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Perspektiven 68 Forschung Frankfurt 1/2006 gelegt oder zumindest skizziert, denn ein Gen kann als Bauplan vie- ler Proteine dienen. Synthetisiert werden die Proteine, dem Knüpfen einer Kette vergleichbar, in einem minutenlangen Prozess an den Ri- bosomen des Zellplasmas. Sekun- denschnell, oft gar in Bruchteilen davon, faltet sich die eben syntheti- sierte Kette dann zu einem räumli- chen Gebilde, das sie erst funktions- fähig macht. Milliarden mal Milliarde Möglichkeiten Diese Faltung ist keine chemische Reaktion, sondern gleicht dem We- ben eines verschlungenen Musters in unzähligen Kraftfeldern zwischen den einzelnen Atomen des Mole- küls und ihrer Umgebung. Selbst ein relativ kleines Protein mit 100 Aminosäuren hätte aber 2 hoch 100 Möglichkeiten, sich im Raum zu falten, wenn die drehbaren Teile seines Rückgrats in jeweils nur zwei verschiedenen Konformationen vorlägen. Das entspricht ungefähr einer 1 mit 30 Nullen. Auch wenn ein Protein in einer Sekunde 100 Milliarden verschiedene Konforma- tionen ausprobieren kann, brauchte es demnach 100 Milliarden Jahre, um alle Möglichkeiten der Faltung zu überprüfen. Tatsächlich braucht es keine Sekunde, um seine biolo- gisch aktive Form zu finden. Um diesem Paradox zu entkommen, postulierte Cyrus Levinthal 1969 die Existenz von definierten Wegen, auf denen die Proteinfaltung zügig ablaufen könne, gleichsam geführt wie auf Schienen. »In den frühen 1970er Jahren, als ich mein Studium abschloss, war die Proteinfaltung eine der großen intellektuellen Herausforderun- gen«, erinnert sich Chris Dobson, Chemieprofessor im englischen Cambridge, der heute einer der weltbesten Forscher auf diesem Ge- biet ist und im vergangenen De- zember eine der von Sanofi-Aventis gestifteten »perspective lectures« in Frankfurt gab. Damals seien mit röntgenkristallografischen Verfah- ren erst eine Hand voll Proteine in ihrer Raumstruktur entschlüsselt Auf die Faltung kommt es an Sekundenbruchteile entscheiden über gesunde Proteinfunktion mögliche Ausgangskonfigurationen (10 16 ) kompakte Anordnung (10 10 ) Übergangszustand (10 3 ) nativer Zustand Energiefläche für die Proteinfal- tung nach einer Computersimulati- on. Wie die Pfeile andeuten, gibt es mehrere Möglich- keiten, den gefal- teten Zustand zu erreichen. Die trichterförmige Energiefläche ent- spricht der abneh- menden freien Energie. Sie sorgt dafür, dass die ge- wünschte native Form des Proteins gegenüber denatu- rierten Strukturen energetisch bevor- zugt wird. 1 deutender Baustein des Clusters »Makromolekulare Komplexe«, um dessen Förderung sich die Universi- tät Frankfurt im Rahmen der bun- desweiten Exzellenzinitiative mit guten Erfolgsaussichten bewirbt. Proteine sind die wichtigsten Moleküle des Lebens. Sie stützen das Skelett und steuern die Sinne, sie bewegen Muskeln und empfan- gen Signale, sie verdauen Nahrung, heilen Wunden und verarbeiten Gefühle. Sie sind rund wie ein Wollknäuel oder lang wie ein Zopf, fest wie ein Stahlseil oder elastisch wie ein Gummiband. Vor allem als Enzyme sind sie die unentbehrli- chen Spielmacher des Lebens, denn diese Biokatalysatoren ermöglichen Reaktionen, die sonst, wenn über- haupt, millionenfach langsamer ab- liefen. Ihre unvorstellbare Vielfalt gewinnen die Proteine aus einem Bausatz von nur 20 Grundelemen- ten, den Aminosäuren. Die Reihenfolge der Aminosäu- ren eines Proteins ist genetisch fest- T heorie und Therapie sind manchmal nur wenige Schritte voneinander entfernt. So ist es von den Regeln der Proteinfaltung bis zu einer kausalen Therapie von Alzheimer wahrscheinlich nicht weit. Das Problem ist nur, dass bis heute niemand diese Regeln genau kennt, wenngleich seit 50 Jahren nach ihnen gesucht wird. Immer- hin zeichnen sich allmählich die Konturen einer Theorie der Pro- teinfaltung ab – wozu die Arbeits- gruppe von Harald Schwalbe, Pro- fessor für Strukturelle Chemie und Biologie und Dekan des Fachbe- reichs Biochemie, Chemie und Pharmazie wichtige Beiträge liefert. Die NMR-Spektroskopie, sein wich- tigstes Werkzeug zur Strukturanaly- se von Proteinen, ist als Quer- schnittstechnologie überdies ein be-

Auf die Faltung kommt es an - forschung-frankfurt.uni ... · renkette sich zu einem Protein fal-ten, dessen Energiegehalt höher ist als der eigene. Ein Protein faltet sich immer

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Page 1: Auf die Faltung kommt es an - forschung-frankfurt.uni ... · renkette sich zu einem Protein fal-ten, dessen Energiegehalt höher ist als der eigene. Ein Protein faltet sich immer

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gelegt oder zumindest skizziert,denn ein Gen kann als Bauplan vie-ler Proteine dienen. Synthetisiertwerden die Proteine, dem Knüpfeneiner Kette vergleichbar, in einemminutenlangen Prozess an den Ri-bosomen des Zellplasmas. Sekun-denschnell, oft gar in Bruchteilendavon, faltet sich die eben syntheti-sierte Kette dann zu einem räumli-chen Gebilde, das sie erst funktions-fähig macht.

Milliarden mal Milliarde Möglichkeiten

Diese Faltung ist keine chemischeReaktion, sondern gleicht dem We-ben eines verschlungenen Mustersin unzähligen Kraftfeldern zwischenden einzelnen Atomen des Mole-küls und ihrer Umgebung. Selbstein relativ kleines Protein mit 100Aminosäuren hätte aber 2 hoch100 Möglichkeiten, sich im Raumzu falten, wenn die drehbaren Teileseines Rückgrats in jeweils nur zweiverschiedenen Konformationenvorlägen. Das entspricht ungefähreiner 1 mit 30 Nullen. Auch wennein Protein in einer Sekunde 100Milliarden verschiedene Konforma-tionen ausprobieren kann, brauchtees demnach 100 Milliarden Jahre,um alle Möglichkeiten der Faltungzu überprüfen. Tatsächlich brauchtes keine Sekunde, um seine biolo-gisch aktive Form zu finden. Umdiesem Paradox zu entkommen,postulierte Cyrus Levinthal 1969die Existenz von definierten Wegen,auf denen die Proteinfaltung zügigablaufen könne, gleichsam geführtwie auf Schienen.

»In den frühen 1970er Jahren,als ich mein Studium abschloss, wardie Proteinfaltung eine der großenintellektuellen Herausforderun-gen«, erinnert sich Chris Dobson,Chemieprofessor im englischenCambridge, der heute einer derweltbesten Forscher auf diesem Ge-biet ist und im vergangenen De-zember eine der von Sanofi-Aventisgestifteten »perspective lectures« inFrankfurt gab. Damals seien mitröntgenkristallografischen Verfah-ren erst eine Hand voll Proteine inihrer Raumstruktur entschlüsselt

Auf die Faltung kommt es anSekundenbruchteile entscheiden über gesunde Proteinfunktion

mögliche Ausgangskonfigurationen (1016)

kompakteAnordnung (1010)

Übergangszustand (103)

nativerZustand

Energieflächefür die Proteinfal-tung nach einerComputersimulati-on. Wie die Pfeileandeuten, gibt esmehrere Möglich-keiten, den gefal-teten Zustand zuerreichen. DietrichterförmigeEnergiefläche ent-spricht der abneh-menden freienEnergie. Sie sorgtdafür, dass die ge-wünschte nativeForm des Proteinsgegenüber denatu-rierten Strukturenenergetisch bevor-zugt wird.

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deutender Baustein des Clusters»Makromolekulare Komplexe«, umdessen Förderung sich die Universi-tät Frankfurt im Rahmen der bun-desweiten Exzellenzinitiative mitguten Erfolgsaussichten bewirbt.

Proteine sind die wichtigstenMoleküle des Lebens. Sie stützendas Skelett und steuern die Sinne,sie bewegen Muskeln und empfan-gen Signale, sie verdauen Nahrung,heilen Wunden und verarbeitenGefühle. Sie sind rund wie einWollknäuel oder lang wie ein Zopf,fest wie ein Stahlseil oder elastischwie ein Gummiband. Vor allem alsEnzyme sind sie die unentbehrli-chen Spielmacher des Lebens, denndiese Biokatalysatoren ermöglichenReaktionen, die sonst, wenn über-haupt, millionenfach langsamer ab-liefen. Ihre unvorstellbare Vielfaltgewinnen die Proteine aus einemBausatz von nur 20 Grundelemen-ten, den Aminosäuren.

Die Reihenfolge der Aminosäu-ren eines Proteins ist genetisch fest-

Theorie und Therapie sindmanchmal nur wenige Schritte

voneinander entfernt. So ist es vonden Regeln der Proteinfaltung biszu einer kausalen Therapie vonAlzheimer wahrscheinlich nichtweit. Das Problem ist nur, dass bisheute niemand diese Regeln genaukennt, wenngleich seit 50 Jahrennach ihnen gesucht wird. Immer-hin zeichnen sich allmählich dieKonturen einer Theorie der Pro-teinfaltung ab – wozu die Arbeits-gruppe von Harald Schwalbe, Pro-fessor für Strukturelle Chemie undBiologie und Dekan des Fachbe-reichs Biochemie, Chemie undPharmazie wichtige Beiträge liefert.Die NMR-Spektroskopie, sein wich-tigstes Werkzeug zur Strukturanaly-se von Proteinen, ist als Quer-schnittstechnologie überdies ein be-

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gewesen, und die Vorstellung, siekünftig theoretisch aus ihrer Ami-nosäuresequenz ableiten zu kön-nen, war verlockend. Beflügeltwurde diese Vorstellung auch durchdie Verleihung des Chemie-Nobel-preises 1972 an Christian Anfinsen –für den experimentellen Nachweis,dass es allein die Aminosäurese-quenz eines Proteins ist, die eindeu-tig die Form, zu der es sich faltet,festlegt. Aber wie sollte man diesenCode knacken, mit dem eine Ami-nosäurenkette astronomisch vielenAlternativen pfeilschnell die richti-ge entwand?

Der Kreisel im Innern des Kerns

Solange es keine Verfahren gab, mitdenen man die natürliche Strukturvon Proteinen in flüssiger Lösungbeobachten und damit ihre Faltungnachvollziehen konnte, war an eineexperimentelle Antwort auf dieseFrage nicht zu denken. Denn Rönt-genstrukturanalysen waren nur mitProteinkristallen möglich. Sie liefer-ten eingefrorene Standbilder, struk-turell korrekt, aber ohne Dynamik.Solange man keine Rechner hatte,deren Kapazität ausreichte, um diemöglichen Wege der Faltung zu-mindest streckenweise in einerComputersimulation nachspielenzu können, war an eine theoreti-sche Antwort nicht zu denken. DieLeistung der Rechner folgte dannjedoch tatsächlich der MooreschenVorhersage und stieg exponentiellan – und die Kernresonanzmagnet-spektroskopie (NMR) wurde zu ei-ner Perfektion entwickelt, die es1984 zum ersten Mal erlaubte, dieStruktur eines gelösten Proteins zubestimmen.

Das NMR-Verfahren macht sichdabei den inneren Magnetismusmancher Atomkerne zunutze, be-vorzugt von Wasserstoffatomen.Dieser kommt zur Geltung, wennein starkes Magnetfeld von außenangelegt wird: Die betreffendenAtomkerne richten sich parallel zudiesem Feld aus. Bestrahlt man eineProteinprobe in einem Magnetfeldnun mit elektromagnetischen Wel-len im Radiofrequenzbereich, dannerhalten die dafür empfänglichenAtomkerne einen Stoß aus ihremparallelen Grundzustand heraus.Sie werden mit Energie aufgeladenwie ein Kreisel, dem man einenDrall versetzt, damit er beim Loslas-sen beginnt, auf dem Boden zu tan-

zen. Beim schnellen Dreh zurück inden Grundzustand emittieren dieAtomkerne eine radiofrequenteStrahlung, die man messen und ineinem Spektrum darstellen kann.

Die Frequenz der emittiertenStrahlen ist abhängig von der Artder Atomkerne und von der Stärkedes angelegten Magnetfelds – undauch davon, welche anderen Ato-me dem emittierenden Kern be-nachbart sind. Deshalb senden che-misch identische Kerne – abhängigvon ihrer Umgebung – verschiede-ne Signale aus, was die Analysekomplexer Strukturen überhaupterst ermöglicht. Durch allerlei ma-thematische Kunstgriffe und auf-wändige Rechenoperationen kön-nen die Forscher so den Abstandzwischen den Wasserstoffatomenbestimmen. Aus der Verknüpfungdieser Kenntnisse mit der Primär-struktur des untersuchten Proteinskann dessen dreidimensionaleStruktur erschlossen werden.

Ein Fluss fließt nicht bergauf

In den Pionierjahren der NMR-Proteinstrukturanalysen begannHarald Schwalbe, in Frankfurt Che-mie zu studieren. Bald faszinierte

ihn das Potenzial dieser Technologie– und auch der Vergleich zwischenRöntgen- und NMR-Analyse, diedie beiden Nobelpreisträger RobertHuber (1988) und Kurt Wüthrich(2002) am Beispiel des ProteinsTentamestat vornahmen. Fast iden-tisch waren die Strukturbestim-mungen der beiden – nur der Tyro-sinrest an Position 15 wurde ver-schieden verortet, weil er in Lösungseine intramolekulare Dynamikzeigt. Eine ähnliche Dynamik eini-ger Seitenketten der RibonucleaseT1 beobachtete Schwalbe mit Hilfeeiner bestimmten NMR-Variante inseiner Doktorarbeit, die er 1993 ab-schloss. Diese Beobachtung ließ ihnnicht los. »Ich wollte jetzt den dy-namischsten aller Zustände unter-suchen, den entfalteten«, berichteter. Bei der Beobachtung statischerZustände habe man einen stabilenRahmen für alle Parameter, für fle-xible Zustände müsse man diesenerst entwickeln. Also habe er sichbei Chris Dobson, der damals nochin Oxford lehrte, um eine Post-Doc-Stelle beworben und ihm gesagt:»Ich möchte ein Modell entwi-ckeln, um die Struktur eines entfal-teten Proteins zu beschreiben.« Drei

Kristall

NativerZustand

I

U

Oligomer

Ungeordnetes Aggregat

Synthese

Abgebaute Bruchstücke

Amyloid Fibrille

PrefibrilläreArten

Ungeordnete Aggregate

Faser

Verschiedene Zustände, die ein Protein einnehmen kann

Die Herausfor-derung für dietheoretische Ana-lyse besteht darin,Strukturen, ener-getische Prozesseund kinetische Ei-genschaften allerZustände zu defi-nieren, die einProtein unter be-stimmten Bedin-gungen einneh-men kann.

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Jahre später veröffentlichten diebeiden in Biochemistry die ersteStrukturbeschreibung eines entfal-teten Proteins.

In der zweiten Hälfte der 1990erJahre entwickelte sich aus diesenund anderen Arbeiten allmählichdie Theorie des thermodynamischenTrichters. Wie alle Vorgänge in derNatur hat nämlich auch die Pro-teinfaltung sowohl mit Materie alsauch mit Energie zu tun – sie ge-horcht also den Gesetzen der Ther-modynamik.

Genauso wenig wie ein Flussbergauf fließt, wird eine Aminosäu-renkette sich zu einem Protein fal-ten, dessen Energiegehalt höher istals der eigene. Ein Protein faltetsich immer so, dass es einen mög-lichst geringen Energiegehalt hat –

so wie wir uns beim Einschlafen diebequemste Lage suchen, in der wiruns möglichst wenig bewegen müs-sen. Das notwendige Gefälle aufdem Weg zum gefalteten Proteinschränkt die astronomisch hoheZahl der theoretischen Möglichkei-ten erheblich ein. Feste Reaktions-wege sind nicht nötig, jedes Proteinsucht sich seinen eigenen Weg zurnatürlichen Form durch einenTrichter abnehmender Energie. Ver-bindet man einem Golfspieler die

Augen und lässt ihn in eine beliebi-ge Richtung abschlagen, dann istdie Wahrscheinlichkeit, dass er ein-lochen kann, fast unendlich klein.Das gleiche gilt für ein Protein, daszufällig seine richtige Form findensollte. Wenn alle Flächen des Golf-platzes aber als Hänge zu dem Lochabfallen, das am tiefsten Punkt die-ser Landschaft liegt, dann hat derGolfspieler auch mit verbundenenAugen eine gute Chance, sein Zielzu treffen. So ähnlich geht es Pro-teinen auf den Hängen abnehmen-der Energie.

In dieser thermodynamischenLandschaft, die für jedes Protein,abhängig von seiner Primärstruktur,anders aussieht, geht aber nicht al-les glatt zu. Es gibt Abgründe undIrrwege, die ein sich faltendes Pro-

tein vom richtigen Weg abbringenund zu einer Missfaltung führenkönnen.

Eine Mutation, die zum Aus-tausch einer einzigen Aminosäureführt, reicht aus, um ein Proteingleichsam im Energiegebirge ab-stürzen zu lassen. Dann kann esvorkommen, dass sich ein Übermaßfalsch gefalteter Proteine wie einewilde Kippe molekularen Mülls an-häuft. Das ist bei den Amyloidosender Fall.

Falsche Faltung gefährdetdas Gehirn

Von ihrer Existenz und dem Zu-sammenhang mit der Proteinfal-tung erfuhr Chris Dobson in den1990er Jahren von einem befreun-deten Kliniker, der ihm von einemPatienten berichtete, in dessen in-neren Organen sich buchstäblichkiloweise Proteinklümpchen abge-lagert hatten. Dabei handelte es sichzur Überraschung von Dobson umLysozym, jenes Protein, an dem erseit Jahren die Mechanismen derFaltung untersuchte, ohne es mitirgendeiner Pathologie in Verbin-dung zu bringen. Bei diesem Pa-tienten war es an einer Stelle mu-tiert, hatte sich dadurch falsch ge-faltet und war verklumpt.

Diese Klumpen lassen sich enzy-matisch nicht aufspalten. Ihre ge-ordnete Struktur gibt ihnen kristal-line Eigenschaften: Sie bestehen auslanggestreckten Fäden (Fibrillen),zu denen sich jeweils identischeProteine in dicht aufeinanderge-packten ß-Faltblättern zusammen-geformt haben. Es gibt etwa 20 ver-schiedene Proteine, die als Baustei-ne solcher Fibrillen dienen können.Jedes von ihnen ist mit einer ande-ren Krankheit verknüpft. Bei einersystemischen Amyloidose, die Dob-son hier sah, werden die Vorläuferdieser Klumpen durch den Blut-kreislauf von ihrem Entstehungsortzu ihrem Ablagerungsort transpor-tiert. Klinisch bedeutsamer sind dielokalisierten Amyloidosen. Sie be-treffen vor allem das zentrale Ner-vensystem. Ihre bekannteste Ver-treterin ist die AlzheimerscheKrankheit, bei der sich unlöslicheß-amyloid-Klumpen im Gehirn an-sammeln.

Die Bausteine der ß-amyloid-Klumpen entstehen durch proteo-lytische Spaltung aus APP, demAmyloid-Precursor-Protein, dasauch bei gesunden Menschen vor-kommt. Lösliche ß-amyloid-Protei-ne sind ein regulärer Bestandteildes Gehirngewebes. Wie kommt esdann bei Alzheimer-Patienten zurmassiven Verklumpung dieser Pro-teine? Vermutlich durch einenFehler bei der Proteinfaltung. Nor-malerweise verbergen sich hydro-phobe Aminosäuren gleich nachBeginn der Faltung im Inneren desProteins – zeigen sie nämlich zulange nach außen, dann suchen sieschnell die Nähe von wasserabsto-

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zerlegtes Protein

Ubiquitin- Proteasom- system

Transport nach außen

Transport nach innen

Vesikel

Zusammen- bau

Einbehaltung

fehl- gefaltet

Modifi- kation und Faltung

korrekt gefaltet

Proteinfaltung im Endoplasmatischen Retikulum

Frisch synthetisierte Proteinketten werden in das Endoplasmatische Retikulumtransportiert, wo sie verschiedene Modifikationen erfahren. Unter anderem helfen ih-nen molekulare Anstandsdamen »chaperone proteins« nicht eingezeichnet), sich kor-rekt zu falten. Richtig gefaltete Proteine werden in den Golgi-Komplex transportiert,wo sie in Membranen (Vesikel) eingepackt und zu ihrem Bestimmungsort geschicktwerden. Fehlgefaltete Proteine, die von einem Kontrollmechanismus aufgespürt wer-den, bleiben dagegen zunächst im Endoplasmatischen Retikulum. Sie gelangen überandere Reaktionswege in das Ubiquitin Proteasomsystem, wo sie zerlegt werden.

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Page 4: Auf die Faltung kommt es an - forschung-frankfurt.uni ... · renkette sich zu einem Protein fal-ten, dessen Energiegehalt höher ist als der eigene. Ein Protein faltet sich immer

ßenden Gruppen anderer Proteineund formen unlösliche Aggregate.So könnte auch die Aggregation derß-amyloid-Klumpen zustandekom-men – durch eine partielle Entfal-tung, bei der bisher normale Protei-ne plötzlich ausrasten und ihre hy-drophoben Abschnitte aggrega-tionsbereit nach außen kehren.

Hypothese nach einem langen Wochenende

Was wäre aber, wenn die fibrilläreVerklumpung die Regel und diekorrekte Faltung die Ausnahme ist?Dieser Gedanke kam Dobson, nach-dem einer seiner Post-Docs bei derRückkehr von einem langen Wo-chenende die Proteinlösung, die erim NMR-Probenröhrchen zurück-gelassen hatte, in ein Gel verwan-delt vorfand. Das kam bei Proteinenmanchmal vor. Diesmal jedoch lie-fen gerade die NMR-Versuchsrei-hen mit mutierten Lysozymen, umdie Entstehung der Amyloidose zuerforschen.Warum sollte man alsonicht das Gel, das aus den Andock-stellen von intrazellulären Signal-proteinen, den SH3-Domänen, ent-standen war, spektroskopisch ana-lysieren? Was man sah, waren flachaufeinander gepackte ß-Faltblätter,fibrillär miteinander verbacken wieWäscheklammern im Doppelpack.Das war erstaunlich, weil die SH3-Untereinheiten als regulärer Bau-stein lebenswichtiger Proteine nichtals amyloidogen bekannt waren.

Kann also jedes Protein fibrillärverklumpen? Selbst Myoglobin ließsich unter bestimmten Bedingun-gen in fibrilläre Aggregate verwan-deln, erkannte Dobson – und for-mulierte folgende Hyopothese:Nimmt man an, dass ein Proteindurchschnittlich aus 300 Amino-säuren besteht, dann lassen sich 20hoch 300 mögliche Proteine her-stellen – eine Zahl von schier un-endlicher Größe. Ein Menschkommt mit etwa 100 000 Proteinenaus, einem verschwindend kleinenBruchteil davon. Offenbar hat dieNatur während der Evolution nurdiejenigen Proteine als Funktions-träger selektiert, deren Primärse-quenz sich seitenkettengetriebenfalten kann – mit intramolekularabgesättigten Wasserstoffbrückenund nach innen gepackten hydro-phoben Resten. Alle anderen Pri-märsequenzen falten sich rückgrat-getrieben zu wohlgeordneten, aberfunktionslosen Fibrillen. Unter ge-

wissen Bedingungen – dazu gehö-ren Mutationen, denaturierendeChemikalien oder einfach das Al-tern – fallen die funktionstragendenProteine zurück auf die primitiveStufe des fibrillären Einerleis undverursachen dadurch degenerativeErkrankungen wie Alzheimer, Rin-derwahnsinn oder Typ-2-Diabetes.Therapeutisch käme es also daraufan, die gefaltete Form der funktions-tüchtigen Proteine zu stabilisieren.

Frankfurt als Knoten im europäischen Netz

Nun gibt es freilich nicht nur denkorrekt gefalteten und den fibrillärretardierten Zustand eines Proteins,sondern auch korrekt entfalteteProteine, wie die Forscher aus derAnalyse des Humangenoms gelernthaben. Deren Funktion aufzuklä-ren, zählt genauso zu den For-schungsschwerpunkten von HaraldSchwalbe wie die Beobachtung derganz schnell durchlaufenen Über-gangszustände zwischen den ver-schiedenen Formen eines Proteins.Am Diagramm der Proteinstadienerläutert er die Logik seines For-schungsprogramms. »In meinerDoktorarbeit habe ich die Struktureines gefalteten Proteins unter-sucht, als Post-Doc die eines entfal-teten, und jetzt bin ich den Über-gängen auf der Spur.« Das ist eineFrage von Millisekunden – undstößt an die äußersten Grenzen dergegenwärtigen Strukturbiologie. AlsProfessor am MIT im amerikani-schen Cambridge war es Schwalbedennoch gelungen, die Übergangs-

struktur eines Proteins strukturelldingfest zu machen – in einer Sack-gasse übrigens, einer vorüberge-hend falschen Faltung.

Solche Sackgassen und Irrwegeder Proteinfaltung mit Hilfe derNMR-Technologie zu identifizieren,ist auch das Anliegen des europäi-schen Forschungsprojekts »Under-standing Protein Misfolding andAggregation by NMR«, in demSchwalbe unter anderem mit No-belpreisträger Kurt Wüthrich undChris Dobson zusammen die Wis-senslücke zwischen genetischer In-formation und Proteinfunktionweiter schließen will.

Oxford, Zürich, Utrecht, Florenz,Stockholm, Kopenhagen, Tallinnund Frankfurt sind die Knoten die-ses Forschungsnetzes, das Schwalbezusammen mit Kurt Wüthrich undChris Dobson innerhalb des sechstenRahmenprogramms der Europäi-schen Kommission ausgeworfen hat.

»Manche Forscher meinen ja,dass die Proteinfaltung ein Systemist, das vielleicht gar keinen explizi-ten Regeln folgt«, sagt HaraldSchwalbe. »Aber je höher man denAbstraktionsgrad wählt, desto eherwird man eine Regel finden.« ◆

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Der Autor

Joachim Pietzsch, 47, Diplom-Journalist (Dortmund) mit Phy-sikum (Hamburg), arbeitete nach einer Lehrzeit im DeutschenKrebsforschungszentrum fast 15 Jahre lang in der globalenUnternehmens- und Forschungskommunikation von Hoechstund Aventis, bevor er die Freiheit eines selbständigen Wissen-schaftsjournalisten wählte. Er war langjähriger Autor und Ide-engeber für Future – The Aventis Magazine und begründetezusammen mit der Nature Publishing Group die Horizon Sym-posia – Connecting Science to Life.

Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson werden durch fehlgefaltete Proteine verursacht, die sich zu-nächst zu Protofibrillen und anschließend zu Amyloid-Fibrillen zusammenlagern. Bei Parkinson-Patientensind die Lewy Körper typische Erkennungszeichen für die Krankheit.

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ß-amyloid- Klumpen

Proto- fibrillen

Amyloid- Fibrillen

Lewy Körper

Allgemeine Mechanismen der Krankheiten verursachenden Aggregation (Verklumpung) von Proteinen