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Archipel Gulag

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  • Alexander Solschenizyn

    Der Archipel GULAG

    Scherz

  • Einzig autorisierte bersetzung aus dem Russischen von Anna Peturnig Titel der bei YMCA-Press, Paris, erschienenen Originalausgabe: !DN4B,:"( 'I9!' (Archipelag GULAG) Erste Auflage 1974 Copyright 1973 by Alexander Solschenizyn. Deutsche bersetzung 1974 by Scherz Verlag Bern. Gesamtdeutsche Rechte beim Scherz Verlag Bern und Mnchen. Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tontrger jeder Art und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

  • 1918-1956

    Versuch einer knstlerischen Bewltigung

  • All jenen gewidmet, die nicht genug Leben hatten, um dies zu erzhlen. Sie mgen mir verzeihen, da ich nicht alles gesehen, nicht an alles mich erinnert, nicht alles erraten habe.

  • In diesem Buch gibt es weder erfundene Personen noch erfundene Ereignisse. Menschen und Schaupltze tragen ihre eigenen Namen. Wenn Initialen gebraucht werden, geschieht dies aus persnlichen berlegungen. Wenn Namen berhaupt fehlen, dann nur darum, weil das menschliche Gedchtnis sie nicht behalten hat - doch es war alles genau wie beschrieben. Bedrckten Herzens habe ich das fertige Buch jahrelang zurckgehalten: Die Pflicht gegenber den noch Lebenden berwog die Pflicht gegenber den Verstorbenen. Doch nun, da das Manuskript in die Hnde des Staatssicherheitsdienstes gefallen ist, bleibt mir keine andere Wahl, als es unverzglich zu verffentlichen.

    September 1973

  • Prolog

    Im Jahre 1949 etwa fiel uns, einigen Freunden, eine bemerkenswerte Notiz aus der Zeitschrift Die Natur, herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften, in die Hnde. Da stand in kleinen Lettern geschrieben, man habe bei Ausgrabungen am Flu Kolyma eine unterirdische Eislinse freigelegt, einen gefrorenen Urstrom, und darin ebenfalls eingefrorene Exemplare einer urzeitlichen (einige Jahrzehntausende zurckliegenden) Fauna. Ob's Fische waren oder Tritonen: der gelehrte Korrespondent bezeugte, sie seien so frisch gewesen, da die Anwesenden, sobald das Eis entfernt war, die Tiere MIT GENUSS verspeisten.

    Die keineswegs zahlreichen Leser der Zeitschrift waren wohl nicht wenig verwundert zu erfahren, wie lange Fischfleisch im Eis seine Frische zu bewahren imstande ist. Doch nur einzelne vermochten den wahren, den monumentalen Sinn der unbesonnenen Notiz zu erfassen.

    Wir begriffen ihn sofort. Wir sahen das Bild klar und in allen Details vor uns: Wie die Anwesenden mit verbissener Eile auf das Eis einhackten; wie sie, alle hehren Interessen der Ichthyologie mit Fen tretend, einander stoend und vorwrtsdrngend, das tausend Jahre alte Fleisch in Stcke schlugen, diese zum Feuer schleppten, auftauen lieen und sich daran sttigten.

    Wir begriffen es, weil wir selbst zu jenen Anwesenden gehrten, zu jenem auf Erden einzigartigen mchtigen Stamm der Seki, der Strafgefangenen, der Lagerhftlinge, die allein es zustande brachten, einen Triton MIT GENUSS zu verspeisen.

    Kolyma aber war die grte und berhmteste Insel, ein Grausamkeitspol in diesem sonderbaren Land GULAG, das die Geographie in Inseln zerrissen, die Psychologie aber zu einem festen Kontinent zusammengehmmert hat, jenem fast unsichtbaren, fast unsprbaren Land, welches besiedelt ist von besagtem Volk der Seki.

    Das Inselland ist eingesprenkelt in ein anderes, das Mutterland; kreuz und quer durchsetzt es seine Landschaft, bohrt sich in seine Stdte, greift nach seinen Straen - und trotzdem haben manche nichts geahnt, viel nur vage etwas gehrt, blo die Dortgewesenen alles gewut.

  • Doch als ob sie auf den Inseln des Archipels die Sprache verloren htten, hllten sie sich in Schweigen.

    Durch eine unerwartete Wendung in unserer Geschichte kam einiges ber das Inselreich - verschwindend weniges - ans Tageslicht. Dieselben Hnde aber, die uns die Handschellen angelegt, strecken sich uns nun in vershnlicher Geste entgegen: Wozu?... wozu Vergangenes aufwhlen?... >An Vergangenem rhren - ein Auge verlieren!

  • Dieses Buch allein zu schaffen, htte ein einzelner nicht die Kraft gehabt. Auer dem, was ich vom Archipel mitnahm, am Leib, im Gedchtnis, durch Aug und Ohr, dienten mir als Material die Erzhlungen, Erinnerungen und Briefe von 227 Personen, deren Namen hier verzeichnet stehen mten.

    Persnliche Dankbarkeit brauche ich ihnen nicht auszudrcken: Es ist unser gemeinsames Denkmal fr alle Gemordeten und zu Tode Gemarterten.

    Aus dieser Liste mchte ich jene hervorheben, die viel Mhe aufgewendet haben, mir dabei zu helfen, da dieses Buch mit bibliographischen Sttzpfeilern untermauert werde: mit Zitaten aus Bchern der heutigen Bibliotheksbestnde, aber auch aus solchen, die lngst eingezogen und vernichtet worden sind, so da es hartnckigen Suchens bedurfte, ein briggebliebenes Exemplar aufzustbern; und mehr noch sind jene hervorzuheben, die geholfen haben, das Manuskript in manch schwerem Augenblick zu verstecken und spter zu vervielfltigen.

    Doch die Stunde, da ich es wagen knnte, sie zu nennen, ist noch nicht gekommen.

    Der lang eingesessene Hftling des Lagers im Kloster Solowki Dmitrij Petrowitsch Witkowski htte der Redakteur dieses Buches sein sollen. Doch das halbe Leben, dort verbracht (seine Lagererinnerungen heien auch so: Ein halbes Leben lang), rchte sich an ihm mit vorzeitiger Paralyse. Bereits unfhig zu sprechen, konnte er nur mehr einige abgeschlossene Kapitel lesen und sich davon berzeugen, da BER ALLES BERICHTET WERDEN WIRD.

    Sollte meinem Land die Freiheit noch lange nicht dmmern, dann wird das Lesen und Verbreiten dieses Buchs allein schon eine groe Gefahr bedeuten, so da ich auch vor den zuknftigen Lesern mich in Dankbarkeit verneigen mu - anstelle von jenen, den Zugrundegegangenen.

    Als ich dieses Buch 1958 zu schreiben begann, waren mir irgendwessen Memoiren oder knstlerische Werke ber die Lager nicht bekannt. Ehe es 1967 vollendet war, lernte ich allmhlich Warlam Schalamows Kolyma-Erzhlungen und die Erinnerungen von Dmitrij Witkowski, Jewgenija Ginsburg, S. Adamowa-Sliosberg kennen, auf die ich mich im weiteren wie auf allseits bekannte

  • literarische Fakten berufe (denn eines Tages werden sie es doch sein).

    Entgegen ihren Absichten, wider ihren Willen, haben mir folgende Autoren wertvolles Material fr dieses Buch geliefert, indem sie viele wichtige Tatsachen, auch Zahlen, ja, die Atmosphre selbst festhielten, in der sie lebten: M. I. Lazis (Sudrabs); N. W. Krylenko - whrend vieler Jahre Staatsanwalt; sein Nachfolger A. J. Wyschinski* mit seinen juristischen Helfershelfern, von denen besonders I. L. Awerbach zu nennen ist.

    * Biographische Daten ber Persnlichkeiten der russischen bzw. sowjetischen

    Geschichte und Zeitgeschichte siehe im Anhang II. Material fr dieses Buch lieferten auch SECHSUNDDREISSIG von

    MAXIM GORKI angefhrte sowjetische Schriftsteller, die Verfasser des Buches ber den Weimeer-Kanal, jenes schndlichen Werkes, in dem zum ersten Mal in der russischen Literatur der Sklavenarbeit Ruhm gesungen wurde.

  • Erster Teil Die Gefngnisindustrie In der Epoche der Diktatur, berall umgeben von Feinden, zeigten wir manchmal unntze Milde, unntze Weichherzigkeit. Staatsanwalt Krylenko whrend des Prozesses gegen die Industriepartei, 1930

  • 1 Die Verhaftung

    Wie gelangt man auf diesen geheimnisvollen Archipel? Stunde fr Stunde machen sich Flugzeuge, Schiffe, Zge auf den Weg dorthin - doch es weist keine einzige Inschrift den Bestimmungsort aus. Beamte am Fahrkartenschalter wrden nicht weniger erstaunt sein als ihre Kollegen vom Sowtourist- oder Intourist-Reisebro, wollte jemand eine Fahrt dorthin buchen. Sie kennen weder den Archipel als Ganzes noch eine seiner zahllosen Inseln, sie haben nie etwas davon gehrt.

    Wer hinfhrt, um den Archipel zu regieren, der nimmt den Weg durch die Lehranstalten des MWD*.

    * Hier und im folgenden werden bei Abkrzungen russischer Begriffe die

    kyrillischen Anfangsbuchstaben dem deutschen Gebrauch entsprechend in Lateinschrift transkribiert (GPU, GULAG, NKWD usw.). Die Aufschlsselung siehe im Abkrzungsverzeichnis (Anhang III).

    Wer hinfhrt, um den Archipel zu bewachen, der wird von der

    Militreinberufungsstelle hinbeordert. Und wer hinfhrt, um dort zu sterben, wie wir beide, Sie, mein

    Leser, und ich, dem steht dazu unausweichlich und einzig der Weg ber die Verhaftung offen.

    Die Verhaftung! Soll ich es eine Wende in Ihrem Leben nennen? Einen direkten Blitzschlag, der Sie betrifft? Eine unfabare seelische Erschtterung, mit der nicht jeder fertig werden kann und oft in den Wahnsinn sich davor rettet?

    Das Universum hat so viele Zentren, so viele Lebewesen darin wohnen. Jeder von uns ist ein Mittelpunkt des Alls, und die Schpfung bricht in tausend Stcke, wenn Sie es zischen hren: SIE SIND VERHAFTET!

    Wenn schon Sie verhaftet werden - wie soll dann etwas anderes vor diesem Erdbeben verschont bleiben?

    Unfhig, diese Verschiebungen im Weltall mit benebeltem Gehirn zu erfassen, vermgen die Raffiniertesten und die Einfltigsten unter uns in diesem Augenblick aus der gesamten Erfahrung ihres Lebens nichts anderes herauszupressen als dies:

    Ich?? Warum denn?? - Eine Frage, die schon zu Millionen und Abermillionen Malen gestellt wurde und niemals eine Antwort fand.

  • Die Verhaftung ist eine jhe, mit voller Wucht uns treffende Versetzung, Verlegung, Vertreibung aus einem Zustand in einen anderen.

    Da jagten wir glcklich oder trabten wir unglcklich durch die lange winkelige Strae unseres Lebens, an Zunen, Zunen, Zunen entlang, vorbei an moderigen Holzplanken, an Lehmmauern und Eisengittern, vorbei an Umfriedungen aus Ziegel und Beton. Wir verloren keinen Gedanken daran, was wohl dahinter lag. Weder versuchten wir hinberzublicken, noch uns hinberzudenken - dahinter aber begann das Land GULAG, gleich nebenan, keine zwei Meter von uns entfernt. Auch hatten wir in diesen Zunen die Unmenge von genau eingepaten, gut getarnten Tren und Pfrtchen nicht bemerkt. Alle, alle diese Pforten standen fr uns bereit - und es ffnete sich rasch die schicksalhafte eine, und vier weie Mnnerhnde, an Arbeit nicht, dafr aber ans Zuschnappen gewhnt, packen uns an Beinen, Armen, Haaren, am Ohr oder am Kragen, zerren uns wie ein Bndel hinein, und die Pforte hinter uns, die Tr zu unserem vergangenen Leben, die schlagen sie fr immer zu.

    Schlu. Sie sind - verhaftet! Und keine andere Antwort finden Sie darauf als ein verngstigtes

    Blken: W-e-e-r? I-i-ch?? Warum denn?? Ver-haf-tet-wer-den, das ist: ein Aufblitzen und ein Schlag, durch

    die das Gegenwrtige sofort in die Vergangenheit versetzt und das Unmgliche zur rechtmigen Gegenwart wird. Das ist alles. Mehr zu begreifen gelingt Ihnen weder in der ersten Stunde noch nach dem ersten Tag.

    Noch blinkt Ihnen in Ihrer Verzweiflung wie aus der Zirkuskuppel ein knstlicher Mond zu: Ein Irrtum! Das wird sich schon aufklren!

    Alles andere aber, was sich heute zur traditionellen und sogar literarischen Vorstellung ber die Verhaftung zusammengefgt hat, entsteht und sammelt sich nicht mehr in Ihrem bestrzten Gedchtnis, sondern im Gedchtnis Ihrer Familie und der Wohnungsnachbarn.

    Das ist: ein schrilles nchtliches Luten oder ein grobes Hmmern an der Tr. Das ist: der ungenierte stramme Einbruch der an der Schwelle nicht abgeputzten Stiefel des Einsatzkommandos. Das ist: der hinter ihrem Rcken sich versteckende eingeschchterte Zeuge als Beistand. (Wozu der Beistand? - Das zu berlegen, wagen die Opfer nicht, und die Verhafter haben es vergessen, aber es ist halt Vorschrift; so mu er denn die Nacht ber dabeisitzen und gegen Morgen das Protokoll unterschreiben. Auch fr den aus dem Schlaf gerissenen Zeugen ist es eine Qual: Nacht fr Nacht dabeisein und

  • helfen zu mssen, wenn man seine Nachbarn und Bekannten verhaftet.)

    Die traditionelle Verhaftung - das heit auch noch: mit zitternden Hnden zusammensuchen, was der Verhaftete dort brauchen knnte: Wsche zum Wechseln, ein Stck Seife und was an Essen da ist, und niemand wei, was notwendig und was erlaubt ist und welche Kleidung am besten wre, die Uniformierten aber drngen: Wozu das alles? Dort gibt's Essen genug. Dort ist's warm. (Alles Lge. Und das Drngen dient nur zur Einschchterung.)

    Die traditionelle Verhaftung hat noch eine stundenlange Fortsetzung, spter, wenn der arme Snder lngst abgefhrt ist und die brutale, fremde, erdrckende Gewalt sich der Wohnung bemchtigt. Das sieht so aus: Schlsser aufbrechen, Polster aufschlitzen, alles von den Wnden runter, alles aus den Schrnken raus, ein Herumwhlen, Ausschtten, Aufschneiden, ein Reien und Zerren - und Berge von Hausrat auf dem Boden, und Splitter unter den Stiefeln. Und nichts ist ihnen heilig whrend der Haussuchung! Whrend der Verhaftung des Lokfhrers Inoschin stand der kleine Sarg mit seinem eben verstorbenen Kind im Zimmer. Die Rechtshter kippten das Kind aus dem Sarg heraus, sie suchten auch dort. Sie zerren Kranke aus ihren Betten und reien Verbnde von Wunden*. Und was alles wird whrend der Haussuchung als verdchtig erkannt werden! Beim Antiquittensammler Tschetweruchin beschlagnahmten sie soundso viel Bltter mit zaristischen Verordnungen, konkret gesprochen: je einen Erla ber die Beendigung des Krieges gegen Napoleon, ber die Grndung der Heiligen Allianz und ein Bittgebet gegen die Choleraepidemie von 1830. Bei unserem besten Tibetkenner Wostrikow wurden wertvolle alte tibetische Handschriften konfisziert (und den Schlern des Verstorbenen gelang es erst dreiig Jahre spter, dem KGB die Beute wieder zu entreien!). Nach der Verhaftung des Orientalisten Newski wurden tangutische Handschriften beschlagnahmt (fr deren Entschlsselung der Verstorbene fnfundzwanzig Jahre spter postum den Leninpreis bekam). Bei Karger ergatterten sie ein Archiv ber die Jenissej-Ostjaken und verboten das von ihm entwickelte Alphabet samt der dazugehrigen Fibel - so blieb denn das kleine Vlkchen ohne eigene Schrift. In intellektueller Sprache dies alles zu beschreiben, wrde zu lange dauern, das Volk aber sagt dazu: Sie suchen, was sie nicht hingelegt.

    * Als im Jahre 1937 das Institut des Dr. Kasakow aufs Korn genommen wurde,

    lie die Kommission die Gefe mit den von ihm entdeckten Lysaten zertrmmern, obwohl rundum die geheilten und noch zu heilenden Krppel, auf

  • Krcken hpfend, darum bettelten, das Wunderprparat zu erhalten. (Nach der amtlichen Version hatten die Lysate als Gift zu gelten - warum hat man sie dann nicht als Beweisstck aufbewahrt?)

    Das Geraffte fhren sie fort, bisweilen mu es der Verhaftete selber

    schleppen. Auch Nina Alexandrowna Paltschinskaja durfte den Sack mit den Papieren und Briefen ihres unermdlich ttig gewesenen verstorbenen Gatten, des groen russischen Ingenieurs, schultern - und er verschwand im Rachen der GPU auf Nimmerwiedersehen.

    Fr die aber, die nach der Verhaftung zurckbleiben, beginnen ab nun lange Monate eines zerrtteten, verwsteten Lebens. Die Versuche, mit Paketen durchzukommen. Und berall nur bellende Antworten: Den gibt es nicht!, Nicht in den Listen! Zuvor aber mu man an den Schalter gelangen, aus dem das Gebell schallt, und das bedeutete in den schlimmen Leningrader Zeiten fnf Tage Schlangestehen. Und erst nach Monaten oder nach einem Jahr lt der Verhaftete selbst von sich hren, oder aber es wird einem das Ohne Brieferlaubnis an den Kopf geworfen. Das aber heit - fr immer. Ohne Brieferlaubnis, das steht fast sicher fr: erschossen*.

    * Mit einem Wort: Wir leben unter verfluchten Bedingungen, wo ein Mensch

    spurlos verschwindet und auch seine Allernchsten, Frau und Mutter..., jahrelang nichts ber sein Schicksal erfahren. Stimmt's? Nein? Dies schrieb Lenin im Jahre 1910 in seinem Nachruf auf Babuschkin. Doch sei hier geradeheraus festgehalten: Babuschkin leitete einen Waffentransport fr den Aufstand, dabei wurde er auch erschossen. Er wute, was er in Kauf nahm. Anders wir, die Karnickel.

    So stellen wir uns die Verhaftung vor. Es stimmt auch. Die nchtliche Verhaftung von der beschriebenen

    Art erfreut sich bei uns gewisser Beliebtheit, weil sie wesentliche Vorzge zu bieten hat. Alle Leute in der Wohnung sind nach den ersten Schlgen gegen die Tr vor Entsetzen gelhmt. Der zu Verhaftende wird aus der Wrme des Bettes gerissen, steht da in seiner halbwachen Hilflosigkeit, noch unfhig, einen klaren Gedanken zu fassen. Bei einer nchtlichen Verhaftung ist das Einsatzkommando in einer strkeren Position: Sie kommen, ein halbes Dutzend bewaffneter Mnner gegen einen, der erst die Hose zuknpft; mit Sicherheit ist auszuschlieen, da sich whrend der Abfhrung und der Haussuchung am Hauseingang mgliche Anhnger des Opfers sammeln. Das gemchliche und systematische Aufsuchen von einer Wohnung hier, einer anderen dort, einer dritten und vierten in der darauffolgenden Nacht gewhrt den bestmglichen Einsatz des

  • operativen Personals und die Inhaftierung einer vielfach greren Zahl von Einwohnern, als der Personalstand ausmacht.

    Einen weiteren Vorzug zeigen die nchtlichen Verhaftungen auch darin, da weder die Nachbarhuser noch die Straen zu sehen bekommen, wie viele da nchtens abtransportiert werden. Erschreckend fr die allernchsten Hausparteien, sind sie fr die Entfernteren nicht existent. Sind wie nicht dagewesen. ber denselben Asphaltstreifen, ber den zur nchtlichen Stunde Gefangenenwagen hin und her flitzen, marschieren am hellen Tage frohgemute Jugendscharen, mit Fahnen und Blumen und unbeschwerten Liedern.

    Doch die Verhaftenden, deren Dienst ja einzig aus solchen Akten besteht, denen die Schrecken der Festzunehmenden lngst etwas Vertrautes und de-Langweiliges geworden sind, betrachten den Inhaftnahmevorgang in einem viel weiteren Sinne. Die haben eine groe Theorie; man glaube nur ja nicht naiv, es gbe sie nicht. Die Inhaftnahme, das ist ein wichtiger Abschnitt im Lehrplan der allgemeinen Gefngniskunde, in der eine grundlegende gesellschaftliche Theorie als Basis nicht fehlt. Die Verhaftungen werden nach bestimmten Merkmalen klassifiziert: Verhaftungen am Tag und in der Nacht; zu Hause, im Dienst und unterwegs; erstmalige und wiederholte; Einzel- und Gruppenverhaftungen. Die Verhaftungen werden nach dem Grad der erforderlichen berrumpelung eingestuft und nach der Strke des zu erwartenden Widerstandes (doch in Dutzenden Millionen von Fllen wurde kein Widerstand erwartet und auch keiner geleistet). Die Verhaftungen unterscheiden sich nach der Gewichtigkeit der geplanten Haussuchung*; nach der Notwendigkeit, bei der Beschlagnahme Protokolle zu fhren, das Zimmer oder die Wohnung zu versiegeln, welche Notwendigkeit nicht immer gegeben ist; je nach Bedarf im weiteren Verlaufe auch die Frau des Abgefhrten zu verhaften, die Kinder aber ins Kinderheim zu bringen, bzw. den Rest der Familie in die Verbannung, bzw. auch noch die greisen Eltern ins Lager.

    * Dazu gibt es auch noch eine komplette Wissenschaft der Haussuchung. Ich

    hatte Gelegenheit, eine Broschre fr Fernstudenten der Juristischen Hochschule von Alma-Ata zu lesen. Dort wird speziell jenen Juristen Lob zuteil, die die Mhe nicht scheuten, 2 Tonnen Dnger, 6 Kubikmeter Holz und 2 Fuhren Heu zu durchwhlen, einen Bauernhof vom Schnee zu rumen, Ziegel aus dem Ofen herauszubrechen, die Senkgrube zu leeren, Klosettschsseln zu untersuchen, in Hundehtten, Hhnerstllen und Vogelhusern zu suchen, Matratzen aufzuschneiden, Pflaster von der Haut zu reien und Metallzhne auszubrechen, um sich zu vergewissern, da darunter keine Mikrofilme verborgen lagen. Den Studenten wird wrmstens empfohlen, mit der

  • Leibesvisitation zu beginnen und damit auch wieder abzuschlieen (knnte doch sein, da der Betreffende whrend der Aktion noch etwas unterschlagen hat) und nochmals an den gleichen Ort zurckzukehren, zu anderer Tageszeit - und die Durchsuchung zu wiederholen.

    O nein, die Formen der Verhaftung sind mitnichten eintnig. Frau

    Irma Mendel, eine Ungarin, erhielt einmal (im Jahre 1926) in der Komintern zwei Karten fr das Bolschoitheater, die Pltze ganz vorn. Der Untersuchungsrichter Klegel machte ihr den Hof, so lud sie ihn ein, mit ihr zu gehen. Sie verbrachten einen trauten Abend, danach fuhr er sie direkt... auf die Lubjanka1*. Und wenn 1927 auf dem Kusnezki-Most die rundwangige, blondzpfige Schnheit Anna Skripnikowa, die sich eben blauen Stoff fr ein Kleid gekauft hatte, von einem jungen Gecken in eine Droschke verfrachtet wird (und der Kutscher, der hat schon begriffen und schaut finster drein: um den Fuhrlohn ist er bei den Organen betrogen) - dann sollten Sie wissen, da dies kein romantisches Rendezvous ist, sondern auch eine Verhaftung: Gleich biegen sie zur Lubjanka ein und fahren in den schwarzen Rachen des Tores. Und wenn (zweiundzwanzig Lenze danach) der Fregattenkapitn Boris Burkowski, weie Uniform, teures Eau de Cologne, eine Torte fr ein Mdchen kauft, dann wissen Sie nicht, ob diese Torte bis zu der Freundin gelangt oder nicht eher, von den Messern der Durchsuchenden zerstckelt, dem Kapitn in seine erste Zelle folgen wird. Nein, niemals vernachlssigte man bei uns die Verhaftung am Tage, und die Verhaftung unterwegs, und die Verhaftung in brodelnder Menschenmenge. Und es klappte dennoch immer, und die Opfer selbst - das ist das Seltsame daran! - benehmen sich, in voller bereinstimmung mit den Verhaftenden, maximal wohlerzogen, auf da die Lebenden vom Untergang des Gezeichneten nichts bemerken.

    * Die hochgestellten Ziffern beziehen sich auf die entsprechenden Nummern der

    Anmerkungen (Anhang I). Nicht jedermann ist in seinem Heim, nach vorherigem Klopfen an

    der Tr, festzunehmen, nicht jedermann auch an seinem Arbeitsplatz. Bei vermuteter Bswilligkeit des zu Fassenden ist es besser, ihn in Absonderung zu verhaften, fern von der gewohnten Umgebung, von der Familie, den Kollegen, den Gleichgesinnten und den Geheimverstecken: da er nicht die Zeit habe, etwas zu vernichten, zu verbergen, zu bergeben. Hohe Wrdentrger in Partei und Armee wurden bisweilen an andere Orte versetzt, per Salonwagen auf die Reise geschickt und unterwegs verhaftet. Irgendein namenloser

  • Sterblicher hingegen, ein angstgeschttelter Zeuge der Verhaftungen rundum, den schiefe Blicke seiner Vorgesetzten seit einer Woche schon Bses ahnen lieen, wird pltzlich zum Gewerkschaftsrat beordert, wo man ihm strahlend einen Reisebonus fr ein Sanatorium in Sotschi berreicht. Er dankt, er eilt jubelnd nach Hause, um den Koffer zu packen. In zwei Stunden fhrt der Zug, er schilt die umstndliche Gattin. Und schon am Bahnhof! Noch bleibt Zeit. Im Wartesaal oder an der Theke, wo er rasch ein Bier kippt, wird er von einem beraus sympathischen jungen Mann angesprochen: Erkennen Sie mich nicht, Pjotr Iwanytsch? Pjotr Iwanytsch wird verlegen: Eigentlich nicht... ich wei nicht recht... Der junge Mann ist ganz freundschaftliches Entgegenkommen: Aber, aber, Sie werden sich gleich erinnern... Und mit ehrfrchtiger Verbeugung zur Gattin hin: Verzeihen Sie bitte, ich entfhre Ihren Gatten blo fr einen Augenblick... Die Gattin gestattet, der Unbekannte hakt sich bei Pjotr Iwanytsch vertraulich unter und fhrt ihn ab - fr immer oder fr zehn Jahre.

    Der Bahnhof aber lebt sein hastiges Leben - und merkt nichts... Mitbrger, die Ihr gern Reisen unternehmt! Verget nicht, da es auf jedem Bahnhof einen Auenposten der GPU gibt mit einigen Gefngniszellen dazu.

    Diese Aufdringlichkeit angeblicher Bekannter ist so ungestm, da es einem Menschen ohne wlfische Lagererfahrung einfach schwerfllt, sie abzuschtteln. Glauben Sie blo nicht, da Sie, wren Sie auch ein Angestellter der Amerikanischen Botschaft, namens, sagen wir Al-der D., davor gefeit sind, am hellichten Tage auf der Gorkistrae beim Hauptpostamt verhaftet zu werden. Da kommt er schon auf Sie zugestrzt, Ihr unbekannter Freund, mit ausgebreiteten Armen, durch die dichte Menge: Sascha! ruft er ganz ungeniert. Ewig dich nicht gesehen!... Schau, wir stehn im Weg, komm doch zur Seite. Doch wo er Sie hinzieht, an den Rand des Gehsteigs, da ist eben eine Pobeda vorgefahren... (Einige Tage danach wird die TASS voller Entrstung erklren, es sei ber das Verschwinden des Al-der D. in kompetenten Kreisen nichts bekannt.) Ach, wozu viel reden! Unsere Prachtkerle erledigten solche Verhaftungen sogar in Brssel (so erwischten sie Schora Blednow), da ist Moskau nichts dagegen.

    Man mu den Organen Gerechtigkeit widerfahren lassen: In einer Zeit, da Festreden, Theaterstcke und Damengarderoben den Stempel der Serienproduktion zu tragen scheinen, zeigt sich die Verhaftung in vielfltigem Gewand. Man winkt Sie beiseite, nachdem Sie eben am Fabriktor Ihren Passierschein vorgewiesen haben - und drin sind Sie; man schleppt Sie aus dem Lazarett mit 39 Grad Fieber

  • fort (Ans Bernstein), und der Arzt hat nichts gegen Ihre Verhaftung einzuwenden (soll er's nur versuchen!); man verhaftet Sie vom Operationstisch weg, auf dem Sie wegen eines Magengeschwrs lagen (N. M. Worobjow, Gebietsschulinspektor, 1936) - und bringt Sie, mehr tot als lebendig, blutverschmiert in die Zelle (so erinnert sich Karpunitsch); Sie bemhen sich um eine Besuchsbewilligung (Nadja Lewitskaja) bei Ihrer abgeurteilten Mutter, man gewhrt sie Ihnen - und dann erweist sich der Besuch als Gegenberstellung und Verhaftung! Im groen Lebensmittelgeschft Gastronom werden Sie in die Bestellabteilung gebeten und dort verhaftet; ein Pilger verhaftet Sie, der um Christi willen Beherbergung bei Ihnen erbat; ein Monteur verhaftet Sie, der gekommen ist, den Gaszhler abzulesen; ein Radfahrer, der auf der Strae in Sie hineinfuhr; ein Eisenbahnschaffner, ein Taxifahrer, ein Schalterbeamter der Sparkasse und ein Kinodirektor - sie alle verhaften Sie, der Sie zu spt den gut versteckten weinroten Ausweis erblicken.

    Manch eine Verhaftung gleicht einem Spiel: Unerschpflich ist der darin investierte Erfindergeist, unversiegbar die saturierte Energie, aber das Opfer, das wrde sich ja auch sonst nicht wehren. Ob die Einsatzkommandos auf diese Weise ihren Sold und ihre Vielzahl rechtfertigen wollen? Es wrde doch, scheint's, frwahr gengen, allen in Aussicht genommenen Karnickeln Vorladungen zu schicken - und sie kmen auf die Minute genau zur bestellten Zeit eingetrudelt mit ihrem Bndel und marschierten gehorsam durch das schwarze Eisentor des Staatssicherheitsdienstes, um das Fleckchen Boden in der ihnen zugewiesenen Zelle in Besitz zu nehmen. (Mit dem Kolchosbauern wird es genauso gehandhabt, wozu auch die Mhe, nachts auf lausigen Straen zu seiner Htte zu fahren? Man beordert ihn zum Dorfrat, dort schnappen sie ihn. Einen Hilfsarbeiter bestellen sie ins Kontor.)

    Gewi, keine Maschine kann mehr schaffen, als ihr in den Rachen geht. In den angespannten, randvollen Jahren 1945/46, als aus Europa Zge um Zge angerollt kamen, die allesamt verschlungen und auf den Archipel GULAG verfrachtet werden muten, da fehlte schon solch berschssiges Spiel, die Theorie selbst verbleichte, der rituelle Federschmuck fiel ab, und es glich die Verhaftung von Zehntausenden einem armseligen Appell: Vorn standen sie mit Namenslisten, lieen die Fracht aus einem Waggon antreten und in einen anderen verstauen, womit die ganze Verhaftung auch schon zu Ende war.

    Jahrzehntelang zeichneten sich die politischen Verhaftungen bei uns eben dadurch aus, da Leute geschnappt wurden, die unschuldig

  • waren - und daher auf keinerlei Widerstand vorbereitet. Die Folge war ein allgemeines Gefhl der Verlorenheit, die (bei unserem Pasystem mitnichten unbegrndete) Vorstellung, es sei unmglich, der GPU-NKWD zu entfliehen. Und selbst in Zeiten wahrer Verhaftungsepidemien, als die Menschen sich allmorgendlich von ihrer Familie verabschiedeten, weil sie nicht sicher waren, abends nach der Arbeit auch wieder heimzukehren - selbst damals ergriff fast keiner die Flucht (und nur wenige begingen Selbstmord). Was ja auch bezweckt wurde. Ein sanftes Schaf ist des Wolfes Leckerbissen.

    Es geschah auch aus mangelnder Einsicht in die Mechanik der Verhaftungsepidemien. Die Organe verfgten meist ber keine fundierte Motivierung fr die Auswahl der zu Verhaftenden, der auf freiem Fu zu Belassenden, sie hatten ja einzig und allein die Sollziffer zu erreichen. Die Erzielung der vorgegebenen Zahl konnte nach bestimmten Richtlinien erfolgen, ein andermal aber auch vllig zufllig sein. Im Jahre 1937 kam eine Frau ins Empfangsbro der Nowotscherkassker NKWD, um sich zu erkundigen, was mit dem hungrigen Sugling ihrer verhafteten Nachbarin geschehen solle. Nehmen Sie bitte Platz, sagte man ihr, wir werden uns erkundigen. Sie wartete zwei Stunden - dann fhrte man sie aus dem Empfangsraum in eine Zelle: Die Zahl mute raschest aufgefllt werden, an einsatzbereiten Mitarbeitern mangelte es - wozu in der Stadt suchen, wenn diese da schon hier war! Und umgekehrt ging's auch: Als sie kamen, den Letten Andrej Pavel in der Nhe von Orscha zu verhaften, da sprang er, ohne die Tr zu ffnen, aus dem Fenster, schttelte die Verfolger ab und fuhr geradewegs nach Sibirien. Und obwohl er dort unter seinem eigenen Namen lebte und in seinen Papieren als stndigen Wohnort Orscha stehen hatte, wurde er niemals verhaftet, weder je vorgeladen noch irgendwann verdchtigt. Denn es gibt drei Fahndungsarten: auf Unions-, Republiks- und Gebietsebene, fast die Hlfte aller in jenen Seuchenjahren Verhafteten wurde aber blo im Gebietsbereich zur Verhaftung ausgeschrieben. Wo zufllige Umstnde, zum Beispiel die Denunziation eines Nachbarn, zur Verhaftung fhrten, da konnte der dazu Vorgemerkte leicht durch einen anderen Nachbarn ersetzt werden. Wie im Falle von Andrej Pavel wurden Menschen, die zufllig in eine Razzia gerieten und den Mut hatten, sogleich, noch vor der ersten Einvernahme, zu fliehen, niemals verfolgt oder belangt; wer aber blieb, auf da ihm Gerechtigkeit widerfahre, der wurde verurteilt. Und die erdrckende Mehrzahl verhielt sich so: kleinmtig, hilflos, schicksalergeben.

  • Wahr ist auch, da die NKWD bei Abwesenheit des Gesuchten den Verwandten die schriftliche Verpflichtung auferlegte, ihren Wohnort nicht zu verlassen; nichts leichter fr sie, als die Zurckgebliebenen spter anstelle des Flchtigen zu verbuchen.

    Allgemeine Schuldlosigkeit bewirkt auch allgemeine Unttigkeit. Vielleicht holen sie dich nicht? Vielleicht geht's vorbei? A. I. Ladyschenski, dem Oberlehrer an der Schule des gottverlassenen Stdtchens Kologriw, wurde im siebenunddreiiger Jahr auf dem Markt von einem Bauern die Warnung zugesteckt: Alexander Iwanytsch, geh fort, du bist in den Listen! Er blieb: Hngt nicht die ganze Schule an mir, gehen nicht auch ihre Kinder in meine Klasse - warum sollten sie mich holen?... (Einige Tage spter war er verhaftet.) Nicht jedem ist es wie Wanja Lewitski gegeben, mit vierzehn bereits zur Einsicht zu gelangen: Jeder ehrliche Mensch kommt ins Gefngnis. Jetzt sitzt Papa, wenn ich gro bin - holen sie mich. (Sie verhafteten ihn mit dreiundzwanzig.) Die schimmernde Hoffnung lt die meisten dumm werden. Ich bin unschuldig, warum sollten sie mich holen? Ein Miverstndnis! Schon packen sie dich am Kragen, schleifen dich fort, du aber kannst es nicht lassen, dich selbst zu beschwren: Ein Miverstndnis! Es wird sich erweisen! Die anderen holen sie massenweise, ohne Logik auch dort, und doch bleibt in jedem einzelnen Fall ein Vielleicht: Vielleicht ist gerade der...? Du aber, du bist doch ohne Zweifel unschuldig! Fr dich sind die Organe eine menschlich-logische Institution: Unschuld erwiesen - in Freiheit gesetzt.

    Wozu solltest du demnach davonlaufen?... Und warum solltest du dann Widerstand leisten?... Du wrdest deine Lage damit blo verschlimmern, die Wahrheitsfindung erschweren. Was Widerstand?! - Auf Zehenspitzen, wie befohlen, gehst du die Treppe hinab, damit die Nachbarn gottbehte nichts hren*.

    * Im Lager spter wurmte es einen: Was, wenn jeder von ihnen nicht sicher

    gewesen wre, ob er vom nchtlichen Einsatz zurckkme; wenn er sich von seiner Familie zu verabschieden gehabt htte? Wenn in den Zeiten der Massenverhaftungen, z. B. als sie in Leningrad gut ein Viertel der Stadt festsetzten, was, wenn die Menschen - statt, da jeder in seinem Bau sich verkriechen und beim leisesten Gerusch an der Tr, beim Poltern von fremden Schritten im Stiegenhaus vor Angst vergehen wrde - begriffen htten, da es nichts mehr zu verlieren gab; wenn sie also in ihren Husern sich zusammengetan htten, ein Haufen tapferer Mnner mit xten, Hmmern, Schrhaken und sonstigem, was eben zur Hand war? Man wute doch von vornherein, da die nchtlichen Gesellen nichts Gutes im Schilde fhrten, da konnte man nicht fehlgehen, dem Halsabschneider einmal bern Schdel zu hauen. Und der Gefngniswagen auf der Strae, mit dem einsamen Fahrer darin - warum ihn stehenlassen, warum nicht die Reifen aufschneiden? Bald

  • htten die Organe Mangel an Personal und Fahrzeugen versprt, und es wre das verfluchte Rderwerk trotz Stalins Eifer zum Stillstand gekommen! Wenn... Ja wenn... Es fehlte uns an Freiheitswillen. Und vorher noch - an Einsicht in die wahre Lage der Dinge. Wir hatten uns in dem einen ungestmen Aufbruch des Jahres 17 verausgabt und beeilten uns danach, wieder gefgig zu werden, fanden Freude daran, wieder gefgig zu sein. (Arthur Ransome beschreibt eine Arbeiterkundgebung 1921 in Jaroslawl. Vom Zentralkomitee in Moskau waren Vertreter gekommen, sich mit den Arbeitern ber die Kernpunkte der damaligen Gewerkschaftsdiskussion zu beraten. J. Larin von der Opposition erklrte den Arbeitern, da ihre Gewerkschaft einen Schutz gegen die Betriebsverwaltung bilden msse, da sie, die Arbeiter, sich Rechte erobert haben, die sie nicht aus der Hand geben drfen. Die Arbeiter verharrten in vlliger Gleichgltigkeit, begriffen einfach nicht, wogegen der Schutz und wofr die Rechte zu bestehen htten. Als aber ein Vertreter der Generallinie der Partei das Wort ergriff und die Arbeiter abkanzelte, weil sie faul und nachlssig seien, und sie aufforderte, Opfer zu bringen, unbezahlte berstunden zu leisten, sich im Essen zu beschrnken und sich in militrischem Gehorsam der Verwaltung zu fgen - da erntete er begeisterten Applaus.) Wir haben alles weitere einfach VERDIENT.

    Und dann - wogegen sich eigentlich wehren? Dagegen, da sie dir

    den Hosengrtel abnehmen? Da sie dir befehlen, in der Ecke stehen zu bleiben - oder das Haus zu verlassen? Der Abschied besteht aus vielen winzigen Rundherums, aus zahllosen Nichtigkeiten, um die im einzelnen zu streiten es wohl keinen Sinn htte (derweilen die Gedanken des Verhafteten um die einzige gewaltige Frage kreisen: Wofr?) - doch all dieses Nebenschliche fgt sich unabwendbar zur Verhaftung zusammen.

    Ja, wer wei denn berhaupt, was sich im Herzen eines Frischverhafteten abspielt! - Dies allein verdiente ein eigenes Buch. Da fnden sich Gefhle, die wir gar nicht vermuten wrden. Als im Jahre 1921 die neunzehnjhrige Jewgenija Dojarenko verhaftet wurde und drei Tschekisten ihr Bett und ihre Kommode durchwhlten, blieb sie ruhig und gelassen: Wo nichts ist, werden sie nichts finden. Pltzlich stieen sie auf ihr intimes Tagebuch, das sie selbst der Mutter nicht gezeigt htte, und dies allein: da feindselige fremde Kerle darin lesen konnten, erschtterte sie strker als die ganze Lubjanka mit ihren Gitterfenstern und Verlieen. Wo die Verhaftung solche persnliche Gefhle und Regungen aufrhrt, tritt fr viele sogar die Angst vor dem Gefngnis in den Hintergrund. Ein Mensch, der innerlich nicht auf Gewalt vorbereitet ist, wird dem Gewalttter gegenber stets den krzeren ziehen.

    Nur wenige ganz Schlaue und Waghalsige vermgen prompt zu reagieren. Der Direktor des Geologischen Instituts der Akademie der Wissenschaften Grigorjew, den sie 1948 abholen kamen, verschanzte sich in seiner Wohnung und hatte zwei Stunden Zeit, Dokumente zu verbrennen.

  • Manchmal aber ist das erste Gefhl des Festgenommenen jenes der Erleichterung, ja sogar der FREUDE! Auch das liegt in der Natur des Menschen. Und ist auch frher schon vorgekommen: Die in Sachen Alexander Uljanow gesuchte Lehrerin Serdjukowa aus Jekaterinodar fand ihre Ruhe erst wieder, als sie verhaftet wurde. Doch tausendfach wiederholte es sich in Zeiten von Verhaftungsepidemien: Wenn rundum zu Dutzenden Leute verhaftet werden, die so sind wie du, hier einer und dort einer, aber dich holen sie nicht, dich lassen sie noch zappeln - da leidest du mehr, als wenn sie dich schon verhaftet htten, da finden sich am Ende auch die Willensstrksten total zermrbt. Wassilij Wlassow, ein furchtloser Kommunist, von dem im folgenden noch fter die Rede sein wird, hatte es, entgegen den guten Ratschlgen seiner parteilosen Mitarbeiter, abgelehnt, die Flucht zu ergreifen, und litt unsglich darunter, da sie ihn, der allein von der gesamten Leitung des Kadyjsker Bezirkes (1937) in Freiheit geblieben war, durchaus nicht holen wollten. Er htte dem Angriff gern ins Auge gesehen, konnte es nicht anders, beruhigte sich erst, als der Schlag erfolgt war, und fhlte sich in den ersten Tagen nach der Verhaftung so wohl wie schon lange nicht mehr.

    Vater Iraklij, ein Geistlicher, fuhr 1934 nach Alma-Ata, um die dorthin verbannten Glubigen zu besuchen; unterdessen wurde er zur Verhaftung ausgeschrieben und dreimal in seiner Moskauer Wohnung gesucht. Als er zurckkam, wurde er am Bahnhof von Mitgliedern seiner Gemeinde abgefangen und nicht nach Hause gelassen: Acht Jahre lang versteckten sie ihn von Wohnung zu Wohnung. Am Ende war er von diesem gehetzten Leben derart entnervt, da er freudig Gott pries, als sie 1942 seiner doch noch habhaft wurden.

    Wir sprachen in diesem Kapitel bislang immer nur von der Masse, von den Karnickeln, die, wer wei, wofr, ins Gefngnis kamen. Dennoch wird es wohl nicht zu umgehen sein, in diesem Buch auch jene zu erfassen, die in der neuen ra echte politische Hftlinge blieben. Vera Rybakowa, Studentin und Sozialdemokratin, wnschte sich, solange sie noch frei war, in den Susdaler Politisolator2: Nur dort konnte sie mit lteren Genossen zusammenkommen (von denen war niemand mehr frei), um sich weltanschaulich zu bilden. Die junge Sozialrevolutionrin Jekaterina Olizkaja glaubte 1924 sogar, des Gefngnisses nicht wrdig zu sein: Rulands beste Menschen waren den Weg durch die Kasematten gegangen - was hatte sie Groes fr Ruland zu tun die Zeit gehabt? Doch auch die freie Welt wollte nichts mehr von ihr wissen. So schritten sie beide ins Gefngnis: stolz und frohen Mutes.

  • Widerstand! Wo war euer Widerstand? - So werden heute die Betroffenen von den Verschontgebliebenen getadelt.

    Gewi, hier htte er beginnen mssen, bei der Verhaftung selbst. Und hatte nicht begonnen. So werden Sie denn abgefhrt. Bei einer jeden Tagesverhaftung

    gibt es diesen kurzen, unwiederbringlichen Augenblick, da Sie - getarnt, nach feiger Absprache, oder auch ganz offen, mit gezckten Pistolen - durch eine hundertkpfige Menge von ebenso unschuldigen und verlorenen Menschen gefhrt werden. Ihr Mund ist nicht geknebelt! Sie knnen schreien, htten unbedingt schreien mssen! Brllen, da Sie verhaftet wurden! Da verkleidete Mnner auf Menschenjagd ausgehen! Da eine falsche Anzeige gengt, um eingesperrt zu werden! Da in aller Stille Millionen mundtot gemacht werden! Und solche Schreie zu jeder Stunde und an allen Ecken und Enden einer Stadt - sie htten unsere Mitbrger vielleicht aufhorchen lassen? sie gezwungen aufzubegehren? die Verhaftung um einiges erschwert?

    Im Jahre 1927, als unsere Gehirne durch blinden Gehorsam noch nicht vollends aufgeweicht waren, versuchten zwei Tschekisten am hellichten Tag auf dem Serpuchow-Platz eine Frau zu verhaften. Sie klammerte sich an einen Laternenpfahl, begann zu schreien, wollte nicht freiwillig mitgehen. Ringsherum versammelte sich eine Menschenmenge. (Was not tat, war so eine Frau, aber auch so eine Menge! Nicht jeder Passant senkte den Blick, nicht jeder versuchte vorbeizuhuschen!) Die sonst so fixen Kerle wurden sofort kleinlaut. Im Lichte der ffentlichkeit knnen sie nicht arbeiten. Sie sprangen in ihr Auto und fuhren ab. Die Frau htte sofort auf den Bahnhof und wegfahren mssen! Sie ging aber nach Hause. Und wurde nachts auf die Lubjanka gebracht.)

    Doch ber Ihre angsttrockenen Lippen kommt kein einziger Laut, und die vorbeistrmende Menge nimmt Sie und Ihre Henker, sorglos wie sie ist, fr promenierende Kumpane.

    Ich selbst hatte mehrmals Gelegenheit zu schreien. Es war am elften Tag nach meiner Verhaftung, als ich in Begleitung

    von drei Schmarotzern von der Armeeabwehr, denen ihre vier Beutekoffer eine grere Last waren als ich (da sie sich auf mich verlassen konnten, hatten sie whrend der langen Fahrt bereits erfat), auf dem Bjelorussischen Bahnhof in Moskau ankam. Sie nannten sich Sonderbewachung, in Wahrheit strten sie die Maschinengewehre blo, wo sie doch die vier zentnerschweren Koffer schleppen muten - mit Sachen, die sie und ihre Vorgesetzten von der Smersch-Abwehr der 2. Bjelorussischen Front in Deutschland

  • zusammengestohlen hatten und nun unter dem Vorwand, mich bewachen zu mssen, den Lieben in der Heimat brachten. Den fnften Koffer schleppte ich selbst, ohne jede Begeisterung : es waren darin meine Tagebcher und Werke - die Indizien meiner Untaten.

    Alle drei kannten sich in der Stadt nicht aus, so mute ich den krzesten Weg zum Gefngnis whlen, mute ich sie selbst zur Lubjanka fhren, wo sie niemals gewesen waren (ich aber verwechselte das Ganze mit dem Auenministerium).

    Nach einem Tag in der Armeeabwehr; nach drei Tagen in der Frontabwehr, wo mich die Zellengenossen bereits aufgeklrt hatten (darber, wie die Untersuchungsrichter lgen, drohen und prgeln; darber, da keiner, einmal verhaftet, wieder freigelassen wird; da die zehn Jahre unentrinnbar feststehen), fand ich mich pltzlich wie durch ein Wunder in der freien Welt. Vier Tage lang fuhr ich als Freier unter Freien durchs Land, obwohl mein Krper bereits auf faulendem Stroh neben dem Latrinenkbel gelegen, obwohl meine Augen bereits die Geprgelten und Schlaflosen gesehen, meine Ohren die Wahrheit vernommen, mein Mund vom Hftlingsfra gekostet hatte - warum also schweige ich? Warum schleudere ich nicht die Wahrheit in die betrogene Menge, jetzt, in meiner letzten ffentlichen Stunde?

    Ich schwieg in der polnischen Stadt Brodnica - mag sein, sie verstanden dort kein Russisch? Kein Wort rief ich auf den Straen von Bialystok - mag sein, dies alles ging die Polen gar nichts an? Keinen Laut verlor ich auf der Station Wolkowysk - doch die war fast menschenleer. Wie selbstverstndlich spazierte ich mit den drei Banditen ber den Bahnsteig von Minsk - doch der Bahnhof war zerstrt. Nun aber fhre ich die drei Smersch-Leute durch die weibekuppelte runde Eingangshalle der Metrostation Bjelorusskaja, eine Flut von elektrischem Licht, und von unten herauf, uns entgegen ber parallel laufende Rolltreppen, zwei Strme dichtgedrngter Moskauer. Es kommt mir vor, als schauten sie mich alle an! Sie werden herauf getragen, eine endlose Reihe, aus den Tiefen des Nichtwissens unter die strahlende Kuppel - zu mir, um ein winziges Wrtchen Wahrheit zu erfahren - warum schweige ich denn?!

    Aber jeder hat immer ein Dutzend wohlgeflliger Grnde parat, die ihm recht geben, da er sich nicht opfert.

    Der eine hofft noch immer auf einen glimpflichen Ausgang und frchtet, sich durch Schreie die Chancen zu verbauen (wir haben ja keine Nachricht aus der jenseitigen Welt, wir wissen ja nicht, da sich unser Schicksal vom Augenblick der Verhaftung an fr die schlechteste Variante entschieden hat und es nichts mehr daran zu verschlimmern gibt). Die anderen sind noch nicht reif fr Begriffe, die

  • sich zu Warnrufen an die Menge zusammenfgen knnten. Denn einzig der Revolutionr trgt seine Losungen auf den Lippen und lt ihnen freien Lauf; woher kmen sie dem gehorsamen, unberhrten Durchschnittsbrger? Er wei einfach nicht, was er rufen sollte. Und schlielich gibt es jenen Schlag Menschen, deren Brust randvoll ist, deren Augen zuviel gesehen haben, als da sich diese Flut in einigen zusammenhanglosen Aufschreien htte ergieen knnen.

    Ich aber - ich schweige auch noch aus einem anderen Grund: Fr mich sind diese Moskauer, die da auf den Stufen zweier Rolltreppen sich drngen, noch immer zu wenige - zu wenige! Zweihundert, zweimal zweihundert Menschen wrden hier meinen Klageschrei hren - was aber mit den zweihundert Millionen?... Ganz vage schwebt mir vor, da ich irgendwann einmal auch zu den zweihundert Millionen sprechen werde...

    Einstweilen aber werde ich, der ich den Mund nicht aufbrachte, von der Rolltreppe ins Fegefeuer getragen.

    Und werde auch in der Station Ochotnyj rjad schweigen. Und beim Hotel Metropol den Mund nicht ffnen. Und nicht die Arme emporwerfen auf dem Golgatha des Lubjanka-

    Platzes...

    Ich erlebte wahrscheinlich von allen vorstellbaren Arten der Verhaftung die allerleichteste. Sie ri mich nicht aus den Umarmungen der Familie, sie entri mich nicht dem uns so teuren heimischen Alltag. Eines mattmden europischen Februartages erwischte sie mich auf einer schmalen Landzunge an der Ostsee, wo wir die Deutschen oder, was unklar war, die Deutschen uns, umzingelt hielten - und beraubte mich lediglich der gewohnten Truppenabteilung samt der Eindrcke aus den letzten drei Kriegsmonaten.

    Der Brigadekommandeur beorderte mich zum Kommandoposten, bat mich aus irgendeinem Grunde um meinen Revolver, den ich ihm gab, nichts Bses ahnend - da strzten aus der reglosen, wie gebannten Offiziersgruppe in der Ecke zwei Abwehrleute hervor, durchquerten mit einigen Stzen das Zimmer: Vier Hnde verkrallten sich gleichzeitig in den Stern auf der Mtze, in die Achselklappen, das Koppel, die Kartentasche; dazu riefen sie dramatisch:

    Sie sind verhaftet!!!

  • Versengt, durchbohrt vom Scheitel bis zur Sohle, fiel mir nichts Klgeres ein als:

    Ich? Weswegen?! Obwohl es auf diese Frage blicherweise keine Antwort gibt, o

    Wunder, ich bekam sie! Es verdient erwhnt zu werden, weil es so gar nicht unseren Gepflogenheiten entspricht. Nachdem die Smersch-Leute aufgehrt hatten, mich auszuweiden, wobei sie mir samt der Tasche meine schriftlichen politischen Betrachtungen wegnahmen und mich nun, irritiert durch das Klirren der Fensterscheiben im deutschen Granatfeuer, eiligst zum Ausgang hin bugsierten, hrte ich pltzlich jemanden zu mir sprechen - ja doch! ber diese blinde Mauer, die das schwer auf dem Raum lastende Wort verhaftet zwischen mir und den Zurckbleibenden errichtet hatte, ber diese Pestwehr hinweg, die kein Wort mehr bertreten durfte, drangen zu mir die undenkbaren, mrchenhaften Worte des Brigadekommandeurs:

    Solschenizyn! Kehren Sie um. Und ich, durch eine jhe Wendung aus den Hnden der Smersch-

    Leute befreit, machte einen Schritt zurck. Ich kannte den Oberst kaum, er lie sich nie zu simplen Gesprchen mit mir herab. In seinem Gesicht sah ich immer nur Befehl, Ungeduld, Zorn. Jetzt aber war es nachdenklich erhellt: War es Scham wegen der erzwungenen Teilnahme an einer schmutzigen Sache? War es Aufruhr gegen das lebenslange klgliche sich-ducken-mssen? Aus dem Kessel, in dem vor zehn Tagen seine Artillerieabteilung mit zwlf schweren Geschtzen geblieben war, habe ich meine Aufklrungsbatterie fast ohne Verluste heil herausgebracht - sollte er sich nun wegen eines Fetzens abgestempelten Papiers von mir lossagen?

    Haben Sie..., begann er mit Nachdruck, einen Freund an der Ersten Ukrainischen Front?

    Halt!... Das ist verboten! fuhren die beiden vom Smersch, ein Kapitn und ein Hauptmann, den Oberst an. Erschrocken duckte sich das Gefolge der Stabsoffiziere, als htten sie Angst, einen Teil von des Chefs unglaublicher Leichtfertigkeit auf sich nehmen zu mssen (die Mnner von der Polit-Abteilung machten Ohren - im Hinblick auf das gegen den Brigadekommandeur zu liefernde Material). Immerhin, ich hatte genug gehrt: Ich begriff sofort, da ich wegen des Briefwechsels mit meinem Schulfreund verhaftet worden war, begriff auch, aus welcher Richtung ich die Gefahr zu erwarten hatte.

    Hier htte er auch innehalten knnen, mein Sachar Georgijewitsch Trawkin! Doch nein! Noch mu er sich besudelt, noch brskiert gefhlt haben, denn er erhob sich (niemals in jenem frheren Leben war er

  • aufgestanden wegen mir!), streckte mir ber die Pestwehr hinweg die Hand entgegen (niemals hatte er mir, solange ich frei war, die Hand gereicht!), ergriff sie fest, zum stummen Entsetzen des Gefolges, und sagte, warme Entspanntheit auf dem immer strengen Gesicht, furchtlos und deutlich:

    Ich wnsche Ihnen... Glck... Hauptmann! Nicht nur war ich kein Hauptmann mehr - ich war ein entlarvter

    Feind des Volkes (denn es ist bei uns jeder Festgenommene von Anfang an auch schon vollkommen entlarvt). Wem also wnschte er Glck - einem Feind?

    Die Fensterscheiben klirrten. Zweihundert Meter entfernt wurde die Erde von deutschen Einschlgen mihandelt, die daran erinnerten, da solches tiefer im Inneren unseres Landes, unter dem Glassturz des geordneten Daseins nicht htte geschehen knnen... Nur hier, unter dem Hauch des nahen und fr alle gleichen Todes*.

    * Merkwrdig indes: Man kann doch ein Mensch bleiben! - Trawkin geschah gar

    nichts. Vor kurzem kamen wir freundschaftlich zusammen und lernten einander erst richtig kennen. Er ist General im Ruhestand und auerdem Revisor eines Jagdvereins.

    Dieses Buch wird nicht Erinnerung an mein eigenes Leben sein. Darum will ich davon absehen, ber die komischsten Einzelheiten meiner ganz und gar unblichen Verhaftung zu erzhlen. In jener Nacht mhten sich die Smersch-Leute vergeblich mit ihrer Straenkarte ab (sie verstanden sich nicht aufs Kartenlesen), resignierten bald und berreichten sie schlielich mir, mit liebenswrdigen Komplimenten und der Bitte, dem Fahrer doch den Weg zur Armeeabwehrstelle zu zeigen. Mich selbst und meine Begleiter wies ich denn in dieses Gefngnis ein und wurde zum Dank dafr sogleich nicht in eine Zelle, sondern in den Karzer gesperrt. Diese Speisekammer eines deutschen Bauernhofes, die provisorisch als Karzer diente, mchte ich allerdings nicht bergehen.

    Sie hatte die Lnge eines ausgestreckten Menschenkrpers und die Breite von drei dicht aneinandergereihten Mnnern, ein vierter mute sich bereits hineinzwngen. Dieser vierte war ich, eingeliefert nach Mitternacht, die drei Liegenden blinzelten mich im Licht der lfunzel verschlafen und unfreundlich an und rckten ein wenig, so da ich Platz hatte, mich dank der Schwerkraft allmhlich zwischen

  • zwei Krper hineinzukeilen, bis auch meine Seite das auf dem Boden liegende Stroh berhrte. So waren unser in der Kammer acht Stiefel gegen die Tr und vier Uniformmntel. Sie schliefen, ich loderte. Je selbstbewuter ich als Hauptmann noch tags zuvor war, desto schmerzlicher traf es mich, eingezwngt am Boden dieser Kammer zu liegen. Die steifgewordenen Glieder lieen meine Nachbarn ein ums andere Mal aufwachen, dann drehten wir uns in einem gemeinsamen Schwung auf die andere Seite.

    Gegen Morgen hatten die anderen ausgeschlafen, man ghnte, chzte, zog die Beine an, verkroch sich in die verschiedenen Ecken und ging daran, Bekanntschaft zu machen..

    Und du, wofr sitzt du? Mich jedoch hatte unter dem vergifteten Dach des Smersch bereits

    der dumpfe Hauch des auf-der-hut-seins angeweht, so tat ich einfltig erstaunt:

    Keine Ahnung. Glaubt ihr, die sagen's einem, die Hunde? Meine Nachbarn hingegen, Panzerleute in schwarzen Helmmtzen,

    verschwiegen nichts. Drei ehrliche, drei natrliche Burschen waren es, von der Art Menschen, die ich liebgewonnen hatte whrend des Krieges, selber komplizierter und auch schlechter als sie. Alle drei waren Offiziere. Auch ihnen hatte man wild und hastig die Achselstcke abgerissen, das Futter sah an manchen Stellen hervor. Helle Flecken auf den verschmutzten Blusen waren die Spuren der abgenommenen Orden, dunkle, rote Narben an den Hnden und in den Gesichtern - die Male von Verwundungen und Verbrennungen. Zu ihrem Pech war ihre berholungsbedrftige Abteilung ins selbe Dorf eingezogen, in dem die Abwehr Smersch der 48. Armee in Quartier lag. Abgespannt vom Gefecht, das vorgestern war, hatten sie gestern ber den Durst getrunken und waren etwas abseits vom Dorf in einen Badeschuppen eingebrochen, in den sie zwei aufreizende Weibsbilder sich einsperren sahen. Mit ihren torkelnden Verehrern hatten die Mdchen leichtes Spiel: drftig bekleidet, aber heil, liefen sie davon. Doch es stellte sich heraus, da die eine nicht irgendwem, sondern dem Chef der Armeeabwehr persnlich gehrte.

    Ja! Nach drei Wochen Krieg in Deutschland wuten wir Bescheid: Wren die Mdchen Deutsche gewesen - jeder htte sie vergewaltigen, danach erschieen drfen, und es htte als kriegerische Tat gegolten; wren sie Polinnen oder unsere verschleppten Russenmdel gewesen - man htte sie zumindest nackt bers Feld jagen drfen und ihnen auf die Schenkel klatschen... ein Spa, nichts weiter. Da aber die Betreffende die Feld- und Armeegattin des Abwehrchefs war, konnte ein beliebiger Sergeant

  • aus dem Hinterland herkommen und den drei Frontoffizieren boshaft grinsend die Achselstcke runterreien, die ihnen laut Frontbefehl zustanden, die Orden abnehmen, die ihnen das Prsidium des Obersten Sowjet verliehen hatte; und die drei Krieger, die vom ersten Tag an dabei waren und vielleicht manch eine feindliche Befestigungslinie zu durchbrechen halfen, erwartete nun das Militrtribunal, das ohne ihren Panzer, es ist denkbar, in diesem Dorf sich erst gar nicht htte einrichten knnen.

    Die lfunzel lschten wir aus; sie hatte sowieso schon alles verbraucht, was es fr uns noch zum Atmen gab. In die Tr war ein postkartengroes Guckloch geschnitten, durch das aus dem Gang ein Schimmer von Licht drang. Als frchteten die drauen, es wrde uns mit Tagesanbruch allzu bequem werden, setzten sie uns alsbald einen fnften herein. Er trat ein, in nagelneuer Soldatenuniform, die Mtze ebenso neu, und offenbarte uns, als er den Kopf vors Guckloch hielt, ein stupsnasiges, frisches rotwangiges Mondgesicht.

    Woher kommst du, Bruderherz? Was bist du? Von der anderen Seite, antwortete er frhlich. Ein Spion. Mach Witze! Wir waren baff. (Ein Spion, der es selbst zugibt?

    Das suche einer bei Schejnin und den Brdern Tur3!) Was sollen da Witze, in Kriegszeiten! Der Junge seufzte

    bedchtig. Knnt ihr mir beibringen, wie ich aus der Gefangenschaft anders heimkommen soll?

    Er hatte mit seiner Erzhlung kaum begonnen: wie er tags zuvor von den Deutschen hinter die Frontstellungen geschickt wurde, um da zu spionieren und Brcken in die Luft zu sprengen, statt dessen aber gleich ins nchste Bataillon ging, sich zu ergeben, und wie ihm der total bermdete Bataillonskommandeur partout nicht glauben wollte und ihn zur Krankenschwester in Behandlung schickte - als jh neue Eindrcke ber uns hereinbrachen.

    Zum Austreten! Hnde auf den Rcken! schrie durch die sich ffnende Tr ein Klotz von Feldwebel, der durchaus tauglich gewesen wre, die Lafette einer 122-mm-Kanone zu ziehen.

    Auf dem Bauernhof drauen standen bereits MP-Schtzen postiert, deren Aufgabe es war, den uns gewiesenen Pfad rund um die Scheune zu bewachen. Ich kochte vor Zorn, da irgendein Feldwebellmmel es wagen konnte, uns Offizieren Hnde auf den Rcken zu befehlen, die Panzerleute aber hielten die Hnde wie geheien, und ich trottete ihnen nach.

    Hinter der Scheune war ein Quadrat Erde eingezunt, festgetretener Schnee lag noch darauf und eine Unzahl von Hufchen menschlichen Kots, so dicht und chaotisch darber verstreut, da es

  • groe Mhe machte, Platz fr seine zwei Fe zu finden. Schlielich fanden wir uns zurecht und hockten, alle fnf, an verschiedenen Stellen nieder. Zwei mrrische Soldaten hielten ihre Maschinenpistolen gegen uns Hockende im Anschlag; der Feldwebel begann, kaum da eine Minute vergangen war, uns mit schriller Stimme anzutreiben.

    Na, was ist, wollt ihr euch nicht beeilen? Bei uns geht das Austreten fix!

    Neben mir sa einer der Panzerleute, ein langer dsterer Oberleutnant aus Rostow. Sein Gesicht war schwarz angehaucht von metallischem Staub oder Rauch, trotzdem konnte man ganz deutlich die groe rote Narbe quer ber die Wange sehen.

    Wo ist denn das - bei euch? fragte er leise, ohne die Absicht zu bekunden, sich mit der Rckkehr in den kerosinverstunkenen Karzer besonders zu beeilen.

    Im Abwehrdienst Smersch! verkndete stolz und mit bermiger Emphase der Feldwebel. (Die Abwehrleute hingen mit besonderer Liebe an diesem, aus Smert schpionam - Tod den Spionen - geschmacklos zusammengebrauten Wort. Sie meinten, es wirke abschreckend.)

    Bei uns aber geht's langsam, erwiderte der Oberleutnant versonnen. Der Helm war ihm in den Nacken gerutscht, darunter kam ein Schopf noch nicht geschorener Haare zum Vorschein. Seinen frontgegerbten rauhen Hintern hielt er in die wohltuend frische Brise.

    Wo denn bei euch? herrschte ihn der Spie lauter als notwendig an.

    In der Roten Armee, antwortete aus der Hocke sehr ruhig der Oberleutnant und sah dabei den milungenen Kanonier khl abwgend an.

    So machte ich meine ersten Atemzge von der Gefngnisluft.

  • 2 Die Geschichte unserer Kanalisation

    Wenn man heutzutage ber die Willkr des Personenkults sich ergeht, bleibt man immer wieder bei den oft bemhten Jahren 1937/38 hngen. Und es prgt sich dies ins Gedchtnis ein, so als habe vorher niemand gesessen, als sei nachher keiner eingesperrt worden, alle blo 1937 und 1938.

    Ohne ber irgendeine Statistik zu verfgen, frchte ich dennoch nicht fehlzugehen, wenn ich sage, da der Strom der Jahre 37/38 weder der einzige noch auch der hauptschliche war, vielleicht nur einer von den drei groen Strmen, die die dsteren stinkigen Rohre unserer Gefngniskanalisation beinahe zum Bersten brachten.

    Vorher war der Strom der Jahre 1929/30 gewesen, ein Strom, so mchtig wie der Ob, der gut fnfzehn Millionen Muschiks (wenn nicht gar mehr) in die Tundra und in die Taiga geschwemmt hat. Doch die Bauern sind der Sprache nicht mchtig, des Schnschreibens nicht kundig, sie verfaten weder Beschwerden noch Memoiren. Die Untersuchungsrichter haben sich mit ihnen nchtens nicht abgemht. Protokolle waren fr sie zu schade - es gengte die Verordnung ihres heimatlichen Dorfsowjet. Verstrmt war dieser Strom, aufgesogen vom ewigen Frostboden, und auch die allerhitzigsten Kpfe erinnern sich kaum noch daran. Als htte er das russische Gewissen nicht einmal gestreift. Indessen war kein Verbrechen Stalins (und unser aller) schwerer als dieses gewesen.

    Und nachher gab's den Strom von 1944-46, einen Jenissej von Strom durchaus: Ganze Nationen wurden durch die Abflurohre gepumpt und dazu noch Millionen und Abermillionen von Heimkehrern aus Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit - auch dies unsere Schuld, da sie unter die Deutschen gerieten! (Das war Stalins Art, Wunden auszubrennen, damit sich rascher Schorf bilde und dem mden Leib des Volkes keine Atempause gegeben werden msse.) Doch auch in diesem Strom war berwiegend einfaches Volk; es schrieb keine Memoiren.

    Der Strom des siebenunddreiiger Jahres aber ri auch Hochgestellte und Einflureiche mit sich, Leute mit Parteivergangenheit und Menschen mit hherer Bildung; fortgeschwemmt wurden sie ins Inselreich GULAG, zurck aber blieben Wunden, in den Stdten, aus denen sie kamen. Und

  • diejenigen, die er gestreift hatte - wie viele waren es, die sich aufs Schreiben verstanden! -, schreiben denn heute alle und fhren es alle im Munde: das Jahr 37! Eine Wolga von menschlichem Leid!

    Sag aber einem Tataren, Kalmcken oder Tschetschenen: Neunzehnhundertsiebenunddreiig - er wird blo mit der Achsel zucken. Und was soll Leningrad mit dem Jahr 37, wo es vorher das fnfunddreiiger Jahr gehabt hatte? Und die zum zweiten Mal einsaen oder die Balten, soll fr sie 1948/49 leichter gewesen sein? Mgen die Eiferer der Geographie und des guten Stils nun einwenden, ich htte in Ruland manch anderen Flu vergessen - nur Geduld, noch sind die Strme nicht alle genannt, lat mir blo genug Papier. Dann werden aus den Strmen die brigen Namen flieen.

    Es ist bekannt, da jedes Organ ohne bung verkmmert. Wenn wir also wissen, da den Organen (diese widerliche

    Bezeichnung stammt von ihnen selbst), die da besungen wurden und emporgehoben ber allem Lebenden, kein winziger Fhler abstarb, sondern umgekehrt, immer neue erwuchsen, muskelstark und beweglich, drfte es uns nicht schwerfallen zu erraten, da sie stndig in bung waren.

    In den Rohren gab es Pulsschwankungen - einmal lag der Druck ber dem kalkulierten, ein andermal auch darunter, doch niemals blieben die Gefngniskanle leer. Blut, Schwei und Harn, was von uns nach der Ausquetschung brigblieb, sprudelte darin ohne Unterla. Die Geschichte dieser Kanalisation ist die Geschichte eines nicht erlahmenden Soges, einer nicht versiegenden Strmung, mit Hochwasser und Ebbe und wieder Hochwasser, und die Strme waren einmal mchtiger und dann wieder schwcher, und von allen Seiten kamen noch Bche, Bchlein, Rinnsale und einzelne mitgeschwemmte Trpfchen hinzu.

    Die im weiteren angefhrte chronologische Aufzhlung, in der mit gleicher Sorgfalt die Strme aus Millionen von Verhafteten und die Bchlein aus einfachen unscheinbaren Dutzenden vermerkt werden, ist noch lange nicht komplett, noch drftig und durch meine Mglichkeiten beschrnkt, in die Vergangenheit vorzudringen. Viele Ergnzungen werden notwendig sein, durch Menschen, die wissen und am Leben geblieben sind.

  • Bei dieser Aufzhlung ist das schwerste der Anfang. Darum schon, weil mit jedem Jahrzehnt zurck die Zeugen sprlicher werden, die Kunde verblat und sich verschleiert, der Chroniken aber gibt es keine oder nur solche hinter Schlo und Riegel. Darum auch, weil es nicht ganz gerecht scheint, die Jahre der verbitterten Hrte (Brgerkrieg) mit den ersten Friedensjahren, da Barmherzigkeit zu erwarten gewesen wre, in eine Reihe zu stellen.

    Doch schon lange vor jedem Brgerkrieg war einzusehen, da sich Ruland, so wie es war in seiner Bevlkerungsstruktur, natrlich zu keinerlei Sozialismus eignete, da es bis ber den Kopf im Dreck steckte. Einer der ersten Schlge der Diktatur traf die Kadetten (unterm Zaren - revolutionres Gift; unter der Herrschaft des Proletariats - reaktionres). Ende November 1917, zum ersten nicht zustande gekommenen Termin der Einberufung der Konstituante, wurde die Kadettenpartei4 fr vogelfrei erklrt, Verhaftungen setzten ein. Etwa um dieselbe Zeit wurde die Festnahme des Bundes der Konstituante und des Netzes der Soldatenuniversitten abgewickelt.

    Vom Sinn und Geist der Revolution ausgehend, ist es nicht schwer zu erraten, da sich in jenen Monaten die Kresty, Butyrkas und die ihnen verwandten Provinzgefngnisse mit Vertretern des schwerstbegterten Standes fllten; mit prominenten Politikern, Generlen und Offizieren; wohl auch mit Beamten der Ministerien und des Staatsapparates, die sich weigerten, den Verordnungen der neuen Macht Folge zu leisten. Zu den ersten Aktionen der Tscheka gehrte die Aushebung des Streikkomitees des Allrussischen Angestelltenbundes. Aus einem der ersten Zirkulare der NKWD im Dezember 1917: Angesichts der Sabotage der Beamten... ist von den rtlichen Stellen ein Maximum an Eigeninitiative zu entfalten, wobei keineswegs auf Konfiskationen, Zwangsmanahmen und Verhaftungen verzichtet werden soll.*

    * Vestnik NKVD (Nachrichten der NKWD), 1917, Nr. 1, S. 4.

    Und obwohl Lenin Ende 1917 zwecks Errichtung einer streng

    revolutionren Ordnung die unbarmherzige Niederwerfung aller anarchischen Versuche von Seiten verschiedener Trunkenbolde, Rowdys, Konterrevolutionre und andere Personen* forderte, das heit, die Hauptgefahr fr die Oktoberrevolution bei den Trunkenbolden vermutete, whrend sich die Konterrevolutionre irgendwo unter ferner liefen drngten - war es doch auch er, der die Aufgabe in einen breiten Rahmen stellte. In seinem am 7. und 10. Januar 1918 verffentlichten Artikel Wie soll man den Wettbewerb

  • organisieren? verkndete Lenin als gemeinsames, einheitliches Ziel die Suberung der russischen Erde von allem Ungeziefer5. Unter Ungeziefer aber verstand er nicht nur alles, was klassenfeindlich und klassenfremd war, sondern auch Arbeiter, die sich vor der Arbeit drcken, zum Beispiel, die Setzer der Petrograder Parteidruckereien. (Da ist sie, die Wirkung der zeitlichen Entfernung. Heute fllt es uns schwer zu begreifen, wieso sich Arbeiter, kaum da sie Diktatoren wurden, von der Arbeit - fr sich selbst! - zu drcken begannen.) Und weiter: ... in welchem Viertel einer groen Stadt, in welcher Fabrik, in welchem Dorf gibt es... keine... Saboteure, die sich Intellektuelle nennen? Zugegeben, die Formen der Suberungsaktion gegen Ungeziefer sollten nach Lenins in diesem Artikel dargelegten Vorstellungen recht vielfltig sein: an einem Ort ins Gefngnis stecken, am anderen die Klosetts reinigen lassen, dann wieder ihnen nach Abbung ihrer Freiheitsstrafe gelbe Psse aushndigen, schlielich mal den Parasiten erschieen; es bietet sich zur Auswahl das Gefngnis oder die Bestrafung mit schwerster Zwangsarbeit an. Die Grundarten der Bestrafung zwar vorsehend und vorsagend, berlie es der Genosse Lenin letztlich den Kommunen, den Gemeinden, die Auffindung der besten Suberungsmethoden und -mittel zum Gegenstand eines breiten Wettbewerbs zu machen.

    * Lenin, Polnoe sobranie socinenij (Gesammelte Werke), 5. Ausg., Bd. 35, S.

    66. Wer alles dieser sehr weitherzigen Bezeichnung Ungeziefer

    zugeordnet wurde, ist heute im vollen Umfang nicht mehr einzusehen: zu vielschichtig war die Bevlkerung des Russischen Reiches, und es fanden sich darunter auch abgesonderte, vllig berflssige und bis zum heutigen Tage auch schon vergessene geringfgige Gruppen. Ungeziefer waren natrlich die Semstwo-Leute6. Ungeziefer waren die Genossenschaftler. Alle Hausbesitzer. Nicht unbetrchtlich war die Zahl der Ungeziefer unter den Gymnasialprofessoren. Durchweg Ungeziefer umlagerte die Kirchenrte der Pfarrgemeinden, Ungeziefer sang in den Kirchenchren. Alle Geistlichen waren Ungeziefer, und um so mehr die Mnche und Nonnen. Aber auch jene Tolstoianer, die sich bei Dienstantritt in sowjetischen Behrden oder, sagen wir, bei der Eisenbahn weigerten, den unumgnglichen schriftlichen Eid zu leisten, der sie verpflichtete, die Sowjetmacht mit Waffen in der Hand zu verteidigen, erwiesen sich als Ungeziefer (und wir werden noch Gerichtsprozesse gegen sie erleben). Da wir schon bei Eisenbahnen sind: Eine Unmenge von Ungeziefer verbarg sich unter Eisenbahneruniformen; auch solches mute ausgerupft, bisweilen

  • auch vertilgt werden. Die Telegraphisten waren aus unerfindlichen Grnden allesamt notorisches Ungeziefer, ohne Sympathie fr die neuen Sowjets. Nichts Gutes ist auch ber den WIKSchEL zu sagen, genausowenig ber andere Gewerkschaften, die oft von arbeiterfeindlichem Ungeziefer nur so wimmelten.

    Schon jene Gruppen allein, die wir aufgezhlt haben, ergeben eine riesige Zahl - Suberungsarbeit genug fr einige Jahre.

    Und erst die vielen verdammten Intellektuellen, die rastlosen Studenten, alle Sorten von Sonderlingen, Wahrheitssuchern und Narren, von denen Ruland zu subern schon Peter I. vergeblich sich mhte - ein Hindernis immer fr jedes wohlgeordnete strenge Regime!

    Unmglich wre es gewesen, diese sanitre Suberungsaktion, zumal im Kriege, vermittels der veralteten Prozeformen und juristischen Normen zu vollbringen. Es wurde demnach die allerneueste Form gewhlt: die auergerichtliche Abrechnung, und in selbstloser Aufopferung wurde diese undankbare Arbeit von der Tscheka bernommen, der Schildwache der Revolution, einem in der Menschheitsgeschichte einmaligen Straforgan, das in einer einzigen Instanz die Kompetenzen der Bespitzelung, der Verhaftung, der Voruntersuchung, der Anwaltschaft, des Gerichts und der Urteilsvollstreckung vereinte.

    1918 ging man daran, zwecks Beschleunigung auch des kulturellen Sieges der Revolution die Heiligenreliquien zu durchstbern und herauszukippen, dazu die kirchlichen Utensilien zu requirieren. Unruhen kamen auf; das Volk wehrte sich gegen die Plnderung von Kirchen und Klstern. Da und dort luteten die Glocken Alarm, und die Christenmenschen kamen herbeigelaufen, manche auch mit Holzprgeln. Verstndlicherweise muten etliche an Ort und Stelle niedergemacht, andere verhaftet werden.

    Heutige berlegungen ber die Jahre 1918-20 bringen uns in Verlegenheit: Sind auch all jene den Gefngnisstrmen zuzurechnen, die noch vor der Gefngniszelle umgelegt wurden? Und in welche Rubrik mit jenen, die von den Kombeds7 an der Scheunenwand des Dorfsowjet oder in den Hinterhfen liquidiert wurden? Und die Teilnehmer an den zuhauf entlarvten Verschwrungen in den Provinzen, fr jedes Gouvernement eine eigene (zwei in Rjasan, je eine in Kostroma, Wyschnewolozk, Welisch, einige im Kiewer Gebiet, einige um Moskau, je eine in Saratow, Tschernigow, Astrachan, Seliger, Smolensk, Bobruisk, Tambow, eine in der Kavallerie und weitere in Tschembary, Welikije Luki, Mstislawl und so fort)? Haben sie auch nur mit einem Fu das Inselreich betreten, oder waren sie nicht mehr dazugekommen, gehren somit nicht zum Gegenstand

  • unserer Untersuchung? Von der Niederwerfung einiger berhmter Revolten abgesehen (Jaroslawl, Murom, Rybinsk, Arsamas), kennen wir manche Ereignisse blo ihrem Namen nach - zum Beispiel das Gemetzel von Kolpino im Juni 1918 - was? warum? wer? wen?... Wohin das eintragen also?

    Nicht minder schwer fllt auch diese Entscheidung: Wohin - in die Gefngnisstrme oder in die Bilanz des Brgerkrieges - gehren die Zehntausende von Geiseln, jene persnlich keiner Verbrechen angeklagten, namentlich nicht einmal mit Bleistift in Listen aufnotierten friedlichen Brger, deren Vernichtung zur Abschreckung erfolgte und aus Rache an den militrischen Feinden oder den aufstndischen Massen. Nach dem 30. August 19188 wies die NKWD die lokalen Stellen an, sofort alle rechten Sozialrevolutionre zu verhaften und von den Bourgeois und Offizieren eine ansehnliche Zahl von Geiseln zu nehmen. (Na, geradeso, als wenn nach dem Zarenattentat der Alexander-Uljanow-Gruppe nicht nur ihre Mitglieder allein verhaftet worden wren, sondern noch alle Studenten in Ruland und eine ansehnliche Zahl von Semstwo-Leuten dazu.) Mit Beschlu des Verteidigungsrates vom 15. Februar 1919 - offensichtlich unter Lenins Vorsitz? - wurde der Tscheka und der NKWD nahegelegt, als Geiseln Bauern jener Gegenden zu nehmen, wo die Freilegung der Eisenbahngeleise von Schneeverwehungen nicht ganz zufriedenstellend vor sich geht, damit sie, falls die Arbeiten nicht durchgefhrt werden, erschossen werden knnen. Auf Beschlu des Rates der Volkskommissare Ende 1920 wurde es gestattet, auch Sozialdemokraten als Geiseln zu nehmen.

    Allemal uns beschrnkend, das heit, nur die gewhnlichen Verhaftungen im Auge behaltend, mssen wir doch vermerken, da bereits mit Frhjahr 1918 der langjhrige ununterbrochene Strom der verrterischen Sozialisten seinen Anfang nahm. Alle diese Parteien - die Sozialrevolutionre, die Menschewiki, Anarchisten und Volksrevolutionre, die hatten samt und sonders ihre revolutionre Gesinnung blo vorgetuscht, jahrzehntelang als Tarnmaske gebraucht - in die Katorga9 gingen sie auch nur deswegen, aus Verstellung. Und erst im Schwung der Revolution offenbarte sich das brgerliche Urwesen dieser Sozialverrter. Was war also natrlicher, als ihre Festnahme in Angriff zu nehmen! Bald nach den Kadetten, nach der Sprengung der Konstituierenden Versammlung und der Entwaffnung des zaristischen Preobraschenski-Leibgarderegiments und anderer ging man nach und nach, ganz still und leise daran, der Sozialrevolutionre samt der Menschewiki habhaft zu werden. Ab 14. Juni 1918, dem Tag, da sie aus allen Sowjets ausgeschlossen

  • wurden, gingen diese Verhaftungen flssiger und geordneter vonstatten. Am 6. Juli folgten die linken Sozialrevolutionre nach, denen es gelungen war, sich hinterlistiger und lnger als Verbndete der einzigen konsequenten Partei des Proletariats zu tarnen. So fgte es sich seither: Nach jeder Arbeiterunruhe, nach jedem Unmutsausbruch, nach jedem Streik, ganz egal, wo's passierte (und es waren ihrer bereits im Sommer 1918 viele, und im Mrz 1921 erschtterten sie Petrograd, Moskau, dann Kronstadt und erzwangen die NEP), folgten den Beschwichtigungen und Zugestndnissen, der Erfllung von berechtigten Arbeiterforderungen die nchtlichen lautlosen Streifzge der Tscheka gegen die Menschewiki und die Sozialrevolutionre als die wahren Urheber dieser Unruhen. Im Sommer 1918, im April und Oktober 1919 fanden massive Verhaftungen der Anarchisten statt. 1919 wurde der gesamte greifbare Teil des Sozialrevolutionren Zentralkomitees festgesetzt - und sie blieben in der Butyrka bis zu ihrem Proze von 1922. Im selben Jahr 1919 schrieb der prominente Tschekist Lazis ber die Menschewiki: Diese Leute sind fr uns mehr als strend. Darum wischen wir sie von unserem Weg fort, damit wir nicht darber stolpern... Wir setzten sie an einem stillen rtchen fest, in der Butyrka; dort mgen sie eine Weile bleiben, bis der Kampf zwischen Arbeit und Kapital beendet ist. 1919 wurden auch die Delegierten des parteilosen Arbeiterkongresses verhaftet (der darum nicht stattfand).

    In vollem Umfang erkannt wurde auch schon 1919 die Verdchtigkeit der aus dem Ausland heimkehrenden Russen (wozu? in wessen Auftrag?) - aus diesem Grunde verhaftete man die aus Frankreich heimkehrenden Offiziere des russischen Expeditionskorps.

    Ebenfalls im neunzehner Jahr wurden im weiten Umkreis um die echten und die Pseudoverschwrungen (Nationales Zentrum, Militrverschwrung) in Moskau, Petrograd und anderen Stdten Erschieungen nach Listen durchgefhrt (das heit, es wurden freie Menschen gleich zur Erschieung ausgehoben) und einfach Intellektuelle, die sogenannten Prokadetten, in die Gefngnisse gefegt. Was bedeutet das aber: Prokadetten? Nicht monarchistisch und nicht sozialistisch, somit also: alle akademischen Kreise, alles rund um die Universitten, Knstler, Schriftsteller und was es an Ingenieuren gab. Auer den extremen Schriftstellern, den Theologen, und Theoretikern des Sozialismus, war die brige Intelligenz zu achtzig Prozent prokadettisch. Hierzu gehrte nach Lenins Meinung auch Korolenko - ein jmmerlicher Spieer, befangen in brgerlichen Vorurteilen; es ist keine Snde, >Talente< dieser Art fr ein paar Wochen ins Gefngnis zu setzen. Von einigen verhafteten Gruppen

  • erfahren wir aus Protestschreiben Gorkis. Am 15. September 1919 antwortete ihm Lenin: ... fr uns liegt klar auf der Hand, da auch hierbei Fehler gemacht wurden, aber welches Unglck, meiner Seele! Welche Ungerechtigkeit!; schlielich gibt er Gorki den Rat, sich nicht durch das Gewinsel verrotteter Intellektueller aufreiben zu lassen10.

    Im Januar 1919 wurden die Verordnungen ber die Lebensmittelaufbringung erlassen und fr die Durchfhrung Spezialabteilungen - Prodotrjady - geschaffen. Im Dorf stieen sie allerorts auf Widerstand, hier auf beharrliches Ausweichen, dort auf strmische Ablehnung. Die Beseitigung dieser Gegenwirkung ergab (die an Ort und Stelle Erschossenen nicht mit eingerechnet) einen ebenfalls beachtlichen Strom von Verhafteten: er kam zwei Jahre nicht zum Versiegen.

    Ganz bewut bergehen wir hier jenen groen Teil der Zermahlungsaktionen der Tscheka, Sonderabteilungen und Revolutionstribunale, welcher mit dem Vorrcken der Frontlinie, mit der Einnahme von Stdten und Landstrichen zusammenhing. Die nmliche NKWD-Direktive vom 30. August 1918 lenkte die Bemhungen auf die unbedingte Erschieung aller in weigardistische Arbeit verwickelten Personen. Dennoch wei man manchmal nicht recht, wo die genaue Trennlinie ziehen. Da beginnend mit Sommer 1920, als der Brgerkrieg noch nicht ganz und nicht berall, am Don jedoch bereits beendet war, von dorther, aus Rostow und Nowotscherkassk, in groen Mengen Offiziere nach Archangelsk gebracht werden und danach mit Schleppkhnen auf die Solowki11 (es heit auch, einige Khne seien im Weien, wie brigens auch im Kaspischen Meer versenkt worden) - gehrt das noch zum Brgerkrieg oder schon zum Beginn des friedlichen Aufbaus? Und die Erschieung der schwangeren Frau eines Offiziers wegen Nichtanzeige desselben, geschehen im gleichen Jahr in Nowotscherkassk - in welcher Kategorie soll dies abgebucht werden?

    Vom Mai 1920 stammt der Beschlu des Zentralkomitees ber die Diversionsttigkeit im Hinterland. Aus Erfahrung wissen wir, da jeder derartige Beschlu den Impuls fr einen neuen allumfassenden Hftlingsstrom gibt.

    Besondere Schwierigkeiten (aber auch besondere Vorzge) ergaben sich bis 1922 bei der Organisierung aller Strme aus der Nichtexistenz eines Strafkodex, eines wie immer gearteten Systems von Strafgesetzen. Einzig vom revolutionren (allerdings immer unfehlbaren!) Rechtsbewutsein lieen sich die Ausheber und

  • Kanalisatoren in ihren Entscheidungen leiten: Wo zupacken und was mit den Leuten tun?

    In dieser bersicht werden die Strme der Kriminellen und Bytowiki12 auer acht gelassen, daher sei blo daran erinnert, da die allgemeine Not und die Mngel bei der Reorganisierung des Verwaltungsapparates, der Behrden und der Gesetzgebung nur das ihre dazu beitrugen, die Zahl der Diebsthle, Raubberflle, Vergewaltigungen und Bestechungen zu vergrern, bzw. das Spekulantentum aufblhen zu lassen. Obgleich fr den Bestand der Republik weniger gefhrlich, wurden auch diese kriminellen Verbrechen teilweise geahndet; die daraus entspringenden Hftlingsstrme vergrerten die Strme der Konterrevolutionre. Freilich gab es auch noch, wie uns das von Lenin am 22. Juli 1918 unterzeichnete Dekret des Sownarkom erlutert, ein Spekulantentum rein politischer Natur: Wer sich des gewerbsmigen Ver- und Ankaufs, bzw. der zum Zwecke des Verkaufs erfolgten Lagerung von Nahrungsmitteln, welche dem Monopol der Republik unterstehen, schuldig macht*,... Freiheitsentzug von mindestens zehn Jahren, bei gleichzeitiger Verhngung schwerster Zwangsarbeit, sowie Beschlagnahme des gesamten Vermgens.

    * Der Bauer lagert Getreide zum gewerbsmigen Verkauf: Was ist das denn fr

    ein Gewerbe? Beginnend mit jenem Sommer hatte das Dorf in bermiger

    Anspannung aller Krfte Jahr um Jahr die Ernte unentgeltlich abzuliefern. Bauernaufstnde waren die Folge, und das bedeutete ihre Niederwerfung und neue Verhaftungen*. Wir wissen (wissen nicht...), da 1920 der Proze des Sibirischen Bauernbundes stattfand; Ende 1920 erfolgte auch die vorlufige Zerschlagung des Bauernaufstandes von Tambow. (Dort gab es kein Gerichtsverfahren.)

    * Es wurde tatschlich der arbeitswilligste Teil des Volkes vernichtet.

    (Korolenko, Brief an Gorki vom 10. 8. 1921.) Doch der Hauptanteil des in den Tambower Drfern requirierten

    Menschenmaterials entfllt auf den Juni 1921. ber das ganze Tambower Gouvernement waren Konzentrationslager fr die Familien der aufstndischen Bauern verstreut. Offenes Feld wurde mit Stacheldraht eingezunt, drei Wochen lang wurde jede Familie dahintergesperrt, auf den bloen Verdacht hin, da das Familienoberhaupt bei den Aufstndischen sein knnte. Wenn sich der Bauer nicht innerhalb der drei Wochen stellte, die Familie nicht um

  • den Preis seines Lebens loskaufte, schickte man die Angehrigen in die Verbannung.

    Noch zuvor, im Mrz 1921, wurden, auf dem Umweg ber die Trubezkoi-Bastionen der Peter-Paul-Festung, die Matrosen des aufstndischen Kronstadt, abzglich der Erschossenen, auf die Inseln des Archipels gebracht.

    Jenes Jahr 1921 wurde vom Befehl der Tscheka, Nr. 10, vom 8. Januar 21 eingeleitet: In bezug auf die Bourgeoisie sind die Repressionen zu verschrfen! Nun, da der Brgerkrieg zu Ende war, hie es nicht, die Repressionen abzuschwchen, sondern: sie zu verschrfen! Wie sich dies in der Krim abspielte, ist uns durch einige Gedichte von Woloschin berliefert worden.

    Im Sommer 1921 wurde das Hilfskomitee fr die Hungernden (Kuskowa, Prokopowitsch, Kischkin u. a.) verhaftet, das versuchte, die auf Ruland einstrmende ungeheure Hungersnot einzudmmen. Es waren, so stellte sich heraus, diese nahrungspendenden Hnde nicht von jener Art Hnde, welchen man erlauben durfte, den Hungernden Essen zu bringen. Der gnadenweise verschont gebliebene Komiteevorsitzende, der sterbende Korolenko, nannte die Vernichtung des Komitees die rgste Sorte von Politikasterei - Politikasterei, die von der Regierung ausgeht (Brief an Gorki vom 14. September 1921). Korolenko war es auch, der uns auf eine wesentliche Eigenschaft der Gefngnisse von 1921 hinweist: Sie sind ganz von Typhus durchdrungen. Dies besttigten die Skripnikowa und andere, die damals saen.

    Im Jahre 1921 wurden nun auch schon Verhaftungen von Studenten vorgenommen (zum Beispiel in der Timirjasew-Akademie, die Gruppe um J. Dojarenko) - wegen Kritik an den Verhltnissen (keine ffentliche, nur eine im Freundeskreis geuerte). Solche Flle gab's offensichtlich noch nicht viele, denn die besagte Gruppe wurde von Menschinski und Jagoda persnlich verhrt.

    Im selben 1921 wurden die Verhaftungen der Anderparteimitglieder erweitert und ins rechte Lot gebracht. Im Grunde waren ja alle politischen Parteien Rulands, die regierende ausgenommen, bereits erledigt. (Oh, wer andern eine Grube grbt...!) Um aber den Verfall der Parteien unabnderlich zu machen, muten auch noch die Mitglieder dieser Parteien, die Krper dieser Mitglieder dem Verfall preisgegeben werden.

    Keinem einzigen Brger des Russischen Reiches gelang es, so er irgendwann einer anderen, nicht der bolschewistischen Partei beigetreten war, seinem Schicksal zu entgehen; er war geliefert (wenn er sich nicht rechtzeitig, wie Maiski oder Wyschinski, an den

  • Rettungsseilen des Untergangs zu den Kommunisten hinberzuhangeln verstand). Vielleicht entging er dem ersten Schub, vielleicht lebte er (je nach dem Grad seiner Gefhrlichkeit) bis zum Jahre 1922, bis 1932, bis 1937 sogar, doch die Listen blieben aufbewahrt, die Reihe rckte vor, die Reihe kam an ihn, er wurde verhaftet oder auch nur liebenswrdig zu einem Gesprch eingeladen, das aus einer einzigen Frage bestand: Waren Sie Mitglied... von... bis...? (Es gab auch Fragen betreffs seiner feindseligen Ttigkeit, doch schon mit der ersten war, wie uns heute, nach Jahrzehnten, klar ist, alles entschieden.) Das weitere konnte differieren. Manche verschlug ihr Schicksal in eines der berhmten zaristischen Zentralgefngnisse (glcklicherweise waren sie alle bestens erhalten geblieben, so da manch ein Sozialist in dieselbe vertraute Zelle kam und zum selben vertrauten Aufseher). Anderen bot man die Verbannung an - ach, nur fr kurze Zeit, fr zwei, drei Jahre nur. Und noch sanfter: nur ein Minus eingetragen zu bekommen (minus soundso viele Stdte), selber sich den Wohnort whlen zu drfen, doch danach, bitte schn, hast du an diesem Ort regungslos zu verweilen und dortselbst der Willensbekundung der GPU zu harren.

    Diese Operation erstreckte sich ber viele Jahre, denn ihre wichtigste Voraussetzung waren Stille und Unaufflligkeit. Wichtig war es, unbeirrt die Suberung von Moskau, Petrograd, den Hafenstdten und Industriezentren, spter einfach aller Provinzen von jeder Sorte Sozialisten voranzutreiben. Es war eine grandiose lautlose Patience, deren Regeln von den Zeitgenossen berhaupt nicht begriffen wurden und deren Ausmae wir erst jetzt richtig einzuschtzen verstehen. Irgendwessen weitblickender Verstand hat dies geplant, irgendwessen verlliche Hnde fingen, ohne auch nur einen Augenblick zu passen, das Karteiblatt auf, das drei Jahre lang in einem Hufchen lag, und lieen es sachte auf ein anderes Hufchen nieder. Wer seine Zeit im Zentral abgesessen hatte, kam in die Verbannung (recht weit weg), wer das Minus hinter sich gebracht hatte - ebenfalls in die Verbannung (jedoch aus der Sichtweite des Minus), aus einer Verbannung in die andere, dann wieder in das Zentral (ein neues diesmal); die Patienceleger zeigten unendliche Geduld. Ohne Lrm, ohne viel Aufhebens verloren sich allmhlich die Mitglieder anderer Parteien, es rissen die Fden, die sie mit den Menschen und den Orten verbanden, an denen man sie und ihre revolutionre Ttigkeit kannte - so wurde unmerklich und unaufhaltsam die Vernichtung derer vorbereitet, die einst auf Studentenversammlungen Krach schlugen und stolz mit den Zarenketten klirrten. Korolenko schrieb an Gorki (29. 6. 21): Die Geschichte wird einmal feststellen knnen, da die bolschewistische

  • Revolution gegen die aufrechten Revolutionre und Sozialisten die gleichen Mittel der Gewalt anwandte wie der Zarismus, das heit, rein polizeiliche.

    Im Zuge dieser Groen Patience wurde die Mehrzahl der ehemaligen politischen Hftlinge vernichtet, denn gerade die Sozialrevolutionre und die Anarchisten, nicht die Sozialdemokraten, erhielten unter dem Zaren die hrtesten Strafen, gerade sie bildeten die Urbevlkerung der alten Katorga.

    Die zeitliche Abwicklung der Vernichtung war allerdings gerecht: In den zwanziger Jahren wurden sie aufgefordert, in schriftlicher Form ihrer Partei und ihrer Parteiideologie abzuschwren. Manche weigerten sich - und gerieten verstndlicherweise in die erste zu vernichtende Partie, andere widerriefen - und gewannen dadurch einige Jahre Leben. Doch es nahte unerbittlich auch ihre Stunde, und unerbittlich kam auch ihr Kopf unters Rad*. Im Herbst 1922 entschied die eben in GPU umbenannte Sonderkommission fr die Bekmpfung der Konterrevolution, da es an der Zeit sei, sich um Kirchenbelange zu kmmern. Da stand nun auch die kirchliche Revolution auf der Tagesordnung: Die Leitung mute abgesetzt und eine neue bestellt werden, welche ein Ohr nur dem Himmel bte, das zweite indessen zur Lubjanka hinhielte. Solches versprachen die Anhnger der Lebendigen Kirche13, die aber ohne Hilfe von auen den Kirchenapparat nicht berwltigen konnten. Darum wurden der Patriarch Tichon verhaftet und zwei aufsehenerregende Prozesse mit Todesstrafen inszeniert: einer in Moskau, wegen Verbreitung des Patriarchenaufrufs, einer in Petrograd, gegen den Metropoliten Wenjamin, der sich der Machtbernahme durch die Lebendigen Kirchler in den Weg stellte. In den Gouvernements und Landkreisen wurden hier und dort Metropoliten und Erzbischfe verhaftet; den groen Fngen folgten, wie immer, Schwrme von kleineren Fischen, Oberpriestern, Mnchen und Diakonen, die in den Zeitungen unerwhnt blieben. Verhaftet wurde, wer auch unter Druck den Lebendige-Kirche-Erneuerern den Treueschwur verweigerte.

    * Da kommt einem dann und wann ein Zeitungsartikel unter die Augen, da

    einem richtig schwindelig wird. Iswestija vom 24. 5. 1959: Ein Jahr nach Hitlers Machtergreifung wurde Maximilian Hauke wegen seiner Zugehrigkeit zur (... nicht zu irgendeiner, zur...) Kommunistischen Partei verhaftet. Wurde er vernichtet? Keineswegs. Er bekam zwei Jahre. Danach natrlich abermals verurteilt? Wieder falsch. Freigelassen. Das verstehe unsereins, wie er will! Er lebte im weiteren still dahin, baute eine Untergrundgruppe auf, daher auch besagter, seiner Tapferkeit gewidmeter Artikel.

  • Die Geistlichen stellten den Pflichtteil eines jeden Jahresfanges; die silbergrauen Popenhupter waren in jeder Gefngniszelle, spter in allen nach den Solowki abgehenden Hftlingspartien zu finden.

    In die Fnge gerieten seit den frhen zwanziger Jahren auch die Gruppen von Theosophen, Mystikern, Spiritisten (die Gruppe des Grafen Pahlen hielt ihre Gesprche mit den Geistern protokollmig fest), religise Vereine, Philosophen des Berdjajewschen Kreises. En passant wurden die Ostkatholiken (die Nachfolger Wladimir Solowjews), die Gruppe der A. I. Abrossimowa, ausgehoben. Irgendwie schon ganz von selbst fanden sich Katholiken, die polnischen Pfarrer, hinter Schlo und Riegel.

    Es konnte jedoch die totale Ausmerzung der Religion in diesem Lande, eines der Hauptziele der GPU-NKWD whrend der zwanziger und dreiiger Jahre, erst durch Massenverhaftungen unter den orthodoxen Glubigen selber erreicht werden. Intensiv wurde die Aushebung, Verhaftung und Verbannung von Mnchen und Nonnen vorangetrieben, jener schwarzen Flecken auf dem frheren russischen Leben. Verhaftet und vor Gericht gestellt wurden die Aktivisten unter den Laien. Die Kreise weiteten sich mehr und mehr: Bald wurden einfach glubige Gemeindemitglieder eingefangen, alte Menschen, besonders viele Frauen, die in ihrem Glauben hartnckiger waren und nun, in den Durchgangsgefngnissen und Lagern, fr lange Zeit ebenfalls den Beinamen Nonnen erhielten.

    Es hie allerdings, da sie nicht um ihres Glaubens willen verhaftet und abgeurteilt wurden, sondern wegen der ffentlichen Bekundung ihrer berzeugungen und wegen der entsprechenden Erziehung der Kinder. So erklrte es Tanja Chodkewitsch:

    Du kannst in voller FREIHEIT beten, Doch... da nur Gott allein dich hrt.

    (Wegen dieses Gedichts bekam sie zehn Jahre.) Ein Mensch, der

    glaubt, das geistig Wahre zu erkennen, mu dies vor seinen Kindern verbergen! Die religise Erziehung der Kinder wurde in den zwanziger Jahren nach 58,10, das heit, als konterrevolutionre Agitation klassifiziert! Zugegeben, man bot den Glubigen vor Gericht eine Chance: Sie sollten blo der Religion abschwren. Es gab Flle, wenn auch wenige, wo der Vater abschwor und daheimblieb mi