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9lfHf3iindifr3cÜHn<;i WOCHENENDE 159-073 Sainstag/Sonntag, 12./13. Juli 1997 Nr. 159 73 Zwillinge. 1924. August Sander, Photograph aus Deutschland Spätsommer 1950. Fern der zerbombten Stadt Köln sitzt ein zehnjähriger Knabe auf dem Rücksitz eines Motorrades. Er um- klammert von hinten seinen Grossvater, der das knatternde Ge- fährt mit sechzig Kilometern pro Stunde durch den Westerwald steuert. Der Grossvater möchte nahe der Ortschaft Leuscheid eine bestimmte Landschaftsaufnahme machen. Der Enkel ist oft mit dem Grossvater unterwegs, das gefällt ihm besser, als in den Häuserruinen von Köln zu spielen. Er weiss längst, dass es dem Dreiundsiebzigjährigen auf jeden Satz, jeden Handgriff, jeden Augen-Blick ankommt. Und er hat auch gelernt, dass der Zufall nur eine Frage der Geduld ist. Bei der Landschafts- aufnahme nahe Leuscheid reisst dem Enkel aber langsam der Ge- duldsfaden. Immerhin ist es schon das dritte Mal, dass sie an den Aussichtspunkt fahren, das hölzerne Kamerastativ aufbauen, die Optik scharf einstellen und in die Ferne schauen. «Warum warten wir denn jetzt wieder so lange? Wir können doch belichten?» fragt er den grossväterlichen Lehrmeister. «Nein», entgegnet dieser, «die Wolken sind nicht am richtigen Platz. Wir müssen warten.» - «Wie lange denn noch?» - «Wenn der Wind richtig ist, kommt da hinten eine Wolke. Sie wird so in zehn Minuten in dieser Ecke sein. Erst dann können wir die Auf- nahme machen.» Nach einer halben Stunde haben es die beiden im Westerwald geschafft. Mehrere Male wird der Auslöser betätigt. Dann fahren Grossvater und Enkel zum Entwickeln der Bilder zu- rück ins Labor. - Das Kind heisst Gerhard, der Grossvater August Sander. Die Geschichte aus den Kindertagen von Gerhard Sander ver- sinnbildlicht eine Arbeitsweise, die für den spät geehrten August Sander zeitlebens typisch war. Ausdauer, Gespür und Präzision prägten Landschaftsbilder, Architekturphotos, Reise- und Werbe- aufnahmen und verliehen ihm die Gabe, das «wahre Gesicht» des Menschen auf (damals gebräuchliche) Glasplatten zu bannen. Text von Christian Scholz August Sander gilt heute als ein Klassiker der Porträtkunst. Aus seinem leider unvollendet gebliebenen Werk «Menschen des 20. Jahrhunderts» liegen die Stamm-Mappe, aber auch einzelne Unikate in wichtigen Museen und Privatsammlungen. Vor kurzem erst wurde in Köln, im hochmodernen Mediapark, das nun reic h ausgestattete August-Sander-Archiv mit einer Eröffnungsausstel- lung der internationalen Öffentlichkeit vorgestellt. Neben 1 1 000 Negativen und etwa 4000 Originalabzügen warten Sanders Biblio- thek, seine Briefe, Manuskripte, Bildmappen und Lieblingsmöbel auf interessierte Besucher. Nicht zuletzt dank intensiver Mitarbeit des heute siebenundfünfzigjährigen Enkels Gerhard Sander hat so das Erbe des 1964 Verstorbenen eine würdige Heimat gefunden. Dass der 1876 in Herdorf an der Sieg geborene Bergmannssohn einmal berühmt werden würde, liess sich nicht unbedingt voraus- sehen. Nach nur sechsjähriger Schulzeit arbeitete er zunächst als Haldenjunge in der Erzgrube «San Fernando». Aber August war wissbegierig. Er begann Lehrbücher zur Lichtbildkunst zu studie- ren. Unterstützung bekam er von seinem Onkel Daniel: der Berg- werksdirektor spendierte 300 Mark, so dass eine Kamera, ein Apla- nat-Objektiv, ein Stativ und Glasplatten gekauft werden konnten. Nur die Dunkelkammer fehlte. Aber da wusste der Vater Rat. Er baute dem Sohn einen kleinen Schuppen neben dem elterlichen Fachwerkhaus. Wasser wurde aus dem nahen Brunnen geschöpft. Das Licht beim Entwickeln spendete eine Petroleumlampe mit rotem Glaszylinder. Das war anno 1892. Die ersten Photos des damals gerade sechzehnjährigen August Sander waren Aufnahmen von Nachbarn. Bei den Bauernfamilien wollte sich jedoch keine rechte Freude über die Abbilder einstellen. Hauptärgemis war die unkorrekt sitzende Kleidung. Zufriedener zeigten sich Amerika-Auswanderer. Sie wollten ihren Eltern im Westerwald schlicht Erinnerungsphotos hinterlassen. Sander be- kam immer mehr Aufträge und baute seine Tätigkeit aus. Selbst nach der Einberufung zum Militärdienst blieb er seiner Lieblings- beschäftigung treu. Als Photoassistent lernte er in Trier auch seine spätere Frau Anna kennen. Sie war ihm bei einem Phototermin aufgefallen. Nach seiner Assistentenzeit beim Architekturphotographen Kullerich in Berlin, dessen Akribie seine Arbeitsweise stark beein- flusste, trat der fünfundzwanzigjährige Sander am 1. Januar 1901 eine Tätigkeit im Ausland an: der Mann aus dem Westerwald wurde «Erster Operateur» im Atelier Greif in Linz. Schon drei Jahre später machte er sich selbständig. Nun hiess es im fernen Österreich auf dem Firmenschild: «Photographische Kunstanstalt 1. Ranges August Sander». Und inzwischen war auch Anna, die Tochter eines Justizsekretärs, nach einigen Querelen mit den Schwiegereltern seine Frau geworden. Die Linzer nannten sie, wie der Enkel Gerhard Sander noch heute schmunzelnd erzählt, «Frau Photographengattin». Als in Linz Ende 1909 eine Polio-Epidemie ausbrach, verliess die Familie (inzwischen mit Nachwuchs) österreich. Zwar ging August Sander nicht zurück zu den Bauernfamilien daheim, aber er zog in ihre Nähe: er machte Köln zur neuen Wahlheimat und er- öffnete an der Dürener Strasse ein Atelier. Zwar gab es im näheren Umkreis schon zwei photographische Ateliers, aber Sander wusste zu beweisen, dass er Medaillen und Diplome sowie die in Wels, Paris und Leipzig erworbenen Preise, in Schaukästen beim Ein- gang des Hauses placiert, aus gutem Grund bekommen hatte. Das Geschäft begann zu florieren. Architekten vergaben Aufträge für Aussen- und Innenaufnahmen, die Industrie bestellte Werbe- photos. Immer wieder wurden Postkarten gekauft, etwa von Kar- nevalsbällen. Künstlerfeste besuchte August Sander regelmässig mit der Kamera. Vor allem aber kamen Burger aller Berufsgruppen ins Atelier und baten um Porträts, die Sander nüchtern, sachlich, exakt realisierte. Noch vor dem Ersten Weltkrieg kam er auf die Idee, ein gigan- tisches Mappenwerk über die Deutschen aufzubauen. Das Kon- zept wurde zwar erst 1925 schriftlich niedergelegt und mit Kölne r Neue Zürcher Zeitung vom 12.07.1997

August Sander, Photograph aus Deutschland

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August Sander, Photograph aus Deutschland

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Page 1: August Sander, Photograph aus Deutschland

9lfHf3iindifr3cÜHn<;i WOCHENENDE159-073

Sainstag/Sonntag, 12./13. Juli 1997 Nr. 159 73

Zwillinge. 1924.

August Sander, Photograph aus Deutschland

Spätsommer 1950. Fern der zerbombten Stadt Köln sitzt einzehnjähriger Knabe auf dem Rücksitz eines Motorrades. Er um-klammert von hinten seinen Grossvater, der das knatternde Ge-fährt mit sechzig Kilometern pro Stunde durch den Westerwaldsteuert. Der Grossvater möchte nahe der Ortschaft Leuscheid einebestimmte Landschaftsaufnahme machen.

Der Enkel ist oft mit dem Grossvater unterwegs, das gefällt ihmbesser, als in den Häuserruinen von Köln zu spielen. Er weisslängst, dass es dem Dreiundsiebzigjährigen auf jeden Satz, jedenHandgriff, jeden Augen-Blick ankommt. Und er hat auch gelernt,

dass der Zufall nur eine Frage der Geduld ist. Bei der Landschafts-aufnahme nahe Leuscheid reisst dem Enkel aber langsam der Ge-duldsfaden. Immerhin ist es schon das dritte Mal, dass sie an denAussichtspunkt fahren, das hölzerne Kamerastativ aufbauen, dieOptik scharf einstellen und in die Ferne schauen.

«Warum warten wir denn jetzt wieder so lange? Wir könnendoch belichten?» fragt er den grossväterlichen Lehrmeister.«Nein», entgegnet dieser, «die Wolken sind nicht am richtigen

Platz. Wir müssen warten.» - «Wie lange denn noch?» - «Wennder Wind richtig ist, kommt da hinten eine Wolke. Sie wird so inzehn Minuten in dieser Ecke sein. Erst dann können wir die Auf-nahme machen.» Nach einer halben Stunde haben es die beiden imWesterwald geschafft. Mehrere Male wird der Auslöser betätigt.

Dann fahren Grossvater und Enkel zum Entwickeln der Bilder zu-rück ins Labor. - Das Kind heisst Gerhard, der Grossvater August

Sander.

Die Geschichte aus den Kindertagen von Gerhard Sander ver-sinnbildlicht eine Arbeitsweise, die für den spät geehrten August

Sander zeitlebens typisch war. Ausdauer, Gespür und Präzisionprägten Landschaftsbilder, Architekturphotos, Reise- und Werbe-aufnahmen und verliehen ihm die Gabe, das «wahre Gesicht» desMenschen auf (damals gebräuchliche) Glasplatten zu bannen.

Text von Christian Scholz

August Sander gilt heute als ein Klassiker der Porträtkunst. Ausseinem leider unvollendet gebliebenen Werk «Menschen des20. Jahrhunderts» liegen die Stamm-Mappe, aber auch einzelneUnikate in wichtigen Museen und Privatsammlungen. Vor kurzemerst wurde in Köln, im hochmodernen Mediapark, das nun r e i chausgestattete August-Sander-Archiv mit einer Eröffnungsausstel-lung der internationalen Öffentlichkeit vorgestellt. Neben 1 1 000Negativen und etwa 4000 Originalabzügen warten Sanders Biblio-thek, seine Briefe, Manuskripte, Bildmappen und Lieblingsmöbel

auf interessierte Besucher. Nicht zuletzt dank intensiver Mitarbeitdes heute siebenundfünfzigjährigen Enkels Gerhard Sander hat sodas Erbe des 1964 Verstorbenen eine würdige Heimat gefunden.

Dass der 1876 in Herdorf an der Sieg geborene Bergmannssohn

einmal berühmt werden würde, liess sich nicht unbedingt voraus-sehen. Nach nur sechsjähriger Schulzeit arbeitete er zunächst alsHaldenjunge in der Erzgrube «San Fernando». Aber August warwissbegierig. Er begann Lehrbücher zur Lichtbildkunst zu studie-ren. Unterstützung bekam er von seinem Onkel Daniel: der Berg-

werksdirektor spendierte 300 Mark, so dass eine Kamera, ein Apla-nat-Objektiv, ein Stativ und Glasplatten gekauft werden konnten.Nur die Dunkelkammer fehlte. Aber da wusste der Vater Rat. Erbaute dem Sohn einen kleinen Schuppen neben dem elterlichenFachwerkhaus. Wasser wurde aus dem nahen Brunnen geschöpft.

Das Licht beim Entwickeln spendete eine Petroleumlampe mitrotem Glaszylinder. Das war anno 1892.

Die ersten Photos des damals gerade sechzehnjährigen August

Sander waren Aufnahmen von Nachbarn. Bei den Bauernfamilienwollte sich jedoch keine rechte Freude über die Abbilder einstellen.Hauptärgemis war die unkorrekt sitzende Kleidung. Zufriedenerzeigten sich Amerika-Auswanderer. Sie wollten ihren Eltern imWesterwald schlicht Erinnerungsphotos hinterlassen. Sander be-kam immer mehr Aufträge und baute seine Tätigkeit aus. Selbstnach der Einberufung zum Militärdienst blieb er seiner Lieblings-beschäftigung treu. Als Photoassistent lernte er in Trier auch seine

spätere Frau Anna kennen. Sie war ihm bei einem Phototerminaufgefallen.

Nach seiner Assistentenzeit beim Architekturphotographen

Kullerich in Berlin, dessen Akribie seine Arbeitsweise stark beein-flusste, trat der fünfundzwanzigjährige Sander am 1. Januar 1901

eine Tätigkeit im Ausland an: der Mann aus dem Westerwaldwurde «Erster Operateur» im Atelier Greif in Linz. Schon dreiJahre später machte er sich selbständig. Nun hiess es im fernenÖsterreich auf dem Firmenschild: «Photographische Kunstanstalt1. Ranges August Sander». Und inzwischen war auch Anna, dieTochter eines Justizsekretärs, nach einigen Querelen mit denSchwiegereltern seine Frau geworden. Die Linzer nannten sie, wieder Enkel Gerhard Sander noch heute schmunzelnd erzählt, «FrauPhotographengattin».

Als in Linz Ende 1909 eine Polio-Epidemie ausbrach, verliessdie Familie (inzwischen mit Nachwuchs) österreich. Zwar gingAugust Sander nicht zurück zu den Bauernfamilien daheim, aber erzog in ihre Nähe: er machte Köln zur neuen Wahlheimat und er-öffnete an der Dürener Strasse ein Atelier. Zwar gab es im näherenUmkreis schon zwei photographische Ateliers, aber Sander wusste

zu beweisen, dass er Medaillen und Diplome sowie die in Wels,

Paris und Leipzig erworbenen Preise, in Schaukästen beim Ein-gang des Hauses placiert, aus gutem Grund bekommen hatte. Das

Geschäft begann zu florieren. Architekten vergaben Aufträge fürAussen- und Innenaufnahmen, die Industrie bestellte Werbe-photos. Immer wieder wurden Postkarten gekauft, etwa von Kar-nevalsbällen. Künstlerfeste besuchte August Sander regelmässig

mit der Kamera. Vor allem aber kamen Burger aller Berufsgruppen

ins Atelier und baten um Porträts, die Sander nüchtern, sachlich,

exakt realisierte.

Noch vor dem Ersten Weltkrieg kam er auf die Idee, ein gigan-

tisches Mappenwerk über die Deutschen aufzubauen. Das Kon-zept wurde zwar erst 1925 schriftlich niedergelegt und mit Kölner

Neue Zürcher Zeitung vom 12.07.1997

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Firmenmanager, um 1932. Anna Sander, Linz an der Donau, um 1904.

Rundfunksekretärin, 1931. Konditor, 1928.

Die Stürmerin oder Revolutionärin, 1912. Der Maler Anton Rädencheidt, 1927.

Malern aus dem Kreis der «Rheinischen Progressiven» erörtert,etwa mit Franz Wilhelm Seiwert, aber geboren wurde der Plan be-reits 1910. August Sander hatte nichts Geringeres im Sinn, als einfünfundvierzig Photomappen umfassendes Gesellschaftsbild derspätwilhelminischen Ära und der Weimarer Republik zu entwerfen.Ihn fesselte das Antlitz des Menschen, seine Prägung durch Zeit,Erziehung, Beruf. Er hoffte, typisierende Merkmale in Haltung,Gestik, Kleidung finden und für alle Ewigkeit festhalten zu kön-nen. Kein Geringerer als Alfred Döblin sollte 1929 im Vorwortzum ersten, kleinen Auswahlband «Antlitz der Zeit» konstatieren:«Wer blickt, wird rasch belehrt werden, besser als durch Vorträge

und Theorien, durch diese klaren, schlagkräftigen Bilder und wirdvon den anderen und von sich erfahren.»

Griffige Antworten auf brennende Fragen seiner Zeit konnteder Sozialdemokrat Sander, später von den Nationalsozialistenmisstrauisch überwacht, nicht geben; auch in späteren Jahren hater sich nie mit der Kamera politisch aktiv gezeigt. Aber er wolltemit seinem auf 500 bis 600 Typen angelegten CEuvre einige subtileFragen stellen: Warum sehen Menschen aus dem Westerwaldanders aus als Menschen aus Köln? Was verbirgt oder eröffnet einKindergesicht? Wie schaut eine Frau, wie blickt ein Mann in dieKamera? Ist ein überzeugter Nationalsozialist an seiner Nasen-spitze zu erkennen? Gibt es so etwas wie eine deutsche Stirn, Kör-perhaltung, Gestik?

Noch heute laden diese Fragen den Betrachter zu einer Zeitreisein die Vergangenheit ein. Es ist, als stünde in den hinterlassenenPorträtaufnahmen deutsche Geschichte, deutsche Gewalt undTrauer zur Diskussion. Jedenfalls sagen dies jene Sammler, dieweltweit Unikate des spät im Leben mit dem Bundesverdienst-kreuz geehrten Photographen für hohe Dollarbeträge aufzukaufensuchen. Sammler aus Deutschland interessieren sich f ür diese(schweren?) Bilder besonders, weil sie Zeichensystem sind auchder eigenen Biographie - oder der elterlichen Sozialisation.

August Sander war indes nicht Starphotograph im Kaiserreichoder in der Weimarer Republik. Er war schlicht ein versierter, ver-lässlicher Berufsphotograph, der viele kommerzielle Aufträge an-nahm. Es galt, die eigene Familie zu ernähren, eine Familie, in deralle Mitglieder photographierten und sich alle im Labor aus-kannten. Die tägliche Laborarbeit zählte zu den normalen «Haus-aufgaben». Noch heute erinnert sich der Enkel, dass Anna Sanderoft den Betrieb am Laufen hielt. Modernisierungen vorschlug undtatkräftig umsetzte. Während des Ersten Weltkriegs liess sie zumBeispiel elektrische Leitungen verlegen, derweil August Sander alsLandsturmmann in Belgien stationiert war.

Kam der Meister während des Krieges auf Urlaub oder kehrteer später von einer seiner (wenigen) Auslandreisen zurück, begut-

achtete er die in seiner Abwesenheit entstandenen Atelieraufnah-men; gefielen sie ihm, wurden sie flink mit «August Sander»signiert. Über Urheberrechtsfragen wurde nicht gesprochen. DerSandersche Betrieb war patriarchalisch geführt. Und der Meister-photograph schenkte keinem etwas. Er war in Köln als teuer be-kannt, stimmte seine Preise für Porträtaufnahmen auf jene vonPhotokünstlern wie Hugo Erfurth und Hugo Schmolz ab, überbotzum Teil noch. Studentinnen, die das Metier kennenlernen wollten,mussten für die Ausbildung bei Sander bezahlen. Diese Beträge ge-

hörten zum regelmässigen Einkommen der Familie.

Andere Gelder flossen dem Atelier aus der Werbe- und Archi-tekturphotographie zu. So arbeitete August Sander für die Lack-fabrik Herbig-Haarhaus oder machte einen Teil der Innenaufnah-men auf dem Ozeandampfer «Bremen». Architekt Fritz August

Breuhaus de Groot hatte ihm und Hugo Schmolz das lukrative Ge-schäft vermittelt. Dennoch war Geld, sagt Gerhard Sander, immerein Problem in der Familie - nicht zuletzt, weil der Grossvater denVerdienst oft sofort in Antiquitätenkäufe steckte.

Im Kopf von August Sander, der auf Selbstporträts immer sehrausgeglichen wirkt, musste einiges Platz finden. Neben den termi-nierten Aufträgen bzw. deren Delegierung an Ehefrau, Söhne undTochter beschäftigten ihn vor allem seine freien Projekte. Fieber-haft suchte der ambitionierte Photograph nach Möglichkeiten, dasgrosse Mappenwerk zu vervollständigen. Titel der sieben Gruppen:

Der Bauer. Die Handwerker. Die Frau. Die Stände. Die Künstler.Die Grossstadt. Die letzten Menschen.

Wo aber sollte er die vielen Typengesichter finden? Aufwendige

Recherchen und Reisen kamen nicht in Frage. Werkaufträge ver-gaben die Gemeinden noch keine. Also ging er in den zwanzigerJahren, der für ihn produktivsten und schönsten Zeit, recht prag-matisch vor. Gefiel ihm etwa eine kommerzielle Porträtarbeit,machte er zunächst Abzüge auf billigem Papier und verkaufte siefür etwa fünfzehn Reichsmark an den Auftraggeber. Zugleich legte

er das Negativ zur Seite, um später Abzüge auf bestem Photo-papier für seine Mappe anzufertigen. Natürlich musste er in dendreissiger Jahren aufpassen, wem er von dem Projekt erzählte. Zuseinen Kunden zählten auch Nazifunktionäre und Angehörige derHitler-Jugend.

So füllten sich langsam Schachteln mit genau beschriftetenNegativtaschen. Vollständige Namen sind jedoch nicht vermerkt.Wer immer ihm in die 13xl8-Porträtkamera geblickt hat, sei erFabrikarbeiter, Künstler, Geistlicher oder Bauer, figuriert in seinenMappen einfach unter der Berufsbezeichnung: «Handlanger»,«Firmenmanagen>;, «Rundfunksekretärin».

Es gibt von Photographen stets sogenannte Starbilder, Ikonendes Berufslebens. Bei August Sander ist das auch der Fall. Beson-ders seine Bauernporträts stechen hervor. Die Westerwälder Bau-ernschaft war in seinen Augen etwas Einzigartiges. Er selbst warein Kind ihrer Landschaft, ihres Bodens, ihrer Erde. Als Jugend-

licher war er von Ort zu Ort geradelt, hatte unter Tage und auf demLand gearbeitet. Er sprach den lokalen Dialekt. Zu ihm hatten dieBauernfamilien Vertrauen, so dass sie ihre Zurückhaltung über-wanden. Nicht unter Städtern und schon gar nicht auf einer Aka-demie, vielmehr in der Ruhe der Natur, im Zwiegespräch mit ein-fachen Menschen aus dem 19. Jahrhundert, hat August Sander seinphotographisches Sehen geschult und erweitert.

Im Westerwald traf aber der emsige Mann nicht nur alteingeses-

sene Familien auf ihren Gehöften, sondern auch Wanderburschen.Er photographierte sie vor Ort, gleichsam mitten aus ihrer Lebens-zeit heraus. Selbst sie, die geradewegs daherkamen, konnte dieserPhotograph erfassen, als sei er ein Zauberer, der das Individuumauf die Bühne eines imposanten Gesellschaftsstücks hebt. DerMensch trat als Konzentrat sozialer Realität in Erscheinung.

Neue Zürcher Zeitung vom 12.07.1997

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Samstag/Sonntag, 12./13. Juli 1997 Nr. 159 75

In jedem Fall fehlte das Ereignishafte. Ob freie Studie oderAuftragsarbeit: die Lebenszeit des Porträtierten blieb im Abbild ge-achtet, aufgehoben, bewahrt. Dem Bauern, Handwerker, Arbeiter,Direktor wurde nicht die Seele gestohlen. August Sander verstandes, ihnen im Bild ihr Innerstes zu belassen. Das waren keineSchnappschüsse. Eine aussergewöhnliche «Zeithaltigkeit» prägt

die Aufnahmen.Es ist jedoch ein Irrtum zu glauben, eine Ikone wie die «Drei

Jungbauern» aus der Mappe «Bauern» sei auf einer gezielt für dasMappenwerk unternommenen Wandertour entstanden. Dem Bildliegt ein normaler Phototermin zugrunde. Auf dem Negativ mit derNummer 2648 (Auftraggeberin: Familie Krieger) ist handschriftlichnotiert: «24 Karten», ein Indiz, dass es sich um einen Auftrag han-delte: 24 Postkarten waren bestellt. Dennoch gehört es zur Magie

dieses Bildes, dass alles wie zufallig geschehen anmutet. Es ist, alsfragten die drei Männer, wer sie da aufhalte auf ihrem Weg zumTanz, zu dem sie es an diesem Samstag so eilig hätten . .

Wiederum völlig anders die Entstehungsbedingungen einesweiteren berühmten Bildes: «Zwillinge». Das Porträt aus derMappe «Kinder», bei natürlichem Licht mit einer Verschlusszeitvon etwa zwei Sekunden aufgenommen, ist im Grunde dem MalerAnton Räderscheidt zu verdanken: Er plante ein Gemälde und batseinen Freund Sander, die Kinder der Familie Roberts zu photo-graphieren. Ob Räderscheidt noch in den zwanziger Jahren nachdiesem Photo sein Bild malte, ist nicht bekannt. Man hat nur diePhotographie und einen entsprechenden Briefvermerk. Aber eben,

auch über solche Wege k am August Sander zu seinen «Menschendes 20. Jahrhunderts».

Die Sanderschen Bilder offnen den Blick in Vergangenheit undZukunft der Porträtierten. Indem Gemütsregungen aus der Auf-nahmesituation eliminiert wurden, beginnt der Betrachter den Bil-dern gleichsam Emotionen zurückzugeben. Die Strenge der San-derschen Porträtkunst bewirkt ein persönliches Interesse amSchicksal der Dargestellten, man möchte über diese DeutschenNäheres wissen: Was ist aus den Zwillingen in gutem Schuhzeuggeworden? Wollte der Konditor Bremer, dessen Bild sich der Er-innerung sofort unauslöschlich einprägt, sich damals festhalten anSchwingbesen und Schlüssel, um ja nicht die Kontrolle über seinenwuchtigen Körper zu verlieren? Und hat Alfred Döblin, als er imVorwort zu «Antlitz der Zeit» schrieb, das Menschenantlitz unter-liege einer «Abflachung durch die menschliche Gesellschaft», ein-zig an das deutsche Gesicht gedacht? August Sander photo-graphierte 1918 während der Besatzungszeit in Köln auch Soldatenund Offiziere aus Neuseeland und Kanada, auf einer Italienreise1927 auch Sarden. Hätte Döblin auch dort eine Abflachung

konstatiert?

Es ist das Verdienst von Gerhard Sander, dass er, gemeinsam

mit seinem Vater, das Quellenmaterial hat retten können. Es wärefast auf einem Dachboden im Westerwald liegengeblieben. 1968wurde es «geborgen», mehrmals an verschiedenen Orten zwischen-gelagert. Durch Interviews im Westerwald versucht nun dasAugust-Sander-Archiv unter Leitung von Susanne Lange, Informa-tionslücken zu schliessen und zum Beispiel über die Zahl der ver-kauften Abzüge Aufschluss zu gewinnen. Recherchen in Köln ge-

stalten sich sechzig Jahre nach der Entstehung von Photos sehrschwierig. Gerade von den frühen Motiven, etwa vom Kölner Kon-ditor Bremer, existierten gewiss mehrere Abzüge, sagt GerhardSander. Wie viele es sind von jedem Motiv, ob der Grossvater tat-sächlich, wie der Enkel meint, jeweils bewusst für jedes seiner dreiKinder je einen Abzug gemacht hat, bleibt noch zu klären.

Lebensläufe von Photographen werden gern widerspruchslosaufgezeichnet, ohne Schwachstellen, dunkle Punkte, Rückschläge

zu markieren. Gerhard Sander hingegen verheimlicht nicht, dassdem Grossvater vieles nicht gelungen ist, auch viele botanischeStudien Fragment geblieben sind.

Vieles wurde aber auch zerstört. Nicht genug damit, dass San-ders politisch aktiver ältester Sohn Erich 1944 im Zuchthaus wegen

unterlassener ärztlicher Hilfeleistung ums Leben kam. Auch unzäh-lige zeitgeschichtlich wichtige Photoarbeiten wurden vernichtet.Das gesamte kommerzielle Archiv war in Köln geblieben, fiel abernicht dem Bombardement zum Opfer, sondern wurde nach Kriegs-

ende im Herbst 1945 regelrecht abgefackelt; wahrscheinlich vondenselben Gesinnungsgenossen, die das Wirken von August San-der und seiner Familie schon während der Nazizeit missbilligten.

Das künstlerische Archiv, darunter die wertvollen Porträts,überlebte alle Kriegs- und Nachkriegswirren im Westerwald. Ver-öffentlicht wurde «Menschen des 20. Jahrhunderts» zu Lebzeitenvon August Sander nicht. Erst 1980 erschien eine Rekonstruktionmit gut vierhundert Tafeln. Behutsam bereitet das Kölner August-

Sander-Archiv nun eine nach neuesten kunsthistorischen Erkennt-nissen gestaltete, mehrbändige Publikation vor. Sie wird eigene

Massstäbe setzen und auch nochmals Sanders Lebensabendthematisieren.

Noch zu Beginn der fünfziger Jahre wurde August Sander vonLeo Fritz Gruber, heute ein grosser Photosammler, damals Mit-begründer der Photokina in Köln, für eine Messeausstellung ge-wonnen, und 1954 kam es zu einer wichtigen und produktiven Be-gegnung mit Edward Steichen, der in Europa Bilder für die Aus-stellung «Family of Man» im Museum of Modem Art suchte.Überdies konnte der Photograph im hohen Alter noch sein (Euvre«Köln, wie es war» an die Stadt verkaufen. In Kuchhausen imWesterwald beschäftigte sich August Sander indes vor allem mitder Durchsicht alter Negativtaschen. Die Zeit der Landschaftsauf-nahmen und Motorradfahrten ging dem Ende entgegen. «Er hatteimmer wieder eine Idee, was er machen wollte», sagt der Enkel.«Dann suchte er ein Negativ, konnte es nicht finden und wurdesehr wütend. Er war nach dem Tod von Anna sehr alleine.»

Bis auf wenige Ausnahmen wurde in der Adenauer-Ära, die be-wusst Abstand zur Weimarer Republik gewinnen wollte, auchnichts von ihm publiziert. Dem alten Sander fehlte aber nicht nuröffentliches Echo, sondern auch die Kraft, im zweigeteilten

Deutschland alten Plänen eine neue Wendung zu geben oder sieabzuschliessen. Hitlers Schergen hatten über das Schicksal vonMillionen Gesichtern entschieden. Einzelne Physiognomien warenaus dem Kölner Alltag völlig verschwunden. Andere Gesichterwaren aus ihren Ständen und Häusern regelrecht herausgesprengt

worden. Bereits über den Ersten Weltkrieg hatte Sander etwas ver-merkt, das auch sein photographisches Leben und Werk tangieren

sollte: «Der Krieg hat alle Menschen verändert.»Copyright für alle Bilder: August Sander Archiv/SK Stiftung Kultur, Kola

Jungbauern, 1914.

Ausblick eines Kölners aus seinem Wohnzimmer, 1946.

Neue Zürcher Zeitung vom 12.07.1997