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180 Originalia | Der Merkurstab | Heft 3 | 2014 Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem, die Heilung eine musikalische Auflösung. Novalis 1. Einleitung I nwiefern ist Krankheit ein musikalisches Problem? Kann Krankheit wirklich mit Musik geheilt werden? Kann anthroposophische Musiktherapie als Heilmittel bezeichnet werden? Kann sie eine Wirksamkeit entfal- ten, die der von Medikamenten vergleichbar wäre? Die- se Fragen drängen sich dem Leser unmittelbar auf. Im folgenden Beitrag soll daher der Versuch unternommen werden, der Beziehung zwischen Gesundheit und Musik – oder genauer gesagt: den Elementen der Musik – nach- zuspüren. Dass man sich nach dem Besuch eines Konzerts wie verwandelt fühlen kann, davon können viele Menschen berichten: Man fühlt sich z. B. inspiriert, erfrischt, ge- tröstet oder entspannt. Erschöpfung weicht der Neube- lebung, eine gedrückte Stimmung wird aufgehellt oder Ruhe und Friede ziehen in die Seele ein. Auch das eigene Spiel auf einem Musikinstrument kann eine deutliche Veränderung des Befindens bewirken: Man wird durch- wärmt, kommt wieder „ins Lot“, entdeckt neue Seelen- inhalte und findet zur eigenen Mitte. Atem und Puls ver- ändern sich. Daraus ergibt sich die Frage, was Musik im Menschen bewirken kann, wie konkret die anthroposo- phische Musiktherapie arbeitet und mit welchen Mit- teln und Methoden sie Heilungsprozesse im Menschen impulsieren kann. Ein weiterer Fragenkomplex betrifft das Verhältnis von Musik und Musiktherapie. 1 2. Kleiner Exkurs zum Quellort der Musik Dort, wo Rudolf Steiner über die Erdentwicklung spricht, bezieht er sich unter anderem auf die formbil- dende Kraft der Tonschwingungen, die der Naturfor- scher Ernst F. F. Chladni (1756–1827) unmittelbar sichtbar gemacht hat. „Es ist damals im größten Maße in der Erd- entwicklung so etwas geschehen, wie wenn Sie auf eine Metallplatte feinen Staub aufstreuen und mit einem Violinbogen die Platte streichen … So bildeten sich durch die aus dem Weltenraum hineinströmende Musik die mannigfaltigsten Gestalten, und die Stoffe, die im Was- ser gelöst waren, die selbst wässerig waren, sie ge- Anthroposophische Musiktherapie Simone Lindau Anthroposophische Musiktherapie Zusammenfassung Die anthroposophische Musikthe- rapie zielt auf die Aktivierung der Selbstheilungskräfte und Förde- rung der Selbstregulationsfähig- keiten auf geistiger, seelischer, ätherischer/funktionaler und körperlicher Ebene beim Patien- ten. Sie wird sowohl aktiv als auch rezeptiv angewandt. Musi- kalische Elemente wie Töne, Inter- valle, Melodien, Harmonien und Rhythmen werden in Verbindung mit den verschiedenen Klangqua- litäten der Instrumente und/oder der Singstimme eingesetzt und individuell für den Patienten zu- sammengestellt. Musiktherapie ist in allen Lebensphasen und bei fast allen Erkrankungen und bio- grafischen Krisen anwendbar. Schlüsselwörter Anthroposophische Musiktherapie Rezeptive Musiktherapie Aktive Musiktherapie Musikinstrumente in der Therapie Musikalische Elemente in der Therapie Anthroposophic music therapy Abstract The intention of anthroposophic music therapy is to activate the patient’s self-healing powers and to support the person’s capability of self-regulation on the spiritual, psychological, mental, functional and physical level. It is used in the active as well as in the receptive form. Musical elements like tones, intervals, melodies, harmonies and rhythms are used in combination with the differences of sound qualities of the instruments and/or the human voice and are arranged for each patient indivi- dually. Music therapy can be applied in all periods of life and a large variety of diseases and biographical crises. Keywords Anthroposophic music therapy Receptive music therapy Active music therapy Musical instruments in music therapy Musical elements in music therapy

Anthroposophische Musiktherapie · 2021. 5. 26. · Dort, wo Rudolf Steiner über die Erdentwicklung spricht, bezieht er sich unter anderem auf die formbil-dende Kraft der Tonschwingungen,

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Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem,die Heilung eine musikalische Auflösung.Novalis

1. Einleitung

Inwiefern ist Krankheit ein musikalisches Problem?Kann Krankheit wirklich mit Musik geheilt werden?Kann anthroposophische Musiktherapie als Heilmittel

bezeichnet werden? Kann sie eine Wirksamkeit entfal-ten, die der von Medikamenten vergleichbar wäre? Die-se Fragen drängen sich dem Leser unmittelbar auf. Imfolgenden Beitrag soll daher der Versuch unternommenwerden, der Beziehung zwischen Gesundheit und Musik– oder genauer gesagt: den Elementen der Musik – nach-zuspüren.

Dass man sich nach dem Besuch eines Konzerts wieverwandelt fühlen kann, davon können viele Menschenberichten: Man fühlt sich z. B. inspiriert, erfrischt, ge-tröstet oder entspannt. Erschöpfung weicht der Neube-lebung, eine gedrückte Stimmung wird aufgehellt oderRuhe und Friede ziehen in die Seele ein. Auch das eigeneSpiel auf einem Musikinstrument kann eine deutlicheVeränderung des Befindens bewirken: Man wird durch-wärmt, kommt wieder „ins Lot“, entdeckt neue Seelen-inhalte und findet zur eigenen Mitte. Atem und Puls ver-ändern sich. Daraus ergibt sich die Frage, was Musik imMenschen bewirken kann, wie konkret die anthroposo-phische Musiktherapie arbeitet und mit welchen Mit-teln und Methoden sie Heilungsprozesse im Menschenimpulsieren kann. Ein weiterer Fragenkomplex betrifftdas Verhältnis von Musik und Musiktherapie.1

2. Kleiner Exkurs zum Quellort der MusikDort, wo Rudolf Steiner über die Erdentwicklung

spricht, bezieht er sich unter anderem auf die formbil-dende Kraft der Tonschwingungen, die der Naturfor-scher Ernst F. F. Chladni (1756–1827) unmittelbar sichtbargemacht hat. „Es ist damals im größten Maße in der Erd-entwicklung so etwas geschehen, wie wenn Sie auf eineMetallplatte feinen Staub aufstreuen und mit einemViolinbogen die Platte streichen … So bildeten sich durchdie aus dem Weltenraum hineinströmende Musik diemannigfaltigsten Gestalten, und die Stoffe, die im Was-ser gelöst waren, die selbst wässerig waren, sie ge-

Anthroposophische MusiktherapieS i m o n e L i n d a u

Anthroposophische Musiktherapie■ ZusammenfassungDie anthroposophische Musikthe-rapie zielt auf die Aktivierung derSelbstheilungskräfte und Förde-rung der Selbstregulationsfähig-keiten auf geistiger, seelischer,ätherischer/funktionaler und körperlicher Ebene beim Patien-ten. Sie wird sowohl aktiv alsauch rezeptiv angewandt. Musi-kalische Elemente wie Töne, Inter-valle, Melodien, Harmonien undRhythmen werden in Verbindungmit den verschiedenen Klangqua-litäten der Instrumente und/oderder Singstimme eingesetzt undindividuell für den Patienten zu-sammengestellt. Musiktherapieist in allen Lebensphasen und beifast allen Erkrankungen und bio-grafischen Krisen anwendbar.■ Schlüsselwörter Anthroposophische

MusiktherapieRezeptive MusiktherapieAktive MusiktherapieMusikinstrumente in der TherapieMusikalische Elemente in der

Therapie

Anthroposophic music therapy■ AbstractThe intention of anthroposophicmusic therapy is to activate thepatient’s self-healing powers andto support the person’s capabilityof self-regulation on the spiritual,psychological, mental, functionaland physical level. It is used in theactive as well as in the receptiveform. Musical elements like tones,intervals, melodies, harmonies andrhythms are used in combinationwith the differences of soundqualities of the instrumentsand/or the human voice and arearranged for each patient indivi -dually. Music therapy can be applied in all periods of life and a large variety of diseases and biographical crises.■ Keywords Anthroposophic music therapyReceptive music therapyActive music therapyMusical instruments in

music therapyMusical elements in music

therapy

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horchten der Weltenmusik und ordneten sich nach derWeltenmusik. Und die wichtigste Bildung des Tanzes derStoffe nach der Weltenmusik ist das Eiweiß, das Proto-plasma, wie es die Grundlage ist aller lebendigen Bil-dung.“ (1) Unsere Erde ist demnach gerade in denjenigenTeilen, wo sie wässrig ist, also im Ätherischen, von Tönen,von Sphärenharmonien durchsetzt, die aus dem Wel-tenraum in unsere Erde hineinströmten und -strömen(1). Diese Töne sind jedoch nicht mit unseren physischenOhren hörbar. Die Töne, die wir hören, sind nur ein Schat-ten, ein wirklicher Schatten einer viel höheren Musik desDevachan. „Das Urbild, die Vorlage der Musik ist im De-vachan, die physische Musik ist nur ein Abbild der geis-tigen Wirklichkeit.“ (2) Was der Mensch als Ton wahr-nimmt, ist eine Materialisierung, ist nur ein Abglanz des eigentlichen Tons, der im Äther ist (2). Die wirkliche(viel höhere) Musik kann nur von demjenigen wahrge-nommen werden, der zur Stufe des Hellhörens aus demDevachan vorgedrungen ist. Er kann sie mit „Geistesoh-ren“ hören, für das „sinnliche Ohr“ bleibt sie stumm. Die-se Musik, die durch das Weltall klingt, entsteht unter anderem durch das Verhältnis der unterschiedlichen Geschwindigkeit der Planeten. Daraus entstehen dieGrundtöne der Sphärenharmonie (3). Auch in der physi-schen Welt liegt allem und jedem ein bestimmter Tonzugrunde „und der Mensch selbst ist in seiner tiefstenWesenheit ein solch geistiger Ton“ (2).

Der Mensch ist demzufolge gebildet aus Klängen, dieihn im Kosmos ständig umgeben. Jede Nacht, wenn erschläft, taucht er in diesen Klangkosmos ein und kann ei-ne Erneuerung seiner Kräfte sowie die Neuordnung sei-ner Substanzen erleben. Beim Hören eines Konzerts oderauch beim eigenen musikalischen Tätigsein tauchen wirmit unserem geistig-seelischen Erleben hinein in das,was sonst während des Tagwachens schläft. „Das be-dingt den Zusammenhang der musikalischen Wirkungmit all den belebenden Kräften im menschlichen Orga-nismus; das bewirkt den Zusammenhang mit alledem,was gleichsam den ganzen Menschen durchzieht unddurchlebt und ihn eins werden lässt, ich möchte sagen,ihn zusammenwachsen lässt mit strömenden Tonmas-sen.“ (4) Der Mensch spürt in der Musik den Nachklangdessen, was die Seele im Devachan erlebt hat und fühlt:„Ja, du bist aus einer anderen Welt“ (2). Durch die Klang-erlebnisse in der Sphärenmusik können wir eine Bele-bung, Harmonisierung, Gesundung erfahren. Ihr Quell-ort ist die geistige Welt.

3. Zum Verhältnis von Musik zur Musiktherapie

Während beim Spiel eines Instruments oder beim Hö-ren eines Konzerts die verschiedensten musikalischenElemente zusammen erklingen, wird der Musikthera-peut eine gezielte Auswahl treffen, um so mit einzelnenMitteln die stärkste Wirkung zu intendieren.

Allgemein denkt man, Musik bestehe darin, die rich-tigen Töne im richtigen Taktmaß nach Noten zu spielen(5, S. 31). Bei der anthroposophischen Musiktherapie gehtes jedoch darum, dass durch das Wie der Tongestaltung

Gefühle und Empfindungen verlebendigt werden unddas Ätherische im Menschen wieder harmonisch zu strö-men beginnt.

Die hohe Kunst des Musiktherapeuten ist es, den Pa-tienten im Musikerleben zu einer andächtigen Stim-mung zu öffnen, sodass er sich dem musikalischenStrom hingeben kann und nichts anderes erwartet, alsdas Wesen der Musik. Mit dem Alltagsdenken hat Musikso gut wie gar nichts zu tun (5, S. 32). Um das Gesagtebesser verstehen zu können, empfiehlt es sich, selbsteinmal zu erforschen, wie es sich anfühlt, wenn nur einTon erklingt. Spielt man z. B. den Ton E auf einem Instru-ment oder singt man ihn in einer tiefen Lage, so kannman zu erspüren versuchen, wo im Menschen der Tonseine Resonanz findet, wohin er weiterwandert, zu wel-chem anderen Ton er hintendiert. Hat er einen Ge-schmack, eine Farbe, löst er eine bestimmte Stimmungaus? Diese Fragen laden zum Verweilen ein und könnenein Weg zu einem vertieften musikalischen Erleben sein.Man wird bemerken, dass man innerlich zur Ruhe kom-men muss, bevor man sich auf den hier vorgeschlagenenWeg begibt. Dann kann aus der Stille heraus ein Ton seinWesen offenbaren und seine Wirkung entfalten. Denn –so Rudolf Steiner – „… die Töne sind nicht die Musik …denn die Musik liegt zwischen den Tönen …“ (6).

Das Arbeitsmaterial (die musikalischen Grundele-mente wie in Abschnitt 7 ausgeführt) ist in der Musik dasgleiche wie in der Musiktherapie, aber die jeweilige Aus-wahl ist in der Musiktherapie individuell auf den Patien-ten abgestimmt. Das setzt voraus, dass der Musikthera-peut so geschult ist, dass er genau erkennt, welches Element der Musik dem Patienten helfen könnte, eineEinseitigkeit, die zu einer Krankheit geführt hat, wiederauszugleichen.

4. Ziel und Arbeitsweise der anthroposophi-schen Musiktherapie

Mit diesen Grundgedanken lässt sich die Arbeit desMusiktherapeuten umreißen: den Menschen wieder mitden Klängen des Kosmos in Verbindung zu bringen undanzuregen, die in aller Schöpfung und in ihm selbst ver-borgenen Töne wieder zum Klingen zu bringen. Wenn ermit sich und der Welt in Einklang kommen kann, ist erauf dem Weg der Gesundung.

Jede Musiktherapie wird individuell abgestimmt aufden Menschen. Das Lebensalter, die Konstitution, dasGeschlecht, das soziale Umfeld, die Lebensumständeund nicht zuletzt die konkrete Krankheit werden in derTherapie berücksichtigt. Daher können die folgendenDarstellungen lediglich Anhaltspunkte geben, in wel-cher Richtung mit dem Patienten gearbeitet werdenkann. Konkrete Beispiele finden sich unter anderem inder Kasuistik von Monica Bissegger zur Musiktherapie inder Onkologie (Merkurstab 4/2009). Weitere Kasuisti-ken finden sich in Band 3 des von der Arbeitsgruppe derKunsttherapeuten in der Medizinischen Sektion heraus-gegebenen Buches über Musiktherapie und Gesang (7).Wesentlich ist stets, dass der Therapeut mit dem Pa-tienten in ein lebendiges Musizieren oder Zuhören

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Anmerkung1) Wenn im Folgendenvon „Musiktherapie“ ge-sprochen wird, ist stetsdie anthroposophischeMusiktherapie gemeint.

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kommt. Das Ziel ist dabei die Impulsierung von Ent-wicklungs- bzw. Heilungsprozessen, sodass sich die Lei-besglieder in ihrem Verhältnis zueinander harmonisie-ren und der seelisch-geistige Mensch den Leib durch-dringen kann.

Musiktherapie arbeitet auf den vier Ebenen desMenschseins:

Auf der geistigen Ebene wird die Ich-Aktivität des Pa-tienten angesprochen: Er trägt seinen Rhythmus durch,führt seine Stimme vom Anfang bis zum Ende einer Me-lodie oder findet den richtigen Rhythmus im schwingen-den Begleiten eines Liedes. Die eigene schöpferische Ge-staltungskraft soll geweckt oder angeregt werden,Selbsterleben und Selbstvertrauen im eigenen Ausführengestärkt und die Fähigkeit, sich abzugrenzen oder bei sichzu bleiben, gefördert werden. Die höheren Wesensgliedersollen aus ihrer „Verhaftung“ an den Organismus befreitund der Anschluss an die göttlich-geistigen Mächte sollwieder gefunden werden. Mut- und Hoffnungskräftekönnen auf diese Weise gestärkt werden, sodass derMensch sich im Einklang mit sich selbst fühlen kann.

Auf der Ebene des Astralleibes soll die seelische Schwin-gungsfähigkeit erweitert werden, innere Räume sollen er-öffnet, inneres Empfinden ermöglicht und eigene Gefüh-le erlebt werden. Die Freude am eigenen Gestalten undauch an dem, was musikalisch entsteht, wirkt unmittelbarauf das seelische Empfinden. Über die Arbeit mit demAtem wird die Harmonisierung des Seelenlebens ange-regt. Dies wirkt durchwärmend und entspannend oderbelebend sowie impulsierend auf den Ätherleib.

Auf der Ebene des Ätherleibes wird daran gearbeitet,den Patienten an die kosmischen Kräfte wieder anzu-gliedern, an die Rhythmen des Lebens. Das Lebendigepulsiert zwischen zwei Polen: Punkt – Umkreis, Ruhe –Bewegung, Verdichtung – Weitung, Beschleunigung –Verlangsamung, Auflösung – Verhärtung etc. Man wirdalso daran arbeiten, dass der Ätherleib elastischer wirdoder bleibt, sowie den Flüssigkeitsmenschen belebenoder regulierend auf ihn wirken. Rhythmisierung derHerz- Kreislauf-Funktion, Muskelanspannung oder -ent-spannung, Erwärmung und Verlebendigung sind The-men bei der Arbeit am Ätherischen des Menschen. Le-bensprozesse (8), innere Lebensbewegungen (9) und Le-bensstufen (10), wie Rudolf Steiner sie in seinen Vorträ-gen beschreibt, können dabei konkret durch bestimmteIntervalle angeregt werden (11, 12, 13).

Auf der Ebene des physischen Leibes soll über ein ge-steigertes Engagement der höheren drei Wesensgliedereine bessere Durchdringung des eigenen Leibes bewirktwerden. Das kann z. B. durch Anregung des Atemprozes-ses geschehen, damit das tiefere Eingreifen des Seeli-schen in das Physisch-Ätherische wieder möglich werdenbzw. ein atmendes Sich-Verbinden und wieder Lösen deroberen in die unteren Wesensglieder stattfinden kann.

5. Methoden der MusiktherapieEs wird sowohl die aktive als auch die passive Musik-

therapie angewandt. Die aktive Musiktherapie bestehtim eigenen Spiel oder Gesang des Patienten, meist im

Dialog mit dem Therapeuten. Die passive Musiktherapielässt den Patienten äußerlich passiv erscheinen, der The-rapeut spielt oder singt ihm etwas vor. Diese Form derMusiktherapie wird sowohl angewandt, wenn die Kräf-te oder der Gesundheitszustand des Patienten es nichtmehr zulassen, selbst ein Instrument in die Hand zu neh-men, als auch im Wechsel mit der aktiven Musiktherapie.Der Patient ist der Lauschende. Auf den ersten Blick nichtoffensichtlich sind dabei die innere Regsamkeit und Aufmerksamkeit des Patienten. Der Therapeut richtet jedoch sein Augenmerk darauf, ob sich Muskeltonus, Atmung, Puls oder Blick ändern. Er versucht zu erspüren,welchen musikalischen Ausgleich der Patient benötigt,um in ein Gleichgewicht zu kommen. Ist es die Dur- oderdie Mollstimmung, welcher Modus, welche Intervalle,welche Rhythmen? Sofern möglich, wird ein Wechselvon aktivem Musizieren und rezeptivem Lauschen in derTherapiesitzung durchgeführt.

Aktive und passive Musiktherapie sind jedoch nur diePforten, durch die der Mensch zum Wesentlichen schrei-tet, zu dem, was zwischen den Tönen liegt. Das eigentli-che Musikalische ist dasjenige, was man nicht hört. Dasist es, was im Menschen letztlich seine Wirkung entfal-tet. Der Therapeut ist sozusagen nur Geburtshelfer fürdas Hereinholen der nicht mit physischen Ohren hörba-ren Töne. Diesem geheimen Ort kann der Mensch sichnähern, indem er das Lauschen zum Nachlauschen stei-gert, um dann an den Quellpunkt der gesundenden Kräf-te – der Stille – zu gelangen. Nur ein Ton, der aus der Stil-le heraus gehört wird, kann wirken. Daher ist es wesent-lich, dass in der Therapiesitzung immer wieder Pauseneingelegt werden, um der Stille Raum zu geben, damitdie Stille ertönen kann (13, S. 21).

6. Erweiterte Diagnose Neben der medizinischen Diagnose, die der Thera-

peut vom Arzt erhält, erstellt der Therapeut seine mu-siktherapeutische Diagnose, aufgrund derer er dann dieTherapie individuell zusammenstellt. Wenn möglich, jenach Krankheitssituation und -stadium, kann der Patientauf die Instrumente zugehen, die im Raum angebotenwerden und die ihn unmittelbar ansprechen, damit es sozu einer ersten Kontaktaufnahme kommen kann. DerTherapeut nimmt in den musikalischen Äußerungen desPatienten wahr, wie dessen Wesensglieder und Seelen-fähigkeiten sich ausdrücken. Da sich Ungleichgewichteim Leiblichen, Seelischen und Geistigen im musikali-schen Spiel des Patienten spiegeln können, sind sie einwesentliches Diagnoseinstrument für den Therapieweg.Auf welche Instrumente geht er zu? Welche nimmt ergar nicht wahr? Wie sind Atmung und Wärme, ist der An-schlag leise oder laut, ist das Spiel fließend oder abrupt?Wo ist das Tempo zu schnell oder zu langsam, wo ver-langsamt oder beschleunigt es sich? Wie ist z. B. derStrich über die Saiten eines Streichinstruments oder derAnschlag auf dem Glockenspiel – ganz zart oder kräftig,stockend oder harmonisch flüssig? Wie ist der Klang:lichthaft oder dunkel und erdenschwer? Laut oder leise?Neigt der Patient einseitig nur zu großen oder nur zu

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kleinen Intervallen, zu hohen oder tiefen Tönen? Der The-rapeut achtet also darauf, wie der Patient sich zwischenentgegengesetzten Polen musikalisch bewegt. Die The-rapie besteht letztlich im gemeinsamen Erringen einesGleichgewichts im Musikalischen.

7. Die musikalischen Elemente und ihre therapeutische Wirkung

Die Musiktherapie setzt folgende musikalischen Elemente gezielt ein:

– Töne und Tonfolgen– Tonhöhe– Intervalle – Skalen– Rhythmen– Verschiedene Instrumente– Singstimme– Stimmung

7.1 Der TonJeder einzelne Ton kann durch seine Beziehung zur

Siebenheit der Planeten bzw. zur Zwölfheit des Tierkrei-ses eine Wirkung entfalten (13). So werden z. B. die siebenPlanetenqualitäten in den Tönen der Oktave wirksamund können Organprozesse unterstützen. Die Zwölfheit– alle Töne der Oktave mit den Halbtönen – ist in ihrer Be-ziehung zu den Sinnesprozessen abgebildet. Werden siewie „leuchtende Sterne“ gespielt, so ist ihr erhabener,einsamer Charakter deutlich erlebbar und die Kraft, diejedem Ton innewohnt.

7.2 Die TonhöheDurch gezielte Auswahl der jeweiligen Tonhöhe, in

der wir mit dem Patienten musizieren, können wir alleWesensglieder erreichen. Die tiefsten Töne wirken aufden physischen Leib, die hohen Töne auf die höherenWesensglieder des Menschen (14).

7.3 IntervalleIntervalle drücken nicht nur den Abstand zwischen

zwei Tönen aus, sondern können als Kraftwesen erfahrenwerden, indem sie eine bestimmte Seelengeste im Men-schen auslösen (5, S. 127). So kann sich z. B. der Menschgeborgen fühlen, wenn eine Quint erklingt, während erseine Körpergrenze in der Quart spüren kann oder seineninneren Seelenraum betritt, wenn die Terz erklingt. In derSeptim kann er ein Außer-sich-Sein erleben, in der Okta-ve hingegen die innere Aufrichtekraft.

So bilden die Intervalle zum einen das Verhältnis desMenschen zur ihn umgebenden Welt ab, zum anderenkönnen sie durch ihre vielfältigen Beziehungen zumÄtherischen des Menschen auf verschiedenen Ebeneneingesetzt werden.

Dazu einige Beispiele: Die Quint ist ein Intervall, daswie kein anderes auf den Atem des Patienten zu wirkenvermag. Die steigende Quint hat dabei den Charakterdes Fragens, sich Öffnens, die fallende Quint des bei sichAnkommens, auf den Boden kommen, wie eine erlösen-de Antwort. Bei Krankheiten, die den Patienten seelischsehr belasten, die vielleicht sogar zur Ausbildung vonMagengeschwüren geführt haben, kann sie ein Aufat-

men bewirken, ein Herausheben des Seelischen aus derzu starken Gebundenheit an den Leib, und ihn in einelichte Leichtigkeit führen, die ihm das Wahrnehmen vonWegen aus der Krise ermöglicht (5, S. 128). Die Erfahrungzeigt, dass bei der Anorexia nervosa die Quint zunächstdas Intervall ist, in dem die Patientin sich wohlfühlt, weiles die Geborgenheit der unbeschwerten kindlichen Weltauszudrücken vermag. So wird es ein Ziel sein, die Pa-tientin aus dem Erleben der Quintsphäre abzuholen undbehutsam in die Quart- und Terzsphäre zu führen, die ei-ne stärkere seelische Eigenwahrnehmung ermöglichen(5, S. 129) und bei der Nachreifung vom umwelthingege-benen oberen Sinnes-Nerven-Menschen zum Sich-Ver-binden mit dem Blut-, Zeugungs- und Stoffwechsel-Be-reich helfen.

Bei einer steigenden Quart kann es nicht nur zu ei-nem Aufwacherleben, sondern sogar zu einer Art heil-samen Schockerlebnis kommen. Auch bei Patienten, diezu seelischem Ausfließen oder zu agitierter Depressionneigen, kann die Quart als abgrenzendes, auf einen In-nenraum verweisendes Intervall therapeutisch einge-setzt werden (5, S. 130).

7.4 SkalenDie verschiedenen Skalen basieren auf der Verbin-

dung der sieben Planetentöne mit den zwölf Tierkreis-tönen. Verwendet werden die pentatonische (D – E – G –A – H), die hexatonische, die Modi (Kirchentonarten), dieDur- und Mollskalen und die Spiegelskalen (15). Bei letz-teren ist – im Gegensatz zu den Dur- oder Mollskalen –die Anordnung der Halbtonschritte beim Abwärtsspie-len anders, nämlich gespiegelt, d. h. so, wie beim Auf-wärtsspielen. Jede der Skalen hat eine ganz andere the-rapeutische Wirkung, weil sie jeweils etwas anderes imMenschen anspricht. Sehr deutlich ist bei einer Dur-stimmung der frische, aufmunternde, Gesundheit aus-strahlende Charakter erlebbar, während es bei einerMollstimmung eher der in sich gekehrte, empfindsame,verlangsamte, leidende Charakter sein wird (2).

7.5 RhythmenDie Rhythmen können belebend oder beruhigend,

harmonisierend oder stärkend wirken, wenn sie über eine längere Zeit, z. B. während der Dauer eines Liedesoder Musikstückes, gespielt werden. Den Rhythmen, diemit einer Länge beginnen, wohnt eine entschleunigen-de Tendenz inne. So geht z. B. vom Daktylos (- v v) eine beruhigende Wirkung aus. Dieser 4er-Rhythmus hat perse einen stabilisierenden Charakter. Im Gegensatz zumTrochäus (- v) mit seinem 3er-Rhythmus, der einen schau-kelnden Charakter hat und lebendiger wirkt, kann er als ausgeglichener bezeichnet werden. Die Rhythmen,die mit einer Kürze beginnen, haben einen belebendenCharakter. Der Anapäst (v v -) in seinem 4er-Rhythmus istdabei weniger aufweckend als der Jambus (v -) in seinem3er-Rhythmus.

7.6 MusikinstrumenteDie Musikinstrumente haben eine innige Verbindung

mit der Dreigliederung des Menschen. Sie sind im

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Grunde genommen ein deutlicher Ausdruck dafür, dassdas Musikalische den ganzen Menschen durchzieht. DasErleben des Musikalischen durch das Haupt wird durchdie Blasinstrumente ausgedrückt. Dass dasjenige, wasdurch die Brust erlebt wird, in den Armen besonders zumAusdruck kommt, dafür zeugen die Streichinstrumente,und dafür, dass sich das Musikalische durch den Glied-maßenmenschen auslebt, dafür sind alle Schlaginstru-mente oder der Übergang von Streichinstrumenten zu Schlaginstrumenten ein Beweis. Eigentlich ist einMensch ein Orchester (16). Mit diesen Worten bringt Rudolf Steiner zum Ausdruck, dass die Instrumenten-gruppen mit den Wesensgliedern des Menschen korres-pondieren. Diese Verwandtschaft ermöglicht, musika -lische Elemente gezielt gegen Einseitigkeiten in dermenschlichen Organisation einzusetzen.

Um differenziert in der Therapie eingesetzt werdenzu können, muss jedes Instrument auf seine besonderenEigenschaften und Wirkungsmöglichkeiten befragt wer-den. Die Instrumente lassen sich dementsprechend indrei Gruppen einteilen:– Die Blasinstrumente sind eine Erweiterung der Luft-

röhre nach außen und korrespondieren mit dem im Kopfbereich des Menschen lokalisierten Nerven-Sinnes-System.

– Die Saiteninstrumente korrespondieren mit demmittleren Menschen und wirken im RhythmischenSystem.

– Die Schlaginstrumente wirken im Stoffwechsel-Gliedmaßen-System des Menschen.

Da einige Instrumente im Zusammenhang mit demanthroposophischen Musikimpuls neu entwickelt wur-den, ist das Instrumentarium meist wenig bekannt. Da-her soll im Folgenden auf einige der in der Musikthera-pie häufig verwendeten Instrumente eingegangen werden. Die Instrumente sind stets leicht spielbar undtrotzdem klangvoll.

7.6.1 Die BlasinstrumenteZu den Blasinstrumenten gehören nicht nur die

Blockflöten aus Holz, sondern ebenfalls die Rohrblatt-instrumente, zu denen die Cornamuse oder auchKrummhörner und Schalmeien gehören. Für ihr Spiel

muss eine große Spannung im Bauchraum aufgebautwerden und ein kräftiger Atemstrom ist erforderlich. DieTöne werden herausgepresst und klingen gequetscht.Sie wirken bis unterhalb des Zwerchfells. Auch Kupfer-und Silberflöte (Abb. 1), mit denen Naturtöne über dengezielten Einsatz des Atemstromes gespielt/erzeugtwerden können, werden in der Therapie eingesetzt. DieTöne werden nur über die Führung des Atemstroms er-zeugt, es gibt keine Löcher, die mit den Fingern abge-deckt werden könnten. Eine besondere Variante der Blas-instrumente sind die Gämshörner (Abb. 2). Sie haben einen warmen, weichen Klang. Das Bassgämshorn zumBeispiel klingt durch seine Tiefe wie aus dem Bauch einer Kuh. Bei tiefen Blasinstrumenten wird auch dasNerven-Sinnes-System im unteren Menschen ange -sprochen.

Menschen, die im buchstäblichen Sinne eine „zu dün-ne Haut“ haben, z. B. bei Ekzemen, kann das Spiel auf ei-nem Tenor- oder Bassgämshorn mit seinen wohlig war-men, umhüllenden, tiefen Tönen eine Hilfe sein. DasSpiel auf dem Krummhorn, das einen kräftigen, geziel-ten Atemstrom unter Einsatz von Zwerchfell und Bauch-muskulatur erfordert, kann nicht nur den Blutdruck stei-gern, sondern auch bei Asthma, Bettnässen und Angst-zuständen eine Hilfe sein (18, S. 27).

7.6.2 Die SaiteninstrumenteDas Instrumentarium, das die Kräfte des „mittleren“

Menschen anregt und ihn im Rhythmischen System har-monisiert, besteht vor allem aus der Leier (Abb. 3) undden mit ihr verwandten Saiteninstrumenten wie Kan -tele, Kinderharfe und Bordunleier (Abb. 4), die gezupftwerden.

Ebenfalls zu dieser Instrumentenfamilie gehören dieStreichinstrumente Tenorchrotta (Abb. 5) und Streich-psalter (Abb. 6), die sehr unterschiedlich in ihrer Klang-qualität sind. Der Ausatemstrom, der bei den Blasinstru-menten den Ton erzeugt, ist bei den Saiteninstrumentenvon der Tonerzeugung abgelöst. Was Atemtätigkeit war, wird von der Armbewegung übernommen, die den Bogen über die Saiten führt, und spricht die Atem-Zirkulation im unteren Menschen an.

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Abb. 1Kupferflöte

© Simone Lindau

Abb. 2Bassgämshorn

© Simone Lindau

Abb. 1 Abb. 2

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Die Gemeinsamkeit dieser Instrumente liegt darin,dass sie nicht nur in der Mitte des Menschen gehaltenwerden und erklingen, sondern auch, dass die Saiten mitden Fingern gezupft oder mit einem Bogen gestrichenwerden.

Die Leier ist chromatisch gestimmt, wird auf demSchoß gehalten und hat einen Klangkorpus. Zwischenbeiden Händen entsteht im Spiel ein Klanginnenraum.Sie kann leise und unaufdringlich gespielt werden, so-dass der Patient sich dem öffnen kann, was ihm entge-genkommt.

Die Bordunleier kann in wunderbarer Weise Oben und Unten des Menschen zusammenfügen. Sie kann auf verschiedene Stimmungen – zum Beispiel als Dur-oder Moll-Dreiklang oder in Quinten – gestimmt wer-den. Sie erklingt im Darüberstreichen, und es gibt keinefalschen Töne.

Der Streichpsaltermit seinen lichthaften Tönen wirktunmittelbar vom mittleren Menschen aus auf die Ner-ven und bekommt dadurch einen wie magisch wirken-den Charakter. Die durchdringenden Töne des Sopran-und Altpsalters können an die Bewusstseinslage vonKindern anknüpfen, die außer sich sind, wie beispiels-weise Kinder mit Autismusspektrumstörungen, und siedamit zu einem Erleben innerhalb ihrer Leiblichkeit führen. Auch bei Schwerhörigkeit oder chronischen Ent-zündungen der Stirn- und Nasennebenhöhlen kann die Tonhelligkeit des Streichpsalters eine Besserung bewir-ken (18, S. 28).

Die Tenorchrotta ist ein celloähnliches Instrument,das auf einem Nachbau des keltischen InstrumentsCrwth basiert. Das Besondere dieses Instruments liegtdarin, dass der Steg mit einem Fuß auf der Decke stehtund mit dem anderen durch das Schallloch hindurch mitdem Boden des Instruments verbunden ist. Dadurchkommt es zu einer starken Vibration des Korpus. Der Ton

kommt aus dem Inneren des Instruments und sein Klanghat eine große Wärme und Tiefe. Er wirkt unmittelbarvom mittleren Menschen in den unteren Menschen hi-nein. Durch die Streichbewegung des Armes wird derAtem wie vom Streichrhythmus getragen.

Im Gegensatz zur kristallinen Lichtkraft des Psalter-tons bringt die Chrotta einen eher dumpfen, warmenTon hervor. Durch die tiefe Tonlage schafft sie eine Ver-bindung zwischen Atmung und unterem Menschen. DasSpiel auf den leeren Saiten mit ausweitender und zu-sammenziehender Bewegung beider Arme wirkt beson-ders hilfreich, wenn die Atmung behindert ist, wie beiAsthma oder Lungenmetastasen (18, S. 30). Überhauptwird die Chrotta als wärmeaktivierendes Instrument beiKarzinomerkrankungen oft eingesetzt. Zudem regt die

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Abb. 3Sopranleier © Simone Lindau

Abb. 4Bordunleier © Orpheus-Schulefür Musiktherapie

Abb. 5Tenorchrotta © Charlotte Fischer

Abb. 6Streichpsalter © Charlotte Fischer

Abb. 3 Abb. 4

Abb. 5

Abb. 6

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äußerlich spürbare Vibration der tiefen Töne die Sensibi-lität und Wärmebildung in den Beinen an (18, S. 31).

Gerade die Stärkung der rhythmischen Organisationdes Menschen kann gesundheitliche Einseitigkeitenausgleichen, sodass weder die Kopfkräfte zu tief ein-greifen, noch die Kräfte des Stoffwechselmenschen heraufschlagen.

7.6.3 Die SchlaginstrumenteZu den Schlaginstrumenten zählen nicht nur Trom-

meln, Pauken und Djemben, sondern auch Xylophon undMetallophone (meist aus Kupfer, Messing oder Eisen).Die Metallinstrumente führen den Zuhörer im Lauschenin den Umraum. Während das Eisen strahlend klingt undaktivierend wirkt, hat das Kupfer einen warmen Klangund eine einhüllende Qualität. Auch alle schwingendenInstrumente wie Gongsund Röhrenglocken (Abb. 7) sowieEnglische Handglocken (Abb. 8) gehören zu den Instru-menten, die im unteren Menschen wirksam werden.Englische Handglocken klingen weich und warm undschaffen einen großen Klangraum. Sie umgeben den Patienten wie ein Mantel, besonders, wenn er den Klangvon hinten hört. In eine ähnliche Klangrichtung und -wirkung gehen auch geschmiedete Gongs.

Die Schlaginstrumente können den Patienten leichtermuntern, aktiv zu werden, und haben damit auf seinSelbstwertgefühl und seine Ausdrucksfähigkeit oft po-sitive Auswirkungen. Auch in der Heilpädagogik weckensie schnell das Interesse des Menschen, der durch seinSpiel auf ihnen für eine kurze Zeit z. B. seine stereotypenBewegungsmuster verlassen kann und so zu einer Auf-richte oder geführten Bewegung kommen kann.

Es gibt in jeder Instrumentengruppe Instrumente mitwarmem, dumpfem Klang, die „einhüllend“wirken, undandere mit hellem, klarem Klang, die strukturierend wir-ken. Spreche ich z. B. im oberenMenschen den Kopf-Polan, so kann ich Gedanken strukturierend, belebend undordnend wirken, wenn ich die Blasinstrumente verwen-de. Wenn ich Instrumente mit einem warmen Ton aus-wähle, wie z. B. das Gämshorn, so kann damit auch aufkalte (zur Verhärtung neigende) Krankheiten des oberenMenschen gewirkt werden. Wende ich mich an den un-terenMenschen, so kann ich seinen Stoffwechsel anre-

gen oder beruhigen. Die Verdauungskräfte werden un-terstützt durch den Einsatz von tiefen, warm klingendenInstrumenten wie z. B. der Tenorchrotta oder der India-nertrommel. Auch Glockenspiele wirken in diesem Bereich. Allergiebedingte Unverträglichkeiten könnenebenfalls durch die gezielte Ansprache des Stoffwech-selbereichs ausgeglichen werden.

Beim Singen spürt der Mensch den eigenen Leib alsInstrument. Sein seelisch-geistiges Wesen klingt durchseine Singstimme hindurch. Allein schon durch die ganzunmittelbare aktive Beteiligung des Menschen kann Singen in allen drei Bereichen gesundend wirken. Dahernimmt es eine Sonderstellung ein. Mit gezielten Übun-gen kann im oberen, mittleren oder unteren Menscheneine intendierte Wirkung verstärkt werden.

7.7 Die StimmungNeben der üblichen Stimmung von 440 Hertz wird

in der anthroposophischen Musiktherapie die tiefereStimmung von 432 Hertz verwendet. Diese tiefere Stim-mung wirkt auf der ätherischen Ebene stärker (17).

Die Wirkung der Musiktherapie auf den Atem, nichtnur im Gesang, sondern auch im Schwingen, Blasen oderStreichen eines Instruments ist wesentlich im Therapie-prozess. Eine bedeutende Rolle in der Therapie spieltnicht nur die Improvisation, bei der man unmittelbar auf die musikalische Äußerung des Patienten reagierenkann, sondern vor allem die therapeutische Komposition,die speziell für den Patienten erstellt wird, um ihm in seiner ureigensten Situation begegnen zu können undihm eine ganz individuelle Hilfe zu geben. Auch wennwährend einer Therapiestunde eine sofortige Wirkungerlebbar ist, z. B. wenn sich eine spastisch gekrümmteHand streckt, muss die erreichte Veränderung durch geduldiges Üben gut stabilisiert werden, dann erst ist

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Abb. 7Röhrenglockenund Gongs

© Simone Lindau

Abb. 8Englische

Handglocken © Charlotte Fischer

Abb. 7 Abb. 8

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sie nachhaltig. Die therapeutischen Elemente solltenüber einen längeren Zeitraum angewendet werden, umim Ätherleib wirken und sich bis ins Organische hineinmanifestieren zu können.

8. Der therapeutische Impuls Oft bekommt ein Therapeut von einem neuen Pa-

tienten Worte wie diese zu hören: „Ich bin doch gar nichtmusikalisch!“ oder „Ich kann nicht singen!“ und Erinne-rungen steigen im Patienten auf, z. B. an Misserfolge imMusikunterricht während der eigenen Schulzeit, wo ersich blamiert hat. Daher ist es zunächst die Aufgabe desMusiktherapeuten, dem Patienten diese Ängste undMinderwertigkeitsgefühle zu nehmen, sodass er die insich verborgene Musikalität entdeckt, sein musikali-sches Empfindungsvermögen. Dabei spielen gerade dieSchlaginstrumente eine wichtige Rolle, ebenso wie dasunbefangene Streichen über die Saiten eines Saiten -instruments. Das Spiel nach Noten spielt keine Rolle, esgeht auch nicht um Virtuosität oder Perfektion.

Die Kunst des Musiktherapeuten und das Geheimnisder Wirkung der musikalischen Elemente bestehen zu einem großen Teil darin, aus dem musikalisch Einfachs-ten, Elementarsten – aus einem einzelnen Ton, einem bestimmten Intervall, einem Rhythmus – das tiefste Erleben im Patienten zu bewirken (5, S. 103). Neigt ein Patient doch zu komplizierten Tonäußerungen, solltendiese auf ein Urbildhaftes, Urphänomenales zurück-geführt werden, ohne das künstlerische Erleben zu ver-flachen, um ihn damit zu den in ihm verborgenen Selbst-heilungskräften zu führen.

Ist der Therapeut mit der charakteristischen Eigenartder Instrumente vertraut, so genügt es oft, wenn der Pa-tient nur einige wenige Töne auf dem für ihn passenden,eine Einseitigkeit ausgleichenden, Instrument spielt.

9. Indikationen Musiktherapie ist in jeder Altersstufe möglich und

heilsam. Sie wird bereits in der Schwangerschaft einge-setzt wie auch in der Palliative Care, in der Sterbebeglei-tung. Bei fast allen Krankheiten und Krisen seelisch-geis-tiger oder körperlicher Natur ist sie anwendbar, wie z. B.bei psychosomatischen Beschwerden, Atemwegser-krankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schmerzzu-ständen, rheumatischen Erkrankungen, bei Karzinom-bildungen, Aufmerksamkeitsstörungen, Verarbeitungvon traumatischen Erfahrungen, Angststörungen, De-pressionen und anderen psychischen Erkrankungen, Erkrankungen des Nervensystems, dementiellen Erkran-kungen sowie in der Heilpädagogik. Kontraindiziert istihr Einsatz einzig bei akuter Psychose und hoch fieber-haften Erkrankungen, weil diese akutmedizinisch be-handelt werden müssen.

10. ZusammenfassungMusiktherapie will den Menschen wieder in Verbin-

dung mit dem Kosmos, seinen Rhythmen, Tönen undKräften bringen und damit auch in Einklang mit sichselbst. Dabei werden Instrumente und/oder die Sing-stimme in Verbindung mit den verschiedenen musikali-

schen Elementen individuell auf den Patienten abge-stimmt und gezielt eingesetzt. Vor allem die Wirkung derMusiktherapie auf den Atem ist ein Schlüsselprozess,der im ganzen Organismus Veränderungen impulsierenkann. In der Praxis lässt sich immer wieder beobachten,dass die Wirkung der anthroposophischen Musikthera-pie auf allen vier Ebenen des Wesensgliedergefüges bishinein ins Organische, einem Heilmittel vergleichbar, er-lebbar ist. Die Therapien können zu einer Harmonisie-rung im Menschen führen, sodass z. B. eine Lösung vonVerspannungen seelischer wie körperlicher Art, eine Ver-besserung der Durchwärmung, Vertiefung der Atmungund Anregung der Verdauungstätigkeit bis in die Or-gantätigkeit hinein möglich wird. Eine Harmonisierungdes Bewegungsflusses, eine Durchseelung des Bewe-gungsstroms, die Veränderung des Gangs und die Ver-besserung der inneren und äußerlich wahrnehmbarenAufrichte können impulsiert werden. Um mit Novalis’Worten zu sprechen: Es ist die Aufgabe des Therapeuten,die musikalische Auflösung herbeizuführen. Gesundheitdrückt sich dann musikalisch im freien Umgang mit denmusikalischen Elementen aus.

Simone LindauMusiktherapeutin (SVAKT), Lehrerin, SozialpädagoginCo-Koordinatorin für Musiktherapie im Rahmen der Kunsttherapien der Medizinischen Sektion am GoetheanumPoststr. 10, 79730 Murg

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Eine ausführliche Literatur-liste findet sich auf dericaat-Seite der Medizini-schen Sektion unterwww.icaat-medsektion.net.

Literatur1 Steiner R. Das Hereinwir-ken geistiger Wesenheitenin den Menschen. GA 102.Vortrag vom 16.03.1908. 3. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1984.2 Steiner R. Das Wesen des Musikalischen und dasTonerlebnis im Menschen.GA 283. 1. Vortrag. 5. Aufl.Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1989.3 Steiner R. Mythen undSagen. Okkulte Zeichen und Symbole. Vortrag vom28.12.1907. GA 101. 2. Aufl.Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1992.4 Steiner R. Kunst im Lichteder Mysterienweisheit. GA 275. 2. Vortrag. Dornach:Rudolf Steiner Verlag; 1990.5 Ruland H. Musik als erlebte Menschenkunde. 1. Aufl. Borchen: Verlag Ch. Möllemann; 2003.6 Steiner R. Eurythmie alssichtbarer Gesang. GA 278. 3. Vortrag. 5. Aufl. Dornach:Rudolf Steiner Verlag; 2001.

7 Felber R, Reinhold S, Stückert A. Musiktherapieund Gesangstherapie. In:Anthroposophische Kunst-therapie. Bd. 3. Stuttgart:Verlag Urachhaus; 2000.8 Steiner R. Das Rätsel desMenschen. Die geistigenHintergründe der mensch -lichen Geschichte. GA 170.Vortrag vom 12.08.1916. 3. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1992.9 Steiner R. Der Mensch im Lichte von Okkultismus,Theosophie und Philoso-phie. GA 137. Vortrag vom11.06.1912. 5., erg. Aufl. Dor-nach: Rudolf Steiner Verlag;1993. 10 Steiner R. Die Beantwor-tung von Welt- und Lebens-fragen durch Anthroposo-phie. GA 108. Vortrag vom29.10.1921. 2., neu durchges.u. erw. Aufl. Dornach: RudolfSteiner Verlag; 1986. 11 Pfrogner H. Die drei Lebensaspekte in der Musik.Schaffhausen: Novalis Ver-lag; 1989.12 Pfrogner H. Die siebenLebensprozesse. Eine musik-therapeutische Anregung.Freiburg: Verlag Die Kom-menden; 1978.

13 Engel H-H. MusikalischeAnthropologie. Bearb. vonSpalinger J, Schneider J,Maurer M. 2., erw. Aufl. Dornach: Verlag am Goe-theanum; 2006. 14 Steiner R. Das Wesen des Musikalischen und dasTonerlebnis im Menschen.GA 283. Vortrag vom07.03.1923. 5. Aufl. Dornach:Rudolf Steiner Verlag; 1989.15 Von Lange A. Mensch,Musik und Kosmos. Anre-gungen zu einer goethea-nistischen Tonlehre. Bd. 2.Nachgelassenes Fragment.Freiburg: Verlag Die Kom-menden; 1960.16 Steiner R. Das Wesen des Musikalischen und dasTonerlebnis im Menschen.GA 283. 6. Vortrag. 5. Aufl.Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1989.17 Renold M. Von Interval-len, Tonleitern, Tönen unddem Kammerton c = 128Hertz. Dornach: Verlag amGoetheanum; 1998.18 Reinhold S. Anthroposo-phische Musiktherapie. In:Gesundheit aktiv anthropo-sophische Heilkunst e.V. Gesundheitsförderung imAlltag. 1. Aufl. Bad Liebenzell:1996.