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28 PATIENTENORIENTIERUNG Boden zu kommen, war zu dieser Zeit kein Problem für mich.“ In die- ser Mobilisierung sieht Lydia Stahl heute den Hauptgrund dafür, dass ihre Skoliose so stark vorangeschrit- ten ist. „Einfach nur zu mobilisieren nutzt nichts. Der Muskelaufbau hat gefehlt und das hat den Effekt ins Gegenteil verkehrt. So war ich ganz schnell bei einer Verkrümmung von 75 Grad.“ Ab einer Verkrümmung von 50 Grad raten die meisten Mediziner zur Operation. Dabei wird die Wirbelsäule im betroffe- nen Bereich versteift. Im Fall von Ly- dia Stahl vom dritten Brust- bis zum dritten Lendenwirbel. Vier Wochen vor der OP wird ihre Wirbelsäule täglich mit Hilfe eines Halofixateurs und eines Flaschenzugs massiv ge- streckt. Am Tag der Operation misst sie deshalb 14 Zentimeter mehr. „Davon sind nach der OP aber lei- der nur vier Zentimeter übrig ge- blieben“, bedauert Lydia Stahl und lächelt. Dann erzählt sie von der Zeit nach der OP. Obwohl das Ganze 30 Jahre her ist, hat sich jeder Moment fest in ihr Gedächt- AUS DEM LOT – LEBEN MIT SKOLIOSE Von Natur aus ist unsere Wirbelsäule leicht gekrümmt. Wäre dem nicht so, würden wir alle zur sprichwörtlichen Salzsäule erstarren: Stehen, Gehen, Bücken – all das wäre mit einer starren Wirbelsäule unmöglich. Das andere Extrem ist nicht weniger problematisch: Wenn sich die Wirbelsäule stark zur Seite biegt und sich auch die Wirbelkörper verdrehen, ist das für die Betrof- fenen meist mit körperlichen Beschwerden verbunden. Lydia Stahl aus Erlangen hat dennoch einen Weg gefunden, sich mit ihrer Skoliose zu arrangieren. F ür die 46-Jährige ist Skoliose eine Krankheit, mit der sie schon als kleines Kind konfron- tiert wird. Ihr Vater leidet darunter, von seinen fünf Kindern sind drei betroffen – auch Lydia, wie sich im Alter von acht Jahren herausstellt. Der Vater hat seine Erkrankung im Griff. Er ist leidenschaftlicher Fuß- ballspieler, was sich positiv auf sei- ne Skoliose auszuwirken scheint. Lydias ältere Schwester – eher we- niger an sportlicher Betätigung in- teressiert – hat Glück im Unglück. Der Grad ihrer Wirbelsäulenver- krümmung friert im Teenageralter plötzlich ein. Anders bei Lydia: Obwohl die ältere Schwester die Grundschülerin regelmäßig zur Krankengymnastik mitnimmt, ver- stärkt sich deren Skoliose zuse- hends. „Angefangen hat es mit einer Krümmung von 20 Grad. Mit den Jahren wurde das Ganze im- mer schlimmer. Ich bekam einen Buckel, den ich allerdings gar nicht wahrgenommen habe, weil er einfach zu mir gehört hat. Es hat mich auch niemand damit aufge- zogen, so dass ich mit 16 Jahren nicht nachvollziehen konnte, war- um die Ärzte mich so eindringlich ermahnten, mich operieren zu las- sen, weil ich sonst mit 23 im Roll- stuhl sitzen würde – und das, ob- wohl ich all die Jahre in physiothe- rapeutischer und chiropraktischer Behandlung war.“ Ausweg Operation? Von ihrem Chiropraktiker war der Teenager zuvor stark mobilisiert worden. „Mit den Händen auf den Seit 2002 leitet Lydia Stahl den Skoliose-Treff Erlangen. Be- troffene sollen hier möglichst umfangreich über sämtliche Behandlungs- methoden infor- miert werden. „Allein das The- ma Schroth ist mir zu wenig.“ PROFUND – das Mitgliedermagazin der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) – Ausgabe 5/2011

aus dem Lot – Leben mit skoLiose · Skoliose, war mit einer Wirbelsäu-lenverkrümmung von 150 Grad selbst schwer betroffen und konnte mir all meine Fragen beantworten. Das hat

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28 Pat i e n t e n o r i e n t i e r u n g

Boden zu kommen, war zu dieser Zeit kein Problem für mich.“ In die-ser Mobilisierung sieht Lydia Stahl heute den Hauptgrund dafür, dass ihre Skoliose so stark vorangeschrit- ten ist. „Einfach nur zu mobilisieren nutzt nichts. Der Muskelaufbau hat gefehlt und das hat den Effekt ins Gegenteil verkehrt. So war ich ganz schnell bei einer Verkrümmung von 75 Grad.“ Ab einer Verkrümmung von 50 Grad raten die meisten Mediziner zur Operation. Dabei wird die Wirbelsäule im betroffe-nen Bereich versteift. Im Fall von Ly-dia Stahl vom dritten Brust- bis zum dritten Lendenwirbel. Vier Wochen vor der OP wird ihre Wirbelsäule täglich mit Hilfe eines Halofixateurs und eines Flaschenzugs massiv ge-streckt. Am Tag der Operation misst sie deshalb 14 Zentimeter mehr. „Davon sind nach der OP aber lei-der nur vier Zentimeter übrig ge-blieben“, bedauert Lydia Stahl und lächelt. Dann erzählt sie von der Zeit nach der OP. Obwohl das Ganze 30 Jahre her ist, hat sich jeder Moment fest in ihr Gedächt-

aus dem Lot – Leben mit skoLioseVon Natur aus ist unsere Wirbelsäule leicht gekrümmt. Wäre dem nicht so,

würden wir alle zur sprichwörtlichen Salzsäule erstarren: Stehen, Gehen, Bücken – all das wäre mit einer starren Wirbelsäule unmöglich. Das andere Extrem ist nicht weniger problematisch: Wenn sich die Wirbelsäule stark zur Seite biegt und sich auch die Wirbelkörper verdrehen, ist das für die Betrof-

fenen meist mit körperlichen Beschwerden verbunden. Lydia Stahl aus Erlangen hat dennoch einen Weg gefunden, sich mit ihrer Skoliose zu arrangieren.

F ür die 46-Jährige ist Skoliose eine Krankheit, mit der sie schon als kleines Kind konfron-

tiert wird. Ihr Vater leidet darunter, von seinen fünf Kindern sind drei betroffen – auch Lydia, wie sich im Alter von acht Jahren herausstellt. Der Vater hat seine Erkrankung im Griff. Er ist leidenschaftlicher Fuß-ballspieler, was sich positiv auf sei-ne Skoliose auszuwirken scheint. Lydias ältere Schwester – eher we-niger an sportlicher Betätigung in-teressiert – hat Glück im Unglück. Der Grad ihrer Wirbelsäulenver-

krümmung friert im Teenageralter plötzlich ein. Anders bei Lydia: Obwohl die ältere Schwester die Grundschülerin regelmäßig zur Krankengymnastik mitnimmt, ver-stärkt sich deren Skoliose zuse-hends. „Angefangen hat es mit einer Krümmung von 20 Grad. Mit den Jahren wurde das Ganze im-mer schlimmer. Ich bekam einen Buckel, den ich allerdings gar nicht wahrgenommen habe, weil er einfach zu mir gehört hat. Es hat mich auch niemand damit aufge-zogen, so dass ich mit 16 Jahren nicht nachvollziehen konnte, war-um die Ärzte mich so eindringlich ermahnten, mich operieren zu las-sen, weil ich sonst mit 23 im Roll-stuhl sitzen würde – und das, ob-wohl ich all die Jahre in physiothe-rapeutischer und chiropraktischer Behandlung war.“

ausweg operation?

Von ihrem Chiropraktiker war der Teenager zuvor stark mobilisiert worden. „Mit den Händen auf den

Seit 2002 leitet

Lydia Stahl den

Skoliose-Treff

Erlangen. Be-

troffene sollen

hier möglichst

umfangreich

über sämtliche

Behandlungs-

methoden infor-

miert werden.

„Allein das The-

ma Schroth ist

mir zu wenig.“

ProFund – das mitgliedermagazin der kassenärztlichen Vereinigung bayerns (kVb) – ausgabe 5/2011

29Pat i e n t e n o r i e n t i e r u n g

nis eingebrannt. „Die fünf Tage da-nach waren die Hölle. Ich durfte mich nicht bewegen. Mein Körper stand unter einer unglaublichen Spannung, der ich ständig auswei-chen wollte, aber nicht konnte, weil die Wirbel ja mit Haken und Widerhaken fixiert waren. Diese Spannung auszuhalten, war bisher das Schlimmste, was ich in mei-nem Leben erfahren habe.“ Gott sei Dank, so die Erlangerin weiter, würde man inzwischen nicht mehr so vorgehen. Sowohl die Streck-phase, als auch die OP würden anders ablaufen. „Und nach der Operation legt man die Patienten heute ins Schlafkoma, so müssen sie die Spannungsschmerzen nicht mehr aushalten.“

spezialist der eigenen krankheit

Hat sie die Operation je bereut, ob- wohl diese ja erfolgreich war? Ly-dia Stahl überlegt einen Moment. „Nein“, meint sie dann, fügt aber hinzu, dass sie sich heute auf je-den Fall vorher besser informieren würde. Denn es gebe noch viele andere Möglichkeiten, die von den Ärzten jedoch eher selten ange-sprochen werden. Eine Selbsthilfe-gruppe könne da meist besser Aus-kunft geben. Zum Beispiel über die verschiedenen Therapieformen wie die dreidimensionale Skoliosebe-handlung nach Katharina Schroth und über die E-Technik nach Hanke eine neurophysiologische Behand-lungsmethode auf entwicklungskine- siologischer Basis. Oder über die Vojta-Therapie. Für Betroffene sei es äußerst wichtig, zum Fachmann

ihrer eigenen Krankheit zu werden und verschiedene Therapieformen auszuprobieren. Nur so könne man sich ein Urteil über deren Effektivi-tät machen und herausfinden, mit was man sich am wohlsten fühle und was für einen selbst Sinn ma-che. Die Selbsthilfe könne hier wert- volle Informationsarbeit leisten.

Als Betroffene ist Lydia Stahl schon sehr früh mit einer ungewöhnlichen Form der Selbsthilfe in Berührung ge- kommen. Das war 1980 zur Zeit ihrer OP. Damals im Krankenhaus begegnete sie zum ersten Mal Ilse Besenbruch. „Sie wusste alles über Skoliose, war mit einer Wirbelsäu-lenverkrümmung von 150 Grad selbst schwer betroffen und konnte mir all meine Fragen beantworten. Das hat mir viel innere Sicherheit gegeben.“ Jahre später gründet Ilse Besenbruch die erste Skoliose-Selbst- hilfegruppe in Nürnberg. Lydia Stahl, inzwischen 25 Jahre alt, schließt sich ihr an. „Die Arbeit be-stand damals allerdings vor allem im Organisieren von orthopädischen Fachvorträgen, zu denen ausschließ- lich Krankengymnasten, Physiothe-rapeuten und Chiropraktiker kamen.“

Um eine eigene Gruppe für Betrof-fene leiten zu können, schließt sie sich 2001 dem Bundesverband Skoliose-Selbsthilfe e. V. an. Seit 2002 organisiert sie nun den Sko-liose-Treff Erlangen. Ihre Gruppe trifft sich einmal im Monat. Natür-lich kümmert sich Lydia Stahl auch darum, Ärzte und Therapeuten für interessante Fachvorträge zu ge-winnen. Die Themenwünsche ihrer

Gruppe reichen von Schmerzthera-pie im Alter über Tinnitus und Logo-pädie bis hin zu Akupunktur. Lydia Stahls größter Wunsch: ein Ortho-päde, der selbst von Skoliose be-troffen ist und sich mit sämtlichen Behandlungsmethoden auskennt.

skoliose als Chance?

Natürlich hat die Skoliose das Le-ben von Lydia Stahl beeinflusst.Aber das, was sie machen wollte, hat sie umgesetzt: eine Ausbildung zur Hauswirtschafterin, dann ge-heiratet, drei Töchter bekommen, die übrigens alle drei ebenfalls von der Krankheit betroffen sind, da-nach halbtags weitergearbeitet und sich in der Selbsthilfe enga-giert. Bei all dem ist sie nach Möglichkeit immer in Bewegung geblieben. „Das ist das A und O. Wer sich nicht mehr bewegt, be-gibt sich in einen Teufelskreis und die Symptome werden umso schlimmer.“ Die 46-Jährige fährt Fahrrad, betreibt Wassergymnastik und meditativen Tanz. Langes Sit-zen bereitet ihr dagegen eher grö-ßere Probleme. Zu spüren, wann der Körper eine Erholung braucht, ist ihr wichtig, und diese Einstellung versucht sie auch an ihre drei be-troffenen Töchter weiterzugeben. „Skoliose ist auch eine Chance. Sie hat mich früh gelehrt, gut mit meinem Körper umzugehen. Man muss sich mit seiner Skoliose aus-söhnen. Dann wird man auch mit dieser Krankheit glücklich.“

Marion Munke (KVB)

Der Skoliose-

Treff Erlangen ist

dem Bundesver-

band Skoliose-

Selbsthilfe e. V.

angegliedert.

Die Gruppe trifft

sich einmal im

Monat in der

Scheune/Bü-

chenbach, Oden-

waldallee 2,

91056 Erlan-

gen. Kontakt

und weitere

Informationen

über Lydia Stahl,

Telefon 0 91 31 /

4 43 64.

ProFund – das mitgliedermagazin der kassenärztlichen Vereinigung bayerns (kVb) – ausgabe 5/2011