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ATELIER BESUCH ULRICH MORITZ Robert Eberhardt

ATELIERBESUCH Ulrich Moritz

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Blick ins Buch! Robert Eberhardt: ATELIERBESUCH Ulrich Moritz, Berlin 2012, ISBN 978-3941461093, 9,90 Euro. www.wolffverlag.de

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AT E LI E RB E SUCH

U L R I C H MOR ITZ

Rober t Eberhardt

AT E LI E RB E SUCH

ULRICHMORITZ

Robert Eberhardt

WOLFF VERLAG

NATUROHNMACHTEN

SYSTEMA NATURAE

MIMESIS

ABBILDENDER ZEICHENAKT

LEBENSWIRKLICHKEITEN

FALSCHE ZEIT, FALSCHER ORT?

SAMMLER! UND KÜNSTLERGLÜCK

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Das Paradies kann für einige Momente ganz nah sein und ein nur un-weit von Großstadtberlin entferntes Landschaftspanorama mag ein unerwartetes Versprechen geben, die geradezu schockierende Zusage auf Idylle und Traum, auf Vollkommenheit und Naturschönes. Nach einem kalten abendlichen Regenguss hat sich der Himmel aufgetan und strahlt auf das noch frische, doch schon massige Laubmeer, auf unglaublich sanft geschwungene Hügel, die von maigrünen Wäldern und jungen Kornreihen überzogen sind. Felder und Wiesen weiten das Land und schicken Sonnenstrahlen durch soeben gefallene Trop-fen zurück in den Himmel. Im Westen blendet gleißendes Licht, denn die warme Feuchte zerstreut den Abendschein durch die Sphäre. Aus dem grellen Hell lugt der spitze Kirchturm des Dorfes Brodowin hervor und am Fuße des Berges liegt der Wesensee, auf dessen son-nengestrichener Oberfläche sich das Dunkel des südlichen Himmels schwer spiegelt. Eine atemberaubende Stimmung am Vorabend des Himmelfahrtstages 2012 offenbart sich den Augen der einsamen Be-trachter auf dem Kleinen Rummelsberg im nördlichen Barnim. Eines der Augenpaare gehört dem Naturzeichner Ulrich Moritz. Er schaut gen Süden, wo sich die Landschaft wie ein Bühnenprospekt entwi-ckelt und einem grandiosen Finale den perspektivischen Rahmen

NATUROHNMACHTEN

Der Zusammenhang der ganzen Natur würde für uns das höchste Schöne sein, wenn wir ihn einen Augenblick umfassen könnten. Jedes schöne Ganze der Kunst ist im Kleinen ein Ab-druck des höchsten Schönen im Ganzen der Natur. Der geborne Künstler begnügt sich nicht, die Natur anzuschauen; er muß ihr nachahmen, ihr nachstreben.

Karl Philipp Moritz Über die Bildende Nachahmung des Schönen

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zu geben scheint. »Genau dieser Blick bot sich so vor einhundert, zweihundert, dreihundert Jahren«, sagt er und staunt. Landschaft als entzeitlichte Erscheinung, Natur als organischer Kreislauf, ein Baum, dessen Laub sich jedes Jahr komplett erneuert, dessen Stamm von innen her wächst, sich formt und doch in unserer Betrachtung immer d ieser Baum bleibt.

Menschen mit Weitsicht sehen mehr, nicht nur über die weiten Ebenen des Barnim und der benachbarten Uckermark. Ulrich Mo-ritz ist ein Augenmensch, und in solchen ausgewählten Momenten mag ihm klar werden, welcher übergewaltigen Macht er unterliegt, wer oder was der Auftraggeber seiner der Natur und ihren Erschei-nungen zugewandten Kunst sein mag. Die Allgewalt der Schöpfung in ihrer Mannigfaltigkeit trifft den 63-Jährigen, der das Echo auf-fängt und daraus in Bescheidenheit und Ehrfurcht ein in der zeit-genössischen Kunstwelt einzigartiges, wenngleich bisher nur von einem kleinen Kreis kundig Eingeweihter gekanntes und geliebtes Werk geschaffen hat.

Ulrich Moritz nennt sich selbst einen »Naturalisten«. Sein Oeu-vre ist klar zu umreißen: Muscheln, Moose, Flechten, Steine, Falter, hin und wieder von Menschen geschaffene Objekte, doch diese meist wegen eines Interesses an deren Oberf läche und der zeichnerischen Herausforderung, ebendiese auf Papier zu übertragen. Eine Zeitlang zeichnete er Fantasiewelten und seit der Jahrtausendwende wand-te er sich auch wieder Landschaften zu, einem Sujet, dem er sich bereits als Schüler mit Bleistift und Tusche gewidmet hatte. Beein-druckt durch Licht- und Wetterstimmungen im Gang der Jahreszei-ten nahe seines Ferienhauses im Unteren Odertale, wendet er sich wieder dem Landschaftsbild zu, indem er vor der Natur Bleistifts-kizzen anlegt und diese am Zeichentisch zu Hause ausarbeitet. Seine

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Naturobjekte erscheinen stets isoliert, denn er positioniert sie nicht in ihrem Umfeld, sondern als diesem entzogene Präparate. Und er malt ausschließlich tote Dinge (außer die vegetabil intakten Land-schaften), so zum Beispiel seine Muscheln, die immer nur noch die mineralischen Spuren des einst in ihnen existierenden Organismus sind. Die Objekte seiner zeichnerischen Begierde finden über un-terschiedliche Wege zu ihrem Porträtisten: Sie zeigen sich ihm auf Spaziergängen, werden bei Trödlern angeboten oder f liegen ihm zu, wie ein Labkrautschwärmer, der sich eines Abends in sein Landhaus verirrte. Er entließ das irrende Tier zurück in die Freiheit und ent-schied sich gegen die Tötung, die er durchaus ins Auge gefasst, aber schließlich verworfen hatte. Doch am nächsten Morgen lag das In-sekt da: tot und bereit gezeichnet zu werden.

Eine Sache findet sich in Ulrich Moritz’ Bildwelten nicht. Nie-mals kam er auf die Idee, es zu studieren, zu zeichnen, es in Kompo-sitionen einzufügen oder gar zum Thema eigener Werke zu machen: den Menschen und sein Antlitz. »Es interessiert mich einfach nicht«, ist des einzelgängerisch durchs Leben streifenden Künstlers Ant-wort. Jahrelang hat Moritz autodidaktisch studiert, um seine Zei-chenpraxis zu perfektionieren, den Perlmuttglanz einer Muschel auf Papier zu bannen, diffizile Lichtstimmungen einzufangen, formal gelungene Werke zu schaffen. Menschliche Gesichter wollte er dabei zeichnerisch nie durchschauen. Vielleicht sind sie ihm zu laut. Viel-leicht bevorzugt er die leise und unaufgeregte Sprache der Stummen.

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S YSTEMA NATURAE

Die von Ulrich Moritz gezeichneten Naturobjekte sind keine ideali-sierten, auch keine historisierten Zeichnungen nach dem Geschmack alter Jahrhunderte. Sie erinnern dennoch an naturwissenschaftliche Studien der großen aufklärerischen Erfassungswut des 18. Jahrhun-derts und an die streng wissenschaftlichen Kartierungen von Pf lan-zen und Tieren im darauf folgenden Jahrhundert.

Die empirische Wissenschaft wollte in der Visualisierung von Objekten stets die »Idealform« dargestellt sehen. Ein Zeichner der an Entdeckungen und Entdeckern reichen Zeit hatte aus verschiedenen Exemplaren, etwa einer Muschel, jene charakteristischen Merkmale herauszulösen, die eine Art bestimmen und diese dann in dem ge-zeichneten Idealding zusammenzuführen. Die »Idealform« ist dabei ein antiker, naturphilosophischer Topos. Aufklärerische Wissen-schaftler, allen voran Carl von Linné, hatten es sich zum Ziel ge-setzt, mit der binären Nomenklatur Ordnung in die Welt zu bringen,

Dem Realism der ästhetischen Zweckmäßigkeit der Natur, da man nämlich annehmen möchte: daß der Hervorbringung des Schönen eine Idee desselben in der hervorbringenden Ursache, nämlich ein Zweck zu Gunsten unserer Einbildungskra! , zum Grunde gelegen habe, reden die schönen Bildungen im Reiche der organisierten Natur gar sehr das Wort. Die Blumen, Blüten, ja die Gestalten ganzer Gewächse, die für ihren eigenen Gebrauch unnötige, aber für unsern Geschmack gleichsam ausgewählte Zierlichkeit der tierischen Bildungen von allerlei Gattungen; vornehmlich die unsern Augen so wohlgefällige und reizende Mannig-faltigkeit und harmonische Zusammensetzung der Farben (am Fasan, an Schaltieren, Insekten, bis zu den gemeinsten Blumen), die, indem sie bloß die Ober" äche, und auch an dieser nicht einmal die Figur der Geschöpfe, welche doch noch zu den innern Zwecken derselben erforderlich sein könnte, betre# en, gänzlich auf äußere Beschauung abgezweckt zu sein scheinen: geben der Erklärungsart durch Annehmung wirklicher Zwecke der Natur für unsere ästhetische Urteilskra! ein großes Gewicht.

Immanuel Kant Kritik der Urteilskra!

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Allem Sichtbaren liegt das Sehen zugrunde, also Leben. Leben aber ist unsichtbar, und so auch die Welt des Leben-digen, die Welt von Bedeutung und Funktionen. Die moderne Zivilisation re! ektiert das Unsichtbare, sie ist deshalb funktionalistisch und hypothetisch. Der Funktionalismus tendiert zur virtuellen Realität. Er wird nihilistisch, wenn er nicht seine Grenze " ndet an dem, was ihn ermöglicht, am Leben selbst. Ritus und moderne Kunst sind die Wider-lager des Funktionalismus. Sie repräsentieren den Sinn als das unreduzierbar Konkrete.

Robert Spaemann Das Unsichtbare gestalten

FALSCHE ZEIT, FALSCHER ORT?

Ulrich Moritz’ Kunst ist klassisch zu nennen, da sie in Fortfolge kunstgeschichtlicher Tradition ein mittleres Stilideal erfüllt, aus ei-nem Prinzip von Mitte, Maß und Mäßigung schöpft. Ein Zeichner wie er, der sich mit unbedingter Hingabe einer Sache widmet, ist im Kunstsystem unserer Tage nicht vorgesehen – nicht mehr und noch nicht wieder. Was in den Museen hängt und in einer intellektuel-len Öffentlichkeit diskutiert wird, bestimmen Determinanten, die religiösen Dogmen gleichen, welche zwischen Richtig und Falsch, Gut und Böse unterscheiden. Die Moderne überwand zu Beginn des 20. Jahrhunderts den normativen Akademiebetrieb und warf Tra-ditionen über Bord, die sich in Jahrhunderten in teils kontroversen Diskussionen als Erwartungen an Kunst herausgebildet hatten. In-dividuelle Formfindung war das Gebot der Stunde. Heute bringen die ersten Avantgarden auf dem Kunstmarkt höchste Preise und werden von zeitgenössischen Künstlern als Patrone präsentiert und als Säulenheilige stilisiert. Wie konstruiert und widersprüchlich der aus dem Militärwesen entlehnte Begriff der Avantgarde ex tunc ist, deckte Hans Magnus Enzensberger in seinem 1962 erschiene-nen Essay Die Aporien der Avantgarde bereits auf. Was sich anfangs noch als Aus- und Aufbruch präsentierte, geriet unterdessen zu ei-