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strassen| feger 1,50 Euro, davon 90 Cent für den Verkäufer www.strassenfeger.org Achtung, Passkontrolle! Vom Reisen und Nachhausekommen „Ich weiß, dass es keine Grenzen gibt“ FERNWEH! Soziale Straßenzeitung Ausgabe 2 Januar 2013 Mit Hartz-IV-Ratgeber!

Ausgabe 02 2013 Fernweh - strassenfeger

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Fernweh mit den Themen: Achtung, Passkontrolle!; Vom Reisen und Nachhausekommen;

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Page 1: Ausgabe 02 2013 Fernweh - strassenfeger

strassen|feger1,50 Euro, davon 90 Cent für den Verkäufer

www.strassenfeger.org

Achtung, Passkontrolle!

Vom Reisen und Nachhausekommen

„Ich weiß, dass es keine Grenzen gibt“

FERNWEH!

Soziale Straßenzeitung

Ausgabe 2 Januar 2013

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KulturtippsAus unserer Redaktion 22/23

TitelWunderbares Neuseeland 3

In unendlicher Ferne, die Sterne 4

Zu Haus ist es am besten! 5

Achtung, Passkontrolle! 6/7/8

Willy Puchners „Illustriertes Fernweh“ 9

Tropische Nächte im Botanischen Garten Berlin 10

Fernweh führt nicht nur zu Erbaulichem 11

Tippelbrüder, Pilger, Wanderer, Flaneure 12

Digital reisen ist günstig und bequem 13

Warum Zugvögel jedes Jahr verschwinden 14

Wenn der Zirkus auf Reisen geht 15

Vorletzte SeiteLeserbriefe, Impressum, Vorschau 31

MittendrinVon Kptn Graubär 30

art strassenfegerGenowefa Jakubowska-Fijałkowska: Über eine von 16/17Armut, Sucht und Entzug, Verfall und Verwahrlosung geprägte Welt

strassenfeger unpluggedTolle Konzerte im Jahr 2013 19

VerkäuferMeinungsäußerung: Geben und nicht nehmen! 18

SportEiskalte Leidenschaft 26/27

Hartz-IV-RatgeberSanktionen Teil 5 29

BrennpunktKältehilfe: Objekte für Notübernachtungen fehlen 28

AktuellRezension: „Arme Roma, böse Zigeuner“ 20/21

Der Krimi-Autor Håkan Nesser im Interview 24/25

Die soziale Straßenzeitung strassenfeger wird vom Verein mob – obdachlose machen mobil e.V. herausgegeben. Das Grundprinzip des strassenfeger ist: Wir bieten Hilfe zur Selbsthilfe! Der strassenfeger wird produziert von einem Team ehrenamtlicher Autoren, die aus allen sozialen Schichten kommen. Der Verkauf des strassenfeger bietet obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen die Möglichkeit zur selbstbestimmten Arbeit. Sie können selbst entscheiden, wo und wann sie den strassenfeger anbieten. Die Verkäufer erhalten einen Verkäuferausweis, der auf Verlangen vorzuzeigen ist. Der Verein mob e.V. fi nanziert durch den Verkauf des strassenfeger soziale Projekte wie die Notübernachtung und den sozialen Treffpunkt „Kaffee Bankrott“ in der Prenzlauer Allee 87. Der Verein erhält keine staatliche Unterstützung. Der Verein beauftragt niemanden, Spenden für das Projekt an der Haustür zu sammeln!

Spenden für die Aktion „Ein Dach über dem Kopf“ bitte an:mob e.V., Bank für Sozialwirtschaft, BLZ: 100 205 00, Kto.: 32838 01

Liebe Leser_innen,plagt Sie nicht auch immer wieder dieses unergründliche Fernweh? Mir jedenfalls geht es so und vor allem in dieser kalten, unwirtlichen Jahreszeit in Deutschland. Wenn Dauerregen, Eis und Schnee uns in tiefe Depressionen stürzen, weil es uns an Licht und Wärme fehlt, dann werden gerne Kataloge gewälzt und wird Ausschau gehalten nach günstigen Flugreisen in ferne Länder. Die Reiseziele orientieren sich dann zumeist am eigenen Geldbeutel. Aber es muss ja nicht immer der Flug in die Karibik sein. Auch in Berlin gibt es sie, die Wohlfühloasen, in denen man die Last des winterlichen Alltags perfekt abstreifen kann. Der Botanische Garten in Berlin-Dahlem ist so eine Oase. In den nächsten Wochen fi nden dort die „Tropischen Nächte“ statt, eine gute Empfehlung für alle, die es wieder einmal nicht schaffen, zu verreisen.

Für manchen Menschen ist das Reisen keine Lust, sondern eher eine Last: Tippelbrüder und Handwerksburschen müssen durch die Lande ziehen, egal, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Und auch für viele Vögel ist das Fernweh eher ganz praktischer Natur: Sie wollen sicher keine fernen Länder kennenlernen, sondern müssen sich ganz einfach vor nordischer Kälte schützen. Oder sollten sie vielleicht doch anderes im Schilde führen…

Wir wissen es nicht. Und das ist gut so. Ein paar Geheimnisse des Menschen wie Tiere umtreibenden Fernwehs dürfen ruhig ungelüftet bleiben. Dass ohne Reisepass oft gar nichts geht mit dem Reisen, das weiß schon jedes Kind. Wo sie aber genau herkommt, diese „amtliche Reiseerlaubnis“, das wissen wohl die wenigsten. Bei uns im strassenfeger fi nden sie die Antwort. Außerdem gibt’s natürlich die volle Packung Kultur, Sport und Soziales in dieser Ausgabe!

So richtig dolles Fernweh und viel Spaß beim Schmökern wünscht IhnenAndreas Düllick

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Wunderbares Neuseeland„Das Land der langen weißen Wolke“ unter uns

Würde man in Berlin ein Loch in die Erde bohren, käme man nach etwa 12.700 km auf der anderen Seite der Erde heraus, wenn es klappt, sogar in Neuseeland. Zumindest lässt sich dies nach

einem Blick auf den Globus schlussfolgern. Der Weg nach Neuseeland quer durch die Erdkugel ist natürlich nur fantastischer Natur. Am schnellsten geht es mit dem Flugzeug. Die Reisedauer beträgt stolze 30 bis 36 Stunden, ohne Stopover, einmal um die halbe Welt, ca. 18.000 km. Das ist ganz schön weit. Doch es lohnt sich.

Neuseeland, das sind zwei Hauptinseln umgeben vielen kleineren inmitten des Pazifiks, mit einer Nord-Süd-Ausdehnung von 1.600 km und einer Ost-West-Ausdehnung von nie mehr als 450 km, größtenteils jedoch weniger. Die nächste größere Landmasse findet sich in mehr als 1.000 km Entfernung. So ist es ziemlich einsam um das Land herum. Auch im Land selbst ist viel Platz. Neuseeland hat etwa ein Viertel weniger Fläche als Deutschland und mit etwa vier Millionen Einwohnern nur fünf Prozent unserer Bevölkerung.

Vor etwa 80 bis 85 Mio. Jahren löste sich das heutige Neuseeland von dem Urkontinent Gondwana. Fernab vom Rest der Welt entwickelte sich hier eine ganz eigene Flora und Fauna, im Unterschied zu den übrigen Kontinenten, ohne Säugetiere. Die Insel ist mit Ausnahme einer Spinnenart frei von giftigen Tieren. Dafür brachte die Evolution etliche flugunfähige Vögel hervor, wohl da sie keine natürlichen Feinde hatten. Einer dieser flugunfähigen Vögel hat es zum Nationalsymbol Neuseelands geschafft, der Kiwi. So bezeichnen sich übrigens auch die Neuseeländer. Die Kiwi-Frucht, die eigentlich eine chinesische Stachelbeere ist, nennt sich in Neuseeland „kiwifruit“.

Die erste Besiedlung durch den Menschen fand vor 1.200 Jahren durch die Polynesier statt. Sie begründeten die Maori-Kultur und nannten Neuseeland „Das Land der langen weißen Wolke“.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann die britische Kolonialisierung. Die Inseln wurden zunächst von Walfängern, Robbenjägern etc. als Zwischenstation auf ihren Reisen genutzt. Schließlich ließen sich dort britische Missionare nieder. Die Zahl der europäischen Siedler, insbe-

sondere der britischen, nahm zu. Mit dem Vertrag von Waitangi im Jahr 1840 zwischen den Maoris und den Briten wurde alle Souveränität der britischen Krone übertragen. Die Maoris wurden britische Untertanen. Seit dem 26.09.1907 ist Neuseeland unabhängig.

Die Lage am Pazifischen Feuerring ist Grund für die vulkanischen und geothermalen Aktivitäten, die zu einer ständigen Veränderung des Landschaftsbildes in einzigartiger Weise führen. Regelmäßige Erdbeben gehören zum Alltag der Neuseeländer.

Die neuseeländische Landschaft mit ihren Vulkanen, Fjorden, blauen Meeresbuchten, Regenwäldern, subtropischen Küsten, alpinen Hoch-gebirgen (auf der Südinsel 17 Gipfel über 3.000 m) und einigen wenigen modernen Städten ist sehr vielseitig. In freier Natur können Delfine, Wale, aber auch Pinguine und andere Tiere, beobachtet werden. Neuseeland bietet damit so ziemlich alles, was das Herz eines Aktivurlaubers erfreut. Besonderen Aufschwung erreichte der Tourismus durch die Trilogie „Herr der Ringe“, deren Filmkulisse Neuseeland war. In sämtlichen aktuellen Reiseführern finden sich Hinweise auf die einzelnen Drehorte und „Herr der Ringe“-Touren. Der seit neuestem in den Kinos laufende Film „Der Hobbit“ wurde ebenfalls in Neuseeland gedreht.

Klimatisch ist Neuseeland überwiegend in der gemäßigten Klimazone zuzuordnen. Nur der nördliche Teil der Nordinsel weist subtropisches Klima auf. Die Jahresdurchschnittstemperaturen nehmen nach Süden ab. Dort bestimmen die von der Arktis kommenden Winde das Wetter. Die Westküste der Südinsel ist sehr regenreich. Dort regnen sich die von der Tasmansee kommenden Wolken vor darauffolgenden Alpen ab. Der lang gestreckte Fjord Milford Sound im Südwesten der Südinsel zählt mit 8.000 mm pro Jahr zu den regenreichsten Gebieten der Erde. In Berlin regnet es etwa 600 mm pro Jahr.

Eine Reise um die halbe Welt ist wohl für viele ein Traum, ist es doch spannend, einmal die Welt unter uns zu sehen.

n Manuela

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Herr der Ringe-Drehort "Hobbingen" in der Nähe von Matamata/Neuseeland

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In unendlicher Ferne, die Sterne Wo sich Fiktion und Wirklichkeit treffen

Es ist gerade ein paar Tage her, da richteten sich auf der Erde alle Blicke in den Himmel über uns, um Feuerwerke in den unterschied-lichsten Farben und Variationen zu bestaunen. Der pyrotechnische

Sternenregen am Brandenburger Tor jedenfalls sorgte selbst noch in der Ferne für Faszinationen. Wer allerdings in der Silvesternacht die Gelegenheit hatte, abseits von der Feiermeile, sowohl das Feuerwerk, als auch den klaren Sternenhimmel zu beobachten, konnte sich ebenso glücklich schätzen.

Deutlich am westlichen Abendhimmel zeigte sich das Sternenbild des Orion mit Hund und den Plejaden, etwas östlicher das des Wagens, bzw. des großen Bären. Kurz, die unendlichen Weiten des Weltraums sorgten in anderer Hinsicht für Faszination. Ähnlich muss es den Griechen in der Antike gegangen sein, als sie den Sternen ihre Bedeutung und Namen gaben, nicht zuletzt um Ihren Göttern zu begegnen. Noch heute begleiten uns die Helden damaliger Zeit wie Perseus und Herkules, die da am Himmel thronen, mit ihren Geschichten und Mythen, ihrem hohem Tun und Leiden.

Im Hinblick auf den Kenntnisstand der heutigen Wissenschaft vom Kosmos, ist diese Art der Betrachtung des Weltalls sicher „naiv“. Ent-scheidender finde ich aber die Tatsache, dass wir, im Gegensatz zu den Griechen, wählen können, zwischen der wissenschaftlichen und naiven Sichtweise des Himmels. Wir können uns voll Ehrfurcht und Dankbarkeit an der Schönheit und festen Ordnung des Himmels erfreuen. Zugleich können wir den Blick auf die bodenlose Unendlichkeit des Weltalls richten, Furcht dabei empfinden, oder auch Inspiration, Heldenmut und Fernweh daraus schöpfen.

So wie einst, Oberleutnant Juri Gagarin (1934-1968), der am Morgen des 12. April 1961 in das Weltall gestartet und als Held zurückgekehrt ist. Was treibt jemanden in diese Weite? Ein anderer Weltraumpionier und Visionär Konstantin Ziolkowski (1857-1935) formulierte es einmal so:

„Die Erde ist die Wiege der Menschheit, aber welches Kind bleibt schon ewig in seiner Wiege?“ Eine wirkliche Reise in das Weltall allerdings blieb schon immer aus verschiedenen Gründen nur wenigen vorbehalten. Zum Glück gibt es ja noch des Menschen Fantasie. Sie ist es, die von den Sternen und der unendlichen Weite des Kosmos inspiriert im Geiste dem Fernweh folgte. Und sie trieb nicht nur die technische Entwicklung voran, sondern beflügelte den Menschen ebenso literarisch.

Nur wenige Monate nach der Weltraumreise des Juri Gagarin unternahm Perry Rhodan als Romanheld seine erste Reise ins Unendliche. Noch immer nimmt er uns wöchentlich mit auf seine Reisen in Sternenreiche, die seit Millionen von Jahren auf uns warten. Letztlich um die Welt zu retten und ein Stück Menschheitsgeschichte vorweg zu nehmen. Manche nennen das trivial. Ich jedenfalls fieberte schon früh mit „Star Trek“ den unendlichen Weiten des Universums entgegen. „Beam me up, Scotty!“.

Ganz sicher wird auch in Zukunft der Mensch nach Lebenszeichen aus dem Weltall Ausschau halten. Bestes Beispiel lieferte letztes Jahr die Landung auf dem Mars. Nach sage und schreibe 570 Millionen Kilometern und über acht Monaten Flugzeit gelang dem US-Forschungsroboter „Curiosity“ schließlich Anfang August eine schwierige Landung. Es dauerte gut 14 Minuten bis die ersten Daten zur Landung auf der weit entfernten Erde ankamen. Und, wen wundert es noch - ein Unternehmen aus den Niederlanden bereitet sich schon jetzt auf die erste Realityshow vom Roten Planeten vor. „Mars One“eine niederländische Stiftung hat jedenfalls angekündigt, innerhalb der nächsten zehn Jahre Menschen auf den Mars zu schicken und dort eine Kolonie zu errichten. Natürlich ohne Rückfahrticket.

Wen das Fernweh schon jetzt gepackt hat, der kann bis etwa Mitte Januar den Mars zu mindestens schon mal mit optischen Mitteln ins Visier nehmen. Jeweils nur relativ knapp über dem Horizont und für wenige Minuten während der nautischen Abenddämmerung.

n Andreas Peters

Curiosity am 31. Oktober 2012 auf dem Mars Nachbildung der Wostok-Trägerrakete

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Norden, Süden, Osten, Westen – zu Haus ist es am besten! Warum Reisen keinen Sinn macht und unnötig beschwerlich ist

Wenn Politiker und Zeitungskolumnisten uns die Vorzüge der Europäischen Union vor Augen führen wollen, preisen sie vor allem die unbegrenzten Reisemöglichkeiten. Ohne lästige

Grenzkontrollen können wir vom finnischen Polarkreis bis nach Gibraltar, vom Atlantik bis ans Schwarze Meer reisen. Vielen reicht das nicht, und sie machen sich zu fernen Kontinenten auf. Es kann gar nicht weit genug sein. Es scheint wir sind eine Gesellschaft auf Reisen. Das unterscheidet unsere Epoche von früheren Zeiten am meisten.

Eine globale Tourismusindustrie will uns weismachen, dass wir unbedingt ein paar Wochen in der Hitze der Mittelmeerländer verbringen, zum Shoppen nach New York fliegen, in orientalischen Basaren Kaffee trinken und womöglich am Südpol Pinguine zählen müssen. Das soll überdies der Erholung dienen und sehr gesund sein. Haben die Leute auf Mallorca oder in Antalya denn eine höhere Lebenserwartung als wir Mitteleuropäer?

Reisen bringt Gewinn und Seligkeit?

Früher reiste nur, wer es nicht vermeiden konnte. Reisige waren Krieger, die im Gefolge ihrer Herrschaften zu Beutezwecken in ferne Länder zogen. Die Griechen reisten nach Troja, um eine Strafexpedition wegen Frauenraubs durchzuführen, nicht wenige versuchten sich vor diesem Trip zu drücken. Die Heimreise des Odysseus war eine einzige Kette von Katastrophen, die heutigen Reiseveranstaltern ein paar Dutzend Klagen auf Entschädigung einbringen würden. Freiwillig reisten immer nur die Kaufleute, um seltene und Profit bringende Güter in ihr Warenangebot zu bekommen. Sobald sie arriviert waren, ließen sie reisen und verfolgten das Geschehen auf Landstraßen und Meeren lediglich von ihren Kontoren aus.

Ohne jeden machtpolitischen oder ökonomischen Zweck wurden seit dem Mittelalter Pilgerreisen über große Entfernungen durchgeführt: nach Rom und Santiago de Compostela, Die Muslime pilgern nach Mekka. Allen gemeinsam ist, dass sie das für ihr Seelenheil taten und tun, aber da reicht eine Reise aus für den Rest des Lebens und die Ewigkeit.

Reisen ist gesund und bildet?

Ab dem 17. Jahrhundert wurden die Bildungsreisen populär, zuerst ein Privileg des Adels, dann auch des wohlhabenden Bürgertums. Ein schönes Zeugnis dieser Reisen ist der Bericht des jungen Schopenhauer, den seine Eltern durch halb Europa schleiften und immer darauf achte-ten, dass er sorgfältig Buch führte über alle Merkwürdigkeiten, denen sie begegneten. Das waren auch für betuchte Reisende keine reinen Vergnügen. Die Postkutschen waren eng, gingen oft zu Bruch, Straßen und Herbergen meist nur unzureichend. Die Bäderreisen des Adels und Großbürgertums im 19. Jahrhundert boten dank der Eisenbahn schon mehr Komfort, allerdings zu fulminanten Preisen.

Thomas Cook in England revolutionierte die Touristik und bot Gruppen-reisen für Jedermann. Nun konnten viele – das nötige Geld vorausgesetzt – ferne Landstriche besuchen und ansehen, was sie bis dahin nur aus den Erzählungen von früheren Reisenden und dürftigen Bildern kannten. Reisen wurde zur Industrie, und wie in der verarbeitenden Industrie alles ausschließlich dem größtmöglichen Profit dient und individuelle

Besonderheiten im Interesse des Profits wegrationalisiert werden, so wird nun auch der Reisende vom neugierigen Subjekt in ein angepasstes Objekt einer Maschinerie von Transport, Unterbringung und Verpflegung verwandelt. In der Werbung versichert man ihm, er sei der König und die ausgesuchtesten Sehenswürdigkeiten warteten darauf, von ihm entdeckt zu werden.

Reisen lässt man besser

Alles, was einmal Zweck einer Reise sein sollte, bedarf heute nicht mehr der Strapazen und Risiken, die mit dem Reisen verbunden sind. Es lässt sich komfortabel von zuhause aus erledigen und erleben. Wir müssen nicht mehr nach Paris fahren, um einen Eindruck von der Mona Lisa zu bekommen, denn es gibt vorzügliche Reproduktionen, die einen besse-ren Blick auf dieses Kunstwerk erlauben, als das im Gedränge davor aus zehn Meter Entfernung möglich ist. Es trägt nicht wirklich zur Bildung der Persönlichkeit bei, wenn man einmal vor dem schiefen Turm von Pisa gestanden hat. Schiefe Türme gibt es auch in der Nähe. Exotische Produkte und Speisen kann man ganz in der Nachbarschaft erwerben. Abwechslung und Unterhaltung bietet Berlin mehr als irgendein Badeort an der Nordsee oder am Mittelmeer. Wo anders kann man den Tag an einem der zahlreichen Seen verbringen, in Wäldern spazieren gehen und am Abend die Oper aufsuchen und bei schlechtem Wetter den ganzen Tag im Museum sein?

Wenn wir ehrlich sind, ist es doch im eigenen Bett am bequemsten, besser als in jedem Hotel oder Ferienhaus, die gewohnten Speisen schmecken am besten. Bleiben wir also zuhause, ersparen uns Stress und Kosten und erholen uns prächtig. Darum geht es doch im Urlaub. Allerdings können wir dann unseren Freunden nicht mit einem langweiligen Dia-Abend imponieren.

n Manfred Wolff

Detail eines alten Mosaiks von Odysseus in Tunesien

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l Achtung, Passkontrolle!Ohne Reisepass geht fast nichts, wenn man Fernweh hat

„Wenn einer eine Reise tut,

dann kann er was erzählen.

Drum nähme ich den Stock und Hut

und tät das Reisen wählen.“ Matthias Claudius (1740 - 1815)

Schon mancher Reisende hat in übergroßer Vorfreude vergessen, seinen Pass einzustecken oder aber ein Visum zu beantragen. Da ist das Entsetzen groß, wenn der Grenz-beamte bei der Abfertigung streng nach den gültigen Rei-sedokumenten fragt. Schon manche Reise endete so, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte. Und an allem ist nur dieser Reisepass Schuld. Wo kommt er aber eigentlich her, dieser Pass? Und wieso müssen sich Menschen beim Grenzübertritt in andere Länder überhaupt ausweisen? Und wieso versuchen die Staaten ihre und fremde Bürgerinnen und Bürger zu identifi zieren? Mehrere Autoren haben sich dankenswerter Weise mit der Geschichte des Reisepasses gründlich beschäftigt. Andreas Reisen (Ein Schalk, wer Böses bei dem Namen denkt!), seit 2005 Leiter des Refe-rates Pass- und Ausweiswesen, Identifi zierungssysteme führte mit seinem Team 2005 den elektronischen Reisepass und 2010 den neuen Personalausweis im Scheckkartenformat in Deutschland ein. Er untersucht in seinem Buch „Der Passexpedient“ akribisch die Geschichte der Reisepässe und Ausweisdokumente vom Mit-telalter bis zum Personalausweis im Scheckkartenformat. Thomas Claes studierte Geschichte und Islamwissenschaften in Bochum und Tours und arbeitet u.a. als freier Historiker. In seinem Buch

„Passkontrolle“ beschreibt er die Geschichte des sich Ausweisens und des Erkanntwerdens. Und auch beim Internetlexikon Wikipedia fi ndet sich viel Spannendes und Amüsantes zum Thema ‚Reisepass‘. strassenfeger-Chefredakteur Andreas Düllick fragte bei Thomas Claes mal etwas genauer in Sachen ‚Reisepass‘ nach.

strassenfeger: Besitzen Sie eigentlich einen gültigen Reisepass?Thomas Claes: Ja natürlich. Ich reise häufi g in der arabischen Welt, da ist ein Reisepass immer unbedingt notwendig.

sf: Wo kommt er denn ursprünglich her, unser Reisepass?T. C.: Der Pass wie wir ihn heute kennen ist, wie so vieles in der Moderne, eine Folge der Französischen Revolution. 1791 wurden alle früheren Reisebeschränkungen abgeschafft, aber schon bald merkte die franzö-sische Regierung, dass sich bei völliger Reisefreiheit auch Spione und Feinde der Revolution ungehindert bewegen konnten. Daher wurde schon bald eine Passpfl icht für alle Reisenden eingeführt, jeder der sich in Frankreich aufhielt, aber kein Franzose war, musste einen Pass besitzen der Auskunft über seine Person gab.

sf: Was bedeutet das Wort ‚Pass‘ und woher stammt es her?T. C.: Das Wort ‚Pass‘ ist eine verkürzte Form des englischen ‚passport‘ oder des französischen ‚passeport‘. In diesen Wörtern steckt noch die ursprüngliche Bedeutung: ein Tor passieren, denn im Mittelalter war die Grenze zu einer Stadt, das ‚Tor‘, eine wichtigere Grenze als die zwischen Ländern.

Links: Biometrie-Reisepass der Bundesrepublik Deutschland vom November 2006

Unten: Beschränkungen im US-Reisepass

Oben: Preussischer Reisepass 1829

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sf: Kann man das den Ursprung von Pass und Passwesen genau datieren?T. C.: Der Ursprung lässt sich nicht genau datieren, denn die frühen Passdokumente standen nicht so wie heute jedem zur Verfügung, son-dern waren dazu gedacht einer kleinen Elite das Reisen angenehmer zu machen. Im Mittelalter gab es keinen Tourismus, die einzigen Reisenden waren Kaufleute, Gesandte, Fürsten - und natürlich Pilger, die aber in der Regel ohne Papiere unterwegs waren.

sf: Was waren die wichtigsten historischen Daten und Ereignisse hinsichtlich des Reisepasses?T. C.: Eines der wichtigsten Daten ist schon angeklungen, die Einführung der Passpflicht in Frankreich am 30. Januar 1792. Die erste Umfassende Passregelung in Deutschland war das preußische Passgesetz vom März 1813.

sf: Es soll früher mal ein ‚Reiseverpflegungsrecht‘ gegeben haben. Hört sich gut an, finde ich! Worum ging es dabei genau?T. C.: Das Reiseverpflegungsrecht, auch ‚tractoria‘ genannt, war eine Reiseerleichterung für königliche Boten im Mittelalter. Zu einer Zeit als es nur wenige Herbergen für Reisende gab, sollte so sichergestellt werden, dass die Reisenden im königlichen Auftrag überall Aufnahme und Essen bekamen. Dazu erhielten sie ein Dokument das ihnen diese Rechte garantieren sollte. Allerdings ist dies nur eingeschränkt ein Vorläufer eines Passes im heutigen Sinn.

sf: Sind Sie bei Ihren Studien zum Reisepass auch über kuriose Dinge gestolpert?T. C.: Wirklich bemerkenswert fand ich, dass im deutschen Kaiserreich, wie auch im übrigen Europa, eine erstaunlich große

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„Passkontrolle! Eine kritische Geschichte des sich Ausweisens und Erkanntwerdens“ von Thomas Claes, Vergangenheits Verlag

„Der Passexpedient“ von Andreas Reisen, Nomos Verlag

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lReisefreiheit geherrscht hat. Deutsche

und Ausländer konnte ohne Dokumente ein- und ausreisen. Diese Praxis endete erst mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges. Die Passpflicht blieb dann bis zur europäischen Einigung und dem Abkommen von Schengen bestehen.

sf: Hat die Farbe der der Pass-Umschläge eine beson-dere Bedeutung?T. C.: Der weinrote Einband ist das einheitliche Passmu-ster der Europäischen Gemeinschaft und wurde 1986 in Deutschland eingeführt. Heute sind alle Pässe der EU-Staaten in dieser Farbe, außer es handelt sich um Diplomatenpässe.

sf: Wer darf heute Reisepässe ausstellen und warum?T. C.: Die Ausgabe von Pässen ist ein staatliches Hoheitsrecht, das heißt nur der Staat kann Pässe ausstellen - und die Ausstellung auch verweigern. Zwar ist das freie Reisen ein Menschenrecht, doch sind zum Beispiel verurteilte Straftäter davon explizit ausgenommen, ihnen kann daher ein Pass verweigert werden.

sf: Seit wann und warum werden besondere Kennzeichen zur Identifi-zierung eines Inhabers in den Reisepass aufgenommen?T. C.: Im Grunde ist diese Praxis schon so alt wie der Pass selbst, je besser der Pass und sein Inhaber zusammenpassen, indem zum Beispiel seine Augenfarbe und Größe vermerkt ist, desto sicherer kann man eine Person mit dem dazugehörigen Pass identifizieren. Dies war natürlich zu einer Zeit als es noch keine Fotos gab noch weitaus wichtiger.

sf: Warum darf ich mir mit meinem Smartphone nicht selbst ein Passfoto machen?T. C.: Heutzutage muss ein Passfoto biometrisch sein, dass heißt bestimmte Merkmale des Gesichts müssen erkennbar sein. Das mit dem Smartphone zu schaffen stelle ich mir schwierig vor...

sf: Ist die Geschichte dieser Identifizierungsdokumente mittlerweile vor allem eine Geschichte zunehmender Kontrolle, Disziplinierung und Überwachung der Staatsbürger?T. C.: Natürlich dienen diese Dokumente der Kontrolle und entspringen letztlich der Angst des Staates vor seinen eigenen Bürgern. Daher sage ich einerseits ja, aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass der Pass immer auch ein Ausdruck unseres Rechtes auf Reisen ist. Andere Staaten verweigern ihren Bürgern dieses Recht. Darin sehe ich ein weit größeres Problem als in der Überwachung durch den Pass.

sf: Ein Reisepass kostet Geld, mittlerweile viel Geld. Als Bürger der Bundesrepublik Deutschland zahlen wir Steuern. Die Ausstellung der Pässe ist eine hohheitliche Aufgabe, ohne Pass kann man in bestimmte Staaten gar nicht reisen. Müsste folglich der Reisepass nicht kostenlos sein?T. C.: Im internationalen Vergleich steht Deutschland mit den Pass-gebühren gar nicht mal so schlecht da. Natürlich wäre es eine nette Geste des Staates, aber ein Reisepass ist immer noch ein gewisser Luxus, nicht jeder kann es sich leisten in ferne Länder zu reisen. Warum sollte also die Allgemeinheit diese Kosten übernehmen? Anders sieht es aber bei den Personalausweisen aus, die jeder braucht und dennoch werden dafür Gebühren erhoben.

sf: Die USA verlangen mittlerweile bei der Einreise einen Pass mit biometrischen Daten des Reisenden. Was erhofft man sich davon und verstößt das nicht gegen den Datenschutz?T. C.: Man erhofft sich damit eine größtmög-

liche Fälschungssicherheit und versucht sicher-zustellen, dass der Reisende auch der Besitzer des Passes ist. Die im Pass gespeicherten Daten werden dann mit der realen Person abgeglichen. Inwiefern dies tatsächlich praktisch und technisch umsetzbar ist, steht aber auf einem anderen Blatt. Es steht aber auch jedem Staat frei, die Einreise zu regulieren. Und wir Deutschen haben es eigentlich sehr gut, denn wir dürfen ohne Visum in die USA einreisen. Dafür könnte sich die Preisgabe der biometrischen Daten lohnen.

sf: Der Chaos Computer Club hat nachgewiesen, dass die modernen ePässe mit ihrer Maschinen-lesbarkeit, mit RFID und Biometrie gar nicht sicher sind, sondern Sicherheitslücken aufweisen.

Muss der Reisende Angst um seine persönlichen Daten haben?T. C.: Diese Sicherheitslücken beziehen sich auf die im Pass gespeichert Daten. Jedoch ist der RFID-Chip nur mit wenigen cm Abstand auszulesen, wenn ich den Pass also in meiner Tasche trage, dürfte es schwer werden, ihn auszulesen. Erneut ist dies eher kritisch bei den neuen Personalaus-weisen, die ja auch zum Bezahlen im Internet benutzt werden sollen. Wenn es hier Kriminellen gelingt, eine Identität zu ‚stehlen‘, könnte das schlimme Folgen haben.

sf: Es gibt durchaus auch Menschen, die gar keinen Pass haben. Wie ist das mit Flüchtlingen oder staatenlosen Menschen und sogenannten Passersatzpapieren?T. C.: Ja, wie oben bereits angeklungen, sind mit dem Pass auch viele Rechte verbunden, das Recht zu Reisen und natürlich die Rechte die ein jeder Staatsbürger besitzt. Ohne Zugang zu einem Staatswesen steht vieles auf dem Spiel, von der Schulausbildung bis hin zur Gesundheits-versorgung. Es ist auch klar, dass Staatenlosigkeit vor allem ein soziales Problem ist. Wer wohlhabend ist, ist nicht im gleichen Maße auf die Gemeinschaft des Staates angewiesen.

Im 20. Jahrhundert war die Staatenlosigkeit in Europa ein großes Problem, besonders während und nach den großen Kriegen. Auch heute noch leiden Menschen darunter, dass sie keinen Pass haben. So können sich etwa syrische Flüchtlinge nicht in die Flüchtlingslager in der Türkei begeben, wenn sie keinen Pass haben. Und natürlich verweigert das syrische Regime bewusst die Ausgabe von Pässen an bestimmte Personen.

sf: Wohin geht die Reise mit dem Reisepass? Werden wir alle irgend-wann mal gar keinen Pass benötigen?T. C.: Natürlich wär es schön, wenn eines Tages wieder ein vollkommen freies Reisen in der ganzen Welt möglich wäre. Aber seien wir realistisch, solange es Konflikte zwischen Staaten oder auch nur große Unterschiede in der weltweiten Wohlstandsverteilung gibt, solange werden Staaten auch weiterhin ihre Grenzen sichern. Daher sehe ich nicht, dass wir irgendwann keine Pässe mehr benötigen. Vielmehr hoffe ich darauf, dass weltweit mehr Staatenbünde wie die EU entstehen, in deren inneren es dann keine Passpflicht mehr gibt.

Allerdings könnte der Pass als Dokument irgendwann überflüssig werden, nämlich dann, wenn nur noch unser eigener Körper und seine besonderen Merkmale zur Identifikation dienen. Dies ist natürlich eine düstere Zukunftsvision, denn dann ist der Weg zu einer totalen Kontrolle des Bürgers nicht mehr weit.

sf: Wohin zieht das Fernweh Sie demnächst, und müssen Sie dafür Ihren Reisepass einstecken?T. C.: Ich gehe im kommenden Jahr für einen Forschungsaufenthalt nach Tunesien, da werde ich meinen Reisepass sicher brauchen. n

Info:

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Willy Puchner, geboren 1952 in Mistelbach, Niederösterreich; seit 1978 freiberuflich als Fotograf, Zeichner und Autor tätig; nach dem Studium der Philosophie ausgedehnte Reisen; Veröffentlichung vieler Bücher, Publikationen in Zeitschriften, Ausstellungen, Workshops und Vorträge; freier Mitarbeiter der Wiener Zeitung; lebt in Wien und in Oberschützen.

„Illustriertes Fernweh - Vom Reisen und Nachhausekommen“ von Willy Puchner. Mit einem Vorwort von Freddy Langer. Frederking & Thaler Verlag, München 2006. Gebunden, 29,90 Euro.

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l„Illustriertes Fernweh – Vom Reisen und Nachhausekommen“Ein geniales Patchwork aus Texten, Zitaten, Fundstücken und Bildern

Der Wiener Fotograf und Künstler Willy Puch-ner ist ein Reisender der besonderen Art: einer, der sein Zuhause immer mit sich trägt.

Doch er benötigt keine schweren Koffer, ihm genügen dünne, großformatige Bücher, Kladden wie sie früher auch Buchhalter verwendeten. Auf den Seiten trägt er zusammen, was ihm auf Reisen begegnet, fügt Zitate, Zeichnungen und Fund-stücke zu Bildern, zu Collagen des Reisealltags. So entstehen Kleinodien, Kunstwerke, Zeugnisse von Begegnungen mit sich und anderen.

Willy Puchner ist ein Buchhalter der Fantasie. Obwohl er in vielen Ländern, auf allen Konti-nenten unterwegs war, weiß er nur zu gut, dass die wahren Reisen im Kopf stattfinden - in der Vorfreude und in der Erinnerung. So schafft er sich in den Materialbüchern seine ganz eigene Welt. Sie sind, wie er sagt, seine „Wohnung auf Reisen“.

„In meinen Materialbüchern und Reisenotizen wird die Welt zu einer Sammlung persönlicher Fundstücke, eine Art Patchwork, das sich in Texten, Zitaten, Fundstücken und Bildern darstellt.“ Akribisch notiert Puchner, was ihm angesichts des Fremden auf - und einfällt, er zeichnet, malt, fotografiert und collagiert, sieht jeden Ort neu, mit den staunenden Augen eines Kindes.

Und wir, die Betrachter, folgen ihm auf seinen Reisen rund um die Welt: nach Indien und New York, nach Japan und Venedig, ans Meer und in die Wüste. Seine fantastisch-bunten Patchworks aus Pflanzen-, Tieren- und Menschenbildern, aus Eintrittskarten, Stempeln und Briefmarken, aus Fetzen von Poesie und akribisch notierten Informationen lassen die Zeit wieder auferstehen, als wir noch zu staunen wussten und uns täglich alles neu erschien. Willy Puchner zeigt uns einen Weg aus der Trostlosigkeit des durchorganisierten, berechenbaren Reisens. Seine Materialbücher sind mehr als ungewöhnliche Reiseführer: Es sind subtile kleine Kunstwerke, deren Betrachtung zu keinem Ende kommt.

n red./www.buecher.de

Info:

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Willy Puchner bei der Arbeit

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Ihre Patenschaft für eine Pflanze oder Bank hilft dem Botanischen

Garten in die Zukunft! - Ich werde Pate!

Sie möchten regelmäßig aktuelle Informationen zu Pflan-zen und Veranstaltungen im Botanischen Garten und Botanischen Museum Berlin-Dahlem per E-Mail erhalten? Eine E-Mail an [email protected] genüht!

Botanischer Garten und Botanisches Museum Berlin-DahlemKönigin-Luise-Str. 6-8, 14195 Berlin

8 www.botanischer-garten-berlin.de

Tropische Nächte im Botanischen Garten BerlinCocktails, südamerikanische Livemusik und botanische Kurzführungen

Während der Winter frostig kalt ist, lädt der Botanische Garten Berlin zu Tropischen Nächten in die abends illuminierten Gewächshäuser ein. An den folgenden drei Wochenenden ab

dem 18. Januar (18. + 19. / 25. + 26. Januar und 1. + 2. Februar 2013), jeweils Freitag- und Samstagabend, ist die nächtliche Pflanzenwelt mit Cocktails, südamerikanischer Livemusik und botanischen Kurzführungen zu erleben. Die Tropischen Nächte bieten ein unvergessliches Tropen-Erlebnis und verströmen Urlaubsstimmung mitten im Berliner Winter.

Im Foyer des Großen Tropenhauses sorgen Latin Beat Bands mit Salsa, Merengue, Bachata, Cumbia, Cha-Cha oder Rumba für tropische Rhyth-men. Freitags spielt das „Orquesta Burundanga“ eine fröhliche Mischung aus afro-kubanischen und karibischen Klängen. Die Kolumbianerin Sonia Solarte und ihre Tochter Johanna singen sonnige und leichtfüßige Kompositionen, die zum Tanzen verführen. Samstags dagegen spielt die Band „Caché“ um Bandleader Ivan Araque aus Kolumbien feurige Latino-Rhythmen. Temperamentvolle Tänzerinnen begleiten sie und zaubern karibische Karnevalstimmung ins Gewächshaus. In den Spielpausen moderiert und serviert Johannes Heretsch als DJ Globalution feinste exotische Klänge.

Den ganzen Abend über werden im Tropischen Nutzpflanzenhaus, im Farn- und Bromelienhaus sowie im Kakteenhaus in halbstündigen Abständen kostenlose Kurzführungen von Biologen angeboten, die den Besuchern Spannendes aus der Pflanzenwelt vermitteln. Auch individuell lassen sich mit einem alkoholischen oder nichtalkoholischen Cocktail in der Hand die vielen Gewächshäuser bestens erkunden. In

der abendlichen Illumination besticht die tropische und subtropische Vegetation mit Blüten und Düften. Die ostasiatische Kamelienblüte nähert sich ihrem Höhepunkt. Zu den weiteren Krönungen des Abends werden auch die Gewächshäuser mit vielen blühenden Pflanzen aus Südafrika, Australien und der Mittelmeerregion zählen.

Im Großen Tropenhaus kann köstliches Kokoswasser direkt aus frischen Kokosnüssen getrunken werden. Bachmann’s Bar bietet dagegen alkoholfreie und alkoholische Cocktails mit frisch gepressten Säften in Bio-Qualität.

n Red./Gesche Hohlstein

Info:

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Kameliengewächshaus, Innenansicht

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11Fernweh führt nicht nur zu ErbaulichemAuch Kolonialisierung, Versklavung und Globalisierung sind die Folgen

Blättert man zum Thema „Fernweh und Reisen“ durch die Weltliteratur,

findet man fast nur Edles und Erhabenes: „Die Welt ist ein Buch. Wer nie reist, sieht nur eine Seite davon“, heißt es bei Augustinus (354-430); oder Theodor Fontane (1819-1898): „Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat haben.“ Aber leider stehen diese erbaulichen Motive nicht allein. Gemäß dem menschlichen Egoismus und der Gier nach Geld und Macht herrschten am Anfang des Fernwehs ganz andere Beweggründe vor.

Zunächst war es der auf naturgemäßer Wissbegier beruhende Forscher- und Erkundungsdrang, erwei-tert um den Wunsch nach Warenaustausch; etwa bei Marco Polo (1254-1324), dem venezianischen Händler, der im Auftrage des Papstes eine 24jährige Reise nach China zu dem Mongolenherrscher Kublai Khan, dem Enkel von Dschingis Khan, unternahm und ausführlich darüber berichtete.

Ab dem 15. Jahrhundert setzte die imperiale Phase ein, als die nach und nach erstarkenden Staaten Europas im Zuge des ausufernden Nationalismus die fremden Länder mit Hilfe ihrer überlegenen Mili-tärmacht („Kanonenbootpolitik“) kurzerhand zu Kolonien machten, um sie schamlos und brutal auszubeuten und deren wirtschaftliches Potenzial, vor allem die Rohstoffe und Nahrungsmittel, den eigenen Interessen nutzbar zu machen; von der Sklaverei ganz zu schweigen. Hinzu kam die Missionierung durch die Kirchen, die den – aus der Sicht des Weißen Mannes – unterentwickelten Völkern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas die angebliche Überlegenheit des westeuropäischen Glaubens näherbrachten.

Mit „gold, gospel, glory“ (Geld, Evangelium, Ruhm) fasste man treffend die Methoden des alten und des neuen Imperialismus zusammen. Das riesengroße Volksvermögen der Staaten Europas (und auch der unermessliche Reichtum z. B. der Königshäuser der Niederlande und Englands) basieren zu einem großen Teil auf der gnadenlosen Ausbeu-tung der Kolonien und der Zerstörung von zum Teil hochstehenden Kulturen und Ethnien. Noch bis 1945 stand in Deutschland über vielen Lebensmittelgeschäften geschrieben „Kolonialwaren“.

Infolge des Zweiten Weltkrieges, der die westeuropäischen Koloni-almächte Großbritannien, Frankreich, Belgien und die Niederlande wirtschaftlich und militärisch entscheidend geschwächt hatte, erhielten die Freiheitsbewegungen in den Kolonien [Mahatma Gandhi in Indien (1869-1948), Ho Chi Minh in Vietnam (1890-1969)] großen Auftrieb, so dass sie sich, teilweise nach blutigen Kriegen gegen die alten Kolo-nialmächte, die Unabhängigkeit erkämpfen konnten. Dafür ist man dort Adolf Hitler, dem Auslöser des Zweiten Weltkrieges, bis heute dankbar; eine aus unserer Sicht überraschende, jedoch historisch erklärbare Anschauung.

Aber die Ausbeutung ging auch nach der politischen Unabhängigkeit weiter, wenn auch in verdeckter Form. Die alten eingefahrenen Handels-wege waren so fest in der Wirklichkeit verankert, dass man sie einfach fortführte wie bisher. Viele der unerfahrenen Führungseliten in Politik und Wirtschaft ließen sich nur allzu gern von den früheren Kolonial-mächten bzw. von deren Handelsgesellschaften (z. B. der belgischen Union Minière oder der US-amerikanischen United Fruit Company) mit Millionenbeträgen bestechen, regierten überwiegend in deren Interesse und verrieten das Gemeinwohl ihrer eigenen Völker, um selber die Luxusgüter der westlichen Welt zu genießen. Die früheren Kolonien blieben unverändert die Rohstoff- und Nahrungsmittellieferanten für die westlichen kapitalistischen Staaten und ermöglichten diesen riesige Profite und Exportüberschüsse. Nach wie vor kommen z.B. in unserer kalten Jahreszeit grüne Bohnen aus Kenia und die ersten Frühkartoffeln aus Ägypten oder Marokko. Die Kapitalisten kennen nur ein Ziel: die dauerhafte Gewinnmaximierung. Die sogenannte Entwicklungshilfe diente dabei als Alibi, um den Missstand zu verdecken. Sie war in Wirklichkeit Außenwirtschaftspolitik im eigenen Interesse, keine Hilfe.

Gegenwärtig läuft das gleiche System weiter unter dem Deckmantel der Globalisierung, flankiert von einigen UN-Organisationen und internati-onalen Geldinstituten, die fest in der Abhängigkeit der kapitalistischen Welt stehen. Tatsächlich wird die Weltwirtschaft von wenigen global operierenden Großkonzernen sowie von der Hochfinanz (Wall Street und City of London) beherrscht.

Angefangen hat das alles mit dem Fernweh in seiner negativen Ausprägung. Die heute in der Dritten Welt anzutreffende Armut, die Wirtschaftsflüchtlinge und Asylsuchenden von dort, das sogenannte Ausländerproblem bei uns und vieles andere mehr gehen zum großen Teil als Langzeitwirkungen auf das fehlgeleitete Fernweh von damals zurück.

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Hamburger Kolonialwarenladen um 1830. Objekt im Museum für Hamburgische Geschichte

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Die Entdeckung der LangsamkeitTippelbrüder, Pilger, Wanderer, FlaneureVon Terminen gehetzt bin ich Hilfe angewiesenIch nutze die öffentlichen Verkehrsmittel in Berlin. Sonst könnte ich nicht das alles tun, was ich tun will und muss. Ich bin fast immer am Dienstag 17 Uhr im Kaffee Bankrott bei den Redaktionssitzungen dabei, bin jeden zweiten Mittwoch um 9 Uhr beim Plenum der AG „Leben mit Obdachlosen“ in der Heilig Kreuz-Kirche und Mittwoch drauf zum Treffen des Sprecherrates der AG. Dazu kommen diverse Treffs der Bürgerplattform „Wir sind da“ für Wedding und Moabit, Treffen mit diversen Persönlichkeiten der Verwaltung und der Politik und noch mehr. Dass mich als Empfänger von ALG II das Jobcenter sehen will, dass ich diverse Ablesedienste in meine Wohnung lassen muss, vervollständigt die kleine Aufzählung. Ich bin in Berlin oft unterwegs. Ohne Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel wäre das nicht zu schaffen.

Ich kann mich aber auch an das Gefühl erinnern, viel Zeit zu haben, und ich bin in dieser Zeit weite Strecken zu Fuß gegangen.

TippelbrüderDas Wort Tippelbruder hörte ich im Fernsehen als Heranwachsender. Ohne das Fernsehgerät hätte ich damals davon nie erfahren. In der heilen Welt der FDJ kam das nicht vor. Zunächst begleitete die Kamera einen älteren, kleinen, hageren Mann in abgetragener Kleidung. Er ging auf ein Haus zu. Dann zeigte die Kamera eine ältere Frau hantieren, wahrscheinlich Witwe. Die Frau und der Mann. Sie fragt: „Was willst?“ Keine Reaktion. Irgendwann fragt sie: Willst a Sup?“ Nach langem Zögern kommt die Gegenfrage: „Hasst a Sup?“ Nach „mach erst Holz, dann bekommst a Sup“ und ihrer Anweisung, wo Hackklotz, Beil und Holz zu finden sind, sieht man ihn Holz hacken. Seitdem weiß ich, Tippelbrüder sind Männer ohne Wohnung, die von Ort zu Ort ziehen.

Der Eintrag „Tippelbruder“ in eine Suchmaschine landet bei der ersten Seite beim Internetlexikon Wikipedia auf den Eintrag „Wanderjahre“. Dort ist von fahrenden Gesellen und der Walz die Rede, der Kluft und den strengen Regeln der Schacht mit leicht zu kontrollierenden Wan-derbuch. Auch vom Ohrring steht da geschrieben. Der Ring konnte in Notzeiten zu Geld gemacht werden. Und wenn sich ein Geselle auf der Walz unehrenhaft verhielt, wurde der Ring herausgezogen. Heute ist ein Schlitzohr etwas ganz ganz anderes. Der Begriff „Tippelbruder“ ist in dem Beitrag in einem Satz über das Wanderbuch mit Anführungsstrichen als beleidigende Bezeichnung zusammen mit den Begriffen „Berbern“ und „Speckjägern“ genannt.

Apropos Wanderbuch: Auf die Verfolgung und Ermordung sogenannter Asozialer durch die Nazis und die unrühmliche Rolle, die führende Vertre-ter der Fürsorgeverbände dabei gespielt haben und, dass ein bayrischer SA-Mann Wanderbücher und Wanderruten zur Kontrolle wohnungsloser Menschen einführte, ist im strassenfeger in früheren Ausgaben berichtet worden. Angesichts dieses Teils deutscher Geschichte sind menschenver-achtende, abwertende Vorurteile gegen Langzeitarbeitslose, Schnorrer und Obdachlose nicht hinnehmbar. Die Studie „Deutsche Zustände“ von 2000 bis 2010 von Prof. Wilhelm Heitmeyer sollte uns alarmieren.

PilgerDer Pilger ist ein Mensch, der aus religiösen Gründen in der Fremde unterwegs ist, in der Regel zu Fuß. Das Ziel für alle christlichen Wallfahrer ist das Grab Jesu und für Katholiken der Petersdom. Bekannt ist der Jakobsweg in Spanien und die Haddsch, die Wallfahrt der Muslime nach Mekka. Aber auch Buddhisten haben Pilgerziele.

Dass eine Wallfahrt nicht ohne Gefahr für Leib und Leben war und ist, davon zeugen diverse Berichte. Der berühmteste Bericht steht im Neuen Testament: Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter.

Das Internetlexikon Wikipedia sagt, Pilger kommt aus dem Lateinischen und ist wortwörtlich ein Mensch, der „per agrum“, auf gut deutsch „über den Acker her“ kommt. Gemeint ist damit das Gebiet jenseits der civitas, also ein Fremdling.

Wandern, Spazieren gehen und flanierenWandern ist das Gehen zu Fuß in der Natur als Freizeitbeschäftigung. Vom Spazierengehen unterscheidet sich das Wandern durch die Dauer des Gehens zu Fuß. In den vom Deutschen Wanderverband mit der Krankenkasse AOK gemeinsam herausgegebenen Materialien zur gesundheitsfördernden Wirkung von Wandern steht, dass der Mensch eigentlich täglich 15 km zu Fuß unterwegs sein sollte. Eigentlich. Im Internetlexikon Wikipedia steht, dass der Deutsche Wanderverband Gehen zu Fuß von über einer Stunde als eine Unterscheidung vom Spazierengehen sieht. Ich habe diese Definition auf der Website des Deutschen Wanderverbandes nicht gefunden.

Der Flaneur ist in der Stadt zu Fuß unterwegs. Zweckfrei, langsam gehend (schlendern), beobachtend. Flaneure sind mit ihren Reflektionen Helden der jüngeren Literatur.

n Jan Markowsky

Wandergesellen-Treffen in Bad Kissingen (Bayern)

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Vom Flugzeug auf das SofaDigital reisen ist günstig und bequem

Gestern hat mir ein Bauer aus Ecuador seine Kakao-Plantage gezeigt. Davor bin ich mit einem Puma durch die Nebelwälder der Anden gepirscht. Vorgestern war ich in Grönland – wie ein Vogel bin ich

über Asche spuckende Vulkane geflogen. Ich habe in Geysiren gebadet und einen Blauwal mit seinem Jungen beobachtet. Ich weiß jetzt: Die Hauptschlagader des Wals ist so dick, dass ein Mensch durch sie hindurch schwimmen könnte. Heute Abend bin ich mit Nomaden in der Mongolei verabredet. Sie wollen mir zeigen, wie man in der Tundra jagen geht.

Man muss sich keinen Schritt mehr bewegen, um zu reisen. Es reicht einen Fernseher zu haben. Ein Computer mit Internetzugang ist noch besser.

Wenn mich das Fernweh packt, stöbere ich einfach in der Mediathek von arte. Da warten verschiedene Dokumentationen auf mich. Ich kann mich entscheiden, ob ich nach Norwegen oder Südamerika möchte. Und wenn das Land meiner Wünsche mal nicht dabei ist, gehe ich auf Google Maps. Jeden Landstrich unseres Planeten kann ich so von oben sehen. Näher rangehen, die Position ändern – alles kein Problem. Von China nach Mexiko in einer Sekunde. Das schafft kein Flugzeug der Welt.

Das digitale Reisen ist unschlagbar schnell und günstig. Es ist einfach und bequem. Und genau deswegen hat es mit Reisen in der Realität nichts zu tun. Da gehören die Strapazen nämlich dazu. Wenn ich fünf Stunden einen Berg nach oben gestiegen bin, ist der Ausblick für mich viel mehr, als es jede Filmeinstellung aus der Vogelperspektive jemals sein kann.

Ein Dokumentarfilm ist immer eine Auswahl, ein Kondensat von Eindrü-cken. Und er ist fremdbestimmt. Wenn ich ihn anschaue, bin ich machtlos.

Ich kann nicht entscheiden, was ich sehen möchte, sondern muss nehmen, was man mir zeigt. Anfassen kann ich nichts. Temperaturen und Gerüche sind digital nicht machbar. Und wenn ein Mensch spricht, habe ich keine Möglichkeit nachzufragen.

Ist es also schlecht, digital auf Reisen zu gehen? Schüren die durch-komponierten, gestochen scharfen Bilder nur falsche Erwartungen? Immerhin ist es unwahrscheinlich während einer privaten Reise den Balzflug der Kolibris zu sehen, mit Ureinwohnern zu sprechen, drei Wasserfälle von oben zu erblicken und dabei ständig Informationen von einer beruhigend tiefen Männerstimme zu bekommen.

Nein, das digitale Reisen ist nicht schlechter oder besser als die Wirklichkeit. Es lässt sich einfach nicht damit vergleichen. Es wird nie dasselbe sein, vor einem Bildschirm oder mitten im Regenwald zu sitzen, auch wenn sich die Technik rasant entwickelt. Aber es kann Lust darauf machen, den Rucksack zu packen und sich selbst auf den Weg zu machen. Und es kann trösten, wenn das nicht mehr geht.

Mein Opa ist früher viel gewandert, hat Ausflüge und Reisen mitgemacht. Mit einem Wanderklub war er sogar in Norwegen. Seit einem Schlaganfall braucht er für die zehn Meter vom Wohnzimmer ins Bad mehrere Minuten. Den Rest schafft er nur mit Rollstuhl.

Aber wenn er abends den Fernseher anmacht, ist das egal. Er sieht die Lofoten, vom Boden und aus der Luft. Klar, das ist nicht dasselbe wie damals, als er selbst dort oben wandern war. Aber es ist trotzdem schön.

n Lukas Kleinherz

Urlaubsziele im virtuellen „Second Life“

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l Ab in den SüdenWarum Zugvögel jedes Jahr aus Mitteleuropa verschwinden

Das Phänomen der ZugvögelIm Frühjahr und Herbst gibt es jedes Jahr denselben imposanten Eindruck: Riesige Vogelscharen in V-Formationen oder in großen Schwärmen verlassen Mitteleuropa und fl iegen gen Süden. Einige legen kleine Strecken von einigen hundert Kilometern zurück, andere mehr als 20.000 Kilometer. Rund drei Viertel aller in Deutschland lebenden Vogelarten sind Zugvögel und nur acht Prozent davon sind sesshaft. Es wird von Experten geschätzt, dass ca. 50 Milliarden Vögel jedes Jahr unterwegs sind.

Flug scheinbar nach einem ProgrammSchon das Verhalten der Vögel ist ein Phänomen: Es ist als ob ein Programm im Tier abläuft: Man wird nie erleben, dass sie sich verirren. Die benötigte Zeit und selbst die Ankunft lassen sich bei vielen Arten mit nur wenigen Tagen bestimmt werden. Verblüffend ist auch die

Zielgenauigkeit der Tiere: Ein Vogel kann zum Beispiel seinen Ort, an dem jedes Jahr seine Brutzeit verbringt ohne Probleme wieder fi nden, auch wenn es sich nur um einen kleinen Balkon an einem Haus irgendwo in Berlin handelt. Wir haben dafür Orientierungshilfen wie Landkarten oder GPS.

Warum dieser Vogelfl ugDer Vogelfl ug bringt ein hohes Risiko für die ziehenden Tiere: Regen, Hagel setzt den Tieren zu. Auch der Mensch ist für die Vögel, durch sein Jagdverhalten und Zerstörung der Lebensräume, ein immer stärker werdendes Risiko. Ein Grund für die langen Reisen der Tiere ist die im Winter bei uns knapper werdende Nahrung. In Mitteleuropa zum Beispiel gibt es im Winter nur wenige Insekten. Die Überlebenschancen von Insektenfresser werden dadurch geringer. Zugvögel legen einmal im Jahr, Standvögel brüten mehrmals im Jahr.

Vogelforschung Bis als bewiesen galt, dass Vögel ziehen gab es viele Theorien, wie die Tiere im Winter überleben. Schon der griechische Philosoph Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) erhob Vogelkunde zur Wissenschaft und machte sich Gedanken darüber. Er stellte die These auf, dass die Vögel wie Amphibien am Grunde eines Sees im Schlamm schlafend überwintern.

Schon im 15. Jahrhundert, als Handlungsreisende mit ihren Schiffen unterwegs waren beobachteten Reisende, dass auch in Afrika Störche lebten, während sie in Mitteleuropa fehlten. Viele alte Thesen über den Vogelzug waren nicht mehr haltbar. Aristoteles Theorie über den Winterschlaf der Vögel konnte sich noch lange halten. Auch eine Theorie über Vogelzüge zum Mond kam auf. Spätestens 1899 fi elen aber auch derartige, heute sehr skurril anmutende Theorien. Der dänische Lehrer Hans Christian Cornelius Morgenstern kam auf die Idee, die Vögel mit Ringen zu versehen, die fortlaufende Nummern und seine Adresse trugen und bekam auf diese Weise eine Rückmeldung, wenn ein Tier woanders auftauchte Vogelkundler haben in Europa inzwischen 120 Millionen und weltweit 200 Millionen Vögel beringt. 1931 konnte auf diese Weise der erste Atlas des Vogelzuges erstellt werden.

Warum ziehen VögelDie Theorie des angeborenen Zuginstinkts, die Pernau 1702 aufstellte, fand schließlich immer mehr Anhänger. Es gilt als bewiesen, dass der Vogelzug genetisch gesteuert ist. Alle Arten haben eine Breite in dem Verhalten der Individuen. Wenn das Wegfl iegen eine höhere Überleben-schance hat als das Bleiben, dann werden die Vögel die ziehen, mehr Nachwuchs haben, als die Vögel, die geblieben sind. Irgendwann setzte sich der Genpool der ziehenden Vögel durch.

n Detlef Flister

Kraniche ziehen über ihrem Rastplatz im Linumer Bruch

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l Das Riesenrad Aus dem Leben eines Schaustellergehilfen

Seit 2006 lebe ich in Rixdorf, in Berlin Neukölln. Einmal im Jahr fahre ich in meine langjährige Heimat, in den Regierungsbezirk Köln. So auch im Sommer des letzten Jahres. In der Rheinmetropole

erreiche ich einen durchgehende Zug nach Berlin. Ich richtete es so ein, dass ich noch ein paar Stunden Zeit hatte, um noch eine Rast einzulegen. Meistens führte mich mein Weg zu „Lommi“. Eine Szenekneipe im rechts-rheinischen Stadtteil Deutz. Hans Lommerzheim war eine Institution, Gastwirt von 1930 bis 2005, seinem Todessjahr. Bei ihm verkehrten Menschen aller Gesellschaftsschichten vom Knacki, Otto Normaltrinker als auch Bürgerliche. Hier und da traf man auch schon einmal WDR-Leute. Sogar Schauspieler. Ich war gerne dort wegen der interessanten Bekanntschaften, die sich zwangsläufig ergaben. An der Wand prangte ein großes, vom Rauch angegilbtes Poster mit einem Hirsch und einer aufgehenden Sonne. Es erinnert mich an die Jägermeister-Werbung „Der Tag kommt und Lommi geht.“

An der Theke standen Gäste und schlürften ihr obergäriges Kölsch. Ich erwischte noch einen Thekenplatz. Neben mir stand ein Typ und sah mich an. Plötzlich quatschte er mich von der Seite an. „Gibst‘e einen aus?“ Ich musterte ihn. Er grinste mich freundlich an. Bruchteil von Sekunden überlegte ich. Dann bestellte ich zwei Kölsch. „Woher kommst‘e denn“, fragte ich ihn. „Eigentlich aus Berlin“, antwortete er. Er prostete mir zu. „Lange Zeit habe habe ich auf dem Rummel gearbeitet. Und dann bin ich hier seit einem Jahr hängengeblieben. Zurzeit habe ich ein Einzelzimmer in einem Männerwohnheim“. Der Typ fing an, mich zu interessieren.

Er erzählte weiter: „Angefangen hat alles in den 60er Jahren. Ich bin zu Hause mit 18 Jahren abgehauen, genauso wie meine Mutter. Mein Alter hat gesoffen. Wenn er besoffen war, setzte es immer Prügel. Also wohin sollte ich? Ich lief über den Rummelplatz. Ein wenig Geld hatte ich in der Tasche. Das setzte ich um, indem ich viele Fahrgeschäfte ausprobierte. So stieg ich z. B. in eine ‚Raupe‘. Man nennt sie auch Berg-und-Tal-Bahn. Langsam fährt sie an und wird immer schneller. Dann hebt sich plötzlich während der Fahrt eine Plane über die Wagen. Nachdem mein Geld alle war, heuerte ich bei dem Schausteller der ‚Raupe‘ an. Er suchte einen Mitreisenden. Einer seiner Leute war abgehauen. Nicht nur der Aufbau der ‚Raupe‘ musste durchgeführt werden. Das Fahrgeld zu kassieren gehörte ebenfalls zum Job.

Die Spielzeit auf den kleinen Plätzen war meistens nicht länger als ein verlängertes Wochenende von Freitag bis Montagabend. 50 Pfennig

kostete eine dreiminütige Fahrt. Morgens, bevor der Fahrbetrieb begann, war die Reinigung der Wagen angesagt. Einmal, ich erinnere mich noch genau, musste ich während der Fahrt aufspringen, um die 50 Pfennig zu kassieren. Der Alte sagte: ‚Hol das Geld‘. Ich musste also im Anfahren aufspringen, mich festhalten und kassieren. Als ich das Geld hatte, musste ich dann wieder festen Boden unter den Füßen kriegen. So sprang ich ab. Aber vollkommen falsch – nämlich gegen die Fahrtrichtung – und flog tierisch auf die Schnauze. Weh getan habe ich mir Gott sei dank nicht. Alles lachte. Ich hielt es dort eine Saison aus.

Im Winter zog ich dann weiter durch die Lande. Zu essen hatte ich immer etwas. Doch lange konnte ich in den Notunterkünften nicht bleiben. So ging es weiter. Immer per Autostopp von Stadt zu Stadt. Als das Frühjahr kam, fand ich einen Job und eine Bleibe im Wohnwagen bei einem Schausteller mit einem historischen Riesenrad. Ein Familienbetrieb. Das hatte auch schon bessere Tage gesehen. Die Frau des Schaustellers stellte mich ein. Ich musste gleich ran. Mit den Klamotten, die ich am Körper trug. Langsam gewöhnte ich mich an das Leben auf dem Rummel. War die Spielzeit am späten Abend zu Ende, zog man über den Platz, um noch ein Bier zu trinken. Manchmal gab es eine Schlägerei mit anderen Schockfreiern. So wurden die Schaustellergehilfen im Slang bezeichnet.

Wenn ich genug hatte, ging ich schlafen. Der Gerätewagen hatte ein kleines Abteil mit einem Tisch, einem Schrank und zwei Betten. Dort verbrachte ich dann meine Nacht. Morgens um acht Uhr klopfte der Alte an die Tür. Waschen, Frühstück. Dann wurden entweder die Gondeln gereinigt oder es mussten kleine Reparaturen vorgenommen werden. Nach Ablauf der Spielzeit wurde über Nacht abgebaut und zum nächsten Spielort gefahren. Dort wurde wieder aufgebaut. Im Sommer war es nicht schlecht. Trotz meiner inneren Unruhe, die sich im Laufe der Jahre entwickelt hatte, blieb ich lange bei diesem Schausteller. Ich hatte es gut bei ihm. Ich freute mich immer wieder auf den nächsten Rummelplatz. Was werde ich vorfinden? Wen von den anderen bekannten Schockfreiern trifft man dort an?

Ich mochte diesen Job. Der Alte hat einmal zu mir gesagt: „Wer ein paar Schuhe auf dem Rummel verschleißt, der kann vom Rummel nicht lassen“. Als ich im Zug nach Berlin saß, dachte ich über die Begegnung bei „Lommi“ nach. Ich kam zu dem Schluss, dass so ein Leben auf dem Rummel nicht meines gewesen wäre.

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Riesenrad auf der Kirmes in Köln-Deutz

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„Ich weiß, dass es keine Grenzen gibt“ Genowefa Jakubowska-Fijałkowska, 1946 in Mikołów bei Kattowitz geboren, schreibt über eine von Armut, Sucht und Entzug, Verfall und Verwahrlosung geprägte Welt.

Eine Anthologie ihrer Gedichte ist gerade in der deutschen Übersetzung unserer Autorin Urszula Usakowska-Wolff erschienen. Für den strassenfeger sprach sie mit der polnischen Lyrikerin über Poesie und Biografie, über Pathologie, Norm und Mythologie, über das Schreiben in der Provinz und die Fernreisen als Fluchten vor sich selbst.

strassenfeger: Beim Übersetzen deiner Gedichte, die in dem Band „Poesie sitzt nicht in der Sonne“ enthalten sind, hatte ich den Eindruck, dass sie sehr stark mit der Biografie und ihrer körper-lichen Seite, mit den schmerzlichen Erfahrungen der Kindheit und Jugend in der, wie du schreibst, „siebten Provinz“ verbunden sind. Hatte die Biografie einen Einfluss auf die Inhalte deiner Poesie, in deren Mittelpunkt pathologische zwischenmenschliche Beziehungen stehen, sodass man meinen könnte, die Pathologie sei keine Ausnahme, sondern eine Norm in der von dir dargestellten Welt? Genowefa Jakubowska-Fijałkowska: In Zeiten des Kampfes um das Feuer fingen der Homo sapi-ens und der Neandertaler an, sich bei Vollmond zu lieben; die Frau des Homo sapiens legte zum ersten Mal seine Hand auf ihrem Bauch und schuf somit die Liebe. So entstand die Poesie: aus dem Feuer, aus dem Körper, aus der Berührung, aus Liebesstöhnen. Das ist auch mein Stöhnen, mein Gedicht, mein Leben. Es gibt keine Poesie ohne Biografie. Pathologie kommt aus dem Griechi-schen und bedeutet Leid, also um welche Patholo-gie geht es dir? Das Wort Norm ist ein Begriff, der sich auf jeden Lebensbereich bezieht, außerhalb der Norm gibt es Grenzüberschreitungen, doch ich weiß, dass es keine Grenzen gibt. Alles ist fließend: die Ozeane, der Kosmos, der Kreislauf meines Blutes und der Luft, mit der ich atme. In meinen Gedichten gibt es keine Pathologie, es gibt Leben!

sf: Wie reagierte deine Umgebung darauf, dass du begonnen hast, Gedichte mit einem so drastischen Inhalt zu schreiben und zu veröffentlichen? G. J. F.: Seitdem ich mich erinnere, hatte ich kein Bedürfnis, zu einer gesellschaftlichen Gruppe zu gehören, in einer Herde zu sein, von einem Alpha-Männchen betreut zu werden oder von der Mutter; ich wurde irgendwo ausgesetzt und bin eine Außenseiterin, einsam wie ein Wolf. Dem, was ich machte, schenkte niemand in meiner „siebten Provinz“ besondere Aufmerksamkeit, geschweige denn worüber und wie ich schreibe. Das Leben meiner Familie konzentrierte sich

darauf, das tägliche Brot zu verdienen – und am Sonntag auf dem Gottesdienst. Meine Oma konnte weder schreiben noch lesen. Ich las insge-heim „Anna Karenina“ und „Wem die Stunde schlägt“. Die ersten Gedichte und Veröffentlichungen waren für meine Verwandten eher eine Attraktion als ein Versuch, mich zu verstehen. Heute, nach der Veröffentlichung von einigen Büchern, nach dem Eintritt in die Literatur-szene (wobei ich mich eher an deren Rändern bewege), ist niemand von der Drastik meiner Gedichte, von meiner Sprache schockiert; jene, die mich kennen, wissen, dass das meine Sprache ist, mit der ich mich und die Welt ausdrücke. Ich bin weit ent-fernt von einem korrekten Polnisch, überhaupt bin ich weit entfernt von jeder Korrektheit.

sf: Charakteristisch ist nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form deiner Gedichte. Die Welt der Menschen, die dazu verurteilt sind oder sich selbst dazu verurteilen, in der Hölle der Physiologie, im materiellen und Gefühlsmangel zu leben, beschreibst du auf eine außerordentlich sparsame und kondensierte Weise, wodurch deine minimalistische Poesie eine maximale Wirkung erzielt. Ist diese vollkommen „arme“ Form deiner Gedichte das Ergebnis eines langen Schaffensprozesses oder ist die Idee eines Gedichtes mit dem fertigen Gedicht identisch? G. J. F.: Die ersten Gedichte, mit denen ich 1972 in der Breslauer Literaturzeitschrift Odra debütierte, zeichneten sich durch eine umfangreichere Metaphorik in Wort und Bild aus, obwohl sich darunter auch solche befanden, die in der Form

„arm“ waren, als ob ich nach meinem eigenen Ausdruck strebte. Die Gedichte entstanden nicht als Idee, sondern eher als Reaktion auf eine Emotion, auf ein Bild, auf einen Klang, auf eine Farbe, auf einen Geruch. Sie waren in mir wie der Atem. Selbstverständlich musste jedes Gedicht in einer konkreten Zeit, in einem Schaffensprozess entstehen – wie alles im Leben. Und ein Gedicht begleitete mich so lange, bis es zu einem fertigen Gedicht wurde; um es festzuhalten, musste ich es aufschreiben, geschaffen mehr in mir als in den Worten.

sf: Deine Gedichte haben meistens keine Titel und sind, außer den Eigennamen, klein geschrie-ben. Du verzichtest auch auf die Interpunktion: Ein Schrei muss sich ohne Ausrufezeichen, eine Frage ohne Fragezeichen artikulieren. Warum? G. J. F.: Die Gedichte, die sich in der deutschen Anthologie befinden, haben tatsächlich keine

Titel, keine Zeichensetzung, genauso gut könnten auch die Eigennamen klein geschrieben sein. Das Aufschreiben des Lebens geschah in mir als etwas sehr Selbstverständliches, das keine Grammatik erforderte; Schreie und Fragen drücken wir durch Schreien, Betonung, Rufen, und nicht durch ein grafisches Zeichen aus. Ich brauchte diese Zeichen nicht, das Gedicht schrieb sich auch zwischen den Zeilen, im Schweigen, im weißen leeren Raum

Genowefa Jakubowska-Fijałkowska

Uganda

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Genowefa Jakubowska-Fijałkowska: „Poesie sitzt nicht in der Sonne. Eine Auswahl von Gedichten aus den Jahren 1994 – 2009“

Aus dem Polnischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Urszula Usakowska-Wolff. Pop Verlag Ludwigsburg, 2012. Preis 17 Euro.

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„Ich weiß, dass es keine Grenzen gibt“

eines Blattes Papiers. Das Gedicht führt mich intuitiv, spontan; während ich schreibe, denke ich nicht an die Sprache, ich benutze Worte, die in mir und neben mir sind; die Sprache ist im Alltag gebannt. Ein Gedicht folgt einem anderen Gedicht, das fortwährend dauert und weder mit einem Titel noch mit einem Punkt beendet werden kann.

sf: Ähnlich wie Charles Bukowski, der davon

überzeugt war, dass ein Gedicht fast aus nichts entstehen kann, entdeckst du Poesie in Menschen und an Orten, wo sie niemand erwartet, denn sie symbolisieren die unappetitliche Prosa des Lebens: die Vergänglichkeit im Warteraum des Todes, an Bahnhöfen, Tankstellen, in Toiletten oder Krankenhäusern, in den Fallen kleiner Woh-nungen. Du schreibst über süchtige, alternde oder von Krankheiten deformierte Körper, über Obdachlose, die vom selbstzufriedenen „norma-len“ Teil der Gesellschaft wie Abfall behandelt werden. Was ist Poesie für dich? G. J. F.: In unserer Kultur gibt es keinen Platz für die Schönheit des Sterbens, für Behinderung, Hässlichkeit und Armut. Wir schämen uns unserer Behinderungen, der physischen Abnutzung des

Körpermaterials. Ich selbst kann meine Kör-perlichkeit nicht zu Ende akzeptieren, obwohl ich in meinem ganzen Schaffen den Körper als etwas glorifiziere, das uns als ein heiliges Gefäß gegeben wurde, damit es mit Leben gefüllt werden kann. Ich denke, dass mein Schreiben somatisch ist, mehr noch: Ich schreibe mit dem Körper. (Ein Gedicht ist ein physischer, psychischer, emotio-naler und metaphysischer Zustand.) Alle meine Sinne empfangen den Menschen und die Welt, jene greifbarste, wirklichste Welt; ich lerne sie immer aufs Neue kennen, entdecke sie für mich, für andere. Ich appelliere nicht, ich provoziere nicht… Meine betrunkene Penelope hat den Mund voll von Kirschblüten, die obdachlose Maria sagt zärtlich zum Mann: „Geliebter, mich beißen Läuse“. So ist halt die Welt. Meine Gedichte werden sie nicht ändern.

sf: Außer der Poesie sind Reisen in ferne, häufig „exotische“ Länder deine große Leidenschaft. Was entscheidet über die Wahl des Reiseziels? Sind das touristische Reisen oder dienen sie einem anderen Zweck? Eindrücke von den Reisen fließen in deine Lyrik ja nicht ein, du „beschreibst“ sie nur in deinen Fotografien. Warum? G. J. F.: Seit meiner Kindheit träumte ich von Reisen, ich stellte mir Länder, Wüsten, Dschungel, Ozeane vor. Auf meine Träume habe ich zwar nie verzichtet, doch ich fand mich damit ab, dass ich sie nie verwirklichen werde. Doch 1997 fuhr ich nach Paris. So fing alles an. Im August 2012 machte ich meine 15. Reise – nach Madagaskar. In diesen 15 Jahren besuchte ich weit entfernte Orte, auch solche am Ende der Welt. Ich war in Ushuaia, der südlichsten Stadt Argentiniens, und auf der Osterinsel; ich kletterte auf den Machu Picchu, war geblendet von den Nachtlichtern in La Paz; ich bewunderte den Sonnenaufgang auf Annapurna und den Sonnenuntergang in Acapulco. Ich beobachtete Gorillas in Uganda, wanderte durch Namib – die älteste Wüste der Welt, und durch die Steppen der Mongolei. Ich trank das Kristallwasser aus dem Baikalsee und warf eine Kerze in die schmutzigen Fluten des heiligen Ganges. Das war mein Gebet. Doch meine größte Liebe und Sehnsucht ist Afrika, wohin ich immer wieder zurückkehren muss. Meine Reisen sind Rundreisen, ich schlafe fast auf dem Koffer, ich lege tausende von Kilometern zurück, bewege mich in verschiedenen Zeit- und Klimazonen, und das ist faszinierend, denn es hat den Anschein, als sei die Welt stets nahe, obwohl sie so fern ist. Meine Reisen sind Fluchten, sind die Suche nach mir in der Welt – und die Suche nach der Welt in mir. Auf Reisen rette ich mich vor mir selbst im unendlichen Raum des Weltalls. Ich kann darüber weder erzählen noch schreiben. Auf Reisen mache ich hunderte von Fotos, die mein Gedächtnis sind. n

worte wie hühner

sitzen in der sonne

poesie schmerzt

oder etwas schmerzt und dann ist es

poesie

poesie sitzt nicht in der

sonne

poesie sitzt im wartesaal der

träume an bahnhöfen

in der regenpfütze

in urintröpfchenauf dem weißen klo

Genowefa Jakubowska-Fijałkowska

(Aus dem Polnischen von Urszula Usakowska-Wolff)

Info:

Äthiopien

Madagaskar

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r Zu Weihnachten heißt es: Geben und nicht nehmenMeine ganz persönlichen Erfahrungen auf der Obdachlosen-Weihnachtsfeier von Frank Zander

Am 19. Dezember vergangenen Jahres feierte Frank Zander wieder gemeinsam mit 2.800 obdachlosen und armen Menschen im Hotel Estrel das Weihnachtsfest. Auch ich wollte an diesem Tag helfen,

einigen Menschen ein kleines Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Mit ‘nem gefüllten Rucksack kam ich gegen 16 Uhr 30 im Hotel Estrel an. Mein erster Weg führte mich zu dem Tisch, an dem offensichtlich schon Kleiderspenden an Obdachlose verteilt wurden. Auch ich gab dort eine kleine Spende ab. Dort fiel mir schon als erstes auf, dass statt dem freundlichen „Frohe Weihnachten“ lieber unfreundliche Rippenpreller verteilt wurden.

Nachdem ich mich erfolglos umgeschaut hatte, ob ich jemanden sehe, den ich kenne, meldete ich mich freiwillig, um beim Verteilen der Gänsekeulen zu helfen. Ruckzuck bekam ich eine Schürze und eine kurze Einweisung. Dann ging es relativ schnell und der Run auf den Weihnachtsschmaus startete. Nachdem die Gäste an den Tischen und auch die tischlosen Herrschaften verpflegt waren, wechselte ich zur Freibier-Vergabe.

Es war mehrmals angesagt worden, dass in diesem Jahr das Freibier an die Tische gebracht wird. Das interessierte aber viele der Gäste nicht. Vielleicht sind ja alle das Schlangestehen so sehr gewohnt, dass das Fest nur halb so schön wäre, gäbe es keine Warteschlangen. Nachdem ich dann zum zehnten Mal mit dem vollen Biertablett meinen Gang in die vollgestellte Tischlandschaft machte, stellte ich erfreut fest, dass Freibier auch dafür sorgen kann, die Gehirne wieder arbeiten zu lassen. Ein paar ehemalige Bekannte beriefen sich nun auf die niemals vorhandene Freundschaft zu mir, in der Hoffnung, dass nun ihre Chancen auf Freibier stiegen.

Beim regelmäßigen Neustart an der Zapfsäule sah ich im Augenwinkel die Ehefrau einen Bewohners aus dem Obdachlosenheim in Lichtenberg. Ihre Aufgabe war es wohl, soviel wie möglich an wiederverkaufbaren Sachen an den verschiedenen Ständen einzuheimsen. Natürlich auch an den Tischen, an denen Kinderspielzeug und Ähnliches verschenkt wurde. Ziel dieses Pärchens ist es anscheinend, ihren erhöhten Genussmittel-konsum durch den Verkauf gespendeter Sachen zu decken. Schon in der Vorweihnachtszeit sammelten sie alles, was sie an Christbaumschmuck in den Berliner Sozialwarenkaufhäusern erhalten konnten. Dadurch blieb

der Christbaum anderer mittelloser Menschen höchstwahrscheinlich ziemlich leer.

Mir missfällt so ein Verhalten sehr. Wenn Sie diesem „armen“ Pärchen, das mittellosen Kindern das gespendete Spielzeug unterschlägt, unbedingt helfen wollen: Es steht regelmäßig auf dem Trödelmarkt am Elsterwerder Platz. Vielleicht aber wollen Sie denen auch einfach nur mal Ihre Meinung sagen…

Dieses Pärchen ähnelt leider denjenigen sehr, die mit Handwagen, Rollis, mehreren Rucksäcken und den hübschen asiatischen Einkaufstaschen, in die ein ganzer Haushalt passt, zu solchen oder ähnlichen Veranstal-tungen kommen. Ich finde es wirklich schade, dass selbst die Ärmsten der Armen das Teilen schon verlernt haben. Für mich ist es deshalb wirklich fraglich, ob es für mich im nächsten Jahr wieder so ein Fest geben wird. Vielleicht sollte man anfangen, den Kindern ähnliche Feste zu bieten, damit sie später wenigstens teilen können und sich darüber freuen, wenn auch andere Menschen etwas geschenkt bekommen.

Im Großen und Ganzen war es ein schönes Weihnachtsfest für obdachlose und arme Menschen, denn zum Glück sind nicht alle Menschen gleich. Und auch wenn die Weihnachtsengel nicht einen einzigen, kleinen Glimmstängel für micht hatten – das Rauchen ist ja sowieso ungesund –, freute ich ich mich umso mehr über den großen Eimer Hundefutter und meine persönliche Geschenktüte. Und wie das mit dem Geben so ist: Über mein Hertha BSC-Shirt freut sich nun der Security-Mann, der in unserem Haus für Ruhe und Ordnung sorgt und für nicht mal den Mindestlohn erhält. Somit noch ein Lächeln für mein Herz und selbst die Freude über die Freude anderer Menschen ist doch schon sehr egoistisch.

Das musste mal gesagt werden, finde ich!n Liebe Grüße Eure Püppilotta,

die schon sehr lange den strassenfeger verkauft

Anm. d. Red.: Es war ein tolles Fest für alle Gäste! Einen ganz großen Dank dafür an Frank Zander und dessen Team, alle fleißigen Helfer und natürlich die Sponsoren!!!

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Was haben Jessy Martens, Tino Eisbrenner und Ingo Pohlmann gemeinsam?Sie alle spielen 2013 bei strassenfeger unplugged

Ein Konzert – ein Versprechen – ein GigIm Publikum der letzten strassenfeger unplugged-Aufzeichnung des Jahres 2012 staunte man nicht schlecht. Gerade rockten „GET

STONED“ das völlig ausverkaufte „ALEX TV“-Studio aber so richtig, da betrat Jessy Martens die Bühne, griff sich ein Mikrofon und performte mit den Jungs der Band gemeinsam ihre Version des Rolling Stones Klassikers „Beast of Burdon“. Stimmung total und ein Versprechen: „Ich komme nach Berlin und spiele bei Euch!“ Es folgte noch eine kurze Absprache nach dem Ende des Konzerts und dann stand es fest. Die Gewinnerin des „German Blues Awards 2012“ in drei Kategorien und des „Deutschen Rockpreises 2012“ wird schon am Freitag den 18. Januar 2013, ein Act von strassenfeger unplugged sein.

strassenfeger unplugged im TVNur zwei Tage danach, am Sonntag den 20. Januar, kommt das Dezem-berkonzert mit „GET STONED“ auf „ALEX-TV“ zur Erstausstrahlung. Dieser Termin und weitere Details zum „ALEX-TV“ Programm erhalten sie unter www.alex-berlin.de.

Peter Ray im FebruarWenn ein neues Jahr mit einem solchen Knaller beginnt, sind die Erwartungen für die folgenden Monate natürlich hoch. Aber was bis jetzt geplant ist, kann sich wirklich sehen lassen: Sein erstes Album „landed“ spielte er 2010 noch unter seinem bürgerlichen Namen Peter Ploch in kompletter Eigenregie ein. Er lernte Jana Jamie Hill kennen, und es folgte das zweite Album „444“, gemeinsam mit Jana. Seit dieser Zeit ist das Duo auf und hinter der Bühne unter dem Namen „Peter

Ray“ untrennbar und wird am 15. Februar Gast auf der strassenfeger unplugged-Bühne sein.

Zwei Gitarren im MärzEr war bereits in der DDR und lange Zeit nach der Wende der bestimmende Gitarrist der Band „Freygang“. Gerry Franke hat neben Mastermint Andre Greiner-Pol die musikalische Wahrnehmung dieser Band geprägt wie kein anderer. Die Akustik-Gitarre ist bis heute das Instrument von Gerry. Das aktuelle Projekt und die dazugehörende CD heißt „Acoustic Funk“ und mit im Boot sitzt ein nicht weniger virtuos spielender Julius Conrad. Am 15. März spielen Gerry Franke & Julius Conrad auf dem Teppich der strassenfeger unplugged-Bühne.

Eine ganz imposante ListeAllen Musikern, die bisher bei strassenfeger unplugged am Start waren, und bei denen, die demnächst spielen werden, ist die Unterstützung des Vereins mob – obdachlose machen mobil e.V. in seiner Arbeit mit ihrer Kunst ein ganz persönliches Anliegen. Sie alle treten aus Über-zeugung auf. Freuen sie sich mit uns also auf das Nachholkonzert von Tino Eisbrenner, auf Ingo Pohlman, der mit seinem neuen Album zu uns kommen wird, auf Ulla Meinecke und Ingo York, auf Shon Abram aus Los Angeles und auf „Gee“. Alle diese Konzerte werden im TV-Studio von ALEX in der Voltastr. 5, in 13355 Berlin-Wedding aufgezeichnet. Sie beginnen jeweils um 19 Uhr 30, die Tore öffnen sich gegen 19 Uhr, und der Eintritt ist wie immer frei.

n Guido Fahrendholz

Tino Eisbrenner

Jessy Martens mit GET STONED Peter Ray und Jana Jamie Hill

Gerry Franke & Julius Conrad Shon Abram

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ell Kein Roma-Problem

In seinem Buch „Arme Roma, böse Zigeuner“ überprüft Norbert Mappes-Niediek gängige Vorurteile gegenüber Roma auf ihren Wahrheitsgehalt. Er stellt zudem die Frage, was wäre, wenn es keine Roma gäbe

Welche Haltung soll man ihnen gegenüber nur einnehmen? Als wohlmeinender Mensch begegnet

man ihnen ja erst mal mit Offenheit und Empathie. Immerhin weiß man ja um ihre Verfolgungsgeschichte, und dass sie in Osteuropa in bitterer Armut leben. Doch wie die junge Frau mit dem langen bunten Rock heute Morgen vor dem Supermarkt um Geld gebettelt hat, das war richtig dreist. Das Kind an ihrer Hand wäre wohl auch besser in der Schule untergebracht. Und was soll man dem Bekannten sagen, der berichtet, dass in seinem Heimatdorf die Einbruchsrate steigt, seit eine Gruppe Roma in das Städtchen gekommen ist?

Norbert Mappes-Niediek hat ein sehr lesenswertes Buch über Roma geschrie-ben, das dabei hilft, ambivalente Gefühle zu sortieren. Als Südosteuropa-Korrespondent schreibt er unter anderem für die Frankfurter Rundschau und die Berliner Zeitung. Er lebt in der Steiermark in Österreich.

Gemäß dem etwas populistisch daher kom-menden Untertitel „Was an den Vorurteilen über die Zuwanderer stimmt“ hinterfragt er in seinem Buch gängige Klischees, die Europas größter Minderheit entgegengebracht werden. Klauen Roma? Steht hinter jedem Bettler ein Clan voller Betrüger? Sind Roma dümmer als andere Menschen? Sind Roma integrationsunwillig? Doch das Buch ist mehr als ein Wirklichkeitsabgleich. Eine zentrale Frage, die den Autor umtreibt, ist die nach den Gründen für das auch im 21. Jahrhundert anhaltende Elend der Roma in Südosteuropa.

»Sind die Roma ein Problem? Oder haben sie eines? Behörden wissen nicht, ob sie den rätselhaften Wesen helfen müssen oder ob sie sie loswerden können. Politik und öffentliche Meinung schwanken zwischen Abschiebungsfantasien und diffusen Wünschen nach Integration.«

Abgeschoben dürfen Roma aus Deutschland oder einem anderen EU-Mitgliedsstaat nicht. Zumindest nicht, wenn sie EU-Bürger sind. Auch nicht, wenn sie sich länger als drei Monate hier aufhalten und danach nicht – wie in Deutschland verlangt – ausreichende Mittel zur Bestrei-tung des Lebensunterhaltes und eine Krankenversicherung nachweisen können. Anspruch auf Sozialleistungen haben sie in der Regel keine.

Trotzdem sind zigtausende Roma, vor allem aus Rumänien und Bulgarien, in den letzten Jahren in den größeren Städten Westeuropas angekom-men. Als Prostituierte, Tagelöhner, Bettler, Straßenzeitungsverkäufer kommen sie über die Runden. Vor allem im Winter sind ihre zugigen Elendshütten im Herkunftsland kein Ort, an den sie gerne zurückwollen. Zu Zeiten des Kommunismus ging es ihnen dort deutlich besser. In ihren ärmlichen zusammengezimmerten Behausungen leben sie erst seit Anfang der 90er Jahre.

»Für die Roma kam die ‚samtene Revolution‘ mit der Scheuerbür-ste; der Trend zur Integration kehrte sich in allen mittel- und osteuropäischen Ländern augen-blicklich um. Wo die Hälfte der Arbeitsplätze wegfiel, braucht es nicht viel Fantasie, sich vorzustellen, warum unter den vielen Betroffenen auch so gut wie alle Roma zu finden waren. Sie hatten die schlechtesten Jobs und die schwächste Stellung bei den Betriebsführungen. Sie waren noch immer am schlech-testen ausgebildet. Als die Wirtschaft sich langsam wieder zu erholen begann, tat sie es ohne die Roma.«

Wenn auch um den Preis der Assimilierung, so wurden die Roma im Kommunismus ins Arbeitsleben integriert, sollten Teil

des arbeitenden Volkes sein. In Ungarn hatten in den 1980er Jahren nahezu alle Roma Arbeit. Ihr Lebensstandard glich sich zunehmend dem der Mehrheitsbevölkerung an. Heute ist der allergrößte Teil von ihnen arbeitslos. Zum einen sind sie beruflich kaum qualifiziert, zum anderen gehören sie der falschen Ethnie an:

»In Wirklichkeit hat in den genannten Ländern (Anm. d. R. Ungarn, Slowakei, Rumänien, Bulgarien) nie-mand, der nach Roma ‚riecht‘, so aussieht, der eine einschlägige Adresse vorweist oder einen entspre-chenden Namen trägt, auf dem privaten Arbeitsmarkt eine Chance. Roma werden auch für Hilfstätigkeiten nicht eingestellt. Man rühmt sich, für Zigeuner einen scharfen Blick zu haben; auch blonde Haare und blaue Augen nützen da nichts.«

Sie haben keine Arbeit, deshalb sind sie arm. So wie sehr viele ihrer Landleute, die keine Roma sind, auch. Sie sind nicht arm, weil sie Roma sind. Zehn Prozent der rumänischen Bevölkerung hat das Land verlassen, um Arbeit im westlichen Europa zu suchen. Armut ist für Mappes-Niediek die zentrale Ursache hinter dem, was gemeinhin als „Roma-Problem“ ausgemacht wird. Die Armut, die Roma und Nicht-Roma betrifft, gälte es zu bekämpfen, eine gezielte Wirtschaftspolitik und Infrastrukturpro-gramme seien vonnöten, keine Minderheitenpolitik.

»Als ‚Roma-Problem‘ lassen sich die Probleme der Roma und die Probleme mit ihnen nicht lösen. Wenn etwas besser werden soll, müssen die Probleme zunächst bei

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Norbert Mappes-Niediek, „Arme Roma, böse Zigeuner“, Ch. Links Verlag 2012

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ihrem richtigen Namen genannt werden. Sie heißen Armut, Arbeitslosigkeit, Bildungsmisere oder unterfi-nanziertes Gesundheitswesen. Sie zu lösen ist teurer und weniger bequem als die Gründung und Finanzierung eines weiteren Roma-Beirats.«

Viele Millionen Euro sind geflossen, um die Lage der Roma in Osteuropa zu verbessern. Eine Roma-Dekade läuft noch bis 2015, Hilfsprogramme existieren zuhauf. Doch den Roma in Osteuropa geht es dadurch nicht besser. „Was läuft falsch?“ fragt der Autor. Und stellt zudem die interes-sante Frage, was wäre, wenn es keine Roma gäbe. Was, wenn man nicht mehr bestehende Probleme auf die Roma schieben kann? Rumänien, das bislang für seine Rückständigkeit die Roma verantwortlich macht, bekäme wohl ein Imageproblem. Und die Europäische Union müsste sich mit Themen beschäftigen, die umfassender sind als das „Roma-Thema“.

»Wenn sie von Roma nichts wüsste, würde die Europä-ische Union keine Roma-, sondern Sozialprogramme auflegen. Es gäbe keine ‚Roma-Dekade‘, sondern ein Zehn-Jahres-Programm zur Bekämpfung der Armut … Bettelei wäre keine Gegenstand der Kulturforschung, sondern das Thema einer Sozialdebatte.«

Der versuchte Völkermord an Sinti und Roma durch die Nationalsozi-alisten ist das große Trauma der Roma. Während eine immer größere Öffentlichkeit darüber Kenntnis bekommt, besteht kaum Wissen darüber, dass Roma auch eine lange Geschichte der Sklaverei in sich tragen. In Rumänien waren sie Sklaven seit dem Mittelalter bis Mitte des 19.Jahr-hunderts. „Viele von ihnen gehörten zu einem Haushalt wie der Herd, die Sense oder das Federvieh.“ Die Befreiung der letzten Sklaven in den USA und in Rumänien fand etwa zur gleichen Zeit – in Rumänien 1855/56, in Amerika 1863/65 – statt.

»Aber die Erniedrigung und das Elend, das sie über Jahrhunderte erdulden mussten, sind mit einem

Rechtsakt nicht aus der Welt zu schaffen. Die Erin-nerung wird in den Familien weitergetragen – nicht unbedingt als Erzählung von Leid oder gar von stolzer Befreiung, sondern unausgesprochen, als Trauma oder als Komplex.«

Mappes-Niediek weist darauf hin, dass man sich als politisch engagierter Mensch häufig ein Opfer ohne Ecken und Kanten, eines, mit dem man sich identifizieren kann, wünscht. Ähnlich der Figur des „Onkel Tom“, des Negersklaven, der den Afroamerikanern zum Helden wurde. Vielleicht habe die starke Idealisierung des Opfers - „Onkel Tom“ – auch dazu beigetragen, dass sich bald Enttäuschung breitgemacht, das Thema Sklavenbefreiung die Menschen damals nicht nachhaltig erreicht habe.

Mappes-Niediek benennt zwei gegensätzliche Gefühle, die den Roma charakteristischerweise entgegengebracht werden und die häufig in einander übergehen: Mitleid und Verachtung. Der wohlwollende Zeitgenosse, der um die Geschichte der Roma wisse, gewähre ihnen zunächst ein bestimmtes Maß an Kredit, gestehe ihnen „ein Maß an abweichendem Verhalten“ zu. Bald aber heiße es, Toleranz habe auch ihre Grenzen.

»In der Tat wird immer irgendwann Schluss sein mit der Toleranz; das kann nicht anders sein, und man muss niemanden dafür anklagen. Sich mit dem Verständnis einzuschränken gibt es aber keinen vernünftigen Grund.«

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.Eine Frau aus Rumänien musiziert in Berlin vor dem Mahnmal, das an den versuchten Völkermord der Nationalsozialisten an den Sinti und Roma erinnert. Im Hintergrund der Reichstag

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Ausstellung„Simon Becker Fotografien“

Zwischen den von Simon Becker ausgestellten Bildern besteht keine Verbindung. Kein Ort, keine Zeit, weder Inhalt noch Element oder Betrachtungsweisen stellen eine Verbindung zwischen den verschie-denen Bildern her. Es geht nicht um sogenannte Reportage- oder Straßenfotografie und auch nicht um ein Tagebuch des Fotografen. Die Verbindung, die zwischen den Bildern besteht, entzieht sich konkreter, direkter Benennung und bleibt intuitiv, wechselhaft und oft abstrakt. Dokumentiert wird ein Teil der Welt, der etwas abseits von Wer, Was und Wo liegt. Anstatt das Dokumentierte beschreibend erklären zu wollen, werden Fragen aufgeworfen. Simon Becker sagt über seine Bilder: „Immer wenn

ich glaube, Worte für die Linie oder das Gitter gefunden zu haben, das hier sinngebend zugrunde liegt, stoße ich auf ein Bild, dass diese wieder unzureichend oder gänzlich unpassend erscheinen lässt. Aus diesem Grund gibt es auch keinen konkreten Titel – er wäre vielleicht eher Fußfessel als Hilfestellung.“

Noch bis zum 22. FebruarDonnerstags bis samstags von 15 Uhr bis 19 Uhr

Eintritt frei! Aber eine Spende ist erwünscht.

Kontakt: per Telefon unter 030- 44371-71 oder per E-Mail unter [email protected].

Galerie F92Fehrbelliner Str. 9210115 Berlin

Info und Bildnachweis: www.pfefferwerk.deSimon Becker

Theater„Mit 200 Sachen ins Meer”

Träume haben ihre Berechtigung, jenseits gültiger Normen, die uns den Atem nehmen und die Würde. Die Dame im Rollstuhl sagt: „Die Speichen meines Rades geben mir Halt, aber am Ende graben sie mich nur tiefer und tiefer in die Erde.“ Ihr Geliebter meint: „Den Strand, an dem wir gehen werden, finden wir allein in uns.“ Was bleibt, ist einzig der anarchische Aus-bruch. „Das mag sein, Liebster, aber lass uns trotzdem einfach mit 200 Sachen ins Meer schießen.“ Mit Hei-terkeit, viel Musik und Tanz erkundet dieses

Stück Sehn-suchtsorte, die tödlich enden oder in die Freiheit führen. Wo? Natürlich im Theater!

Vom 15. bis zum 19. Januar, um 19 Uhr, am 16. Januar um 12 Uhr

Eintritt: elf Euro/ermäßigt: acht Euro

Kartenbestellung: per E-Mail unter [email protected]

Theater RambaZambaKnaackstraße 9510435 Berlin

Info und Bildnachweis: www.theater-rambazamba.org

Konzert„Neujahrskonzert „cosmo-poliTON“

Ganz kosmopolitisch startet das Berliner Akkordeonorchester „Euphonia“ die neue Konzertsaison mit einer musikalischen Weltreise.

In 80 Minuten erklingen Klassiker und neue Melodien aus Israel, Ungarn, Frankreich, Griechenland, Afrika, Lateinamerika und den USA. Aus Anlass des 40. Todestages des Komponisten Wolfgang Jacobi eröffnet „Euphonia“ das Konzert mit der

„Sinfonischen Suite für Akkordeonorche-ster“ aus dem Jahr 1964.

Am 26. Januar, um 18 Uhr

Eintritt frei!

Konzertsaal im Kant-GymnasiumBismarckstr. 5413585 Berlin

Info und Bildnachweis: www.euphonia-berlin.de

Poetry-Slam„Saalslam“

Jeden dritten Dienstag im Monat öffnet der Saal des „Heimathafens“ seine Pforten für den größten Dichterwettstreit Neuköllns: Neun Poetinnen und Poeten bekommen

jeweils fünf Minuten Zeit, um ihre selbst-verfassten Texte vorzutragen. Danach stimmt das Publikum mittels Wahlchips ab, wer ins Finale kommt. Ob Kurzgeschichte oder Rap, ob zartes Liebesgedicht oder zynische Stand-Up-Nummer; alles ist erlaubt. Dem Gewinner oder der Gewinnerin winkt neben der Gunst des Publikums

wahlweise eine Flasche Wodka oder ein Büchergutschein. Durch den Abend im prunkvollen Saal führt

Maik Martschinkowsky.

Am 22. Januar, um 20.30 Uhr

Eintritt: fünf Euro

Tickethotline: 030- 61101313

Der Vorverkauf findet außerdem im Heimathafen Neukölln Büro in der Karl-Marx-Straße 141 statt. Alternativ können Karten auch bei Hugendubel am Hermannplatz gekauft werden.

Heimathafen Neukölln Karl-Marx-Straße 14112043 Berlin

Info und Bildnachweis:www.heimathafen-neukoelln.de

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Zusammengestellt von Laura

Schicken Sie uns Ihre schrägen, skurrilen, famosen und preiswerten Veranstaltungstipps an:

[email protected]

Schauspiel„Failed States One: Somalia”

„Die Arbeit ist getan. Elf Minuten nach Mitternacht war der Einsatz beendet.“ Die in dieser Nach-richtenmeldung vom 18. Oktober 1977 gefeierte ‚Arbeit‘ war die Befreiung der Geiseln aus der entführten Lufthansa-Maschine in Mogadischu, Somalia. Sie mar-kierte seinerzeit den Anfang vom Ende des „Deutschen Herbsts“. In den internationalen Medien kam Somalia erst wieder während der 90er Jahre vor, als die US-Army vergeblich versuchte, einen der mittlerweile im Land herrschenden Warlords dingfest zu machen. Die Bilder von Soldaten, die durch die Straßen geschleift wurden, gingen um die Welt, die USA änderten ihre

Afrikapolitik. Damals galt Somalia bereits als „Failed State”, als ein Staat, der die Grundaufgaben seiner Existenzberechtigung – die Sicherung seines Territoriums und die Unversehrtheit seiner Bürger

– nicht garantieren kann. Die Deut-schen kehrten in das Krisengebiet zurück, um die Sicherheit der Handelswege zu gewährleisten. Vor kurzem standen somalische Piraten hierzulande vor Gericht. Was bedeutet es, wenn ein Staat scheitert? Und wer profitiert davon? Hans-Werner Kroesinger setzt den ersten Teil seiner Recherche-Reihe

„Failed States” als Rundgang durch die verfremdeten Räumlichkeiten des „HAU“1 in Szene.

Am 16. bis zum 18. Januar, um 20 Uhr

Eintritt: 12,10 Euro/ermäßigt: 7,70 Euro

Tickets: Karten können über www.reservix.de bestellt und ausgedruckt werden.

HAU Hebbel am UferStresemannstr. 2910963 Berlin

Info und Bildnachweis: www.hebbel-am-ufer.de

Comedy„On se left you see se Sie-gessäule“

Tilman Birr ist jung, und er braucht das Geld. Kurz entschlossen heuert er als Stadtführer– in Berlin

„Stadtbilderklärer“ genannt– auf

einem Ausflugsschiff an und stürzt sich in den Dschungel der Berliner Tourismusbranche. Er kämpft mit Bayern, die nicht Deutsch spre-chen, trotzt Sturm und Hagel sowie erbosten Senioren und macht aus gelangweilten fränkischen Schülern eine fanatisierte Masse begeisterter Berlinfreunde. Bald bringt ihn nichts mehr aus dem Konzept, und er findet sogar Ant-worten auf die wichtigsten Fragen jedes Berlintouristen: Warum hat Hitler die Mauer gebaut? War Berlin wirklich die Hauptstadt Russlands? Wieso wurde eine Brücke nach Martin Semmelrogge benannt? Und wann war eigentlich Horst Tappert Bundespräsident? Aus seinem Buch „On se left you see se Siegessäule“ hat Tilmann Birr ein Soloprogramm gemacht, dass man sich nun im Kookaburra sehen kann.

Vom 17. bis zum 19. Januar, um 20.30 Uhr

Eintritt: Am Donnerstag zwölf Euro/ermäßigt: zehn Euro, sonst14 Euro/ermäßigt: elf Euro

Tickets: per Telefon 030- 48623186 oder per E-Mail unter [email protected]

Comedy Club KookaburraSchönhauser Allee 18410119 Berlin

Info: www.comedyclub.deBildnachweis: Melanie Grande

Festival„Japan Festival“

Das abwechslungsreiche japa-nische Kultur- und Bühnenpro-gramm reicht von der Vorstellung bildender Künste über die Demons-tration von Kampfkunst und die berühmten Taiko-Trommeln bis zu japanischen Tänzen. Zum einen stellt sich das traditionelle Japan vor: An Ständen und auf Aktionsflächen werden Ikebana, Go, Tee, Sake, Origami, Kimonos, vielfältige japanische Künste mit Kanji-Motiven auf Reispapier und Sumi-E-Bilder, die japanische Tuschemalerei, gezeigt. Es gibt Steinstempel zu sehen, Daru-mas, japanische Glücksbringer, aber auch Keramik, japanische Süßigkeiten und das Kult-Getränk „Ramune-Limonade“ werden angeboten. Neben verschiedenen Kampfkunstvorführungen prä-sentiert sich diesmal auch die Kendo-Europameisterschaft live, die 2013 ebenfalls in Berlin statt-findet. Im Fashion-Bereich locken Kimonos, Yukata, Geitas, also japanische Schuhe, Accessoires und T-Shirts. Das moderne Japan wird ebenfalls gezeigt: Es gibt die beliebten „Hello Kitty“-Produkte, Mangas, Anime, J-Pop und Rock, PC-Spiele, Sammel-Figuren, CDs, DVDs, bildende Kunst, Graphiken & Skulpturen und ein Cosplay-Casting.

Am 19. von 10 Uhr bis 20 Uhr und am 20. Januar von 10 Uhr bis 18 Uhr

Eintritt: am 19. Januar: 15 Euro/ ermäßigt: zwölf EuroAm 20. Januar: 14 Euro/ermäßigt: elf EuroKartenbestellung: per E-Mail unter [email protected], Karten sind aber auch an allen Theater-kassen und an der Uraniakasse erhältlich.

UraniaAn der Urania 1710787 Berlin

Info und Bildnachweis: www.japanfestival.de

PartyBerghain

Elektroakustischer Salon – Art’s Birthday 2013 im Berghain: Deutschlandradio Kultur und das Berghain veranstalten eine Geburtstagsparty der Extraklasse. Die erste Überraschung des Abends bringt das Duo Real Time: Der Noise-Pop-Alleskönner Dirk Dresselhaus (alias Schneider TM) trifft auf den Experimentalpia-nisten Reinhold Friedl (Zeitkrat-zer). Gemeinsam erzeugen sie großangelegte Klangkraftfelder aus Innenklavier und Elektronik. Akustischen Hochdruck verspricht das Duo des finnischen Elektromi-nimalisten Mika Vainio (ehemals Pan Sonic) mit dem französischen Klangtüftler Franck Vigroux. Die beiden Noise-Spezialisten feiern beim Art’s Birthday ihre Berlin-Premiere. Abgerundet wird der Abend von dem New Yorker Sound Walk Collective. Ihr Instrument ist das Berghain selbst: Mit Hilfe

von Kontaktmikrofonen tasten sie die Wände des Clubs ab. Aus den Resonanzen des Raumes soll eine einzigartige Klangperformance entstehen.

Donnerstag 17.01.2013, Start 20 Uhr

BERGHAIN / PANORAMA BARAm Wriezener Bahnhof10243 Berlin

Info: www.berghain.deFoto: www.spoki.lv

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Aktu

ell Ein Schriftsteller, sein Inspektor

und dessen GottHåkan Nessers neuer Krimi heißt „Am Abend des Mordes“

Håkan Nesser ist der derzeit einer der wichtigsten Autoren Schwedens. Auf sein Konto gehen über 20 Romane, mehrere Kriminal- und Jugendromane,

Novellen und schließlich ungezählte Kurzgeschichten. Sein Jugendroman „Kim Novak badete nie im See von Genezareth“ gehört zu Schwedens Pflicht-Schullektüre. Mit Laura Fricke sprach er über seinen neuesten und vielleicht letzten Kriminalroman „Am Abend des Mordes“, über Verlust, Gott und seine neuen Projekte.

strassenfeger: Sie haben schon mehrfach betont, dass sie keine weiteren Bücher über ihre Hauptfiguren, den Kommissaren Barbarotti und Van Veteren mehr schreiben werden. Wie war es für Sie die Serien mit den Kommissaren zu beenden? Kann man das mit dem Verlust von Freunden vergleichen?Håkan Nesser: Es ist nicht so kompliziert. Ich glaube wir hatten schöne Verabschiedungen, in beiden Fällen: Ich und Van Veteren und ich und Barbarotti. Es ist wichtig, sich zu ver-abschieden, bevor man sich gegenseitig langweilt. Ich glaube, ich habe Van Veteren im richtigen Moment verlassen. Und ich habe auch Barbarotti zum richtigen Zeitpunkt verlassen. Aber natürlich habe ich sie für mehrere Jahre gekannt. Ich neige dazu mir vorzustellen, dass sie mit ihrem Leben fortfahren, und ich schreibe nichts weiter über sie.

sf: Aber sie könnten ihre Meinung darüber noch ändern und weitere Bücher über sie schreiben?H. N.: Man soll niemals nie sagen. Aber jetzt gerade habe ich keine Pläne, die in diese Richtung gehen. Es würde mich sehr überraschen, wenn ich diese Entscheidung ändern würde. Es ist in jedem Fall offen. Nun ist Van Veteren 75 Jahre alt und Barbarotti ist 52. Es mag der Tag kommen, aber ich habe keine Pläne dahingehend.

Ich möchte andere Bücher schreiben, und ich werde diese anderen Bücher schreiben. Ich würde nicht darauf wetten, also weder Geld auf

Barbarotti oder Van Veteren setzen. Daher denke ich, dass es vorbei ist. sf: Und Sie haben darüber hinaus auch entschieden keine weiteren Serien mehr zu schreiben?H. N.: Ja, absolut. Ich werde keine Serien mehr schreiben. Und ich versuche aus der Sparte ‚Krimi‘ herauszukommen und werde andere Bücher schrei-ben. Zumindest keine Bücher mit Polizei mehr. Denn beide, sowohl die Serie Van Veteren als auch die mit Barbarotti sind Polizeiserien. Ich bin damit fertig. Ich habe 15 Bücher darüber geschrieben und ich muss jetzt etwas anderes machen.

sf: In dem neuen Buch „Am Abend des Mordes“ geht es viel um Tod. Inspektor Barbarottis Frau stirbt, und er muss lernen damit umzugehen. Warum haben Sie so ein Thema gewählt und entschieden, es im Buch zu verarbeiten?H. N.: Man schreibt, um Dinge herauszufinden oder zumindest schreibe ich, um Antworten auf schwierige Fragen zu finden. Und für mich ist eine der schwie-rigsten Fragen, wie man damit umgeht, wenn jemand stirbt, der einem sehr sehr nahe steht. Und eine Ehefrau steht einem am nächsten. Es ist eine traurige Geschichte. Wissen Sie, man kommt als Schriftsteller

Autor Håkan Nesser auf dem Blauen Sofa der Frankfurter Buchmesse, seinen Roman „Am Abend des Mordes“ vorstellend

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an einen Punkt, an dem man nicht zurück kann und man keine Wahl hat. Und ich möchte natürlich über die Frage diskutieren, ob es wirklich möglich ist, an einen Himmel zu glauben. Ob man sich wieder trifft. Ob sie (die Ehefrau Inspektor Barbarottis Marianne. Anm. der Redaktion) jetzt gerade irgendwie am Leben ist. Wie kann ich, Barbarotti sie erreichen? All diese unmöglichen Fragen. Die alle nicht unmöglich sind, wenn man Christ ist, denn man sollte dann daran glauben. Ich wollte all diese Fragen, auf die ich natürlich keine Antwort habe, und die man immer wiederholt.

sf: Trotzdem erscheint Ihr letztes Buch eine sehr düstere Atmosphäre zu haben. Andere Bücher von Ihnen haben trotz Mord und Verbrechen häufig sehr humorvolle Kompo-nenten. „Am Abend des Mordes“ dagegen ist sehr traurig, bedrückt und hat kaum diesen Humoranteil!? H. N.: Ja, ich denke es ist trauriger als die anderen Bücher. Wie Sie sagten, gibt es in den anderen Büchern ebenfalls viel Tragik und Düsternis. Aber da Barbarottis Ehefrau gerade gestorben ist und das Buch mehr oder weniger zwei Monate nach ihrem Tod endet, ist es natürlich ein Buch über Verlust. Es geht darum, wie man mit dem Tod umgeht. Es ist ein weniger humorvolles Buch als die anderen, die ich bisher geschrieben habe, wegen Barbarottis Situation: Er ist die ganze Zeit über in trauriger und schlechter Stimmung. Man kann da nicht sehr humorvoll schreiben. Es wäre psychologisch gesehen nicht sehr glaubhaft. Deshalb ist es trauriger als die anderen Bücher.

sf: Barbarotti hat schon im ersten Buch einen speziellen Deal mit Gott gemacht: Barbarotti entscheidet durch ein Plus- und Minuspunkte-system darüber, ob Gott existiert. Dabei entscheiden negative und positive Erlebnisse über die Art der Punkte und damit über Gottes Existenz. Wie ist die Beziehung am Ende des Buches und damit am Ende der Serie?H. N.: Es ist viel ernsthafter als in den ersten Büchern. Meine Absicht war es, den Deal zwischen Barbarotti und Gott auszusetzen. Barbarotti braucht diesen Gott, er braucht seinen Glauben, er muss an etwas Höheres glauben können. Als er in diese tragischen Umstände kommt, wird seine Beziehung zu Gott fundamentaler und ernsthafter. Und Gott sagt das auch im Buch. Sie haben ihren Deal schon im letzten Buch beendet. Ich denke Barbarotti ist auf dem Weg ehr-licher mit der Beziehung und auf-richtiger zu sein, vielleicht weil er es braucht. Es ist eine andere Situation, als in den anderen Büchern und definitiv anders als im ersten und im zweiten Buch. Die Beziehung ist tiefgründiger, wichtiger und realer. Ich meine, die wesentliche Frage ist, ob es einen Gott gibt oder nicht. Und Barbarotti möchte ein gläubiger Mensch sein. Aber er muss seine Zweifel die ganze Zeit über töten. Denn die Logik, das gewöhnliche Denken ist nicht mit dem Glau-ben verbunden, dass es einen

Gott gibt. Deshalb hat Barbarotti die ganze Zeit über dieses Problem, nimmt es gleichzeitig aber auch sehr ernst.

sf: Aber würden Sie sagen, dass Barbarotti und Gott zu einem guten Ende finden?H. N.: Auf ihre Art schon, auf ihre Art zu mindestens. Aber ich denke, es ist immer schwierig ein gläubiger Mensch zu sein und zu glauben. Manchmal denkt man, es gibt einen Gott. Schau dir diese Welt an, es gibt einen Gott. Ich sehe wie viel Gutes es auf der Welt gibt. Aber am näch-sten Tag kann man wieder in tiefer Scheiße stecken, in der es keinen Gott gibt. Zu dem Zeitpunkt, an dem wir Barbarotti im Buch verlassen, ist er in der sehr guten Lage zu glauben, es gäbe einen Gott. Wir verlassen Barbarotti in einem guten Moment. Aber vielleicht ist er am nächsten Tag nicht mehr in dieser guten Lage, wir wissen es nicht.

sf: Sie haben auf der Frankfurter Buchmesse gesagt, dass Sie Pläne haben drei bis vier weitere Geschichten zu schreiben. Haben Sie beschlossen, danach mit dem Schreiben aufzuhören und in Rente zu gehen?H. N.: (lacht). Nein, ich kann vielleicht gar nicht aufhören zu

schreiben. Vielleicht reden Sie mit mir darüber in 15 Jahren, wenn ich noch lebe und 15 weitere Bücher geschrieben habe. Aber ich möchte erst einmal diese Geschichten beenden. Ich möchte die über Exmore beenden und ich möchte eines über Berlin schreiben und dann noch ein weiteres. So viel weiß ich. Und dann habe ich keine Ahnung, was noch kommen könnte. Aber die Sache ist die: Ich werde niemals etwas schreiben, wenn ich mich nicht danach fühle. Ich muss fühlen, dass es eine gute Geschichte ist, die ich auch erzählen möchte. Man muss diese Energie haben, sonst sollte man es lassen, finde ich. Aber ich habe die Energie und den Willen diese drei Geschichten zu schreiben.

sf: Für uns ist es natürlich sehr interessant, dass Sie ein Buch über Berlin schreiben. Können Sie uns einen kurzen Einblick darüber geben, worum es in dem Buch gehen wird?H. N.: Ich weiß bislang nur eine Sache über das Buch, weil ich noch

nicht damit angefangen habe, es zu schreiben. Aber ich weiß, dass es um einen Mann um die 30 oder Ende 20 gehen wird, der nach Berlin kommt, um seine Mutter zu finden. That’s it. Das ist alles, was ich bisher weiß. Ein junger Mann, ich bin mir über sein Alter noch nicht sicher, kommt nach Berlin, wo seine Mutter für einige Jahre gelebt hat. Er hat seine Mutter wahr-scheinlich nie getroffen. Sie hat ihn aus bestimmten Gründen verlassen, als er noch sehr jung war, vielleicht zwei oder drei Jahre alt. Und er kommt dorthin, um sie zu finden. Das ist alles, was ich weiß.

sf: Vielen Dank für das Gespräch! n

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t Eiskalte LeidenschaftSki und Rodel gut in Špindlerův Mlýn

Wer schon einmal einen jungfräulichen, unverspurten, weißen Schneehang mit seinen Ski heruntergewedelt ist und dabei dieses atemberaubende Gefühl von unendlicher Freiheit verspürt

hat, der ist infiziert von einer eiskalten Leidenschaft – Tiefschneefahren. Auch ich habe dieses Gefühl schon erleben dürfen; es war in Öster-reich während eines Tiefschnee- und Skitourenkurses des Deutschen Alpenvereins. So ein Trainingskurs mit ausgebildeten Skilehrern ist unabdingbar, denn um sich waghalsig in einen unberührten Hang hineinzustürzen sind schon allerhand theoretisches Wissen, sehr gute Skitechnik und eine gehörige Portion Mut vonnöten. Jede Menge Risiken lauern: Man könnte eine Lawine auslösen, einen Ski verlieren, der unter der Schneedecke hunderte Meter weit ins Tal rauscht, oder aber sich einfach zu sehr verausgaben im Aufstieg auf so einen 3000-er Gipfel. Die meisten Skifans lassen es deshalb eher etwas ruhiger zugehen und bevorzugen eine ganz normale Abfahrt auf einer perfekt gewalzten

Skipiste. Freerider sagen meist etwas despektierlich Autobahn dazu.

Auch ich bin mit zunehmendem Alter ruhiger geworden. Und deshalb fröne ich meiner eiskalten Leidenschaft auch immer seltener. Über's Jahresende war deshalb das beschauliche Riesengebirge in der Tsche-chischen Republik (in der Landessprache Krkonoše) mein Reiseziel. Das Riesengebirge ist das höchste Gebirge Tschechiens sowie Schlesiens. Es erstreckt sich an der Grenze zwischen Polen und Tschechien und erreicht in der Schneekoppe (tschechisch Sněžka), eine Höhe von 1602 Metern. Von Berlin aus sind es gerade mal 400 Kilometer, nicht mal die Hälfte der Strecke bis in die Skigebiete in Tirol. Deshalb ist der Wintersportort Špindlerův Mlýn (deutsch Spindlermühle; Wie man sich denken kann, war die ursprüngliche Bezeichnung des Ortes „Spindlers Mühle“, benannt nach dem Mühlenbesitzer Spindler.) ist sozusagen eine Art Hausspot. Eigentlich eine einfache Reise: Über die Autobahn geht es erst mal in

Richtung Dresden, am Abzweig Bautzen dann durch die Lausitz zur polnischen Grenze. Gerade mal zehn Kilometer führt die Strecke durch Polen, dann sind wir schon auf tschechischem Gebiet. Vorbei an stillgelegten Tuchfabriken und alten Fabrikantenvillen fährt man den Berg hinauf.

Früher wurde vorab immer genauestens die Straßenkarte studiert. Heute, im Zeitalter von Internet, Computer und Smartphone verlässt man sich gern auf das allwissende Navigationssystem. Leider hat uns dieses System diesmal total in die Irre geführt. Es schickte uns in Serpentinen auf den Berg, es wurde kälter, es wurde glatt, es wurde dunkel. Als wir auf dem Plateau angelangt waren, dachten wir, es wäre vollbracht. Doch Irrtum, es war Ende Gelände, der Pass gesperrt, und wir mussten die gesamte Strecke den Berg wieder runter.

„Scheiß Navi“, wurde immer wieder im Auto geflucht, Es blieb uns nichts anderes übrig, als an einer Tankstelle eine Landkarte zu kaufen und die Wirtin über unsere ver-

Manchmal helfen nur Schneekanonen

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Snowboarder lieben Sprünge

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Frank Schüttig: „Das Riesengebirge entde-cken. Rübezahls Land an der tschechisch-polnischen Grenze – mit Isergebirge und Adersbacher Felsen, Ausflügen nach Görlitz und Breslau sowie einem Wegweiser für Wintersportler.“ Trescher-Reihe Reisen, Berlin 2002

Josef Richter (Hrsg.), Ilse Franke (Mitarb.), Hans Adolf (Beiträge): „Die alte Heimat Spindelmühle. St. Peter – Friedrichsthal im Riesengebirge. Ortsbücher, Band 3. Heimatkreis Hohenelbe“, Riesengebirge e.V., Marktoberdorf 1994.

8 http://www.riesengebirge.cz/

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spätete Anreise zu infomieren. Statt um 18 Uhr erreichten wir die gebuchte Pension in Spind-lermühle gegen 19 Uhr 30 Uhr. Zur Begrüßung gab es vom Wirt erst einmal einen Bechorovka-Kräuterschnaps und ein gepflegtes Pilsner Urquell-Bier. Ein paar Tage später erwischte es eine Freundin auf dieselbe Art: Sie schaffte es jedoch, sich nachts in einer Schneewehe festzufahren und musste mit Freund und drei Hunden in einem kleinen Kombi frierend die Nacht verbringen. Am nächsten Morgen zog sie dann ein freundlicher Mensch mit seinem Traktor aus dem Schnee. So geht’s, wenn man sich auf die moderne Technik verlässt!

Mein kleines Zimmer war genauso wie ich es mir vorgestellt und auch gewünscht hatte: Altes dunkles Holz statt neumodischen Schnick-schnacks. Neben der Zimmerwand die knarzende Treppe. Hellhörig, aber saugemütlich mit eigenem Bad, Blick auf den Berg und vor allem direkt am Sessellift gelegen. Die Pension, den Namen kann und will ich hier nicht verraten, erinnerte mich sehr an frühere Reisen ins Riesengebirge. Zu DDR-Zeiten fuhr ich ein paar Mal in ein Betriebsferienheim im beschau-lichen Pec pod Sněžkou. Später war ich Gast bei einer älteren Dame, die ein uraltes Häuschen gleich neben der Skipiste ihr Eigen nannte. Ich schlief in einer winzigen, dafür sehr urigen Kammer. Das Haus hatte eine wunderbar unaufgeräumte, dafür äußerst gemütliche Küche, in der ein alter Herd stand, auf dem sie ihre tschechischen Köstlichkeiten brutzelte. Leider gibt es dieses Haus mittlerweile nicht mehr, denn auch im Riesengebirge ist die Zeit nicht stehengeblieben.

Über die Geschichte des Riesengebirges will ich hier nicht viel erzählen, nur soviel sei aus dem Internetlexikon Wikipedia zitiert: „Ende des 19. Jahrhunderts gründeten sich auf der böhmischen und schlesischen Seite des Gebirges zwei Vereine, der schlesische Riesengebirgsverein und der Österreichische Riesengebirgsverein. Beide setzten sich u.a. die touristische Erschließung des Riesengebirges zum Ziel, wozu in erster Linie der Wegebau vorangetrieben wurde. Insgesamt schuf man ein Wegenetz von 3.000 Kilometern, wobei allein 500 Kilometer auf das Hochgebirge entfielen. Das Riesengebirge wurde in Folge zu einem der beliebtesten Urlaubsgebiete Deutschlands. Im damaligen Schreiberhau (heute: Szklarska Poręba) auf der schlesischen Seite befanden sich seit der Gründerzeit zahlreiche Ferienvillen von Berliner Fabrikanten, die auch heute noch erhalten sind und ein besonderes Flair haben. Direkte Bahnverbindungen nach Schreiberhau bestanden von Berlin, Breslau und Dresden, sodass eine bequeme und schnelle Anreise möglich war.“

Aus dem ehemals verschlafenen Örtchen ist mittlerweile wohl das Zentrum des tschechischen Skisports geworden. In der Hochsaison kann sich die „Einwohnerzahl“ von Spindlermühle durch die zahlreichen Touristen schon mal verzehnfachen. Übri-gens: Ende Januar 1922 soll der Schriftsteller Franz Kafka wegen des gesunden Klimas nach Spindelmühle gekommen sein und am Roman „Das Schloss“ gearbeitet haben. Heute trifft man hier sowohl reiche Tschechen und neu-reiche Russen, aber auch die Skifreaks mit dem kleinen Geldbeutel. Zu Weihnachten und Silvester stößt man auf eine derartige Dichte an teuersten Allrad-SUV’s aller Nobelmarken, wie ich sie kaum in Berlin jemals erlebt habe. Alte Pensionen und morbide Kurhäuser stehen neben neuen Retortenhotels. Und doch hat sich Spindlermühle seinen Charme erhalten. Es ist wundschön hier, besonders wenn der Schnee den Ort in eine Zuckerbä-ckerlandschaft verzaubert.

Wobei wir bei der allerwichtigsten Voraus-

setzung für die eiskalte Leidenschaft angelangt sind, dem Schnee. Heuer war es nicht ganz so gut. Es lagen gerade einmal 40 Zentimeter auf den Pisten am Medvědín und Svatý Petr (schwarze FIS-Piste!); das meiste davon soll Kunstschnee gewesen sein. Mit Tiefschneefahren und Wedeln im weißen Traumschnee war’s deshalb eher schlecht. Dafür haben wir und unsere Kids beim Carving ordentlich Spaß gehabt. Schneekanonen gibt

es natürlich auch im Riesengebirge, nur bei Temperaturen über dem Gefrierpunkt funktioniert die Kunstschneeproduktion eher schlecht. Davon ließen sich Skifahrer, Snowboarder und Langläufer (tolle gespurte Pisten und breite Skatingstrecken!) nicht abschrecken: Es wurde geheizt, was das Zeug hielt! Mancher schoß dabei auch stark über das Ziel hinaus, sodass der Rettungshelikopter öfter einschwebte, als so manchem lieb war.

Sehr schön finde ich, dass es mittlerweile überall Skikindergärten gibt. Prima für die Eltern, die ihre Gören dort ruhigen Herzens abliefern und und so ein paar herrliche Skistunden ohne den quirligen Anhang genies-sen können. Schon erstaunlich, was die Skizwerge nach der Skischule so alles drauf haben: Die Kids meiner Freunde rauschten mit Vorliebe zu dritt immer wieder in den Wald neben der Piste und verschwanden aus unserem Blick. Manchmal blieb mir dabei fast das Herz stehen. Doch immer wieder tauchten sie lachend und vor Freude quietschend, gesund und munter wieder auf. Herrlich diese Unbekümmertheit! Na ja, die Fallhöhe der Zwerge ist halt doch deutlich geringer als die der Erwachsenen. Ich habe mir für’s nächste Mal vorgenommen, noch mal eine neue Herausforderung zu suchen: Ich werde es mal mit dem Telemarken versuchen.

Wenn man fertig ist nach fünf, sechs Stunden auf dem Hang, dann geht man zur Entspannung ins warme Becken des Aquacenters. Und danach empfiehlt sich eine romantische Fahrt durch die Landschaft in einem der historischen Pferdeschlitten. Die Kutscher_Innen erzählen einem dabei wunderbare Geschichten vom Rübezahl (Krakonoš). Danach kehrt man gern in eines der gemütlichen Restaurants ein, labt sich an der deftigen tschechischen Küche. Dazu ein gutes Bier und alles ist rund. So sieht er aus, der perfekte Skitag.

Silvester haben wir natürlich auch gefeiert direkt vor unserer Pension mit einem Glas Sekt, viel Bier und Wein. Pünktlich zu Mitternacht konnten wir

dann ein traumhaftes Feuerwerk vor der Kulisse der Berge bestaunen. Und am Neujahrstag dann endlich Traumwetter: Strahlender Sonnenschein bei minus einem Grad auf dem Berg. Trotz Mini-Katers sausten wir den ganzen Tag den Berg hinab. Geil! Das Jahr 2013 begann perfekt!

n Andreas Düllick

Info und Literatur:

Da staunt der Knirps: Perfekte Carving-Technik!

Auf dem Gipfel des Medvědín

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kt Folgen des Ausverkaufs Objekte für Notübernachtungen fehlen

Blick zurückIm November 2012 hat der strassenfeger berichtet, dass die aktuelle Kältehilfesaison wie im Vorjahr mit 430 Plätzen gestartet war und alle Verantwortlichen sich im Frühjahr einig waren, dass mindestens 500 Plätze notwendig sind. Es wurde auch geschrieben, dass der Senat die notwendigen Gelder bereitgestellt hat, dass aber geeignete Objekte nicht gefunden werden konnten. Gesucht werden Objekte mit beheiz-baren Räumen und nutzbaren Sanitäranlagen bis Ende März.

Befürchtungen werden bestätigtDie aktuelle Entwicklung bestätigt die Befürchtungen. Zum Jahreswech-sel war der Winter mild, trotzdem waren die Einrichtungen voll belegt. Das Kältehilfetelefon meldete für den November eine Auslastung der Kältehilfe von 96,5 Prozent. Bei den Notübernachtungen betrug die Auslastung 100,6 Prozent und bei den Nachtcafés 77,9 Prozent. Und der Frost kommt erst noch!

Wegen der Überlastung herrschten in der Notübernachtung der Berliner Stadtmission in der Lehrter Straße im Februar 2012 unzumutbare Zustände. Unzumutbar für die Gäste, unzumutbar für die Mitarbeiter. In dieser Saison bringen sowohl der Wärmebus des DRK als auch die Kältebusse der Stadtmission von 22 bis 24 Uhr Menschen ohne Wohnung in Einrichtungen, die freie Plätze melden. Das entlastet die Notüber-nachtung der Stadtmission in der Lehrter Straße. Es ist zu befürchten, dass alle Einrichtungen voll belegt sind und die Entlastungswirkung dieser Regel verpufft. Was dann mit den Menschen, die vom Kältetod bedroht sind?

Es muss etwas geschehen! Und zwar schnell! Es fehlen Plätze für Notü-bernachtungen! Von diesem Appell sollten sich alle Kirchengemeinden in der Innenstadt angesprochen fühlen. In und am S-Bahn-Ring können Menschen ohne eigene Wohnung Hilfseinrichtungen erreichen. Viele Obdachlose sind extrem schlecht zu Fuß und können weite Strecken nicht laufen.

Folgen des AusverkaufsT. Sarrazin hatte in seiner Zeit als Finanzsenator von Berlin den Ausver-kauf kommunaler Liegenschaften gefördert. Der Liegenschaftsfonds ist kurz vor seinem Amtsantritt eingerichtet worden, er setzte sich konsequent dafür ein, dass der Liegenschaftsfonds zum Ausverkauf

der kommunalen Immobilien genutzt wurde. Der Liegenschaftsfonds hat seine Objekte meistbietend veräußert. Unter der sich abzeichnenden Wohnungsnot beginnt hier ein langsamer Umdenkungsprozess. Da ist die Kosten-Leistungs-Rechnung, die alle Ausgaben der öffentlichen Hand bewertet. Zuweisungen an Bezirke erfolgen entsprechend dem Meridian. Bezirke, die mit ihren spezifischen Kosten unter dem Meridian liegen, weisen einen kleinen Gewinn aus und bei spezifischen Kosten über Meridian Verlust. Da die Bezirke angehalten sind, ausgeglichene Haushalte auszuweisen, müssen die Verluste ausgeglichen werden. Abgabe an den Liegenschaftsfonds ist eine Möglichkeit. Dass schlecht ausgelastete Schulen rechnerisch Verlustbringer sind, gehört zu diesem System. Vor wenigen Jahren hatte der Bezirk Friedrichhain-Kreuzberg eine Schule zur Einrichtung einer Notübernachtung zur Verfügung stellen können. In diesem Jahr?

Obdachlose als WarnsignalFehlentwicklungen treffen zuerst die Ärmsten der Armen. Die kurzsich-tige Immobilienpolitik trifft nicht nur Obdachlose. Sie trifft es zu erst und besonders hart. Durch die Abgabe in den Liegenschaftsfonds sind Bezirken Schulgebäude entzogen worden. Es gibt kein Gesetz, wonach in jedem Bezirk die Zahl der Schüler zwangsläufig bis ans Ende aller Tage sinkt. Martin Klessmann hatte am 13.12.2012 in seinem Beitrag „Notfalls in Container“ in der „Berliner Zeitung“ berichtet, dass die Zahl der Schü-ler im Bezirk Lichtenberg wegen des angespannten Wohnungsmarkts steigen und welche Klimmzüge der Bezirk machen muss, das Problem angesichts des angespannten Haushalts zu bewältigen. Zur Erklärung: Immer weniger Familien mit Kindern können sich ihre Wohnung in den angesagten Innenstadtbezirken leisten und ziehen in vergleichsweise preiswerte Plattenbauten.

ResümeeWegen des Ausverkaufs kommunaler Immobilien können nicht genug Notübernachtungen bereitgestellt werden. Geld ist da, es fehlen geeig-nete Räume. Obdachlose treffen solche Fehlentwicklungen der Politik zuerst und besonders hart. Wo Politik versagt, bleibt nur der Appell an die Barmherzigkeit. Die Kirchengemeinden, die verkehrsgünstig an U- oder S-Bahnhöfen liegen, vor allem die im Innenstadtbereich sind hier angesprochen.

n Jan Markowsky

Notübernachtung Johanniterstraße in Berlin-Kreuzberg (Berliner Kältehilfe)

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Rechtsanwältin Simone Krauskopf

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Mehr zu Alg II und Sozialhilfe

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›› www.tacheles-sozialhilfe.de›› www.erwerbslosenforum.de

Sanktionen Teil 5

Erhalten Alg II-Bezieher einen Sanktionsbescheid, der für sie z.B. Gesamtkürzungen in Höhe von 50 Prozent und mehr zur Folge hat, sind sie oft wie paralysiert. Sie sind nicht mehr in der Lage, den

Bescheid auch nur halbwegs zu Ende zu lesen. Das ist blanke Existenz-angst. Ich erlebe es immer wieder, dass sie erst in der Beratung erfahren, dass sie eventuell Anspruch auf zusätzliche Leistungen haben und dass dies auch in ihrem Sanktionsbescheid steht.

In den Durchführungshinweisen der BA (DH) steht zu des Ermessens-gesichtspunkten unter Rdz. 31.51: „Bei erwerbstätigen Leistungsbe-rechtigten darf jedoch nicht vernachlässigt werden, dass der Anreiz zur Fortsetzung der Arbeit geschmälert werden könnte, wenn der Erwerbs-tätigenfreibetrag vollständig zur Sicherung des Lebensunterhalts eingesetzt werden muss. Auch Verschuldungsproblematiken und eine drohende Wohnungslosigkeit sind relevante Ermessensgesichtspunkte.“

Das heißt: Es darf nicht der ganze Erwerbstätigenfreibetrag zum Ausgleich der Sanktionen herangezogen werden. Zahlen Sanktionierte vertraglich zugesicherte Schulden ab oder zahlen sie bei einer Privatin-solvenz, ist dies bei einer Ermessensentscheidung zu berücksichtigen.

Bei einer 100-prozentigen Sanktion entfallen auch die Zahlungen an Kranken- und Pflegeversicherung. ABER, wer zusätzliche Leistungen, wie Lebensmittelgutscheine erhält, ist auch kranken- und pflegeversichert. Das ist nicht nur wegen der Krankenbehandlung wichtig, sonder auch, damit nicht zusätzlich Schulden bei diesen Kassen entstehen.

Insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene bis 25 Jahre, bei denen gleich das erste Fehlverhalten (außer Meldeversäumnissen) mit der 100 prozentiger Streichung des Regelsatzes bestraft wird, und die nächste wiederholte Verfehlung den kompletten Wegfall des Alg II (einschließlich Miete) bedeutet, sind besonders gefährdet, völlig

den Halt zu verlieren und gänzlich den Kontakt zu den Jobcentern zu verlieren. Während es im Strafrecht noch die Unterscheidung zwischen Jugend- und Erwachsenenstrafrecht gibt und so manchem jungen Erwachsenen noch die Unreife eines Jugendlichen zugebilligt werden kann, will der Gesetzgeber halbe Kinder ab 15 Jahre weit schlimmer bestrafen als jeden Erwachsenen.

Auf der Strecke bleiben bei den Sanktionen immer wieder die Wehr-losen und Kranken. Stereotype Sanktionen bis in den Tod sind die Folge. Zumindest ein Todesfall ist öffentlich geworden. Obwohl es dem Amt bekannt war, wurde ein schwer depressiver Mann bis in den Tod sanktioniert. Er wurde verhungert in seiner Wohnung gefunden. Seine ebenfalls in der Wohnung lebende auch depressive Mutter konnte in letzter Minute vor dem Hungertod gerettet werden. Soweit die beab-sichtigte „erzieherische Wirkung“ von Sanktionen!

Dieser eine Todesfall wurde nur bekannt, weil es in Speyer eine aktive Arbeitslosengruppe gibt, die den Fall an die Presse gebracht hat. Es ist gewiss nicht der einzige Tod durch Sanktionen. Insbesondere alleinstehende Kranke, wie schwer Depressive sind selbstmordgefährdet oder drohen zu verhungern. Auf keinem Totenschein wird „Tod durch Sanktionen“ stehen. Bei den Verhungerten wird wohl Herzversagen und bei den Selbstmördern eben dies auf dem Totenschein stehen. Übrigens ist die Selbstmordrate bei Arbeitslosen doppelt so hoch, wie im Rest der Bevölkerung. Irgendwie können diese Menschen die Faulheit in der

„sozialen Hängematte“ einfach nicht verkraften.

Doch nun wieder zu den Lebenden. Es kommt immer noch vor, dass Sanktionierte auf die Tafeln und Essensausgaben verwiesen werden. Das ist rechtswidrig! Weder Tafeln noch Essensausgaben entbinden die Jobcenter von der Pflicht (unter den genannten Voraussetzungen) ergänzende Sachleistungen zu erbringen!

Unter Erwerbslosen hält sich hartnäckig das Gerücht, dass man sich bei Sanktionen Anspruch auf Sozialhilfe hätte. Das ist falsch! Alg II ist das unterste „soziale Netz“ (mit Löchern) für alle ERWERBSFÄHIGEN. Zumindest für die Gewährung von Regelleistung und Wohnkosten. Es gibt zwar noch ein paar Ausnahmen, aber auch die betreffen nicht Regelleistung und Wohnkosten und würden hier den Rahmen sprengen.

n Jette Stockfisch

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Es hat schon seine Vorteile, wenn man etwas älter und viel herumge-kommen ist. Da versteht man die Welt etwas besser, und wenn man nicht mehr weiter weiß, hat man Bekannte, die einem weiterhelfen können. Zum Beispiel jetzt, wo alle über die Gehälter von Bundes-kanzlern und Sparkassendirektoren reden. Da traf es sich gut, dass ich einen Sparkassendirektor kenne, und das auch noch aus Nordrhein-Westfalen. Also habe ich ihn mal angerufen und gefragt, was an dieser aufgeregten Diskussion dran ist. Hier eine kurze Wiedergabe unseres Gesprächs.

Es stimmt, dass ein Sparkassendirektor viel mehr verdient als ein Bundeskanzler, und das hat auch viele gute Gründe. Nimm nur mal die Ausbildung, erklärte er mir. Ein Sparkassendirektor sollte ein Studium abgeschlossen haben, das ihn auf seine Arbeit vorbereitet. Dann beginnt er in der Regel als Sachbearbeiter in den verschiedenen Abteilungen der Sparkasse, dient sich langsam hoch, indem er erfolgreich arbeitet, keine Fehler macht und zum Gewinn des Unternehmens beiträgt. So wird er vielleicht mal Abteilungsleiter, und wenn er ganz besonders tüchtig ist, auch Direk-tor. Vergleiche das mal mit einem Bundeskanzler. Was muss der können? Nichts! Jeder, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, kann Bundeskanzler werden, wenn er nur genügend Leute fi ndet, die ihn oder in dieses Amt wählen.

Aber ehe jemand Bundeskanzler wird, hat er doch schon Erfahrungen als Minister gesammelt. Zählt das nicht? – Das ist doch dasselbe in Grün. So Minister verwalten alle möglichen Ressorts: erst das Familienministerium, dann das Gesundheitsministerium, dann das Umweltministerium und vielleicht auch noch das Verkehrsministerium. Und auf was haben sie gelernt? Am besten auf Lehrer, und weil sie in dem Beruf keinen Erfolg hatten und auch nicht wirklich Freude an der Arbeit, werden sie Politiker und machen Karriere. Und der soll mehr verdienen als ein Sparkassendirektor?

So ein Politiker hat doch viel Verantwortung, allein wenn ich an das viele Geld denke, das er verwaltet und ausgibt. Das ist doch viel mehr als die Bilanz deiner Sparkasse. – Der Vergleich hinkt nun wirklich.

Hast du schon mal einen Politiker gesehen, der Geld beschafft hat? Den gibt es nicht. Politiker sammeln oder besser treiben das Geld zwangsweise als Steuern ein und geben es dann mit vollen Händen aus. Bei der Sparkasse ist das anders. Zu uns bringen die Leute das Geld freiwillig, damit wir es für sie verwahren. Die Leute vertrauen uns, weil sie wissen, dass wir mit Geld umgehen können.

Die Politiker und der Bundeskanzler machen die Gesetze, nach denen alles läuft bei uns. Dafür verdienen sie doch ein hohes Einkommen.

– Das glaubst auch nur du. Die Gesetze machen die Beamten in den Ministerien, und weil die auch nicht ganz übersehen, womit sie es

zu tun haben (es sind ja nur Juristen), holen sie sich Rat. Und bei wem? Natürlich bei uns. Wir machen die Gesetze und kennen sie deshalb so gut, dass wir sogar wissen, wie man sie wieder umgeht, denn manchmal schleichen sich da durch den Über-

eifer der Politiker Fehler ein, die die Wirtschaft schlicht stören würden.

Dann muss das eben den Politikern besser erklärt werden. – Kannst du dir vorstellen, dass man einem Politiker zum Beispiel erklären kann, was eine stochastische Volatilität ist? Das begreifen die nie. Aber als Banker weiß man nicht nur, was das ist, wir können auch damit umgehen und Geld verdienen.

Und das rechtfertigt ein Einkommen dreimal so hoch wie das des Bundeskanzlers? – Mindestens! Wir

arbeiten schließlich mit einem hohen Risiko. Wenn die Geschäfte mal nicht so gut gehen und unerwartete Ver-

luste entstehen, werden unsere Bonuszahlungen geringer oder fallen sogar ganz weg. Dann muss immer noch genug bleiben zum Leben. (Er lacht.) Das Gehalt eines Bundeskanzlers ist dagegen garantiert, egal, ob er eine gute oder schlechte Politik macht.

An dieser Stelle wurde unser Gespräch unterbrochen, weil der Spar-kassendirektor in eine Besprechung mit Kollegen musste. Ich hatte viel gelernt und Gründe erfahren, warum das Gehalt des Sparkassen-direktors so hoch ist. Was ich nicht gehört habe, ist eine Antwort auf mein Bedenken, ob das auch alles gerecht ist.KptnGraubär

Bundeskanzler, und das hat auch viele gute Gründe. Nimm nur mal die Ausbildung, erklärte er mir. Ein Sparkassendirektor sollte ein Studium abgeschlossen haben, das ihn auf seine Arbeit vorbereitet. Dann beginnt er in der Regel als Sachbearbeiter in den verschiedenen Abteilungen der Sparkasse, dient sich langsam hoch, indem er erfolgreich arbeitet, keine Fehler macht und zum Gewinn des Unternehmens beiträgt. So wird er vielleicht mal Abteilungsleiter, und wenn er ganz besonders tüchtig ist, auch Direk-

Aber ehe jemand Bundeskanzler wird, hat er doch schon Erfahrungen als Minister gesammelt. Zählt das

Ministerien, und weil die auch nicht ganz übersehen, womit sie es zu tun haben (es sind ja nur Juristen), holen sie sich Rat. Und bei

wem? Natürlich bei uns. Wir machen die Gesetze und kennen sie deshalb so gut, dass wir sogar wissen, wie man sie wieder umgeht, denn manchmal schleichen sich da durch den Über-

eifer der Politiker Fehler ein, die die Wirtschaft schlicht stören würden.

Dann muss das eben den Politikern besser erklärt werden. – Kannst du dir vorstellen, dass man einem

hoch wie das des Bundeskanzlers? – Mindestens! Wir arbeiten schließlich mit einem hohen Risiko. Wenn die

Bundeskanzler, und das hat auch viele gute Gründe. Nimm nur mal die Ausbildung, erklärte er mir. Ein Sparkassendirektor sollte ein Studium abgeschlossen haben, das ihn auf seine Arbeit vorbereitet. Dann beginnt er in der Regel als Sachbearbeiter in den verschiedenen Abteilungen der Sparkasse, dient sich langsam hoch, indem er erfolgreich arbeitet, keine Fehler macht und zum Gewinn des Unternehmens beiträgt. So wird er vielleicht mal Abteilungsleiter,

schon Erfahrungen als Minister gesammelt. Zählt das

zu tun haben (es sind ja nur Juristen), holen sie sich Rat. Und bei wem? Natürlich bei uns. Wir machen die Gesetze und kennen sie deshalb so gut, dass wir sogar wissen, wie man sie wieder umgeht, denn manchmal schleichen sich da durch den Über-

eifer der Politiker Fehler ein, die die Wirtschaft schlicht stören würden.

hoch wie das des Bundeskanzlers? – Mindestens! Wir arbeiten schließlich mit einem hohen Risiko. Wenn die

Page 31: Ausgabe 02 2013 Fernweh - strassenfeger

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Liebe Redaktion!Der strassenfeger freut sich über Leserbriefe. Wir behalten uns den Abdruck und die Kürzung von Briefen vor. Die abgedruckten Leserbriefe geben nicht notwendigerweise die Meinung der strassenfeger-Redaktion wieder.

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Liebe strassenfeger-Redaktion,ich möchte mich bedanken für die immer sehr wertvollen und inspirierenden Beiträge in Ihrer Zeitung. Ich lese den strassenfeger regelmäßig und bin immer wieder sehr beeindruckt von der Bandbreite der Themen und der Recherchetiefe, die aus den Artikeln hervorgeht. Bitte, macht weiter so!

Ich möchte hier noch ein Buch empfehlen, was ich kürzlich entdeckt habe. Es ist ein Jugendbuch, das man sich kostenlos herunterladen kann. Wer will, kann aber freiwillig spenden. Die Spenden gehen dann an Menschen, die auf der Straße leben. Ich habe „Jarne und der Obdachlose“ von Ariela Sager jedenfalls mit Spannung und Begeisterung verschlungen und fi nde die Idee mit den Spenden hervorragend. Vielleicht können Sie im strassenfeger ja einen Hinweis auf das Buch posten, damit möglichst viele Spenden zusammen kommen können.

Herzliche Grüße und ein gutes Jahr 2013 für den strassenfeger, aber auch für alle Verkäufer_Innen,Silka Rödl

Anm. d. Red.: Vielen Dank für dieses schöne Lob!

Hier der Weblink: http://www.ariela-sager.de/jarne.php

Möbel, Haushaltsgeräte, Küchen, Hausrat, Wohndeko, Geschirr, Fernseh-, Audio-/Videogeräte, CDs, Schallplatten, Bücher, allerlei zum Stöbern, Nostalgisches und Kurioses

trödel|pointPrenzlauer Allee 87Telefon: 030 - 24 62 79 35Email: [email protected]

Montag bis Freitag: 8.00 Uhr — 18.00 Uhr

Die Bedürftigkeit muß unaufgefordert nachgewiesen werden!

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ab 4. Februar 2013 VorschauAusgabe 3/2013 „TEILHABE“

Bundespräsident Joachim Gauck

ISSN 1437-1928

Herausgebermob – obdachlose machen mobil e.V.Prenzlauer Allee 87, 10405 BerlinTel.: 030 - 46 79 46 11Fax: 030 - 46 79 46 13E-Mail: [email protected]

Vorsitzende: Dr. Dan-Christian Ghattas, Lothar Markwardt, Andreas Düllick (V.i.S.d.P.)

Chefredakteur Andreas Düllick

Redaktionelle Mitarbeit Bernhardt, Andreas Düllick, Laura F., Guido Fahrendholz, Detlef Flister, rwf, Jutta H., Lukas Kleinherz, Christoph Mews, Jan Markowsky, OL, Andreas P., Manuela P., Andreas Prüstel, Püppilotta, Urzsula-Usa-kowska-Wolff, Manfred Wolff

Titelbild Collage: Guido Fahrendholz & Ins Kromminga

Karikaturen Andreas Prüstel, OL

Satz und Layout Ins Kromminga

Belichtung & Druck Union Druckerei Berlin

Redaktionsschluss der Ausgabe 9. Januar 2013

Namentlich genannte Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Es war nicht möglich, bei allen Bildern die Urhe-berrechte festzustellen. Betroffene melden sich bitte bei uns. Für unverlangt eingesandte Fotos, Manuskripte oder Illustrationen übernehmen wir keine Haftung.

Der strassenfeger ist offen für weitere Partner. Interessierte Projekte melden sich bei den Herausgebern.

RedaktionPrenzlauer Allee 87, 10405 BerlinTel.: 030 - 41 93 45 91E-Mail: [email protected]

Abo-Koordination & Anzeigenmob – obdachlose machen mobil e.V.Tel.: 030 - 41 93 45 91

Treffpunkt Kaffee Bankrott Prenzlauer Allee 87, 10405 BerlinTel.: 030 - 44 73 66 41Öffnungszeiten: Mo. – So. 8:00 – 20:00 UhrZeitungsverkauf: bis 20:00 UhrKüchenschluss: 19:00 Uhr

NotübernachtungPrenzlauer Allee 87, 10405 BerlinTel.: 030 - 41 93 45 93Öffnungszeiten: 17:00 – 8:00 UhrAnmeldung: 17:00 – 23:00 Uhr

Trödelpoint bei mob e.V.Prenzlauer Allee 87, 10405 Berlingegenüber dem S-Bahnhof Prenzlauer AlleeMo – Fr: 8:00 – 18:00 UhrTel.: 030 - 246 279 35E-Mail: [email protected]

Unsere Webseitewww.strassenfeger.org

Interview mit dem Bundespräsidenten Joachim Gauck

Massenarbeitslosigkeit ist Menschenwerk

Zu Besuch bei der Obdachlosenärztin

Jenny de la Torre Castro

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Vielen Dank für Ihre Spende! Bitte senden Sie den Coupon an: »Ein Dach über dem Kopf«, c/o mob e.V., Prenzlauer Allee 8710405 Berlin, Spendenkonto: Bank für Sozialwirtschaft BLZ 100 205 00 Konto 328 38 - 01 Kennwort: »Ein Dach über dem Kopf«

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Die Aktion »Ein Dach über dem Kopf« wurde von uns ins Leben gerufen, um Mitmenschen, die in Not und ohne Bleibe sind, wirksam helfen zu können. Damit wir diesen Menschen weiterhin helfen können, benötigen wir nach wie vor Ihre Hilfe und Unterstützung.

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: r. W

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Der Schauspieler Herbert Köfer unterstützt die Spendenaktion „Ein Dach über dem Kopf“!