

Entwicklung des Gesichtsschädels

Der Gesichtsschädel verknöchert grösstenteils desmal. Die Knochen der Nasenhöhle entwickeln sich als Deckknochen auf der knorpeligen Nasenkapsel, die sich danach zurückbilden. Aus Material des ersten Schlundbogens entstehen der Ober- und Unterkieferwulst. Das mesenchymale Gewebe des Oberkieferwulstes ist die Grundlage für die Entwicklung der Maxilla, der Ossa palatinum und zygomaticum, sowie der Pars squamosa des Os temporale. Im Unterkieferwulst wird der Meckel-Knorpel angelegt. Daraus entwickelt sich der Unterkiefer.

Durch enchondrale Ossifikation entwickeln sich Septum nasi, Concha nasalis inferior, Corpus ossis hyoidei und grosse Zungenbeinhörner.

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Entwicklung der Schädelbasis

Sie entwickelt sich enchondral. Aus Mesenchym entwickeln sich parachordale Knorpel und bilden zusammen die Basalplatte. Kaudal davon befinden sich 4 Sklerotome. Das sind Anlagen der Skelettelemente, Ursegmente aus dem Mesoderm. Drei Sklerotome verbinden sich mit dem parachordalen Knorpel und bilden die Anlage für die Pars basilaris des Occiput. Später dehnt sich der Knorpel aus, umgibt das Rückenmark und bildet die Begrenzung des Foramen magnum.

Die hypophysären Knorpel, anterior vom parachordalen Knorpel gelegen, entwickeln sich zum Corpus des Keilbeines.

Die Trabeculae cranii verbinden sich und bilden das Corpus des Siebbeines.

Die Ala orbitalis bildet den kleinen Keilbeinflügel, Ala minor. Aus der Ala temporalis bildet sich der grosse Keilbeinflügel, Ala major. Aus der Ohrkapsel bildet sich das Felsenbein, Pars petrosa des Schläfenbeines.

Die Nasenkapsel verknorpelt im 2. Monat intrauterin. Aus der äusseren Wand des Hohlraumes entstehen die Massa lateralis des Siebbeines und die untere Nasenmuschel. Aus der medialen Wand bildet sich die knorpelige Nasenscheidewand, der hintere Anteil verknöchert und bildet den Vomer, Pflugscharbein.

Manche Knochen des Schädels, die sowohl zur Schädelbasis, als auch zum Schädeldach zuzuordnen sind, verknöchern gleichzeitig auf beide Arten. Das sind das Os sphenoidale, Os temporale und das Os occipitale.

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Ossifikation der Suturen

Der Verschluss der Suturen ist abhängig von genetischen, vaskulären, hormonellen, mechanischen und lokalen Faktoren. Die Suturen haben einen unterschiedlichen Verknöcherungszeitpunkt und damit eine Beendigung ihrer Wachstumsaktivität.

Die Verknöcherungen finden gemäss Schulmedizin zu folgenden Zeitpunkten statt: Sutura frontalis: in den ersten Lebensjahren Sutura sagittalis: 20. – 30. Lebensjahr Sutura coronalis: 30. – 40. Lebensjahr Sutura lambdoidea: 40. – 50. Lebensjahr

Die Verknöcherung kann individuell früher oder später verlaufen. Einige Suturen können bis ins hohe Alter offen bleiben, was für unsere Arbeit von grosser Bedeutung ist. In den Suturen können auch eigenständige Ossifikationszentren auftreten, aus denen die Nahtknochen hervorgehen.

Ein verfrühter Schluss der Suturen (prämature Synostose) führt zu Schädeldeformitäten

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Schädelwachstum und Einfluss von mechanischer Stimulation

Die Form des Schädels erfährt ab dem Embryonalstadium bis ins hohe Alter eine fortwährende Änderung. Knochengewebe reagiert äusserst empfindlich gegenüber mechanischer Beanspruchung. Je härter das Stützgewebe eines Organismus ist, desto stärker hängt seine Existenz von seiner Regenerationsfähigkeit ab. Diese scheinbare Diskrepanz – Formstabilität, aber Abhängigkeit von mechanischer Beanspruchung zur Wahrung der Form – sollte bei Überlegungen zum Knochengewebe stets berücksichtigt werden. Für uns ist wichtig, dass biologisches Stützgewebe wie Knorpel und Knochen äusserst anpassungsfähig ist und daher seine Form nur in einem funktionellen Gleichgewicht der mechanischen Belastungen wahren kann. Form und Funktion sind untrennbar. Die Hirnwachstumsfunktion bestimmt massgeblich die Form des Hirnschädels vor und kurz nach der Geburt. Die Schädelbasis ist in ihrer Wachstumsentwicklung davon unabhängiger als Schädeldach und Gesichtsschädel. Erst nach der Geburt werden die nun wichtig gewordenen Funktionen Atmen, Saugen und Schlucken an den Veränderungen der anatomischen Form des Gesichtsschädels deutlich erkennbar.

Während des ganzen Lebens bleiben die Suturen bewegliche Verbindungen des Bewegungssystems. Sie sind besonders darauf spezialisiert, mechanische Lasten auf die Knochenmatrix zu verteilen. Knochenmatrix sind alle Gewebearten, in denen Knochen entsteht. Dazu gehören Knorpelgewebe als Knorpelmatrix, (subkutanes) Binde- und vorhandenes Knochengewebe. Periostale Strukturen, Suturen und Periodontia bilden zusammen mit den echten Gelenken (Diarthrosen) die sekundären Strukturen der Knochenmatrix.

Die intrasuturalen Fasern sind so angeordnet, dass ein intrasuturaler Spalt von etwa 250 µm gewahrt bleibt. Die Fasern üben dabei eine ähnliche Funktion aus wie die Speichen eines Rads. Genauso wie die Speichen den Abstand zwischen Felge und Nabe wahren, sichern die Fasern in der Schädelnaht die Breite des Nahtspaltes.

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Durch Blut- und Liquorzirkulation wird ein rhythmisch schwankender Druck auf den Hirnschädel ausgeübt. An seinen Nähten erfährt das wachsende Schädeldach eine ständig schwankende Beanspruchung, die für den Erhalt der intraasuturalen Faserstruktur sorgt. Die durchschnittliche Belastung (aufgrund des ständigen durch das Hirnwachstum bedingten Druckanstiegs) erzeugt einen mechanischen Druck auf die Knochenmatrix, der durch die Dura mater und das Periost der Knochennähte übertragen wird. Das Besondere an der Knochennaht ist, dass sie eine hydraulische Verbindung zum Mark der Knochenmatrix herstellt. Diese Verbindung kommt durch zahlreiche Gefäss- und Bindegewebsverbindungen zwischen dem Nahtgewebe und dem markhaltigen Knochengewebe zustande. Diese Gefässe übertragen den inneren Druck der Naht direkt auf den Markknochen, während umgekehrt alle Druckschwankungen im Markknochen auf das Nahtgewebe übertragen werden. Aeussere Kräfte, die auf die Knochenmatrix einwirken, rufen Spannungen in der Knochenmatrix hervor. In den Suturen werden diese Spannungen in Bewegungen der Sutur umgewandelt. Diese Nahtbewegungen verursachen wiederum Drucksschwankungen in den Suturgefässen. Die Suturgefässe leiten diese Druckschwankungen an den Markknochen weiter. In der Wachstumsphase ist das Ergebnis dieses Vorgangs an der Verdickung des Schädelknochens entlang der Schädelnähte erkennbar. Diese Verdickung ist auf den Druckanstieg in der Markhöhle um die Suturen herum zurückzuführen. Demnach fungieren die Schädelnähte als Lastüberträger im Schädeldach.

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Wegen des Fehlens von Blutgefässen in der Knorpelmatrix und auf Grund ihrer elastischen Struktur ist die Schädelbasis nicht so empfindlich gegenüber äusseren mechanischen Reizen.

Bei meiner Literatursuche bin auf eine interessante Arbeit von Dr. Ludwig Fick, Professor der Anatomie in Marburg, 1859, „Über die Suturen und ihr Verhältnis zur Hirnform“, gestossen:

„Ich habe in dieser Arbeit den Satz aufgestellt, dass da, wo während der Entwicklung des Organismus, das Wachsen eines Sceletttheils und das Wachsen eines activen Weichgebildes in mechanischen Conflikt kommen, der Widerstand des activen Weichgebildes den Widerstand des Knochenwachsthums überwindet. Das Hirn formt seine Kapsel und nicht die Kapsel das Hirn.“

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Funktionen der Suturen

1) Während der Geburt, beim Durchtritt durch den engen Geburtskanal, können die Schädelknochen überlappen und sich verformen

2) Ermöglichen das Wachstum des Schädels

3) Verhindern eine Separation der Schädelknochen

4) Minimale, aber lebensnotwendige Beweglichkeit des Schädels

5) Absorbieren Schläge und Erschütterungen

6) Lastenüberträger am Schädeldach

Umsetzung in die Praxis

Durch meine Diplomarbeit habe ich eine ganz andere Wahrnehmung der Suturen erhalten. Es ist mir bewusst geworden, dass jede Arbeit an den Schädelknochen eine Arbeit an den Suturen ist.

Wir benützen nur wenige Techniken für die Suturen:

1) V-spread

2) Kompression und Dekompression

3) Funktional indirekte Technik

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Literaturnachweis

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