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MORBACH LIVE – ALTE MUSIK Mittwoch, 15. März 2006 18.05-19.00 Uhr  BAROCKE MUSIKMETROPOLEN 1. Folge: Dresden Anm.: Die fett gedruckten Komponisten sind in der Sendung mit Klangbeispielen ver- treten. Die Gründung der Stadt Dresden durch die wettinischen Grafen von Meißen erfolgte im ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts. Als Residenz der albertinischen Linie der Wet- tiner (1485–1918) wurde die Stadt ein europäisches Kulturzentrum ersten Ranges. Wie Dokumente nachweisen, wurde 1464 die erste Dresdner Hofkantorei gegründet, nachdem die Brüder Kurfürst Ernst (Regierungszeit 1464–1486) und Herzog Albrecht (Regierungszeit 1464–1500) das Schloss zur gemeinsamen Dauerresidenz umgebaut hatten. Figurale (mehrstimmige) Kirchenmusik gab es spätestens seit 1470. Sie wurde von Mitgliedern des Kreuzchores ausgeführt. Darüber hinaus sind seit 1469 Instru- mentalisten im Dienst des Dresdner Hofes nachweisbar: Trompeter, Pfeifer und Pauker für militärisches Signalblasen und höfische Aufzüge, sowie ein Posaunist und ein Lau- tenist für die Musik der fürstlichen Kammer. Die Einführung der Reformation im Herzogtum Sachsen (1539) bewirkte eine Entfal- tung der Kunst- und Musikpflege am Dresdner Hof. Unter dem Kurfürsten Moritz (Re- gierungszeit 1539–1541) erfolgte im August 1548 die Neugründung einer sächsi- schen Hofkantorei zur besonderen Repräsentation der albertinischen Linie des Hauses Wettin, auf die seit der Schlacht bei Mühlberg (1547) mit dem Kurkreis die Kurwürde übergegangen war. Als ersten Kapellmeister zog Kurfürst Moritz Johann Walter (1496–1570), den nachmaligen ersten evangelischen »Cantor«, an seinen Hof. 1548 umfasste die Hofkantorei außer den Kapellknaben 19 Sänger und einen Organisten. Im

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MORBACH LIVE – ALTE MUSIK

Mittwoch, 15. März 2006 18.05-19.00 Uhr

 

BAROCKE MUSIKMETROPOLEN

1. Folge: Dresden

Anm.: Die fett gedruckten Komponisten sind in der Sendung mit Klangbeispielen ver-

treten.

Die Gründung der Stadt Dresden durch die wettinischen Grafen von Meißen erfolgte im

ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts. Als Residenz der albertinischen Linie der Wet-

tiner (1485–1918) wurde die Stadt ein europäisches Kulturzentrum ersten Ranges.

Wie Dokumente nachweisen, wurde 1464 die erste Dresdner Hofkantorei gegründet,

nachdem die Brüder Kurfürst Ernst (Regierungszeit 1464–1486) und Herzog Albrecht

(Regierungszeit 1464–1500) das Schloss zur gemeinsamen Dauerresidenz umgebaut

hatten. Figurale (mehrstimmige) Kirchenmusik gab es spätestens seit 1470. Sie wurde

von Mitgliedern des Kreuzchores ausgeführt. Darüber hinaus sind seit 1469 Instru-

mentalisten im Dienst des Dresdner Hofes nachweisbar: Trompeter, Pfeifer und Pauker

für militärisches Signalblasen und höfische Aufzüge, sowie ein Posaunist und ein Lau-

tenist für die Musik der fürstlichen Kammer.

Die Einführung der Reformation im Herzogtum Sachsen (1539) bewirkte eine Entfal-

tung der Kunst- und Musikpflege am Dresdner Hof. Unter dem Kurfürsten Moritz (Re-

gierungszeit 1539–1541) erfolgte im August 1548 die Neugründung einer sächsi-

schen Hofkantorei zur besonderen Repräsentation der albertinischen Linie des Hauses

Wettin, auf die seit der Schlacht bei Mühlberg (1547) mit dem Kurkreis die Kurwürde

übergegangen war. Als ersten Kapellmeister zog Kurfürst Moritz Johann Walter

(1496–1570), den nachmaligen ersten evangelischen »Cantor«, an seinen Hof. 1548

umfasste die Hofkantorei außer den Kapellknaben 19 Sänger und einen Organisten. Im

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ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts wirkten 47 Sänger und Instrumentalisten am

Dresdner Hof. Bereits ein Inventar von 1593 verzeichnet eine stattliche Anzahl von

sämtlichen Instrumententypen, die damals in der Kunstmusik gebräuchlich waren, un-

ter anderem 13 Posaunen, 12 Gamben, 11 Zinken, 8 Krummhörner und 8 Dulciane

(die frühe Form des Fagotts).

Nachdem die sächsische Hofkapelle 1612 reorganisiert worden war, übernahm 1613

Michael Praetorius (um 1571–1621) deren Leitung. Er behielt jedoch gleichzeitig sei-

ne Anstellung als Hofkapellmeister in Wolfenbüttel, weilte nur sporadisch in Dresden

und leitete die sächsische Hofkapelle also lediglich »von Haus aus«. Seine leitende

Funktion behielt Praetorius am sächsischen Hof bis 1616. Er war also noch etwa ein

Jahr lang faktisch der Vorgesetzte von Heinrich Schütz (1585–1672), der Ende Au-

gust 1615 am Dresdner Hof als Organist und »Director« angestellt worden war. Prae-

torius und Schütz bemühten sich gemeinsam um eine Neustrukturierung der sächsi-

schen Hofmusik. Eigentlich stand Schütz in dieser Zeit noch im Dienst des in Kassel

residierenden Landgrafen Moritz von Hessen; er war lediglich für seine Tätigkeit in

Dresden für zwei Jahre beurlaubt worden. Auf Druck des sächsischen Kurfürsten Jo-

hann Georg I. (Regierungszeit 1611–1656), eines ranghöheren Fürsten, verzichtete

Landgraf Moritz schließlich auf die Dienste von Schütz, der am 12. Februar 1617 seine

Bestallung zum kurfürstlich-sächsischen Kapellmeister erhielt. In den folgenden ein-

einhalb Jahrzehnten wurde der sächsische Hof durch die Fülle und die überragende

Qualität der Werke von Heinrich Schütz zu einem deutschen Musikzentrum ersten

Ranges.

Während des Dreißigjährigen Krieges brachen Hofleben und Musikpflege am Dresdner

Hofe nahezu völlig zusammen. Allerdings gründete der Sohn des Kurfürsten, der spä-

tere Johann Georg II. (Regierungszeit 1656–1680), im Jahr 1641 eine eigene Kapelle.

In einer leitenden Position wurde der Schütz-Schüler Matthias Weckmann (vor 1619–

1674) als Organist angestellt, dessen Karriere 1655 mit dem Ruf an die Hauptkirche

St. Jacobi nach Hamburg ihren Höhepunkt erreichte. Seit 1647 hatte neben Weck-

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mann der italienische Kastrat und Komponist Giovanni Andrea Bontempi (um 1624–

1705) eine leitende Position in der kurprinzlichen Kapelle inne. Die kurfürstliche Ka-

pelle, deren Reorganisation erst in den frühen 50er Jahren begonnen hatte, wurde

nach dem Tod Johann Georgs I. 1656 mit der kurprinzlichen verschmolzen. Obwohl in

der Folgezeit noch viele bedeutende Werke von Schütz entstanden, etwa die Historia 

der Freuden- und Gnadenreichen Geburth Gottes und Marien Sohnes, Jesu Christi (drei

Fassungen, 1660–1671), gewann die »moderne Musik« italienischer Komponisten am

sächsischen Hof eine immer größere Bedeutung im Rahmen der höfischen Repräsenta-

tion. Neben Bontempi wäre besonders Vincenzo Albrici (1631–1696; seit 1666 in

Dresden) zu nennen. Insgesamt standen vier italienische Musiker als Kapellmeister im

kursächsischen Dienst. Schütz hatte zwar den Titel des Oberkapellmeisters inne, er-

hielt aber weniger Gehalt als ein Kapellmeister. Was die Instrumentalmusik am sächsi-

schen Hof betrifft, so begründete der Mantuaner Carlo Farina (um 1600–um 1640),

der von etwa 1625 bis 1629 Konzertmeister der Hofkapelle unter Heinrich Schütz war

und in Dresden fünf Sammlungen mit ganz unterschiedlicher Instrumentalmusik zu

Druck beförderte, gar eine eigne Dresdner Geigerschule. Zu deren späteren Repräsen-

tanten gehörten die sächsischen Kapellmitglieder Johann Jacob Walther (Mitglied

1673–1680), Johann Paul Westhoff (Mitglied 1674–1697) und Nicolaus Adam

Strunck (Mitglied 1688–1697; Kapellmeister seit 1692). Von allen genannten Geigern

sind viele hervorragende Kompositionen überliefert. Der wohl bedeutendste Kapell-

meister am sächsischen Hof nach dem Tod von Heinrich Schütz bis zur Auflösung des

alten Hofstaates 1697 war der Schütz-Schüler Christoph Bernhard (1627–1692).

1655 wurde er Vizekapellmeister in Dresden, wirkte von 1664 bis 1674 als Kantor an

der Jacobikirche in Hamburg, kehrte dann aber wieder nach Dresden zurück, wo er

1681 Kapellmeister wurde. Bedeutend sind seine musiktheoretischen Schriften, die er

ganz im Geiste seines Lehrers abgefasst hat, weshalb sie der Musikwissenschaftler Jo-

seph Müller-Blattau mit Recht unter dem Titel Die Kompositionslehre Heinrich Schüt- 

zens in der Fassung seines Schülers Christoph Bernhard (als eine der ersten deutschen

Kompositionslehren überhaupt) veröffentlicht hat (Leipzig 1926; 3. Auflage Kassel

1999).

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Eine völlig neue Phase der Musikpflege am Dresdner Hof begann mit der Regierungs-

übernahme von Kurfürst Friedrich August I. (»der Starke«) im Jahre 1694 († 1733),

besonders nachdem dieser 1697 zum Katholizismus konvertiert und – als August II. –

zum polnischen König gewählt worden war. Sein großes Vorbild war Ludwig XIV., des-

sen prunkvollen Lebensstil er – und später auch sein Sohn Friedrich August II. (= König

August III.; Regierungszeit 1733–1763) – nachzuahmen versuchten. Die doppelte Re-

gentschaft erforderte eine entsprechend gesteigerte Verpflichtung zur Repräsentati-

on. Die Prachtentfaltung im Bereich aller Künste nahm am sächsischen Hof geradezu

gigantische Ausmaße an. Was die Musik betrifft, so wurde 1697 die alte Hofkapelle

formal aufgelöst – und sogleich eine neue begründet. Nahezu alle Musiker erhielten

ihre Wiederbestallung in der »Kgl Pohln. Und Churf. Sächsischen Capell- und Cammer-

Musique«, verbunden mit der neuen Verpflichtung, an der musikalischen Gestaltung

der katholischen Hofgottesdienste mitzuwirken. Diese wurden mit großem Prunk vo-

kal-instrumental gestaltet; die evangelische Hofkirchenmusik hingegen war nur einem

Chor und einem Organisten überantwortet. Unter August dem Starken entwickelte sich

besonders das instrumentale Segment der höfischen Musik, die »Hofkapelle« bzw. das

»Hoforchester«, zu dem führenden orchestralen »Klangkörper« im damaligen Europa.

Bereits um 1710 erstrahlte die höfische Instrumentalmusik in ihrer ganzen, höchst

differenzierten Klangpracht: Zum Streichorchester (Violine, Viola, Violoncello und

Kontrabass) traten Querflöte, Oboe, Fagott, Horn und – als Sonderinstrumente für be-

sonders exquisite Klangfarben – Chalumeau, Oboe d’amore, Viola da gamba und

d’amore. Trompeter und Pauker waren im Hofwesen eine gesonderte Einrichtung und

kamen vor allem bei höfischen Aufzügen und im Feld beim Signalblasen zum Einsatz.

Besonders ausgebildete (»musikalische«) Spieler wirkten in der Hofkapelle mit, wenn

die entsprechende Kompositionen Trompeten und Pauken verlangten. Die höfische

Instrumentalmusik wurde durch Akkordinstrumente (Cembalo, Orgel und Laute) ver-

vollständigt. Der weit über Dresden hinaus bekannt Lautenist Silvius Leopold Weiss 

(1687–1750) gehörte zu den Lieblingsmusikern Augusts des Starken. Zu den Elitemu-

sikern am Dresdner Hof gehörten weiterhin der Geiger Johann Georg Pisendel 

(1687–1755), der Flötist Pierre-Gabriel Buffardin (um 1690–1768) und der Kontra-

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bassist Jan Dismas Zelenka (1679–1745), die natürlich auch als Komponisten in Er-

scheinung traten. Zelenka erhielt 1735 eine Bestallung als »Kirchencompositeur« für

den katholischen Bereich der höfischen Sakralmusik und hat daselbst – besonders in

der Gattung der Messe – einen Stil ausgeprägt, der so genial wie individuell ist. Der be-

deutendste Komponist am Dresdner Hof zur Zeit Augusts des Starken war gewiss Jo-

hann David Heinichen (1683–1729), der von 1717 bis zu seinem Tod als Kapellmeis-

ter wirkte. In seinen orchestralen Kompositionen hat er die ganze Fülle der Klangmög-

lichkeiten des Dresdner Orchesters ausgeschöpft. Die große Dresdner Hofkapelle, der

auch eine stattliche Zahl hervorragender Sängerinnen und Sänger angehörten, hatten

drei zentrale Aufgabengebiete: die katholische Hofmusik, die (italienische) Oper und

die Kammer- bzw. Konzertmusik. Kirchenmusik und höfische Kammermusik durchzo-

gen das ganze Jahr. Hingegen war die Oper an »stagioni« (Karneval und Herbst) ge-

bunden, aber auch ein substanzieller Bestandteil der höfischen Festkultur, die in Dres-

den gigantische Ausmaße hatte.

Nach Heinichens Tod blieb die Kapellmeisterstelle über den Tod Augusts des Starken

am 1. Februar 1733 hinaus vakant. Vom neuen Herrscher, Friedrich August II., der

ganz und gar der italienischen Musik zugetan war, wurde im Dezember dieses Jahres

Johann Adolph Hasse (1699–1783) unter Vertrag genommen. Bereits 1731 hatte

dieser – gemeinsam mit seiner Frau, die auch die Titelrolle sang – in Dresden seine O-

per Cleofide höchst erfolgreich herausgebracht. Hasses Stil nahm Einfluss auf die ge-

samte Dresdner Hofmusik. Zuerst beherrschte die italienische Oper die musikalische

Szenerie der Elbestadt. Seit Eröffnung der katholischen Hofkirche im Jahre 1751 er-

hielt sie jedoch eine Konkurrenz in der Kirchenmusik der kurfürstlich-königlichen Resi-

denz. Von Hasse stammen bedeutende Beiträge zur Gattung der Messe. Besonders

berühmt ist darüber hinaus ein Te Deum  in D-Dur. Mit Hasse, der 1763/64 Dresden

verließ, erreichte die Barockmusik in der Elbestadt ihren glanzvollen Höhepunkt – und

ihr Ende.

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Neben dem Dresdner Hof waren die großen Kirchen der Stadt seit alters wichtige Pfle-

gestätten der sakralen Kunstmusik, allen voran Kreuzkirche und Kreuzschule. Die

Kreuzschüler haben nachweislich schon vor 1500 figural gesungen, also mehrstimmi-

ge Sakralmusik ausgeführt. 1370 wird erstmals ein Organist erwähnt. Die überragende

Komponistenpersönlichkeit unter den Kreuzkantoren war Gottfried August Homilius

(1755–1785), dessen Werk man seit einiger Zeit mit großer Begeisterung vonseiten

der Interpreten und der Hörer wiederentdeckt.

Bernhard Morbach 

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MORBACH LIVE – ALTE MUSIK

Mittwoch, 22. März 2006 18.05-19.00 Uhr

 BAROCKE MUSIKMETROPOLEN

2. Folge: Salzburg

Anm.: Die fett gedruckten Komponisten sind in der Sendung mit Klangbeispielen ver-

treten.

Eine städtische Siedlung an der Stelle des heutigen Salzburg existierte bereits im ers-

ten Jahrhundert vor Christus. 45 n. Chr. erhielt das römische Juvavum von Kaiser

Claudius das Recht einer Municipalstadt. Zu einer ersten Klostergründung kam es im 5.

Jahrhundert. Theodo, Herzog von Bayern machte die Reste der römischen Stadt 699

dem hl. Rupert, Bischof von Worms, zum Geschenk mit dem Auftrag, die ganze Region

zu missionieren. Damit begann die eigentliche Geschichte der Stadt Salzburg; der Na-

me ist seit 755 nachweisbar. Unter Ruperts Nachfolger Virgil begann der Aufstieg

Salzburgs zum geistlichen, geistigen und kulturellen Zentrum des Ostalpenraumes.

739 wurde die Stadt Bischofssitz und 798 auf ausdrücklichen Wunsch Karls des Gro-

ßen zum Erzbistum erhoben. Bereits 744 war der erste Dom fertig gestellt worden. Die

Festung Hohensalzburg wurde 1077 durch Erzbischof Gebhard begonnen, aber erst

von seinen Nachfolgern beendet. Salzburg entwickelte sich rasch zu einem der größten

und reichsten Fürstentümer des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, dem es

seit dem 14. Jahrhundert angehörte. Es hatte aber den Status eines »reichsunmittel-

baren« Fürstentums«. 1648 erhielt der Salzburger Fürsterzbischof den Ehrentitel

Primas Germaniae, der dem bedeutendsten deutschen Bischof zustand. Salzburger

Erzbischöfe tragen diesen Titel heute noch.

Die Entwicklung Salzburgs zu einem geistlichen und geistigen Zentrum hatte natürlich

auch einen musikalischen Aspekt. Seit dem 9. Jahrhundert entstanden in Salzburger

Schreibstuben Codices mit Gesängen aus allen Bereichen der christlichen Liturgie. Der

Dom und die Abtei St. Peter wurden zu Zentren der geistlichen Musik. Darüber hinaus

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entstand im mittelalterlichen Salzburg die besondere Tradition eines liturgischen

Volksgesangs. Eine Handschrift des 12. Jahrhunderts überliefert das wohl älteste heu-

te noch gesungene geistliche Lied Christ ist erstanden , welches ursprünglich von der

Gemeinde im Rahmen eines lateinischen Osterspiels gesungen wurde. Erzbischof

Pilgrim II. stiftete zur Pflege der Sakralmusik 1393 eine Kapelle, die aus sechs Kaplä-

nen und ebenso vielen Kapellknaben bestand. Bereits seit dem 13. Jahrhundert war

der Salzburger Hof übrigens zu einem Treffpunkt der prominentesten Minnesänger

geworden.

Ein »organologisches« Unikum ist der »Salzburger Stier«, wie das Hornwerk auf der

Feste Hohensalzburg genannt wird. Es besteht aus 200 zinnernen Pfeifen und ist die

einzige erhaltene alte Freiorgel in Österreich. Das Hornwerk wurde 1502 unter Leon-

hard von Keutschach angelegt.

Einen besonderen Rang erhielt die geistliche Musik des Salzburger Hofs im 16. Jahr-

hundert dadurch, dass es Erzbischof Matthäus Lang gelang, Heinrich Finck (1444/45–

1527) und den Organisten Paul Hofhaimer (1459–1537) an seinen Hof zu binden. Na-

türlich gehörten auch Trompeter zur fürsterzbischöflichen Hofmusik, die auch zum

Spiel von Instrumenten wie Flöte, Krummhorn und Viola da Gamba verpflichtet waren,

die in der fürstlichen Kammer erklangen.

Der Beginn der barocken Periode der Salzburger Hofmusik wird eingeleitet mit dem

Wirken des 1587 gewählten Erzbischofs Wolf Dietrich von Raitenau. Sein großes En-

gagement für die geistliche Musik in Salzburg hängt sicher maßgeblich damit zusam-

men, dass er von 1576 bis 1582 am Collegium Germanicum in Rom studiert hatte und

zum Beispiel noch Tomás Luis de Victoria als Kapellmeister dieser Institution erlebt

hatte. Das Reformwerk von Raitenaus, das die gesamte Musik seiner Hofhaltung be-

traf, führte schließlich zu einer Neugründung der Hofkapelle, die bis zur Säkularisation

(1803) Bestand hatte und die im 17. und 18. Jahrhundert den Vergleich mit den

betreffenden Institutionen in Wien und München nicht zu scheuen brauchte. 1597 war

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Barocke Musikmetropolen: Salzburg Seite 3

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die »Neue Ordnung der fürstlichen Chormusik am Münster« vollzogen. Das Ensemble

bestand aus zwei Domchorregenten, zwanzig geistlichen Domchorvikaren, acht weltli-

chen Chorsängern und etwa acht Kapellknaben – eine für diese Zeit ganz außerge-

wöhnliche Größe einer Kapelle, obwohl man davon ausgehen muss, dass bei den Got-

tesdiensten jeweils nicht alle Sänger zum Einsatz kamen. Erbischof von Raitenau war

sehr darum bemüht, die Kapellmeisterstelle hochqualitativ zu besetzen, was dazu führ-

te, dass während seiner 25jährigen Regierungszeit neun Kapellmeister am Salzburger

Hof wirkten. Die bedeutendsten unter ihnen sind Tiburtio Massaini (vor 1550–nach

1609) und Johann Stadlmayr (um 1575–1648). Während der in Cremona geborene

Augustinermönch noch ganz der Vokalpolyphonie der Renaissance verpflichtet ist,

gewinnt in den späteren Werken des vermutlich in Freising geborenen Stadlmayr der

konzertierende Stil, das Zusammenwirken von solistischen Sing- und Instrumental-

stimmen auf der Grundlage des Basso continuo, große Bedeutung. Eine stattliche Zahl

von geistlichen Kompositionen Stadlmayrs, deren Qualität von vielen Komponisten und

Musikgelehrten seiner Zeit gepriesen wird, ist überliefert. Allerdings harrt sein Schaf-

fen noch der Wiederentdeckung.

Im Amt des Erzbischofs folgte Wolf Dietrich von Raitenau im Jahr 1612 dessen Vetter

Markus Sittikus. Er veranlasste unter anderem die Benediktinerkongregation, ein Gym-

nasium zu gründen, in dem Musik und musiktheatralische Stücke zur Aufführung ka-

men. Es war eine Vorbereitungsstufe zur Aufnahme in die Universität der Benediktiner,

in der das mit Musik verbundene Schuldrama über die Jahrhunderte eine wichtige

Pflegestätte hatte. Noch von Mozart stammt ein Beitrag zu diesem Genre. Sein Inter-

medium in drei Akten Apollo et Hyacinth KV 38; wurde am 13. Mai 1767 an der Salz-

burger Universität uraufgeführt. Sittikus’ bedeutendste Leistung im Hinblick auf die

Musikgeschichte Salzburgs war die Einrichtung eines Hoftheaters. In diesem kam es

1614 zur ersten Aufführung einer Oper nördlich der Alpen; vermutlich war es Claudio

Monteverdis L’Orfeo .

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Barocke Musikmetropolen: Salzburg Seite 4

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Markus Sittikus’ Nachfolger war Erzbischof Paris Lodron (1619–1653). Zu dessen Re-

gierungszeit wurde unter anderem der Bau der Universität und des Doms vollendet.

Die Musik, die zur Weihe im Jahr 1628, die mit einem großen Fest verbunden war,

komponiert wurde, ist nicht erhalten. Das markanteste architektonische Charakteristi-

kum des neuen Doms ist die gewaltige zentrale Kuppel, die von vier Pfeilern getragen

wird (siehe Abbildung). Bereits zur Domweihe waren zwei Pfeiler jeweils mit einer Or-

gel und mit einer Empore für Sänger und Instrumentalisten verbunden worden. Der

Hofkapellmeister Anton Megerle, der dieses Amt von 1640 bis 1640 innehatte, statte-

te auch die beiden anderen Pfeiler mit Vierungsorgeln und Emporen aus. Nunmehr

forderte der Salzburger Dom klanglich voluminöse und mehrchörige konzipierte Sak-

ralmusik geradezu heraus. Die 53stimmige Messe, die Heinrich Ignaz Franz Biber

(1644–11704) zur Feier des elften Säkulums, der Gründung des Erzbistums Salzburg

komponierte, die Missa Salisburgensis , ist dem Innenraum des Salzburger Doms gera-

dezu auf den Leib geschneidert.

Dadurch, dass der geradezu musikfanatische Erzbischof Max Gandolph Graf von

Khuenburg (Regierungszeit 1668–1687) außer Biber noch Georg Muffat (1653–

1704) nach Salzburg verpflichtet hatte, gelang es ihm, die Salzburger Hofmusik auf

ein Niveau zu führen, das der entsprechenden kaiserlichen Institution in Wien unter

Leopold I. absolut ebenbürtig war. Biber war vor Kremsier nach Salzburg gekommen.

Er diente zunächst als Violinist, wurde 1678 Vizekapellmeister und 1684 schließlich

zum Hofkapellmeister ernannt. Sein umfangreiches Werk umfasst weltliche und geistli-

che Musik. Höchst bedeutend sind seine Beiträge zur Gattung der Sonate, die in dieser

Zeit formal noch höchst vielfältig sein konnte, absolut gleichrangig seine Mess- und

Vesperkompositionen. Die Entwicklung eines besonderen Violinstils, in dem die Skor-

datur, die Umstimmung der Saiten zum Zwecke eines differenzierten Gesamtklangs

des Instruments, gilt als Bibers wichtigste kompositorische Leistung. Sein virtuoses

Spiel auf der Violine wurde noch Jahrzehnte nach seinem Tod gerühmt. Ein auch als

Komponist bedeutender Schüler von Biber war Johann Joseph Vilsmayr (1663–

1722), der von 1689 bis zu seinem Tod Violinist in der Salzburger Hofkapelle war. Das

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Schaffen von Biber, der von Leopold I. 1690 in den Adelsstand erhoben und von Erzbi-

schof Johann Ernst von Thun (Regierungszeit 1687–1709) 1692 zum Truchsess er-

nannt worden war, bildet in der Alten Musik heutzutage einen wichtigen interpretatori-

schen Schwerpunkt. Für Barockgeiger sind seine Rosenkranzsonaten gewissermaßen

eine Pflichtübung und ein »Prüfstein« ihrer Fähigkeiten.

Georg Muffat, der aus dem Savoyen stammt, erhielt seine musikalische Ausbildung

unter anderem in Paris von Musikern aus dem unmittelbaren Umkreis Jean-Baptiste

Lullys, wobei die Tastenmusik in den Mittelpunkt seines künstlerischen Interesses

rückte. 1678 wurde er von Fürsterzbischof Graf von Khuenburg als »organoedus und

cubicularius« (Organist und Kammerdiener) an den Salzburger Hof gezogen; es war –

besonders in Salzburg – üblich, dass Musiker auch zu anderen höfischen Dienstleistun-

gen verpflichtet waren. Von seinem Dienstherrn wurde Muffat 1681 ein Studienjahr in

Rom gewährt, wo Bernardo Pasquini sein Lehrer für Cembalo und Orgel war und die

Kompositionen Arcangelo Corellis ihn zu seinem Armonico tributo  (Salzburg 1682)

inspirierten, der ersten gedruckten Sammlung von Concerti grossi überhaupt. Weil

Muffat eine Karriere am Salzburger Hof trotz seiner bedeutenden Leistungen verwehrt

blieb, nahm er Verhandlungen mit Passau auf und wurde daselbst 1690 Kapellmeister

am Hof Fürstbischofs Johann Philipp von Lamberg. Tastenmusik, instrumentale Con-

certi und konzertante, vokal-instrumentale Kirchenmusik sind die drei Pfeiler seines

Schaffens.

Wie auch anderenorts üblich, hatten die Mitglieder der Hofkapelle Salzburgs Dienst-

verpflichtungen in den Bereichen der fürstlichen Kirchen-, Kammer-, und Tafelmusik

sowie in der Hofoper. Erzbischof Franz Anton Fürst von Harrach (1709–1727) setzte

besondere Akzente in den Gattungen Oratorium und Oper, wobei er für viele Neupro-

duktionen den Wiener Vizehofkapellmeister Antonio Caldara engagierte.

Die Ausweisung von über 20.000 Protestanten unter Erzbischof Leopold Anton Frei-

herr von Firmian (Regierungszeit 1727–1744) hatte äußerst negative Konsequenzen

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auf die wirtschaftliche Situation von Salzburg, die sich auch auf die Pflege der Musik

an den vielen Klöstern und Kirchen, an der Universität und besonders in der Hofhal-

tung auswirkten; die entsprechenden Etats wurden massiv reduziert. Der bedeutendste

Hofmusiker, mit dem letztlich die barocke Phase der Salzburger Hofmusik ihren Ab-

schluss findet, war der in Schwaben gebürtige Johann Ernst Eberlin (1702–1762).

1729 wurde er Hof- und Domorganist in Salzburg und 1749 Hofkapellmeister da-

selbst. Sein äußerst umfangreiches und qualitativ sehr hoch einzuschätzendes Schaf-

fen mit 70 Messen, 30 Vespern, Litaneien, Oratorien, Opern, Schuldramen, Sinfonien

u. a. wartet noch auf seine Wiederentdeckung. Lediglich ein wenig Tastenmusik und

eine Messe sind eingespielt.

Ob man die letzte Phase der (fürstlichen) Salzburger Musikgeschichte zur Zeit der

Fürsterzbischöfe Sigismund III. Graf von Schrattenbach (Regierungszeit 1753–1771)

und Hieronymus Graf Colloredo (Regierungszeit 1772–1803), in denen unter anderen

Anton Cajetan Adlgaser, Leopold und Wolfgang Amadeus Mozart, ganz besonders aber

Johann Michael Haydn, die prägenden Komponistenpersönlichkeiten am Hofe waren,

als die »klassische« bezeichnen darf, sei dahingestellt. Infolge der Säkularisation wur-

de 1803 Salzburg als selbstständiges Reichsfürstentum – und damit auch die Hofka-

pelle – aufgelöst. Die besten Musiker wurden von der Wiener Hofkapelle übernommen,

die meisten wurden in Pension geschickt; nur einige blieben in Salzburg und erhielten

am Dom eine Kirchenmusik mit höchst bescheidenen Mitteln aufrecht.

Bernhard Morbach 

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MORBACH LIVE – ALTE MUSIK

Mittwoch, 29. März 2006 18.05-19.00 Uhr

 BAROCKE MUSIKMETROPOLEN

3. Folge: Wien

Anm.: Die fett gedruckten Komponisten sind in der Sendung mit Klangbeispielen ver-

treten.

Wien geht auf die keltische Siedlung Vindobona und auf das gleichnamige römische

Militärlager zurück, das mit einer zivilen Siedlung verbunden war. Nach Abzug der Rö-

mer verschwindet es von der weltgeschichtlichen Szenerie; 881 wird es als Wenia wie-

der genannt. Um 1135 kam die Siedlung unter die Herrschaft der Babenberger und

wurde 1137 erstmals als Stadt erwähnt. 1221 erhielt Wien formal das Stadtrecht.

Nach dem Aussterben der Babenberger wurde Wien seit dem 14. Jahrhundert unter

der Herrschaft der Habsburger zu einem Handels- und Kulturzentrum. Herzog Rudolf

IV., der Stifter, gründete 1365 die Universität. Diese und St. Stephan wurden zu Pfle-

gestätten von Musik. Erst seit 1460 – im europäischen Vergleich also recht spät – ist

die Ausführung mehrstimmiger Musik für die Kantorei von St. Stephan belegt. Albrecht

II., der erste König aus dem Haus Habsburg (1438–39), gründete eine Habsburgische

Hofkapelle, die von seinem Nachfolger Friedrich III. (1440–1493; Kaiser seit 1452)

vergrößert wurde. Allerdings residierte dieser kaum in Wien, das sich von 1485 bis

1490 gar in der Hand des Ungarnkönigs Mathias Corvinus befand.

Unter Kaiser Maximilian I. (1459–1519; Kaiser ab 1493) kam es zu einer besonderen

Blüte der Hofkapelle, die sich zunächst – nach Maximilians Heirat mit Maria von Bur-

gund – aus zwei Kantoreien bestand. Die Burgundische überließ er 1494 dem gemein-

samen Sohn Philipp dem Schönen. 1498 veranlasste Maximilian eine Reorganisation

der Wiener Kapelle. Die herausragenden Künstlerpersönlichkeiten der Hofkapelle unter

Maximilian I. waren Heinrich Isaac, dessen Nachfolger im Kapellmeisteramt, Ludwig

Senfl, und Paul Hofhaimer als Organist. Bis ins 18. Jahrhundert hinein blieb die habs-

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burgische Hofkapelle die alles überragende musikalische Institution in Wien; einen ver-

gleichbaren Rang hatte sie auch unter den Kaisern Maximilian II. und Rudolph II. inne,

die in Prag residierten.

Im 16. Jahrhundert hatten Sängerkomponisten frankoflämischer Herkunft eine künst-

lerische Vormachtstellung in der kaiserlichen Kapelle. Mit Christoph Strauß, der das

Kapellmeisteramt am habsburgischen Hof nur kurze Zeit innehatte, wurde die barocke

Phase in der Musikgeschichte Wiens eingeleitet. Nach seiner Amtszeit begann unter

Kaiser Ferdinand II. 1619 die Hegemonie der Italiener am Wiener Kaiserhof. Gleichzei-

tig wurden die »barocken Herrscher« am Habsburgerhof selbst musikalisch aktiv. Fer-

dinand III. (Kaiser 1637; † 1657), Leopold (Kaiser 1658; † 1705) und Joseph I. (Kai-

ser 1658; † 1705) traten sogar als Komponisten von Rang in Erscheinung. Karl VI.

(Kaiser 1711; † 1740) und Maria Theresia (Kaiserin 1740; † 1780) waren zumindest

erfahrene ausübende Musiker.

Allen habsburgischen Herrschern gelang es, hervorragende Kapellmeister an ihren Hof

zu binden. Auch die anderen führende Ämter (Vizehofkapellmeister und Hoforganist)

waren hochrangig besetzt. Ein zusätzlicher Impuls, der die gesamte Kultur und die

wirtschaftliche und administrative Bedeutung Wiens betraf, ging im Jahr 1683 von der

erfolgreichen Verteidigung der Stadt gegen die Türken aus.

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Barocke Musikmetropolen: Wien Seite 3

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Komponisten Hofkapellmeister seit  

Christoph Strauß (um 1575–1631) 1612

Giovanni Priuli (um 1575–1629) 1619

Giovanni Valentini (†1649) 1629

Antonio Bertali (1605–1669) 1649

Giovanni Felice Sances (um 1600–1679) 1669

Johann Heinrich Schmelzer (um 1623–1680) 1679

Antonio Draghi (1635–1700) 1682

Johann Joseph Fux (1660–1741) 1698

Marc’ Antonio Ziani (1653–1715) 1712

Luca Antonio Predieri (1688–1767) 1746

Georg Reutter d. J. (1708–1772) 1759

Das Schaffen von Christoph Strauß und Giovanni Priuli, die in der Kirchenmusik Wich-

tiges geleistet haben, verbindet stilistisch die Epochen Renaissance und Barock, die um

1600 aneinander grenzen. Priuli war Schüler des San Marco-Organisten Giovanni Gab-

rieli. Die venezianische Musik gewann besonders im instrumentalen Bereich große Be-

deutung für die Wiener Hofmusik. Die venezianische Ensemblesonate (einsätzige aber

mehrteilige Kompositionen von zwei bis vier Stimmen auf der Grundlage des Basso

continuo) war bis in die erste Hälfte des 1. Jahrhunderts sehr populär in Wien. Außer

Priuli, Valentini und Bertali sind Giovanni Battista Buanomante († 1643) und Massimi-

liano Neri (1615–1666) die bedeutendsten Repräsentanten dieses Genres, das sich

aber noch bei Komponisten des 18. Jahrhunderts – etwa im Schaffen von Johann Jo-

seph Fux – findet. Allerdings erblühte im 17. Jahrhundert schon die (avantgardisti-

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Barocke Musikmetropolen: Wien Seite 4

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sche) Sonate für Violine und Basso continuo am Habsburgerhof, und zwar besonders

im Schaffen von Johann Heinrich Schmelzer, der der erste einheimische Hofkapell-

meister in Wien war. Der Einfluss von Heinrich Ignaz Franz Biber, der in Kremsier und

Salzburg wirkte, ist hier nicht zu unterschätzen.

Was den solistischen instrumentalen Aspekt betrifft, so entwickelte sich in Wien eine

besondere Schule der Tastenmusik. Hier sollen nur ihre wichtigsten Repräsentanten

erwähnt werden – an erster Stelle natürlich Johann Jacob Froberger (1616–1667).

Der in Stuttgart gebürtige Künstler wirkte mit Unterbrechungen von 1637 bis 1657

als Hoforganist in Wien. Er war häufig auf Reisen; viele unterschiedliche stilistische

Aspekte fließen deshalb in seinem Schaffen zusammen. Hauptsächlich aus italieni-

schen Einflüssen (Frescobaldi) und aus Elementen der französischen Lautenkunst hat

er einen Cembalostil geschaffen, der für die gesamte Barockmusik eine geradezu fun-

damentale Bedeutung hat. Allesandro Poglietti († 1683) wurde 1661 Hoforganist in

Wien und bei der Belagerung der Stadt durch die Türken von Tartaren ermordet. Hu-

moristisches verbunden mit einer Vorliebe für Programmmusik kennzeichnet seinen

Stil. Vom Münchner Hof kommend wurde Johann Kaspar Kerll (1627–1693) 1677 in

Wien Organist am Stehphansdom, später auch Hoforganist, kehrte 1684 aber nach

München zurück. Sein Werk umfasst außer Tastenmusik hoch bedeutende Kirchen-

kompositionen und (für den Münchner Hof, wo er als Kapellmeister wirkte) viele Opern.

Gottlieb Muffat (1690–1770), der Sohn des Salzburger Hoforganisten Georg Muffat,

wurde 1763 Erster Hoforganist bei den Habsburgern. Sein Clavierstil ist ein Bindeglied

zwischen dem barocken und dem frühen klassischen Stil der Tastenmusik in Wien, de-

ren wichtigster Repräsentant Georg Christoph Wagenseil (1715–1777) war, der Kla-

vierlehrer Kaiserin Maria Theresias und kaiserlicher Hofkomponist.

In der Wiener Kirchenmusik blieben bis ins Schaffen von Meistern des 18. Jahrhun-

derts (J. J. Fux; Antonio Caldara, Vizehofkapellmeister seit 1716) hinein auf bemer-

kenswerte Weise stilistische Aspekte der Renaissance (Sätze und Satzabschnitte im

kontrapunktisch-motettischen Stils) und die venezianischen Mehrchörigkeit um 1600

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Barocke Musikmetropolen: Wien Seite 5

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lebendig. Natürlich dominiert der konzertante Stil. Das Zusammenwirken von solisti-

schen Instrumental- und Vokalstimmen auf der Grundlage des Basso continuo, kon-

trasierende mit kompakten, chorischen Abschnitten, führt zur Herausbildung eines

besonderen kirchenmusikalischen Stils, den man heute als den »süddeutsch-

österreichischen« bezeichnet und der noch in den Kirchenkompositionen der Wiener

Klassiker Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart fortwirkt. Neben den beiden

genannten Meistern Fux und Caldara haben Giovanni Felice Sances und Antonio Draghi

bedeutende Kirchenkompositionen für den barocken Wiener Hof geschrieben.

Die vorherrschende Musikgattung des 17. Jahrhunderts ist jedoch die 1629 an den

Kaiserhof gelangte Oper. Die musikalisch bedeutendsten Aufführungen dieser frühen

Zeit waren sicherlich die Opern des Venezianers Francesco Cavallis Egisto (1642/43)

und Giasone (1650). Wiener Ensembles machten die neue Kunstform in Prag (1629),

Regensburg und München (1653) bekannt. Die Oper venezianischer Prägung blieb in

Wien bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts aktuell und populär. Es entstand

eine kaum zu überblickende Anzahl von Werken, unter anderem von Hofkpapell-

meistern Antonio Bertali und Giovanni Felice Sances sowie von Pietro Andre Ziani. Vor

allem aber wäre Marc Antonio Cesti zu erwähnen, der von 1666 bis 1669 als kaiserli-

cher Vizekpapellmeister tätig war. Er schuf mit dem im Rahmen der ausgedehnten Fei-

erlichkeiten anlässlich der Hochzeit Leopolds I. und Margaritas von Spanien 1666/67

mehrmals und mit großem Prunk aufgeführten Pomo d’oro  das eindrucksvollste O-

pernwerk des 17. Jahrhunderts in Wien, dessen Glanz und Ruhm weit über die Donau-

metropole heraus erstrahlte. Parallel zur Oper – und kompositorisch im Grunde von

denselben stilistischen Merkmalen gekennzeichnet – erblühte das geistliche Oratorium

in italienischer Sprache in Wien. Es kam daselbst sogar zu der Herausbildung der Son-

derform des »Sepolchro« (ital. Grab), das in der Karwoche aufgeführt wurde. Beiträge

stammen unter anderem von Sances, Draghi, Leopold I., Pederzuoli, M. A. Ziani, Fux

und Caldara.

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Einen wichtigen Bestandteil der barocken Oper – auch derjenigen am Wiener Hof – bil-

dete der Tanz. Und auch im höfischen »Unterhaltungsbetrieb« hatten Tanzveranstal-

tungen eine eminente Bedeutung. Das Bedürfnis zu Tanzen war am Wiener Kaiserhof

so groß, dass man Schmelzer – vor seiner Ernennung zum Hofkapellmeister – nur mit

der Komposition von »Tanzsachen« beauftrage, weshalb man diesen heute bisweilen

den »barocken Johann Strauß« nennt. Allerdings gestalteten sich die Tanzvergnügen

am Wiener Kaiserhof völlig anders als etwa am französischen Königshof. Während sie

dort substanzieller und notwendiger Bestandteil der Repräsentation des Absolutismus

waren, die den König als Mittelpunkt des Hofstaates (und des Staates überhaupt) mit

den Mitteln der Tanzkunst geradezu inszenierte, bevorzugte man am Wiener Kaiserhof

eine Unterhaltung in der Form der so genannten »Wirtschaften«, in denen Kaiser und

Kaiserin als gastgebendes Wirts- oder Bauernpaar auftraten. Unter den gebräuchli-

chen Tänzen stritten französische und deutsche um den Vorrang. Mit Sicherheit haben

die vorwiegend aus Italien stammenden Tanzmeister auch Tänze ihrer Nation mit ein-

gebracht. Aber besonders bedeutend ist ein musikalisch-tänzerischer Aspekt, der

schon im Sujet der »Wirtschaften« zum Ausdruck kommt: Tanzmusik aus der einheimi-

schen Volksmusik, die man natürlich nicht nach Noten gespielt hat. Die Affinität zum

Volkstümlichen, Bodenständigen war ein wesentliches Charakteristikum der Musik am

Wiener Hof – auch außerhalb der Tanzmusik. Besonders in den instrumentalen Werken

von Schmelzer, Poglietti, Fux und nicht zuletzt Leopolds I. werden Melodie kunstvoll

verarbeitet, deren Ursprung aus der Volksmusik ganz offenkundig ist. Dieser im 17.

Jahrhundert gesetzte Impuls blieb über die Barockmusik hinaus in Wien wirksam. Denn

auch in den Werken der »Klassiker« Haydn und Mozart ist das Volkstümliche im Be-

reich der Melodik ein wichtiges Element der musikalischen Komposition.

Bernhard Morbach 

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MORBACH LIVE – ALTE MUSIK

Mittwoch, 5. April 2006 18.05-19.00 Uhr

 BAROCKE MUSIKMETROPOLEN

4. Folge: London

Anm.: Die fett gedruckten Komponisten sind in der Sendung mit Klangbeispielen ver-

treten.

Indem sie eine kleine keltische Siedlung erweiterten, erbauten die Römer Londonium,

das zu einem bedeutenden Handelzentrum wurde. Nach dem Abzug der römischen Le-

gionen konnten die Angelsachsen und Normannen die Bedeutung der Stadt bewahren.

Im 11. Jahrhundert entstand neben der City of London die City of Westminster, die Sitz

der Kirche und der Monarchie wurde. Die geistlichen Zentren der beiden »Stadtteile«,

die St. Paul’s Cathedral (erbaut vom 11. bis ins 13. Jahrhundert) und die Westminster

Abbey (als Krönungs- und Grabeskirche der englischen Könige gegründet im 11. Jahr-

hundert), waren mit Kapellen zur Pflege der geistlichen Musik verbunden. Die City of

London und die City of Westminster bewahrten bis ins 17. Jahrhundert hinein eine ge-

wisse Selbstständigkeit. Seit dem Mittelalter wuchsen Einwohnerzahlen und Reichtum

der Bevölkerung von London gleichermaßen beständig. Einen Rückschlag bildeten die

Pestepidemie (1665) und der große Brand (1666), dem vier Fünftel der Stadt zum Op-

fer fielen. Doch danach erblühte London aufs Neue. Dieser Aufschwung erhielt nach der

Herrschaft Oliver Cromwells durch die Restauration der Monarchie (1660) einen zu-

sätzlichen Impuls. Um 1700 zählte London eine halbe Million Einwohner. Der florieren-

de Handel hatte – eigentlich schon seit dem frühen 16. Jahrhundert – den Mittelstand

gestärkt, der seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts neben der Aristokratie und

dem Königshaus zu dem wichtigsten Träger des Londoner Kulturlebens wurde.

Es ist charakteristisch für die gesamte europäische Musikkultur seit dem Mittelalter,

dass sich bis hinein ins 16. Jahrhundert vor allem im Bereich der geistlichen Musik die

Kunst der musikalischen Kompositionen intensiv entfaltete. Für England gilt dies in be-

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Barocke Musikmetropolen: London Seite 2

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sonderem Maße. Außer den beiden genannten Institutionen war die Chapel Royal seit

alters eine wichtige Pflegestätte der Kirchenmusik. Es handelte sich um ein Kollegium

von Sängern und Sängerknaben, Organisten, Komponisten, Notenschreibern und Kap-

länen, das als Einrichtung des königlichen »household« die Aufgabe hatte, die Gottes-

dienste in Gegenwart des Königs abzuhalten. Die (erwachsenen) Sänger hatten ihre Tä-

tigkeit in der Regel als Kapellknaben begonnen, waren von dem »master of chorister«

in Gesang und Komposition ausgebildet und schließlich als »Gentleman« der Chapel

Royal eingeschworen worden. Von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zur Reformation

taten in der Kapelle 30 bis 32 Sänger und 10 bis 12 Sängerknaben Dienst. Die angli-

kanische Liturgiereform, die 1559 endgültig bestätigt wurde, hatte gravierende Konse-

quenzen für das Repertoire, die Größe des Ensembles und den Status der Mitglieder.

Während im römisch-katholischen Ritus geistliche Musik den ganzen Tagesablauf mit

neun Gottesdiensten durchdrang, beschränkte die anglikanische Kirche deren Zahl auf

drei, wobei die englische Sprache verpflichtend wurde. Man feierte einen Morgengot-

tesdienst, die Kommunion und einen Abendgottesdienst. Der folgende Gebetskanon

konnte durch ebenfalls englischsprachige Anthems ergänzt werden, Kompositionen in

einem kompakten, chorischen Satz (»full anthem«) oder charakterisiert durch den Kon-

trast von solistischen und chorischen Abschnitte auf der Grundlage eines Orgelsatzes

(»verse anthem«).

Morning Service

1. Te Deum2. Jubilate3. Benedictus (alternativ:) 4. Benedicte

Kommunionfeier5. Kyrie6. Nicene Creed

Evening Service

7. Magnificat8. Nunc dimittis (alternativ:) 9. Cantate Domino10. Deus Misereatur

(alle Gesänge in englischer Sprache!)

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Barocke Musikmetropolen: London Seite 3

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Die reduzierte Forderung an die Mitglieder der Chapel Royal führte dazu, dass viele von

ihnen auch an anderen geistlichen Institutionen Dienstverpflichtungen übernahmen

und dass die Qualität der Kompositionen insgesamt deutlich nachließ.

Während der Regierungszeit von Jakob I. (1603–1625) und Karl I. (1625–1649) – mu-

sikgeschichtlich betrachtet also mit dem Beginn der Barockzeit – wurde die Chapel

Royal wieder zu der prominentesten musikalischen Institution Londons und gewann

eine Spitzenstellung unter den Kathedralchören des Landes. Zu den bedeutendsten

Komponisten vor der Revolution gehörten John Bull (Kapellmitglied 1585–1613), Or-

lando Gibbons (Kapellmitglied 1603–1625), Thomas Tomkins (Kapellmitglied ca. 1620–

1649) und Henry Lawes (Kapellmitglied 1626–1662). Etliche von ihnen hatten auch

Aufgaben im weltlichen Segment der Hofmusik. Die Puritanischen Revolution (1642)

führte (notwendigerweise!) zur Auflösung der Chapel Royal, die aber unter Karl II.

(1660–1685) sogleich wieder aufgebaut und zu einer neuerlichen Blüte gebracht wur-

de, die auch unter seinem Nachfolger Jacob II. (1685–88) bestand hatte. Künstlerisch

wurde diese Blüte besonders geprägt durch die Kompositionen von William Child (Ka-

pellmitglied 1660–1697), Pelham Humrfrey (Kapellmitglied 1667–1674), John Blow

(Kapellmitglied 1674–1708) und Henry Purcell (Kapellmitglied 1682–1695). Bei be-

sonders festlichen Gottesdiensten durften die Violinisten der höfischen Kammermusik

der Kirchenmusik einen besonderen Glanz verleihen, was – kompositorisch betrachtet –

zu einem klanglich-formalen »Ausbau« des »verse anthems« führte. Es entstanden

groß angelegte Kompositionen mit instrumentalen Vorspielen, arienhaften Passagen

mit solistischen Singstimmen und konzertierenden Instrumenten, kontrastierend mit

kompakten, chorischen Teilen. In dieser Erscheinungsform bildet das »verse anthem«

das englische Pendant zu den kontinentalen Gattungen der protestantischen Kirchen-

kantate und der französischen »Grand motet«.

Seit der Machtübernahme durch Wilhelm III. (1689–1702) verlor die Chapel Royal all-

mählich ihre Bedeutung im höfischen Zeremoniell, obwohl sie um 1700 etwa die Wir-

kungsstätte des bedeutenden Komponisten William Croft (1678–1727) war. Er unter-

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Barocke Musikmetropolen: London Seite 4

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richtete die Sängerknaben und war Organist der Chapel Royal. Dieses Amt bekleidete

er auch an der Westminster Abbey. Etliche Komponisten des 16. und 17. Jahrhunderts

taten in beiden geistlichen Institutionen der englischen Monarchie Dienst. Zwar wurde

1700 an der Chapel Royal noch das gesonderte Amt des »Composers« eingerichtet,

welches ab 1723 auch von Georg Friedrich Händel bekleidet wurde. Doch besonders

unter den Hannoverschen Königen (seit 1714) verlagerten sich die musikalischen Akti-

vitäten in die Bereiche der Hofhaltung und der neu errichteten königlichen Oper, die

eine öffentliche Institution war.

Was den weltlichen Bereich der königlichen Hofmusik in England betrifft, so oblag ihre

Ausführung bis ins frühe 17. Jahrhundert hinein Minstrels, die vom 15. Jahrhundert

an als Gilde organisiert waren. Unter Heinrich VIII. (1509–1547) waren ausländische

Spielleute – besonders solche aus Italien – am Hofe höchst willkommen. Allerdings ver-

bergen sich in diesem Falle hinter dem Begriff Minstrel hoch ausgebildete Sänger und

Instrumentalisten, die auch komponieren konnten! Eduard VI. (1547–1553) beschäf-

tigte 80 Musiker und seine Nachfolgerinnen Maria Tudor (1553–1558) und Elisabeth I.

(1558–1603) etwa ebenso viele. Dazu gehörten Streicher (Gambisten und Geiger),

Spieler von Schalmeien, Blockflöten und Posaunen, eine Reihe von Trompetern, Laute-

nisten, Cembalisten, Organisten und Sänger. In der Hofmusik Elisabeths I. begegnen

uns solch bedeutende Komponisten wie Alfonso Ferrbosco I (1543–1588) und Thomas

Lupo (1571–1627), die im Instrumentalem wie im Vokalen gleichermaßen Bedeuten-

des geleistet haben und in deren Oeuvre typisch Englisches (das Consort) und typische

Italienisches (das Madrigal) einander gleichberechtigt gegenüberstehen.

Eine regelrechte Hofkapelle wurde erst unter Karl I. als »The King’s Band« (»King’s Music«)

eingerichtet. Nach der Restauration der Monarchie etablierte Jacob II. (er war am französi-

schen Königshof erzogen worden und hatte die typische französische Hofmusik zutiefst verin-

nerlicht) nach dem Vorbild der »24 Violons du Roi« Ludwigs XVI. am englischen Hof die »24

Musicians-in-ordinary«. Neben dem großen Instrumentalensemble der Hofmusik unterhielten

die einzelnen Mitglieder der königlichen Familie ein kleineres Ensemble, die »Privat Music«.

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Barocke Musikmetropolen: London Seite 5

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Die zentrale Gattung der höfischen Musik zur Zeit von Jacob I. war die »masque. Bei

ihr verbanden sich Elemente von Schauspiel, Tanz, Musikaufführung und Zurschaustel-

lung von prachtvoll gekleideten oder maskierten Personen in einer Art Umzug. Eine

Handlung, meist mythologischer Art, existierte nur andeutungsweise. An der Ausfüh-

rung der »masque« hatten in der Regel neben professionellen Schauspielern bzw. Tän-

zern auch Mitglieder der Festgesellschaft teil. Sie endete gewöhnlich in der Darbietung

der Standardtänze der Zeit. Die Maskenspieler gingen dann auf die Mitglieder der

Tischgesellschaft zu und forderten sie zum Tanz auf. Was die Musik der »masque« be-

trifft, so entstand sie in der Regel als Gemeinschaftsarbeit mehrerer Hofmusiker, dar-

unter Thomas Campion, Alfonso Ferrabosco II, Robert Johnson, sowie Henry und Willi-

am Lawes. Sie lieferten auch Beiträge zu den zentralen Gattungen der Instrumental-

musik der Zeit, der Fantasie und des mehrsätzigen »Consort Set« (bzw. »Consort Sui-

te«). Nach der Restauration wurde die »masque« als die wichtigste Gattung der höfi-

schen Musik von der »Ode« verdrängt, die zu bestimmten Anlässen, wie königlichen

Geburtstagen, zur Umrahmungen von Staatsakten und zum Neujahrfest komponiert

und aufgeführt wurde. Die wichtigsten Beiträge zu dieser Gattung finden sich im Werk

von Henry Purcell. Es handelt sich generell um mehrsätzige Kompositionen mit in-

strumentalen Vor- und Zwischenspielen, solistischen Sätzen und festlichen Chören.

Insgesamt muten manche »Odes« schon wie kleine Oratorien an. Die Gattung »verse

anthem« und »Ode« bilden die stilistischen Wurzeln des englischen Oratoriums im

Werk von Georg Friedrich Händel.

Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein war es üblich, dass Musiker des Hofes in

Londoner Theatern bei den Aufführungen von Opern und Schauspielen mit Musikein-

lagen mitwirkten. Diese große Bedeutung des Hofes für das Musikleben Londons ins-

gesamt zog viele ausländische Musiker in die Themse-Stadt, wo man sich entsprechen-

de Verdienstmöglichkeiten erhoffte; der prominenteste unter ihnen war gewiss Georg

Friedrich Händel, der 1710/11 nach London gekommen war.

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Barocke Musikmetropolen: London Seite 6

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Händels Rinaldo  verhalf 1711 der italienischen Oper in London zu ihrem großen

Durchbruch. Zuvor hatte es diese Gattung im Musikleben der Themsestadt sehr schwer

gehabt. Zu fest war das typische englische Theater im Geschmack des Publikums ver-

wurzelt, in dem die Musik zwar ein integraler Bestandteil, aber dennoch nicht durch-

gängig präsent war.

Bereits im Theater der Shakespeare-Zeit war Musik eng mit dem Schauspiel verwoben.

Auf diesem Fundament entwickelte sich die »Semi-opera«, die halb gesungen und halb

gesprochen war, und die mit Henry Purcell in den frühen 1690er Jahren ihren Höhe-

punkt erlebte. (Seine durchkomponierte Oper Dido und Aeneas (1689), die noch Züge

der traditionellen englischen »masque« trägt, war lediglich für eine private Schulauf-

führung bestimmt.) Wichtigste Spielstätte der »Semi-opera« war das Londoner Drury

Lane Theater. Im Jahre 1719 richtete König Georg I. die Royal Academy of Music ein,

die sich mit der Pflege der nunmehr etablierten italienischen Oper befasste, und das

King’s Theatre zu ihrem Sitz erwählte. Dort begann Händel als »Master of the Orchest-

ra« seine erfolgreiche und durch beispiellose mit Kämpfe mit Konkurrenten und Künst-

lern gekennzeichnete Karriere in London.

Bereits im späten 17. Jahrhundert hatte sich in London ein öffentliches Konzertwesen

etabliert. Die Konzerte, die der Geiger John Banister seit 1672 und Thomas Britton

seit 1678 veranstalteten, waren für jedermann – bei freiem Eintritt! – zugänglich. Um

1700 waren an mehreren Orten Subskriptionskonzerte eingerichtet worden. Eine re-

gelmäßig stattfindende Subskriptionsreihe gab es seit 1729, in der Francesco Gemini-

ani von 1731 bis 1738 pro Jahr 20 Konzerte veranstaltete. Als Konzertveranstalterin

trat auch die 1710 gegründete »Academy of Ancient Music« in Erscheinung. Ihre Mit-

glieder waren prominent und sehr reich. Das Orchester der Academy war hervorra-

gend besetzt und die engagierten Solisten – unter ihnen Händel und Geminiani – wur-

den fürstlich entlohnt.

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Barocke Musikmetropolen: London Seite 7

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Um 1750 gab es in London eine Fülle von Spielstätten für professionelle Musiker, die

professionell gemanaged wurden. Geradezu unüberschaubar war die Anzahl von Spiel-

stätten für die Amateurmusiker Londons. Die Alehouses waren besonders beliebt, wo

sich allerdings auch professionelle Musiker gerne ihr Publikum suchten. In Schenken

war – und dies bereits seit dem frühen 17. Jahrhundert – das Singen von Kanons

(»catches«) populär. Allerdings gibt das in unserer Galerie befindliche Bild Hinweise

auf ein vielfältigeres Musizieren in der bürgerlichen Mittelschicht Londons, das sich

natürlich auf ganz England erstreckte. An der Wand hinter den beiden Sängergruppen

sehen wir links eine Laute und rechts eine Viola da gamba. Den Sängern werden damit

gewissermaßen auch instrumentale Fähigkeiten unterstellt. Nirgendwo anders in Eu-

ropa war die schriftgestützte Kultur der Kunstmusik so tief im Volk verwurzelt wie in

England.

Zum Abschluss dieser kleinen Reise durch die Musikgeschichte des barocken London

empfiehlt sich ein Besuch in einem der Vergnügungsparks, von denen es etliche gab

und sich besonders während des 18. Jahrhunderts größter Beliebtheit bei allen Bevöl-

kerungsschichten erfreuten. Gegen Eintritt wurden Erfrischungen und Musik angebo-

ten. In den bereits 1661 angelegten Vauxhall Gardens erklang diese im 18. Jahrhun-

dert aus einer architektonisch aufwendig gestalteten, mehrstöckigen Rotunde. Die Mu-

sik, die man mit dem Bild in unserer Galerie verbinden kann, stammt unter anderem

von Thomas Augustine Arne (1710–1778), den der Betreiber des Vergnügungsparks,

Jonathan Tyers, 1745 engagiert hatte, und der zu den erfolgreichsten Komponisten

im spätbarocken London zu zählen ist.

»So all that the eye or the ear can want

Is at VAUXHALL assambled together;

And the only thing needfull, depend upon’t

Ist he best of all possible WEATHER.«

Bernhard Morbach 

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MORBACH LIVE – ALTE MUSIK

Mittwoch, 19. April 2006 18.05-19.00 Uhr

 BAROCKE MUSIKMETROPOLEN

5. Folge: München

Die Geschichte der Stadt beginnt im Jahr 1158 mit einem Schiedsspruch Friedrich

Barbarossas, der dem bayerischen Herzog Heinrich dem Löwen das Markt- und Münz-

recht für eine Siedlung an der Isar zuerkennt. 1180 erhielt das Herrschergeschlecht

der Wittelsbacher (so benannt nach der Burg Wittelsbach bei Aichach) das Herzogtum

Bayern. Bis Mitte des 13. Jahrhunderts gelang ihnen der Ausbau einer bedeutenden

Landesherrschaft. 1505 wurde München Hauptstadt des Herzogtums, 1623 Haupt-

stadt des Kurfürstentums Bayern. 1648 wurde die Kurwürde endgültig bestätigt.

Erst recht spät tritt München dokumentarisch greifbar auf die Szenerie der Musikge-

schichte. Das erste »Denkmal« sind Messgesänge zu Ehren der Hl. Apollonia aus dem

Jahre 1390. Dokumente über eine höfische Musik gibt es seit dem späten 13. Jahr-

hundert. Ein zentrales Jahr für die Münchner Musikgeschichte ist 1450, in dem Alb-

recht III. (1435–1460) den weithin berühmten Augsburger Organisten Conrad Pau-

mann an seinen Hof zog. Die regelrechte Institutionalisierung einer Hofkapelle mit

Sängern und Instrumentalisten fand um 1500 statt. Zu einer ersten Blüte der höfi-

schen Musik kam es unter dem Kapellmeister Ludwig Senfl, der 1520 nach der Auflö-

sung der Hofkapelle Maximilians I. nach München engagiert worden war. Die Aufgabe

der Hofkapelle war sowohl die musikalische Zier der Gottesdienste – besonders der

Messe mit mehrstimmigen Kompositionen des Ordinarium und Proprium missae – als

auch die Ausführung der höfischen Unterhaltungsmusik. Herzog Albrecht V. (Regie-

rungszeit 1550–1579) förderte die Kirchenmusik, indem er die mehrstimmige Sakral-

musik auch auf die Messen der Wochentage ausdehnte, was als künstlerischer Aus-

druck der Gegenreformation zu werten ist, die in München ein wichtiges Zentrum hatte.

Albrecht V. unterdrückte mithilfe der Jesuiten massiv den Protestantismus in Bayern.

1559 hatten diese eine Schule gegründet, an der unter anderem auch das lateinische

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Barocke Musikmetropolen: München Seite 2

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Schuldrama erblühte, bei dessen musikalischer Gestaltung Hofmusiker mitwirkten. Zu

einer Hofkapelle von internationalem Rang wurden die Münchner unter Orlando di Las-

so (um 1532–1594), der seit 1557 zuerst Tenorist war, ab 1563 dann Ludwig Dasers

Nachfolger als Hofkapellmeister. Schon in den letzten Jahres Lassos griffen drakoni-

sche Sparmaßnahmen am Münchner Hof, die besonders die Institution der Hofkapelle

betrafen. Während des Dreißigjährigen Krieges, der in allen betroffenen Gebieten zu

einer kulturellen Stagnation führte, wurde die Zahl der Sänger und Instrumentalisten

zusätzlich reduziert. Maximilian I. (Regierungszeit 1579–1651), nahm seine Kapelle

fast nur noch für den kirchlichen Dienst in Anspruch. In die Münchner Kirchenmusik –

im Bereich des Hofes und besonders der Jesuitenkirche St. Michael – drangen seit den

zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts Elemente der avantgardistischen, italienischen

Musik ein. Erste Ausgaben mit Kompositionen für solistische Gesangsstimmen und Bas-

so continuo erschienen in den 20er Jahren in München im Druck.

1651 begann eine neuerliche Blüte der Hofmusik. Sie stand ganz im Zeichen der Oper,

wobei diese substanziell an die Entfaltung einer höfischen Festkultur gebunden war.

Ihren Grundstein legte der greise Kurfürst Maximilian I. Im Februar des Jahres 1651

veranstaltet er eine große Vorfeier zur Eheschließung seines Sohnes Ferdinand Maria

mit Henriette Adelaide aus dem Haus Savoyen. Die neuntägige Festfolge bestand aus

Feuerwerken, Schlittenfahrten, Maskenbällen und Theateraufführungen. Neben dem

von Maximilian so geschätzten Jesuitenspiel gab es eine italienische Comedia in Musi- 

ca . Der Aufwand orientierte sich an italienschen Vorbildern – offenbar um die Braut und

deren Anhang zu beeindrucken. »Die Scena hatt sich bei dieser Comoedi viermal künst-

lich verendert, die actores aber sind sehr köstlich gekleydt gewesen, und haben ein je-

der sehr wol und solcher gestalt agirt, daß sie den welschen dermalen in schwung ge-

henden Comoedian nicht viel nachgeben werden«, berichtet ein Chronist des Hofes.

Auch für die eigentliche Hochzeitsfeier hatte der Kurfürst eine Oper in Auftrag gege-

ben, die aber – nach dem plötzlichen Tod Maximilians – nicht aufgeführt wurde. Der

Komponist der ersten Oper, die 1653 am Münchner Hof herauskam, L’arpa festante ,

war der Hofkaplan und Hofharfenist Giovanni Battista Maccioni. Unter dem Hofkapell-

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Barocke Musikmetropolen: München Seite 3

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meister Johann Kasper Kerll (1627–1693), der das Amt 1656 übernahm, erlebte die

italienische Oper eine erste große Blüte. Allerdings ist von seinen zehn Münchner O-

pern keine einzige überliefert. Zu seiner Amtszeit wurde die Kapelle erheblich vergrö-

ßert. Kerll verließ München im Jahr 1674, ist von 1677 an in Wien als Organist am

Stephansdom und als Hoforganist nachweisbar, kehrte aber nach 1684 zumindest

zeitweise nach München zurück. Über sein letztes Lebensjahrzehnt gibt es so gut wie

keine Dokumente. 1674 war Ercole Bernabei (um 1620–1687) in München Kerlls

Nachfolger als Hofkapellmeister geworden, dessen Sohn Giuseppe Antonio ihn 1688 in

diesem Amt nachfolgte, das dieser bis zu seinem Tod um Jahr 1732 innehatte. Beide

komponierten für den Münchner Hof viele Opern und festliche Kirchenmusik. Der be-

deutendste Komponist neben Kerll, der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in

München wirkte, war Agostino Steffani (1654–1728). Bereits 1667 hat er seine Karrie-

re am Hof der Wittelsbacher als Sänger begonnen. 1668 wird er unter der Obhut von

Kerll »Camer- und Hof Musico«. In der Folgezeit hat er viele Reisen unternommen und

besonders in Rom und Paris wichtige Anregungen für sein kompositorisches Tun erhal-

ten. 1681 wird Steffani zum Direktor der Kammermusik in München ernannt. Noch im

selben Jahr komponiert er die erste Oper, Marco Aurelio , für den Münchner Hof; drei

weitere folgen bis 1688. In diesem Jahr verlässt er München offenbar aus Enttäu-

schung darüber, dass er nicht als Nachfolger von Ercole Bernabei Hofkapellmeister ge-

worden war. Steffani tritt dieses Amt in Hannover an. Sein Leben gewinnt in der Folge-

zeit eine geradezu theatralische Gestalt; man könnte von einer barocken Biografie sui

generis sprechen. Außer als Musiker betätigt er sich als Diplomat und als Rektor der

Heidelberger Universität. Er wird 1680 zum Priester geweiht und 1709 schließlich A-

postolischer Vikar für Norddeutschland mit Sitz in Hannover, nachdem er in Rom in ei-

nem Streit zwischen dem Papst und dem Kaiser vermittelt hatte.

1679 hatte in München die Regierungszeit von Kurfürst Maximilian II. Emanuel (Max

Emanuel) begonnen. Für seine Verdienste um die Sicherung der Rheingrenze im Pfälzi-

schen Erbfolgekrieg wurde er 1691 Statthalter der Spanischen Niederlande und blieb

dies bis 1699. Im Spanischen Erbfolgekrieg kämpfte an der Seite Frankreichs in der

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Barocke Musikmetropolen: München Seite 4

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Hoffnung, die Spanischen Niederlande als Königtum zu gewinnen, wurde aber bei

Höchstädt 1704 geschlagen. Bayern wurde von Österreich besetzt. Der bayerische

Kurfürst floh ins Exil nach Brüssel. Mitglieder seiner Hofkapelle begleiteten ihn, unter

anderem sein Kammermusikdirektor Pietro Torri (um 1650–1737) und sein Konzert-

meister Evaristo Felice dall’Abaco. Die Gehälter der in München verbliebenen Hofmusi-

ker wurden – weil sie faktisch weniger zu tun hatten – um die Hälfte gekürzt, wodurch

die meisten der Betroffenen unter das Existenzminimum gerieten. 1714/15 erhielt

Maximilian II. Emanuel Bayern zurück. Nach seiner Rückkehr nach München begann

dort eine neuerliche Blüte der Hofmusik, die wesentlich von den Kompositionen Pietro

Torris geprägt war, der 1732 Hofkapellmeister wurde. Auch im Zentrum seines Schaf-

fens steht die höfische Festoper, wobei ihm stilistisch eine Verbindung von veneziani-

schen und französischen Elementen gelang. Die Hofkapelle umfasste 1726 neben 21

Sängern und 40 Instrumentalisten die stattliche Zahl von 18 Hoftrompetern, die bei

höfischen Aufzügen und natürlich auch im Feld beim Blasen von militärischen Signalen

zum Einsatz kamen. Unter dem Nachfolger von Max Emanuel, Kurfürst Karl Albrecht

(1726–1745, seit 1742 auch deutscher Kaiser) wurden durch die Schuldenlast des

Österreichischen Erbfolgekrieges die Ausgaben für die Hofmusik eingeschränkt – aller-

dings nur vorübergehend. Unter Karl Albrechts Nachfolger, Kurfürst Max III. Joseph

(1745–177), bewahrte die italienische Oper ihre Beliebtheit am Münchner Hof. Werke

von Torris Nachfolger Giovanni Porta (Hofkapellmeister 1737–1755) sind bislang noch

nicht auf CD zu finden. Die Schwester des Kurfürsten, Maria Antonia Walpurgis war

selbst als Komponistin aktiv. Ihre Oper Talestri ist eingespielt.

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Barocke Musikmetropolen: München Seite 5

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Die Pflege der Kirchenmusik war in München nicht auf die Hofkapelle beschränkt. Ins-

gesamt bildete die Stadt um 1750 mit 17 Klöstern, 35 Kirchen und etwa 80 Kapellen

innerhalb der Stadtmauern eine äußerst reiche »Sakrallandschaft«. An etlichen Klos-

ter- und Stadtkirchen waren Kapellen mit Sängern und Instrumentalisten etabliert. Die

prominenteste städtische Institution war die Frauenkirche (der Dom), an der solch be-

deutende Musiker wie Franz Xaver Murschhauser wirkten, der von 1691 bis 1738

Chorregent war. Auch die ältere Peterskirche besaß eine bedeutende Sing und Instru-

mentalschule. Aus ihr ging Johann Christoph Pez (1664–1716) hervor, der 1688 höfi-

scher Kammermusiker in München und 1706 gar Kapellmeister am Württembergi-

schen Hof zu Stuttgart wurde.

Im Bereich der höfischen Kirchenmusik dominierte in der ersten Hälfte des 17. Jahr-

hunderts der mehrchörige Stil venezianischer Prägung. Ercole Bernabei, der zuvor an

verschiedenen päpstlichen Institutionen wirkte – etwa an der Peterskirche als Kapell-

meister –, brachte den römischen Stil der Kirchenmusik mit nach München. Er ist durch

einen Dualismus gekennzeichnet: Einerseits gibt es virtuose Kompositionen für solisti-

sche Singstimmen, Chor und Orchester, andererseits kontrapunktisch komponierte Stü-

cke, die sich an der Vokalpolyphonie der Spätrenaissance, insbesondere am Palestrina-

Stil, orientieren.

Die Kirchenmusik steht im Zentrum des Schaffens von Rupert Ignaz Mayr (1646–

1712). Als Musiker ist er erstmals nachweisbar am Fürstbischöflichen Hof zu Freising,

wo er als Violinist angestellt war und natürlich auch kompositorische Aufgaben hatte.

Kurfürst Max Emanuel zog ihn 1683 an den Münchner Hof. Zur »Perfectionierung«

schickte er Mayr nach Paris, wo dieser unter anderem die Musik Jean-Babtiste Lullys

kennen lernte. In seinen Kompositionen bilden italienische und französische Stilelemen-

te eine bemerkenswerte Synthese. 1685 wurde Mayr in München »Primus Violinsta«,

bevor er 1760 als Kapellmeister an den Freisinger Hof zurückkehrte.

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Von 1675 an feierte der Hof die hohen Feste des Kirchenjahres in der neu errichteten

Hofkirche St. Kajetan (Theatinerkirche), die zu den ersten barocken Kirchenbauten

Deutschlands zählt. 1663 im Bau begonnen, orientiert sich die Architektur an der

Theatiner-Mutterkirche S. Andrea della Valle in Rom. Das Äußere der Kirche wurde erst

in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts vollendet.

Was das bürgerliche Musikleben in München betrifft, so hatten sich die Stadtmusikan-

ten bereits im 17. Jahrhundert zunftmäßig organisiert. Zuerst standen drei, im späten

18. Jahrhundert sogar sechs Kompanien mit jeweils sechs bis sieben Musikern im

Dienst der Stadt. Die Hauptaufgabe der Kompanien, die den einzelnen Stadtteilen zu-

geordnet waren, bildete das Spiel in Wirtshäusern. Weiterhin musizierten sie bei Hoch-

zeiten, bürgerlichen Festen und kirchlichen Prozessionen. Die Mitwirkung bei Passions-

spielen gehörte gar zu den Privilegien der Stadtmusikanten. Sie kamen vorzugsweise in

Brauhäusern zur Aufführung. Es verwundert deshalb nicht, dass sie sich in derbe

Volksstücke verwandelten. Diese wurden schließlich 1770 verboten, und Oberammer-

gau wurde für ganz Bayern zum ausschließlichen Aufführungsort für Passionsspiele.

Bernhard Morbach 

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MORBACH LIVE – ALTE MUSIK

Mittwoch, 10. Mai 2006 18.05-19.00 Uhr

 BAROCKE MUSIKMETROPOLEN

6. Folge: Amsterdam

Die Siedlung zwischen den Flüssen Amstel und Ij erhielt 1300 die Stadtrechte. 1327

kam Amsterdam an die Grafen von Holland und wurde 1369 Mitglied der Hanse. 1578

schloss es sich dem Aufstand Hollands gegen Spanien an. Nach der Eroberung Ant-

werpens durch die Spanier im Jahre 1585 wurde Amsterdam zur Handelsmetropole

für ganz Westeuropa. Das 17. Jahrhundert wurde zum »Goldenen Zeitalter« in der

niederländischen Geschichte. Handel, Wissenschaften und Künste erlebten eine einzig-

artige Blüte, gestützt auf eine soziale Struktur, die im europäischen Vergleich absolut

einzigartig war. »In den Niederlanden wurde der soziale Status im 17. Jahrhundert

größtenteils durch das Einkommen bestimmt. Soziale Klassen existierten aber auf eine

andere Art und Weise. Die Aristokratie, oder der Adel hatte viele seiner Privilegien an

die Städte verkauft, wo Händler und ihr Geld dominierten. Der Klerus hatte ebenfalls

kaum weltlichen Einfluss: die Katholische Kirche wurde seit dem Beginn des Achtzig-

  jährigen Krieges mit Spanien mehr oder weniger unterdrückt. Die junge Protestanti-

sche Kirche war geteilt. Dies war im Gegensatz zu den Nachbarstaaten anders, wo der

soziale Status größtenteils immer noch bis zur Französischen Revolution durch die

Geburt geregelt war. Das soll nicht heißen, dass die Aristokraten ohne sozialen Status

waren. Im Gegenteil, es hieß vielmehr, dass wohlhabende Händler sich selbst in Adels-

kreise einkauften, indem sie Landbesitzer wurden und ein Wappen und Siegel erwar-

ben. Die Aristokraten vermischten sich auch mit den Mitgliedern anderer Klassen, um

sich selbst zu unterstützen, wie sie das für angebracht hielten. Am Ende verheirateten

sie ihre Töchter an reiche Händler, wurden selber Kaufleute oder nahmen öffentliche

oder militärische Ämter an, um ein Gehalt zu bekommen. Kaufleute schätzten auch

öffentliche Ämter als Mittel zu mehr ökonomischer Macht und Ansehen. Universitäten

waren Karrieresprungbrett zu solch einem öffentlichen Amt. Reiche Kaufleute und A-

ristokraten sandten ihre Söhne auf eine so genannte Große Reise durch Europa. Oft

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Barocke Musikmetropolen: Amsterdam Seite 2

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wurden sie von einem Privatlehrer begleitet, vorzugsweise selbst ein Wissenschaftler.

Diese jungen Leute besuchten Universitäten in zahlreichen europäischen Ländern. Die

Vermischung von Patriziern und Aristokraten war in der zweiten Hälfte des Jahrhun-

derts sehr bedeutend. Nach den Aristokraten und Patriziern kam die wohlhabende Mit-

telschicht, bestehend aus protestantischen Ministern, Anwälten, Ärzten, Kleinhändlern,

Industriellen und Angestellten großer staatlicher Einrichtungen.« (Wikipedia). Der

»Kunstbedarf« der vielen Reichen in der Niederländischen Geschichte war immens.

Besonders die Malerei erlebte eine Blüte, die im europäischen Vergleich absolut ein-

zigartig dasteht.

Die überragende Komponistenpersönlichkeit in Amsterdam zu Beginn des »Goldenen

Zeitalters« war Jan Pieterszoon Sweelinck (1562–1621). Sein Leben und Schaffen

übergreift die Grenze zwischen Renaissance und Barock, die gemeinhin um 1600 ge-

zogen wird. Der in Deventer geborene Organist erhielt seinen ersten Musikunterricht

bei seinem Vater, der Organist an der Oude Kerk in Amsterdam war. Nach einer Zeit

der Ausbildung in Haarlem übernahm er bereits um 1580 das Amt seines Vaters in

Amsterdam. Dort wirkte er bis zu seinem Tod. Sweelincks Ruhm gründet bis heute in

erster Linie auf seiner Orgelkunst, wobei sämtliche Kompositionen nur in Abschriften –

zumeist durch seine zahlreichen Schüler – überliefert sind. Bei vielen ist die Zuweisung

an Sweelinck umstritten. Die vokalen Kompositionen Sweelincks stehen ganz in der

Tradition der Vokalpolyphonie der Renaissance, wobei nur seine fünfstimmigen Canti-

ones sacrae (1619) mit einer Basso continuo-Stimmme versehen sind. Statt von

»frankoflämischer Musik« der Renaissance, sprach man früher von der »Kunst der

Niederländer«. Sweelincks Orgelkunst war an der Oude Kerk nicht an den Gottesdienst

gebunden, sondern in konzertanten Darbietungen zu hören. Im calvinistischen Gottes-

dienst hatte die Orgel zu schweigen. An fast allen Amsterdamer Kirchen, z.B. auch der

Nieuwe Kerk, der N.Z. Kapel und auch der Westerkerk wirkten während des 17. Jahr-

hunderts auch nach Sweelinck eine Reihe bedeutender Organisten, etwa Jacob und

Anthoni van Noordt oder Nicolaas de Koning.

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Barocke Musikmetropolen: Amsterdam Seite 3

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Während die Orgelkunst – auch noch im 18. Jahrhundert – fest in der Hand einheimi-

scher Künstler war, prägten ansonsten ausländische Musiker im 17. Jahrhundert das

Musikleben Amsterdams maßgeblich, unter ihnen der Südniederländer Charles Hac-

quart aus Brügge und der berühmte Gambist und Komponist Johann Schenck, der zu-

vor beim Kurfürsten von der Pfalz tätig und dann in Amsterdam ansässig war. Seine

»Kunstübungen«  und Scherzi musicali  erhielten eine europaweite Berühmtheit. Dar-

über hinaus wirkten viele englische Musiker in der Stadt, die meist im Gefolge von Ge-

sandten nach Amsterdam gekommen waren. Die öffentlichen musikalischen Darbie-

tungen bestanden außer aus den schon genannten Kirchenkonzerten vornehmlich aus

Aufführungen in Musik-(Wirts)häusern. Darüber hinaus pflegten viele Bier- und Wein-

schenken ihre Besucher mit musikalischen Darbietungen anzulocken. Ein Deutscher,

der Amsterdam 1683 besuchte, schreibt: »Wer des  Abends, wann es dunkel geworden 

ist; auf den Gassen spatziren gehet, kann auch die also genamten   Musik-Häuser an- 

mercken, da ein Liebhaber alle  Sinnen umbs Geld vergnügen kann « (H.C. Postels und J.

von Melles Reise durch das nordwestliche Deutschland nach den Niederlanden [und

nach England], hrsg. Dr. Carl Curtius, Lübeck 1891). Diese »Musik-Häuser« genossen

keinen guten Ruf. Bei manchen wird es sich geradezu um finstere Spelunken gehandelt

haben. Aber dennoch: Um halb acht abends wurde in der Regel die Viola da gamba ge-

spielt. Genauso beliebt war die Laute. Der berühmte französische Virtuose Nicolas Val-

let trat häufig in Amsterdam auf. Sehr geschätzt – auch als Instrument für das häusli-

che Musizieren – war die Theorbe, was Gemälde von Frans Hals, Gerard ter Borch, Jan

Steen und anderen sehr anschaulich zeigen. Aus Bildern erfährt man auch, dass Tanz-

musik äußerst populär war und dass in ihr auch der Dudelsack häufig zum Einsatz kam.

Überall war die Musik in der städtischen Kultur präsent. Im häuslichen Kreise wurde

besonders viel musiziert. Viele überlieferte Lehrbücher für Amateurmusiker belegen

dies zusätzlich. Die vielen Glockenspiele auf den Türmen waren ein prägender Be-

standteil der »musikalischen Klanglandschaft« Amsterdams. Die Zahl der Organisten,

Glockenspieler, Trompeter und Spielleute ging insgesamt in die hunderte. Zu den be-

deutendsten Komponisten im Amsterdam des 17. Jahrhunderts gehörte der 1651 in

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Barocke Musikmetropolen: Amsterdam Seite 4

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Lübeck gebürtige David Petersen, der als Violinvirtuose gefeiert wurde und der 1683

in Amsterdam seine »Speelstukken« zum Druck beförderte.

Im 17. Jahrhundert wurden Oper und Singstil in Amsterdam etabliert. Nachdem etliche

kleinere Unternehmen gescheitert waren, wurde 1680 ein großes Opernhaus von

Theodore Strijker an der Leidsegracht zwischen Prinsen- und Keizersgracht gegrün-

det. Die Eröffnungsvorstellung am 31. Dezember brachte die Oper Le Fatiche d'Ercole 

per Deianira heraus; die Musik stammte von Pietro Andrea Ziani. Dieses Operntheater

wurde jedoch nicht zu einem großen Geschäft, was vermutlich damit zusammenhängt,

dass ein großer Teil der Einnahmen zum Wohl der Armen an die Stadt abgeführt wer-

den musste. Im 18. Jahrhundert, in dem die französische Oper besonders populär in

Amsterdam war, wurden etliche kleinere Opernhäuser gegründet, von denen aber die

meisten nur eine kurze Zeit bestanden.

Die Amsterdamer Musikkultur hatte seit dem 17. Jahrhundert insgesamt ein äußerst

solides bürgerliches Fundament, weil die Stadt – etwa im Gegensatz zu Den Haag – kein

Fürstensitz war. Aber genau dies war letztlich die Ursache dafür, dass Amsterdam

nicht zu einem wirklich international führenden Musikzentrum werden konnte. Im 18.

Jahrhundert brillierten in Amsterdam wiederum besonders ausländische Komponisten,

wobei italienische, französische und deutsche Musiker um die Gunst des Publikums

wetteiferten. Zu den bedeutendsten gehörte der italienische Komponist und Violinist

Pietro Antonio Locatelli aus Bergamo, der sich in Amsterdam niedergelassen hatte. Er

gab nicht nur Konzerte, sondern unterrichtete auch viel und betrieb einen Handel mit

Saiten, der eine sehr große Kundschaft hatte. Zu den fruchtbarsten und besten Kom-

ponisten im spätbarocken Amsterdam gehörte der in Braunschweig gebürtige Conrad

Friedrich Hurlebusch (1695–1765), der 1743 Organist an der Oude Kerk wurde und

eine große Anzahl von Kompositionen (jedweden Genres) zum Druck beförderte.

Bernhard Morbach 

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MORBACH LIVE – ALTE MUSIK

Mittwoch, 17. Mai 2006 18.05-19.00 Uhr

 BAROCKE MUSIKMETROPOLEN

7. Folge: Paris

Die Stadtgeschichte von Paris beginnt mit einer gallischen Siedlung auf der Île de la

Cité, Oppidum Lutetia Parisiorum, die 52 v. Chr. von den Römern erobert wurde. Unter

Chlodwig wurde Paris im späten 5. Jahrhundert zur Hauptstadt des fränkischen

Reichs. Zur Zeit der Karolinger war die Stadt lediglich Sitz eines Grafen. Unter der

Herrschaft der Kapetinger wurde Paris Ende des 10. Jahrhunderts Hauptstadt des

französischen Reichs. Sie entwickelte sich zu einer Großstadt und wurde eine Metropo-

le in der mittelalterlichen Welt. Bereits in fränkischer Zeit waren etliche Kirchen ge-

gründet wurden. Die Schulen, die mit ihnen verbunden waren, wurden zu Trägern des

geistigen und kulturellen Lebens der Stadt, allen voran die Kathedralschule von Notre

Dame. Im Rahmen der Artes liberales war auch die Musik – zunächst nur als philoso-

phisch-theologische Disziplin – ein zentraler Lehrgegenstand. In der Mitte des 12.

Jahrhundert schlossen sich einige geistlichen Schulen von Paris zur Sorbonne zusam-

men. Diese Institution gilt als eine der ältesten Universitäten Europas. Seit dem 13.

Jahrhundert wurde auch die kompositionsbezogene Musiktheorie Bestandteil der Leh-

re an der Universität – parallel zur Blüte einer avantgardistischen, mehrstimmigen Mu-

sik in den Gottesdiensten an Notre Dame, deren Grundlage eine ausgezeichnete Kan-

torei war, die die besten Sänger der Stadt hervorbrachte.

Unter Philipp II. August (1180–1223) wurde die »Chapelle royale« als königliche Insti-

tution der Musikpflege für den geistlichen und weltlichen Bereich begründet. Zurzeit

von Karl VI. (1380–1422) waren neun Musiker am Hof fest angestellt. Infolge des

Hundertjährigen Krieges kam es im Laufe des 15. Jahrhunderts zu einem Niedergang

der Musikpflege in Paris, was nicht zuletzt damit zusammenhing, dass seit Karl VIII.

(1483–1498) die Könige nicht mehr in Paris, sondern in ihren Schlössern im Loire-Tals

residierten. Erst Franz I. (Regierungszeit 1498–1515) entschied sich wieder für Paris

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und ließ anstelle des mittelalterlichen Louvres eine neue königliche Residenz errichten.

Natürlich musste auch die Hofmusik neu organisiert werden. Der »Chapelle royale«,

einem Sängerensemble und einem Organisten, oblag nunmehr die musikalische Aus-

schmückung der festlichen Gottesdienste am königlichen Hof. Seit ca. 1530 gab es im

weltlichen Segment der königlichen Hofmusik zwei Instrumentalensembles, die »musi-

ciens de la chambre« (Lautenisten, Zinkenisten und Trommler) und die »musiciens de

l’ecurie« (Violinisten, Oboisten, Flötenspieler und Posaunisten. Natürlich wurden auch

die Sänger der »Chapelle royale« in der königlichen Kammermusik eingesetzt. In der

zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wechselten die Violinisten in den Bereich der

»chambre«, und die geistliche »Chapelle« wurde durch Flöten und Zinken klanglich

angereichert. Damit waren letztlich die Fundamente der französischen Hofmusik zur

Zeit des Barock gelegt, die zu einem mächtigen Repräsentationsinstrument des Abso-

lutismus wurde.

Seit Ludwig XIII. (Regierungszeit 1610–1643) war der königliche Hof der Brennpunkt

des gesamten Musiklebens in Frankreich. Darüber hinaus wurden sämtliche Künste und

Wissenschaften vom Staat kontrolliert und zur Festigung der Königsmacht instrumen-

talisiert. Deutlicher Ausdruck dieses Prozesses ist die Gründung der großen königli-

chen Akademien in Paris, wobei in unserem Zusammenhang die 1661 gegründete A-

cadémie de danse und die 1669 gegründete Académie royale de musique die wichtigs-

ten sind, wobei sich hinter der letzteren die Oper (als königliche Institution) verbirgt.

Von etwa 1620 bis hinein in die zweite Jahrhunderthälfte fand die höfische Musik in

der Gattung des Ballet de cour ihren Kulminationspunkt, ein prachtvoll ausgestattetes

Zusammenwirken von Vokal- und Instrumentalmusik auf der Grundlage von allegori-

schen und mythologischen Stoffen, die einzig auf die künstlerische Inszenierung des

Königs und der Idee des Absolutismus abzielte. Ludwig XIV. selbst trat anfangs in einer

exponierten Rolle selbst tanzend in Erscheinung. Später genoss er seine Inszenierung

als Sonnenkönig als die zentrale Persönlichkeit des höfischen Publikums. Aufführungs-

orte des Ballet de cour waren der große Saal des Louvre, die Tuilerien, das Hôtel de

Ville und seit 1641 auch das von Richelieu erbaute Palais royal (später der Sitz der

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Académie royale de musique), die großen Königsschlösser und später natürlich Ver-

sailles.

Dem Pariser Publikum war das Ballet de cour nicht zugänglich. Jedoch gab es in Paris

öffentliche Theater, so das Hôtel de Bourgogne und der Salle du Petit Bourbon. Dort

traten Molière und seine Theatertruppe sowie die von Mazarin eingeladene italienische

Operntruppe auf (bis 1662). Das Palais royal wurde zur Aufführungsstätte der neu

begründeten Gattung des Comédie-ballet, welche sich hauptsächlich auf das Zusam-

menwirken der beiden »Jean-Baptiste« (Lully und Molière) stützte. Lully, seit 1661

»surintendant« der Hofmusik, begründete 1673 mit der Cadmus et Hermione die ei-

gene Tradition einer Oper typisch französischer Prägung, der Tragédie lyrique. Nach

dem Tod Molières im Jahr 1673 wurde das Palais royal die neue Spielstätte der Oper,

die also außerhalb des Hofes aufgeführt wurde und rasch das Interesse der Öffentlich-

keit auf sich zog. Das Orchester der Oper war das herausragende Instrumentalen-

semble in Paris, das nach dem Tod von Lully (1687) unter anderem von Marin Marais

und Jan-Fery Rebel geleitet wurde.

Darüber hinaus waren die Mitglieder des in Paris lebenden Adels und die Angehörigen

des reichen Bürgertums natürlich selbst musikalisch aktiv. Die Lautenmusik war be-

sonders beliebt, weshalb etliche Lautenisten als Lehrer ein gutes Auskommen hatten

und sich nicht um eine Anstellung am Hofe bemühen mussten. Ebenfalls populär war

die Viola da gamba und ihre Musik in Kreisen musikalischer Amateure. Und auch der

berühmte Gambist Sainte-Colombe ist nie in einer höfischen Position nachweisbar.

Was die musikalische »Klanglandschaft« des barocken Paris betrifft, so ist die Orgel-

musik an den großen Kirchen und die Kunst solcher Organisten wie Henry Du Mont,

Guillaume Gabriel Nivers und Nicolas Antoine Lebègue einer besonderen Erwähnung

wert. An erster Stelle wäre jedoch die Organisten- und Komponisten Dynastie der

Couperin zu nennen, die über viele Generation das Organistenamt an Saint-Gervais

einander vererbten. Hier wiederum ragt Francois (Le Grand) heraus (1668–1733),

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dessen Kammermusik von Ludwig XIV. besonders geschätzt und dessen Cembalokom-

positionen wohl im Zentrum seines kompositorischen Schaffens stehen.

Als Ludwig XIV. 1682 seine Residenz dauerhaft nach Versailles verlegte, kam es zu

einer Abkoppelung des höfischen und des städtischen Musiklebens, welche aber letzt-

lich zu einer gewissen Reduktion der künstlerischen Bedeutung der Hofmusik führte.

Bedeutenderes ereignete sich vielleicht in den Hôtels des Pariser Adels und dessen

umliegenden Landsitzen. Eine wichtige Pflegestätte geistlicher Musik war das von Mme

de Maintenon 1686 gegründete Mädchenpensionat, die Maison royale Saint-Louis de

Saint-Cyr.

Sämtliche Hofmusiker in Versailles hatten den Rang eines Offiziers inne und waren der

höfischen Institution der Grand Ecurie, also (besoldungsmäßig) dem Kriegswesen, zu-

geordnet. Die Grand Ecurie, der königliche Marsstall, hatte zwei eigene musikalische

Ensembles, die Trompeter und die »12 Grand Hautbois du roi«, die beide nicht nur im

Feld sondern auch in der Freiluftmusik in der Gärten von Versailles zum Einsatz ka-

men. Ansonsten bestand die Hofmusik aus der »musique de la chambre«, den »Petits

Violons«, die den König auf Reisen begleiteten, und dem Orchester der »24 Violons du

roi«, die bei großen Festen und offiziellen Anlässen des Hofes aufspielten und bei

Festgottesdiensten die Chapelle royale, die 1664 von Ludwig XIV. reorganisiert wor-

den war, ergänzten. In Paris erlebte die geistliche Musik an der Sainte-Chapelle, eben-

falls eine königliche Institution, dadurch eine besondere Blüte, dass Marc-Antoine

Charpentier 1698 das Kapellmeisteramt übernahm. Mit seinen Motets dramatiques  

hatte dieser Schüler Giacomo Carissimis um 1675 das Oratorium in Frankreich einge-

führt. Versailles verfügte übrigens über kein festes Theater. Die gleichwohl prunkvol-

len musiktheatralischen Aufführungen fanden an verschiedenen Orten, etwa in der

Reitbahn der Grande Ecurie oder auch im Freien statt.

Nach dem Tod Ludwigs XIV. erlebte das höfische Musikleben einen starken Bedeu-

tungsverlust, wohingegen das städtische in Paris erblühte. Öffentliche Konzertveran-

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staltungen erfreuten sich zunehmender Beliebtheit, wodurch besondere Genres der

musikalischen Komposition, etwa die Cembalomusik oder die Triosonate gefördert und

»importierte« Gattungen wie das Violinkonzert und die Sinfonie geradezu explosions-

artig populär wurden. Institutionell wurde diese neue städtische Musikkultur durch

kleinere Konzertgesellschaften »untermauert«, besonders aber durch die »Concerts

spirituels«, die 1725 von A. Danican Philidor in der Salle de Suisses in den Tuilerien

gegründet worden waren. Sie fanden während der Zeiten des Jahres statt, in denen

die Oper geschlossen bleiben musste, also etwa in der Karwoche. Zuerst wurden des-

halb dort nur geistliche Vokalwerke in lateinischer Sprache aufgeführt. Bereits von

1727 an wurden auch Vokalkompositionen in französischer und italienischer Sprache

sowie Instrumentalmusik in die Programme aufgenommen. Die »Concerts spirituels«

waren europaweit das erste eigenständige Musikunternehmen, welches über einen

eigenen Chor und ein Orchester verfügte. Das Repertoire war äußerst weit gefächert

und umfasste geistliche Konzertmusik, vor allen Grand Motets, und zwar von sämtli-

chen Komponisten, die Beiträge zu dieser Gattung geliefert hatten (Lully, Delalande,

Campra, Destouches, Mondonville u. a.), Oratorien und im Bereich der Instrumentalmu-

sik Sonaten, Suiten, Ouvertüren, Konzerte und später besonders Sinfonien. Dort bril-

lierten französische Instrumentalvirtuosen wie Jean-Marie Leclair auf der Violine und

Michel Blavet auf der Traversflöte. Von der Mitte des Jahrhunderts an wurden die

»Concerts spirituels« zu einem beliebten, geradezu heiß begehrten Auftrittsplatz ita-

lienischer und deutscher Instrumentalisten und Komponisten.

Im Bereich des Pariser Musiktheaters hatte sich bereits im späten 17. Jahrhundert

eine Gattung etabliert, die das Ballet de cour ablöste, das Opéra-ballet. Die Kompositi-

on »der ersten Stunde« war Antoine Houdat de la Motte und André Campras L’Europe 

galante (1697). Charakteristikum dieser Gattung, die mit Kompositionen von Rameau

und Mouret um 1740 auf ihren Höhepunkt gelangte, war der Verzicht auf mythologi-

sche Sujets. Die Schauplätze der Handlung wurde in den Alltag verlagert. Die Tradition

der Tragédie lyrique mit ihren mythologischen Stoffen wurde allerdings von Académie

royale de musique fortgeführt. Im Jahr 1733 kam Jean Philippe Rameaus Hippolyte et 

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Aricie  heraus, die allerdings heftig in die Kritik geriet. Es entbrannte der Streit zwi-

schen den Ramisten und den Lullisten. Letztere waren der Ansicht, Rameau habe zu-

gunsten musikalischer Brillanz die Dichtung vernachlässigt.

1716 hatte der Herzog von Orléans, der für den unmündigen Ludwig XV. die Regent-

schaft ausübte, eine neue italienische Operntruppe nach Paris rufen lassen (1697 hat-

te Ludwig XIV. sämtliche italienische Schauspieler des Landes verwiesen). Nun gab es

zwei Pariser Bühnen, in deren Stücke Sprache und Gesang miteinander abwechselten:

die neue »Comédie-Italienne« und die französische »Opéra-comique«, deren Ursprün-

ge bereits im späten 17. Jahrhundert liegen und die sich schließlich 1724 institutionell

fest etabliert hatte. Allerdings wurde auch die »Comédie-Italienne« immer stärker von

Stücken in französischer Sprache beherrscht. 1762 wurden beide Truppen zusam-

mengelegt. Um 1750 konkurrierten viele kleinere und größere Theater in Paris um die

Gunst des Publikums. Bei Hofe bemühte man sich, dem städtischen Musikleben etwas

Eigenes entgegen zu stellen. Aus diesem Grunde ließ Mme Pompadour, die Maitresse

Ludwigs XV., Rameau 1745 als »compositeur de cabinet du roy« engagieren. Aber der

Triumph der bürgerlichen über die Kultur des Hofes hatte sich im Grunde schon voll-

zogen.

Bernhard Morbach 

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MORBACH LIVE – ALTE MUSIK

Mittwoch, 25. Mai 2006 18.05-19.00 Uhr

 BAROCKE MUSIKMETROPOLEN

8. Folge: Stuttgart

Die Entstehung Stuttgarts geht auf ein Gestüt (»stuot«) zurück, welches im 10. Jahr-

hundert gegründet und mit umliegenden Ortschaften zu einer größeren Siedlung zu-

sammengeschlossen wurde. Nachdem ein fester Herrensitz eingerichtet und die Kirche

zum Hl. Kreuz errichtet worden war, erhielt Stuttgart um 1250 von Graf Ulrich das

Stadtrecht. Im 14. Jahrhundert wurde die Kirche zum Hl. Kreuz Sitz eines Chorherren-

stifts und so zu einer Stiftskirche, die nun dem württembergischen Haus als Grablege

diente. Seit dem frühen 15. Jahrhundert sind Namen von Kantoren der Stiftskirche

überliefert. 1381 wird erstmals eine Orgel in derselben erwähnt, die 1585 erneuert

wurde. Nach Johann Ulrich Steigleder (Dienstzeit 1617–1635) wäre besonders Philipp

Friedrich Böddecker (1607–1683) als Organist an der Stiftskirche zu erwähnen, der

seine Bestallungsurkunde 1652 erhielt und das Amt bis zu seinem Lebensende inne-

hatte. Zwei bedeutende Sammlungen mit geistlicher Musik beförderte er 1650 und

1651 zum Druck. Um 1660 lag er in harter Fehde mit dem Stuttgarter Hofkapellmeis-

ter Samuel Friedrich Capricornus. Beide warfen sich gegenseitig Kompositionsfehler in

ihren Werken vor. Eine zweite wichtige Position an der Stiftskirche war die des »Direc-

tor und Informator Musices«. Ihm oblag die Figuralmusik (mehrstimmige Kirchenmu-

sik), die von Schülern des Stuttgarter Pädagogiums ausgeführt wurde. 1674 erhielt

Johann Sigismund Kusser (1660–1727) dieses Amt, von dem weiter unten im Zu-

sammenhang mit der Hofmusik noch die Rede sein wird.

Früheste Zeugnisse von der Existenz einer Stuttgarter Hofkapelle stammen aus dem

15. Jahrhundert. Unter den Herzögen Christoph (1550–1568) und Ludwig (1568–

1593) wuchs sie zu einem Sängerensemble von über 50 Mitgliedern an. Unter den Ka-

pellmeistern der Spätrenaissance ragen Balduin Hoyoul (1589–1594) und Leonhard

Lechner (1594–1606) heraus. Von den Hofkapellmeistern bis 1634, als die Kapelle

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nach der Schlacht von Nördlingen aufgelöst wurde, ließen sich nur die Namen nennen;

Musik ist noch nicht wieder eingespielt. Formal war Basilius Froberger bis 1637 Hofka-

pellmeister, der Vater von Johann Jakob Froberger (1616–1667), der während seiner

Jugendjahre in Stuttgart wesentliche musikalische Eindrücke erhalten haben dürfte.

Nach seiner Tätigkeit als Hoforganist in Wien und nach seinen vielen Reisen verbrachte

er seinen Lebensabend offenbar in der Obhut seiner Gönnerin und Schülerin Herzogin

Sibylla von Württemberg auf Schloss Héricourt in Montbéliard, einer württembergi-

schen Enklave in Frankreich.

1650 wurde die Stuttgarter Hofkapelle reorganisiert, erhielt aber erst 1657 mit Sa-

muel Friedrich Capricornus einen neuen Kapellmeister. Dieser hatte zuvor als Organist

in Pressburg gewirkt und das Musikleben der Stadt zu einer besonderen Blüte geführt.

Künstlerisch richtunggebend wurde ihm der Besuch der kaiserlichen Kapelle in Wien,

deren Proben- und Aufführungspraxis er sich aneignete. Als kompositorische Vorbilder

bezeichnete er Valentini und Bertali, die »beyden vortrefflichen Komponisten«, die er

»selbsten in theils Sachen imitiere und sehr hoch halte« . 1657 trat er sein Amt in

Stuttgart an und bekleidete es bis an sein Lebensende. Capricornus ist zu Beginn der

2. Hälfte des 17. Jahrhunderts der einflussreichste unter den süddeutsch-

protestantischen Komponisten. Er pflegt die Verschmelzung der avantgardistischen

italienischen Musik mit dem traditionellen deutschen Motettenstil und fördert die Ent-

wicklung des geistlichen Konzerts in Deutschland, und mit einer ausgesprochen zarten

Tonsprache, die bisweilen von melodischen und harmonischen Kühnheiten geprägt ist.

Mit seinem Ballett der Natur oder Fürstliche Frühlingsluft hatte Capricornus einen Bei-

trag zur Gattung des höfischen Balletts geleistet, welches nach 1660 gemeinsam mit

der Oper am Stuttgarter Hof eine bedeutende Blüte erlebte. 1674 wurde ein neues

Komödienhaus im Lustgarten des Schlosses errichtet. Nach 1690 wirkte Theodor

Schwartzkopff als Hofkapellmeister in Stuttgart, wo die Hofkapelle mittlerweile eine

stattliche Größe und hohes künstlerisches Niveau erreicht hatte, was die vielen über-

lieferten Instrumentalkompositionen für das Orchester belegen.

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Die glanzvollste Periode der Hofoper begann unter Kapellmeister Johann Sigsmund

Kusser, der 1699 seine Bestallungsurkunde erhielt. Der in Pressburg gebürtige Kom-

ponist hatte wesentliche künstlerische Eindrücke bei seinem Aufenthalt in Paris

(1674–1682) gewonnen, wo er intensive Kontakte zu Jean-Baptiste Lully pflegte. Da-

nach war er Kapellmeister am Hof von Braunschweig-Wolfenbüttel und eine zeitlang

Pächter der Hamburger Oper am Gänsemarkt. Außer von Lully ist der Kompositionsstil

Kussers wesentlich von Agostino Steffani beeinflusst. Neben eigenen Werken führte er

Kompositionen von diesen beiden Meistern häufig in Stuttgart auf. Hofkapellmeister in

der Nachfolge Kussers waren Johann Christoph Petz (1706–1716) und Giuseppe An-

tonio Brescianelli (mit Unterbrechungen bis 1755).

Unter Herzog Eberhard Ludwig waren in den Jahren 1704 bis 1733 das Schloss Lud-

wigsburg als neue Residenz erbaut und die Stadt Ludwigsburg gegründet worden.

Dorthin übersiedelte 1725 die gesamte Hofkapelle. Während der kurzen Regierung

Karl Alexanders (1733–1737) erfolgte die Rückverlegung der Residenz nach Stutt-

gart. Gleichzeitig wurde das Opernensemble vergrößert. Die Vormundschaftsregierung

für Herzog Carl Eugen (1737–1744) brachte dann allerdings die Entlassung von Hof-

kapelle und Oper. Beim Hof blieb nur ein kleines Kammermusikensemble erhalten. Mit

dem Regierungsantritt des sechzehnjährigen Carl Eugen begann eine neue Blüte von

Hofmusik und Oper. Der Herzog, selbst ein ausgebildeter Musiker und am Hofe Fried-

richs des Großen erzogen, verfügte sogleich die Wiedereinstellung Brecianellos und

engagierte neue Musiker für die Hofkapelle, unter anderem die Sängerin Francesca

Cuzzoni, für die Händel 1720–1727 in London unter anderem die Hauptrolle der Oper

Rodelinda komponiert hatte. Da es in Stuttgart nach dem notwendig gewordenen Ab-

bruch des Komödienhauses an einer geeigneten Opernbühne fehlte, wurde das Lust-

haus zum Hoftheater umgebaut und am 30. August 1750 mit Carl Heinrich Grauns

Artaserse  eröffnet. Am 21. November 1753 übernahm Niccolo Jommelli als Musikdi-

rektor und Oberkapellmeister die Leitung der Hofkapelle und der Oper in Stuttgart und

verpflichtet hervorragende Musiker wie Pietro Nardini und Antonio Lolli. Unter seiner

Leitung wurde die württembergische Hofkapelle zu einem Orchester von europäi-

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schem Rang. 1766 wurde zusätzlich eine Opera buffa gegründet. Die Kosten für Thea-

ter und Musik stiegen am Stuttgarter Hof allmählich in gigantische Höhen. Die Land-

stände nötigten Carl Eugen schließlich zu drastischen Sparmaßnahmen. Das Personal

von Hofkapelle, Theater und Ballett wurde schließlich drastisch reduziert, was Jomelli

zu seinem Rücktritt im Jahre 1769 bewegte.

Bernhard Morbach 

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MORBACH LIVE – ALTE MUSIK

Mittwoch, 7. Juni 2006 18.05-19.00 Uhr

 BAROCKE MUSIKMETROPOLEN

9. Folge: Neapel

Neapel wurde im 5.Jahrhundert v.Chr. als griechische Kolonie Neapolis (»Neustadt«)

gegründet und schloss 326 v. Chr. ein Bündnis mit Rom. Seit 553 byzantinisch, ge-

wann im 7.Jahrhundert allmählich Autonomie, bis das Herzogtum Neapel 1139 von

Roger II. von Sizilien unterworfen wurde, seitdem Hauptstadt des Königreichs Neapel.

Unter Kaiser Friedrich II. erlebte es 1220–50 seine Glanzzeit. Die letzten Staufer, Man-

fred und Konradin, konnten sich gegen die Ansprüche Karls I. von Anjou, der vom

Papst unterstützt wurde, nicht behaupten. Der Aufstand der »Sizilianischen Vesper«

(Sizilien, Geschichte) brachte 1282 die Trennung von Neapel und Sizilien, das an Ara-

gonien fiel. 1442 eroberte Alfons V. von Aragonien Neapel und vereinigte das König-

reich wieder mit Sizilien. 1504 waren die französischen Ansprüche endgültig zurück-

gewiesen. Als Sieger über Ludwig XII. gelangte Ferdinand der Katholische von Arago-

nien auf den Thron von Neapel, das fortan von spanischen Vizekönigen verwaltet wur-

de. Nach dem Spanischen Erbfolgekrieg fielen 1713/14 Neapel und Sardinien an die

österreichischen Habsburger, Sizilien an Piemont; doch tauschten die Habsburger

1720 Sizilien gegen Sardinien ein. 1735 überließ Kaiser Karl VI. das Königreich Nea-

pel-Sizilien einer Nebenlinie der spanischen Bourbonen. (Der Brockhaus in Text und

Bild; CD-ROM 2005)

(Bei dem folgende Text handelt es sich um das gekürzte, zweite Kapitel des Neapel-

Artikels der ersten Ausgabe der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart  

(Helmut Hucke, 1961), der in vieler Hinsicht dem entsprechenden Artikel in der neuen

MGG weit überlegen ist, gerade weil er die Bedeutung der Konservatorien – die neapo-

litanische »Parallelerscheinung« der venezianischen Ospedali – angemessen würdigt.)

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Die Zeit des musikalischen Aufstiegs und der  Blüte der Konservatorien 

(Anfang des 17. bis Mitte  des 18. Jahrhunderts)  

1537 war das Konservatorium S. Maria di Loreto, 1576 das von S. Onofrio, 1583 das

von S. Maria della Pietà dei Turchini und 1589 das Konservatorium dei Poveri di Gesù

Cristo entstanden. Die vier Institute waren von Ordensleuten oder Kongregationen als

Waisenhäuser gegründet worden, das Konservatorium dei Poveri di Gesù Cristo unter-

stellte sich erzbischöflicher, die übrigen drei vizeköniglicher Aufsicht. Die Hausordnung

entsprach der von geistlichen Seminaren, die Zöglinge erhielten Schulunterricht und

wurden dann einem Handwerksmeister in die Lehre gegeben. Sie trugen geistliche

Kleidung, und ihre Zugehörigkeit zu dem einen oder anderen Konservatorium war an

der Farbe von Soutane und Zingulum kenntlich. Der Unterhalt der Institute wurde

durch Stiftungen, Ministrantendienste der Zöglinge bei Gottesdiensten und Exequien

und durch Almosensammeln bestritten. Ministrantendienst, das Singen bei Prozessio-

nen usw. führten dazu, daß die Zöglinge der Konservatorien allmählich von Kirchen

und Klöstern zur Kirchenmusik, aber auch von der vizeköniglichen Hofhaltung und von

Privatleuten für musikalische Dienstleistungen herangezogen wurden, die einen we-

sentlichen Posten im Haushalt der Institute ausmachten. Das bedingte einen Ausbau

des musikalischen Unterrichts in den Waisenhäusern, der noch zu Beginn des 17. Jh.

von einem Maestro di Canto besorgt wurde. 1622 stellte das Konservatorium della

Pietà dei Turchini Giovanni Maria Sabino als Kapellmeister an. Die Besetzung des Mu-

siklehrkörpers mit einem Kapellmeister, einem stellvertretenden Kapellmeister, der

den Gesangsunterricht zu geben hatte, und je einem Lehrer für Streich- und für Blasin-

strumente war noch im 18. Jahrhundert die Regel. Kapellmeister und Vizekapellmeis-

ter hatten außer dem Unterricht Kompositionen zu liefern und musikalische Auffüh-

rungen zu leiten; solche Aufgaben wurden aber auch fortgeschrittenen Zöglingen an-

vertraut. Die Kapellmeister waren zunächst Geistliche; das Konservatorium della Pietà

dei Turchini scheint mit der Berufung von Francesco Provenzale 1663 zuerst einen

Laien als Kapellmeister angestellt zu haben. Um 1630 bereits scheint man im Konser-

vatorium dei Poveri di Gesù Cristo neben den Waisen auch Musikschüler aufgenommen

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Barocke Musikmetropolen: Neapel Seite 3

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zu haben. Dieser Usus nahm schnell große Bedeutung an. Die »Convittori« mussten

eine Aufnahmegebühr und Pensionsgeld zahlen, die zuweilen von einem Mäzen über-

nommen wurden, außerdem mussten sie sich häufig verpflichten, den Konservatorien

für eine bestimmte Zeit als Musiker zu dienen. Auf der Einrichtung der »Convittori«

fußte die musikalische Bedeutung der neapolitanischen Konservatorien. Aus den Con-

vittori rekrutierten sich vornehmlich die Musikschüler; von den bedeutenderen Musi-

kern, die aus den neapolitanischen Konservatorien hervorgegangen sind, scheint kein

einziger Waise gewesen zu sein. Reine Musiklehranstalten sind die alten neapolitani-

schen Konservatorien nicht gewesen. Wenn auch die Musik schon infolge ihrer Bedeu-

tung für den Unterhalt der Institute in allen vier Konservatorien eine große Rolle spiel-

te, so machten die Musikschüler unter den Zöglingen doch nur eine Minderheit aus.

Ihre musikalische Glanzzeit erlebten die neapolitanischen Konservatorien im 1. Drittel

des 18. Jahrhunderts.

Neben den Konservatorien gewannen die Ende des 16. Jahrhunderts errichteten Nie-

derlassungen der neuen Orden, der Theatiner, Jesuiten und vor allem der Oratorianer

(auch Filippini oder Gerolamini), große Bedeutung im neapolitanischen Musikleben. Die

musikalische Aktivität der Filippini scheint der der Oratorianer in Rom kaum nachge-

standen zu haben. Die beherrschende Gestalt in der Frühzeit ihrer neapolitanischen

Niederlassung war Giovenale Ancina, der 1586–1596 dort wirkte. Ancina gewann

Jean de Macque zur musikalischen Mitarbeit und gründete ein »Oratorio dei Principi«,

das geistliche Musik und religiöse Dispute in den Palästen des neapolitanischen Adels

pflegte.

Die Geschichte des Oratoriums in Neapel ist bisher wenig erforscht. Sein wichtigster

Vertreter scheint in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts Cristoforo Caresana mit alle-

gorischen Werken wie La Tarantella  (1673), La caccia   al toro  (1674), La resa della 

piazza dell'Immortalità  (1676) und La battaglia spirituale  (1681) und zu Beginn des

18. Jahrhunderts Francesco Mancini gewesen zu sein. Besondere Bedeutung hatte in

Neapel das Dramma sacro, eine szenisch aufgeführten geistlichen Oper, deren Ent-

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wicklung der der Opera seria parallel geht. Die Stoffe sind vornehmlich der Heiligenge-

schichte entnommen, die Handlung ist meist handfest realistisch und enthält wie die

Opera seria Buffoszenen.

Der neapolitaischen Kirchenmusik wurde um 1630 die wenigstimmige Motette durch

die Werke der Giovanni Maria Sabino, Camillo Lambardi, Alessandro Capece vertraut.

Die Messenvertonung erlangte erst wieder um die Mitte des 17. Jahrhunderts bei E-

rasmo di Bartolo (»Padre Raimo«) und dann bei Cristoforo Caresana größere Bedeu-

tung. Besonderer Beliebtheit erfreute sich im 17./18. Jahrhundert in Neapel die Ver-

tonung der Lamentationen der Karwoche (Maria Trabaci; Alessandro Scarlatti). Von

einer Domkapelle in Neapel, der Cappella del Tesoro di S. Gennaro, wird erst um 1660

berichtet. Kapellmeister war dort bis 1680 Filippo Coppola. Auf ihn folgte Giovan Ce-

sare Netti und nach dessen Tod 1686 Francesco Provenzale. Provenzale wurde 1699

amtsenthoben und durch Cristoforo Caresana ersetzt.

Unter Jean de Macque (Amtszeit 1599–1614) war die bereits im 15. Jahrhundert

gegründeté königliche Kapelle vergrößert worden, sie zählte nunmehr drei Organisten

(G. M. Trabaci, Ascanio Maione, Francesco Lambardi), zu den Instrumentalisten kamen

ein fünfter Geiger und ein Harfenist, die Zahl der Sänger wurde auf 25 erhöht, darun-

ter finden sich jetzt auch Kastraten. Nachfolger Jean de Macques als Kapellmeister

wurde 1614 Giovanni Maria Trabaci, neben dem Giovanni Maria Sabino als Maestro di

Cappella della Real Chiesa del Castel nuovo di Napoli genannt wird. Auf Trabaci folgten

1647 Andrea Falconiero, 1658 Filippo Coppola und 1680 der Venezianer Pier Andrea

Ziani.

1648 wurde der spanische Botschafter in Rom, Graf Oñate, zur Wiederherstellung der

Ordnung nach der Revolution des Masaniello als Vizekönig nach Neapel berufen. Oñate

lud 1651 eine römische Operntruppe, die »Febi armonici«, nach Neapel ein, ließ einen

Pavillon im Park des königlichen Palastes errichten und dort als erste Oper in Neapel

Monteverdis Incoronazione di Poppea  aufführen. Nach der Abberufung des Grafen

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Oñate 1653 setzten die »Febi  armonici«  ihre Aufführungen im Teatro S. Bartolomeo

fort. Damit war die Oper zu einer ständigen Einrichtung in Neapel geworden. Neben

den Aufführungen im Teatro S. Bartolomeo fanden zu besonderen Gelegenheiten Se-

renaten- und Opernaufführungen in dem von Oñate errichteten kleinen Theater im

Park und im großen Saal des königlichen Palastes statt. 1676 führte die königliche

Kapelle zum ersten Male selbständig eine Oper auf. In den folgenden Jahren wechsel-

ten Opernaufführungen der Kompanie im königlichen Palast und im Teatro S. Bartolo-

meo mit Aufführungen der königlichen Kapelle im königlichen Palast ab. Im Herbst

1683 verpflichteten die neuen Pächter des Teatro S. Bartolomeo, darunter der Maler

Nicola Vaccaro, eine Truppe von neun Sängern, fünf Instrumentalisten und einem Ko-

pisten unter Leitung von Alessandro Scarlatti. Die Truppe begann ihre Aufführungen

im November 1683. Sie brachte außer Werken Scarlattis solche von Pasquini, Legren-

zi, Pallavicino, Severo de Luca, Freschi, Draghi, Sartorio, G. A. Perti, Giovanni Bononci-

ni, Gasparini, Pollaroli, Luigi Manzo, Aldrovandini und Filippo Maria Coltinelli, in der Re-

gel mit den üblichen Veränderungen, nach Neapel.

Im Herbst 1684 wurde Alessandro Scarlatti zum Maestro der königlichen Kapelle er-

nannt. 1702 kehrte Scarlatti, vermutlich wegen der Abberufung des musikfreundli-

chen Vizekönigs Medinaceli, von einem viermonatigen Urlaub nach Florenz nicht zu-

rück. Am 25. Oktober 1704 ernannte der Vizekönig Gaetano Veneziano zum neuen

Kapellmeister, Domenico Sarri zum Vizekapellmeister und Francesco Mancini zum Or-

ganisten.

Der Spanische Erbfolgekrieg brachte 1707 eine Umwälzung der politischen Verhält-

nisse in Neapel. Im Juli erreichten die österreichischen Truppen Aversa, zusammen mit

den Vertretern der Stadt und des Adels zog ihnen die königliche Kapelle unter Führung

des 1. Organisten Francesco Mancini entgegen und sang in der dortigen Kathedrale ein

Te Deum. Im Januar 1708 wurde Mancini zum Kapellmeister ernannt, im November

kehrte jedoch auf Betreiben des österreichischen Vizekönigs Kardinal Grimani Ales-

sandro Scarlatti nach Neapel zurück und wurde wieder als Kapellmeister der königli-

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chen Kapelle eingesetzt. Während der Abwesenheit Scarlattis war die neapolitanische

Opernbühne von Komponisten wie Giuseppe Adrovandini, Tommaso Albinoni, Frances-

co Gasparini beherrscht worden. Mit seiner Rückkehr nach Neapel wurde Scarlatti wie-

der die dominierende Gestalt des neapolitanischen Musiklebens. Seit 1716 trat sein

Name jedoch schnell zurück, am 4. Febr. 1719 wurde Cambise als letzte Oper Scarlat-

tis in Neapel gespielt, am 22. Okt. 1725 starb er.

1706–1709 hatte das Teatro dei Fiorentini der Oper im Teatro S. Bartolomeo Konkur-

renz gemacht. Da das finanzielle Ergebnis unbefriedigend blieb, ließen die Theater-

pächter im Herbst 1709 eine Dialektkomödie La Perna  von Nicola Corvo bearbeiten

und von Antonio Orefice vertonen; diese musikalische Komödie im neapolitanischen

Dialekt kam unter dem Titel Patrò Calienno de la Costa im Okt. 1709 mit ungeheurem

Erfolg heraus. Orefices Patrò Calienno  ist nicht die erste musikalische Komödie im

neapolitanischen Dialekt. Der Ursprung der Gattung ist aus den Theateraufführungen

des neapolitanischen Adels herzuleiten, in denen die Oper und besonders das heitere

Genre der Oper längst gepflegt wurde. Die musikalische Entwicklung der »Commedia

musicale in lingua napoletana« läßt sich nur in sehr groben Umrissen verfolgen, da nur

sehr wenige Werke erhalten sind.

Die Musik spielte in Neapel in den unzähligen Salons und Akademien, in denen sich A-

del, hohe Geistlichkeit, Professoren, Literaten und Musiker trafen, eine wichtige Rolle.

Das Mäzenatentum des Adels war im neapolitanischen Musikleben des 18. Jahrhun-

derts von eminenter Bedeutung; zu den Aufgaben der in der Regel nebenamtlichen

Hauskomponisten der Adelsfamilien gehörte neben der Repräsentation der Unterricht

und die Komposition »per uso«, »per servizio« und »per esercizio« des Brotgebers. Die

gesellschaftliche Stellung des Musikers war besser als seine finanzielle, nur die Sän-

gerstars vermochten Reichtümer zu sammeln. Ein wesentlicher Zug gerade des neapo-

litanischen Musiklebens dieser Zeit war die Modehaftigkeit. De Brosses schreibt aus

Neapel »le goût  de la musique change ici au moins tous les dix  ans«. 

Das Abtreten Alessandro Scarlattis von der Opernbühne bezeichnet eine deutli-

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che Zäsur in der neapolitanischen Musikgeschichte. Sie wird schon im Opernspielplan

deutlich. Seit etwa 1716 wird er für eine Übergangszeit vornehmlich von Francesco

Mancini, Domenico Sarri und Nicola Porpora beherrscht. Nach 1720 betritt eine neue

Generation die Bühne, setzt sich sehr schnell durch und wirkt sogleich über Neapel

hinaus. Ihre wichtigsten Vertreter sind zunächst Leonardo Leo und Leonardo Vinci, der

sich vorher auf dem Felde der musikalischen Dialektkomödie ausgezeichnet hatte. Zu

ihnen tritt 1726 Johann Adolph Hasse, der auch über seinen Abschied von Neapel

1730 hinaus regelmäßig Opernaufträge für Neapel erhielt und durch Maria Amalia von

Sachsen, seit 1737 Königin von Neapel, dem neapolitanischen Hofe eng verbunden

blieb. 1731 beginnt die kurze Laufbahn von Giovanni Battista Pergolesi. Als Schul-

häupter der neapolitanischen Musik des 18. Jahrhunderts wurden schon frühzeitig

Leonardo Leo und Francesco Durante angesehen. Leo war 1734–1737 als 2. Kapell-

meister und seit 1741 als 1. Kapellmeister am Konservatorium S. Maria della Pietà dei

Turchini, seit 1739 auch als 1. Kapellmeister an S. Onofrio, Durante 1710 und seit

1745 an S. Onofrio und seit 1728 am Konservatorium dei Poveri di Gesù Cristo tätig.

Piccinni und Jommelli, Pergolesi, Perez, Paisiello, Sacchini, Duni, Teradellas, Logrosci-

no gehören zu ihren Schülern.

Repräsentative Form der »neapolitanischen Schule« ist die Opera seria, ihr Opernty-

pus ist der Metastasios, der im Februar 1724 am Teatro S. Bartolomeo in Neapel mit

der Didone kreiert wurde; den Auftrag zur ersten Vertonung hatte noch Sarri erhalten.

Die traditionellen Buffoszenen sind in Metastasios Didone zwischen den Akten zu In-

termezzi zusammengefaßt und in die Gattung jener Intermezzi eingemündet, die von

den Konservaorien und beim Adel, aber auch bei Hofe als in sich geschlossene Form in

der Tradition des alten Intermediums weitergelebt hatte; so wird etwa im September

1709 von der Aufführung eines »giocoso Intermedio da due Giardinieri« mit Musik von

Alessandro Scarlatti berichtet. Nunmehr werden auch Opernintermezzi selbständig

aufgeführt, und die Gattung lebt weiter, als 1736–1738 auf Befehl des Königs die O-

pernintermezzi durch das Ballett ersetzt und 1741 endgültig abgeschafft werden. Als

zweite Buffoform wird in Neapel die musikalische Dialektkomödie weitergepflegt.

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Nicht weniger deutlich als in der Oper zeichnet sich der Stilwandel der zwanziger Jah-

re in der Kirchenmusik ab. Um 1730 begegnet in Neapel der Typus der sehr breit an-

gelegten, fünfstimmigen (2 Sopr., A., T., B.), nur aus Kyrie und Gloria bestehenden

Nummern-Messe, bei der im Gloria arienhafte, zweiteilige Solosätze mit Chorsätzen

abwechseln. Bis in die zweite Jahrhunderthälfte lebt die Mehrchörigkeit weiter, hat

  jedoch keine strukturelle Bedeutung mehr und ist vornehmlich durch Tradition und

Reputation des Aufführungsortes bedingt. Der Anlage der Messe entspricht die des

ebenso breit angelegten und in Chor- und Solonummern gegliederten Vesperpsalmen.

Auch die Lamentationskomposition bleibt üblich, und gerade sie wird zu einem bevor-

zugten Feld sängerischer Virtuosität. Als Festmusik vor allem bei den häufigen Einklei-

dungen von Nonnen aus adeligen Familien diente die Motette, und zwar in ihrer prunk-

volleren, der Serenata entsprechenden Form mit Chor, während die kleine Solomotette

ebenso wie ihr Gegenstück, die Kammerkantate, um 1720 schnell ihre Bedeutung ver-

lor. Nach 1735 setzte auch in der neapolitanischen Kirchenmusik der Rückgriff auf

den »strengen Stil« ein, neben der konzertanten Kirchenmusik wurde nunmehr auch

die a cappella-Messe und a cappella-Motette gepflegt.

Die Bedeutung der »neapolitanischen Schule«beruhte vornehmlich auf der Vokalmu-

sik, doch darf die Instrumentalmusik nicht übersehen werden. Es handelt sich meist um

Liebhabermusik für adelige Dilettanten, und vieles davon dürfte mit den Hausarchiven

verloren gegangen sein. Aus der Überlieferung sind vor allem die Flötenkonzerte von

Alessandro Scarlatti und Francesco Mancini, Cembalokonzerte von Domenico Auletta,

die Violoncellokonzerte Leos für den Herzog Maddaloni, die Konzerte von Alessandro

Scarlatti, Francesco Durante und Pietro Marchitelli zu nennen, ferner die Werke von

Niola Fiorenza und Niccolo Porpora.

Mit dem Einzug Karls III. von Bourbon im April 1734 wurde Neapel wieder Hauptstadt

eines selbständigen Königreichs. Karl III. war, ganz im Gegensatz zu der 1737 mit ihm

vermählten Maria Amalia von Sachsen, musikalisch desinteressiert. Trotzdem begann

die rege Bautätigkeit Karls III. in seiner Hauptstadt mit der Errichtung eines neuen O-

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pernhauses, das am 4. November 1737 mit Achille in  Sciro von Domenico Sarri eröff-

net wurde. Unter den Vizekönigen war die Mitwirkung der Kapelle bei den Gottesdiens-

ten, die die Vizekönige in der Kapelle des königlichen Palastes und in zahlreichen Kir-

chen des Stadt abhalten ließen, Hauptaufgabe der königlichen Kapelle gewesen. Unter

Karl III. entfielen diese regelmäßigen »Cappelle regali«, dafür wurden die Musiker

nunmehr häufiger zu Festen im königlichen Palast herangezogen, und es wurde aus

Mitgl. der Kapelle ein kleines Orchester für Tanzfeste und für Komödienaufführungen

im königlichen Palast gebildet. 

Bernhard Morbach 

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MORBACH LIVE – ALTE MUSIK

Mittwoch, 14. Juni 2006 18.05-19.00 Uhr

 

BAROCKE MUSIKMETROPOLEN

10. Folge: Venedig

(Da die Quellen zur barocken Musikgeschichte Venedigs besonders reich fließen, ist un-

ser historischer Abriss diesmal mit einer kleinen Quellensammlung verbunden.)

Venedig, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz und des Veneto, war bereits 774 Sitz

eines Bischofs und von 1451 an von einem Patriarchen regiert. Bis 697 war die Stadt

administrativ an Byzanz gebunden. Danach verwaltete sich Venedig bis 1797 autonom

unter der Leitung des Dogen und eine Rates von Adligen.

Seit dem 13. Jahrhunderts lässt sich die Pflege von geistlicher Musik an S. Marco, der

»Hauskapelle« des Dogen, nachweisen. Seit dem 14. Jahrhundert erklang komponierte

Musik sowohl bei geistlichen als auch bei weltlichen Anlässen, wobei die Einsetzung

eines neuen Dogen mit Festmotetten musikalisch geradezu inszeniert wurde. Besonders

bedeutende Kompositionen dieser Art sind von Johannes Ciconia (um 1335–1441),

dem ersten flämischen Komponisten in Italien, überliefert. Neben der aus acht Kanto-

ren bestehenden Schola hatte die Orgelmusik spätestens seit dem frühen 15. Jahrhun-

dert an große Bedeutung an S. Marco. Einen großen Aufschwung erlebte die Musik da-

selbst durch die Verpflichtung des erstrangigen flämischen Sängerkomponisten Adrian

Willaert als Kapellmeister im Jahre 1527.

Neben der zumeist mehrchörigen Musik für die festlichen Gottesdienste an S. Marco,

die im Zusammenwirken von Singstimmen und Instrumenten erklang, erlebte die In-

strumentalmusik in Venedig eine erste große Blüte, wobei sich das Instrumentale rasch

von seiner Bindung an vokale Modelle zu befreien begann. Die instrumentale Canzona,

die aus dem instrumentalen Vortrag von Chansons hervorgegangen war, erhielt gerade

in Venedig ein Gepräge, welches sie zur Instrumentalmusik sui generis werden ließ und

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Barocke Musikmetropolen: Venedig Seite 2

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die Weiterentwicklung der »Canzona per sonare« zur »Sonata« geradezu herausforder-

te. Darüber hinaus bildete sich in vokal-instrumentalen Kompositionen um 1600 jenes

idiomatische Gegenüber von gesanglicher und instrumentaler Ebene heraus, das man

gemeinhin als konstitutiv für die neue Musiksprache des Barock erachtet und dem man

die Begriffe »konzertierend« oder »konzertant «zuordnet. In den Kompositionen von

Giovanni Gabrieli tritt uns der neue, konzertante Stil besonders eindrücklich entgegen.

Er war einer der beiden Organisten an S. Marco. Andere bedeutende Organisten an der

Markuskirche vor 1600 waren Andrea Gabrieli, Annibale Padovano, Claudio Merulo und

Giuseppe Guami. Aber deren Aufgaben erschöpften sich bei weitem nicht im (improvi-

sierten) liturgischen Orgelspiel. Vielmehr war die Komposition ihre primäre Verpflich-

tung, während dem Kapellmeister auch (vielleicht sogar in erster Linie) administrative

Aufgaben oblagen. Nach 1600 jedoch kommen die herausragenden Komponistenper-

sönlichkeiten an S. Marco aus dem Kreis der Kapellmeister. Die bedeutendsten baro-

cken Kapellmeister an der Markuskirche waren Giovanni Croce (1603–1609), Claudio

Monteverdi (1613–1643), Giovanni Rovetta (1644–1668), Francesco Cavalli (1668–

1676), Giovanni Legrenzi (1685–1690), und Antonio Lotti (1733–1740). Seit dem

ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts waren die Sänger und die Instrumentalisten an

S. Marco in eigenständigen Assoziationen organisiert. Unter Giovanni Croce erlebte die

Musik an S. Marco eine besondere Blüte, die sich auch in der Anzahl der fest angestell-

ten Musiker (25 Sänger und 16 Instrumentalisten) niederschlägt.

Der Glanz der Kirchenmusik in Venedig fand zwar an S. Marco seinen Kulminations-

punkt, aber auch andere Kirchen verfügten über Organisten, Sänger und Instrumenta-

listen, etwa S. Salvatore, S. Geremia oder Ss. Giovanni e Paolo. Teilweise übten dort

auch Musiker von S. Marco Nebentätigkeiten aus. Einen wesentlichen Anteil an der

Pflege der geistlichen Musik in Venedig hatten auch die Scuole der Laienbruderschaf-

ten, die sich besonders um die Gestaltung religiöser Feiertage kümmerten. Seit dem

15. Jahrhundert wurde ihnen nach und nach die Erlaubnis gewährt, professionelle Mu-

siker zu engagieren. Die wohlhabendste Bruderschaft war die Scuola grande di Sa. Roc-

co, für die unter anderem Giovanni Gabrieli, Alessandro Grandi und Claudio Monteverdi

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Barocke Musikmetropolen: Venedig Seite 3

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tätig waren. Die Feier des San Rocco-Tages am 16. August wurde besonders aufwändig

gestaltet. Thomas Coryats Bericht aus dem Jahr 1608 schildert dies eindrücklich.

Mit der Gründung von S. Cassiano im Jahr 1637 als erstes öffentliches Opernhaus er-

hielt Venedig eine weitere bedeutende und äußerst geschichtsträchtige Institution der

Musikpflege. Bis 1678 wurden sechs weitere Theater gegründet, die ebenfalls nach den

 jeweiligen Pfarrkirchen benannt wurden. Schließlich waren um 1700 neun große Thea-

ter und elf kleinere in Betrieb. Sie befanden sich im Besitz von reichen Patriziern, die

ihre Häuser teilweise an Impresarios verpachtet hatten und ihren Gewinn hauptsächlich

aus der dauerhaften Vermietung von Logen schöpften. Die meisten Opern »der ersten

Stunde« stammten von Musikern an S. Marco. An erster Stelle ist natürlich Claudio

Monteverdi mit seinen drei venezianischen Opern zu nennen. Quantitativ wird er aber

zum Beispiel von Francesco Cavalli mit seinen 42 Opern bei weitem übertroffen. Die

Aufführung von Opern war an vier jährliche Spielzeiten gebunden, von denen der Car-

nevale die wichtigste war.

Der Erfolg der Oper im Venedig des 17. Jahrhunderts – als Ort des Amusements für ein

wohlhabendes, großbürgerliches Publikum – ist verwurzelt in der sozialen Struktur der

Stadt, in der eine extreme Polarisierung von Reichtum und Armut herrschte. Diese war

letztlich das Ergebnis des wirtschaftlichen Niedergangs der Lagunenstadt, der sich vom

frühen 16. bis ins 17. Jahrhundert hinein langsam aber unaufhaltsam vollzogen hatte.

Er war letztlich darin begründet, dass durch die Entdeckung des Seewegs in die »Neue

Welt« Venedig seine Bedeutung als Handelsmetropole verlor. Bislang waren exotische

und wertvolle Handelsgüter – etwa aus dem sagenumwobenen Indien – über Karawa-

nenwege an die Häfen des Mittelmeers gelangt. Als im Jahr 1620 erstmals Schiffe den

Hafen Venedigs erreichten, die Pfeffer, Zimt und Gewürznelken aus dem Westen anstatt

aus dem Osten brachten, wurde auch den Zeitgenossen deutlich, dass die Situation der

Serenissima sich fundamental geändert hatte. Ihren Glanz schmälerte dies kaum – im

Gegenteil: die wenigen, die durch Grundstück- und Geldspekulationen der unterschied-

lichsten Art immer reicher wurden, demonstrierten dies besonders durch »Kunstkon-

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sum« auf solch unverhohlene Weise, dass staatliche Verordnungen gegen das Über-

handnehmen von Luxus (»magistratura sopra le pompe«) erlassen wurden.

Die Kirchenmusik (allen voran die an S. Marco) und die Oper als Institutionen der Mu-

sikpflege in Venedig erhielten im Laufe des 17. Jahrhunderts eine äußert bedeutende

Konkurrenz in den vier Ospedali (Ospedale della Pietà, das Ospedale degli Incurabili,

das Ospedaletto und das Ospedale die Mendicanti), die das bemerkenswerte Gegen-

stück zu den zeitgenössischen neapolitanischen Konservatorien repräsentierten.

Gleichzeitig wurde durch sie in Venedig das Spektrum des Musiklebens durch die Insti-

tution des öffentlichen Konzerts angereichert, die im 18. Jahrhundert die anderen an

Bedeutung bei weitem übertraf. Natürlich gab es in Venedig auch eine Musikpflege im

privaten, häuslichen Bereich. Besonders erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang

  jene Akademien, die der Librettist Gregorio Strozzi für seine Tochter Barbara (* um

1620) eingerichtet hatte, deren Gesangs- und Kompositionskünste von den Zeitgenos-

sen gleichermaßen gerühmt wurden.

Die vier Ospedali waren bereits im 16. Jahrhundert gegründet worden, und zwar als

Erziehungseinrichtungen für Waisen, Findlinge und uneheliche Kinder, wobei von An-

fang an die Zöglinge auch eine Musikerziehung erhielten. Allmählich steigerte sich die

Qualität der Musikausübung an diesen Institutionen dermaßen, dass die konzertanten

Darbietungen der Zöglinge geradezu paneuropäisch berühmt wurden. Diese Qualitäts-

steigerung konnte aber nur dadurch erreicht werden, dass an den Ospedali hochprofes-

sionelle Musiker als Lehrer und Kapellmeister tätig waren. Teilweise finden sich auch S.

Marco-Kapellmeister in den Gehaltslisten der Ospedali. Die Prokuratoren gestatteten

dies ausdrücklich, denn die finanziellen Mittel an S. Marco waren seit dem späten 17.

Jahrhundert sehr bescheiden. Prominente Musiker konnte man nur dann behalten,

wenn man ihnen Nebeneinkünfte gestattete. Die dem Text nachgestellte Übersicht über

die Zeiten, zu denen bekannte Musiker an den Ospedali im 17./18. Jahrhundert tätig

waren, stammt aus Hans Dörge, Musik in Venedig, Ein moderner Stadtführer zu den Zeugen der

Musik und Bildenden Kunst, Heinrichshofen 1990, ebenso die Zitate unserer Quellensammlung.

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Nicht zuletzt die spezifische, auf das Instrumentale ausgerichtet Musikpflege an den

Ospedali förderte den Stellenwert der Instrumentalmusik in Venedig insgesamt, die

auch in privaten und öffentlichen Akademien, in Kirchen, in den Palästen der Patrizier

oder im Freien in den Höfen erklang. Zum Kreis der Komponisten gehörten auch Dilet-

tanten bzw. Autodidakten (Tommaso Albinoni, Benedetto Marcello), deren Ruhm sich

über ganz Europa verbreitete.

Bernhard Morbach 

Thomas Coryat, Coryat's Crudities (1608)

Zum Jahre 1608: Die dritte Feierlichkeit fand am San Rocco-Tag, und zwar Samstag, den 6. [ge-meint ist 16., vgl. Arnold 1959, 5. 236] August, statt, wo ich die schönste Musik meines Lebens

hörte, am Morgen und am Nachmittag, so gut, daß ich jederzeit gern hundert Meilen zu Fuß ge-

hen wollte, um so etwas zu hören) Der Ort des Ereignisses liegt nahe der Kirche San Rocco undist ein sehr prächtiges und großartiges Gebäude, welches einer der sechs Gesellschaften der Stadt

gehört. Es gibt nämlich in Venedig sechs Bruderschaften oder »Gesellschaften«, die jeweils ihre

Hallen 2, wie wir sie in London nennen, haben, welche ihnen gehören ... Es gibt drei überaus

schöne Räume in diesem Gebäude; der erste ist der unterste, welcher zwei Reihen gegenüberste-hender anmutiger Säulen hat ... In diesem Raum befinden sich zwei oder drei schöne Altäre:

Denn dieser Raum ist nicht für Lustbarkeiten und Bankette bestimmt, wie die Hallen, welche denGesellschaften in London gehören, sondern nur für Andacht und religiöse Zwecke, wie Gott und

seine Heiligen mit Psalmen, Hymnen, geistlichen Gesängen und wohlklingender Musik an be-

stimmten Festtagen der Heiligen zu loben und zu preisen ... Der zweite Raum ist sehr geräumig

und groß mit weiteren zwei oder drei schönen Altären ... Zu diesem Raum gelangt man über zweioder drei sehr ansehnliche Treppen. Der dritte Raum, welcher an einer Ecke dieses weiten Rau-

mes anschließt, ist sehr schön.

Der zweite Raum ist der Ort, wo die Feierlichkeit zu Ehren des Heiligen Rochus stattfand; an

einem Ende davon war ein Altar mit vielem einzigartigen Schmuck geziert, besonders aber miteiner großen Menge silberner Kerzenhalter, 60 an der Zahl, und Kerzen darin von Bienenwachs.

Die Feier bestand hauptsächlich aus Vokal- und Instrumentalmusik, so gut und ergötzlich, so

erlesen, so wundervoll, so überaus großartig, daß sie alle Fremden, welche so etwas noch nie ge-hört hatten, geradezu hinriß und außer Fassung brachte. Wohl weiß ich nicht, wie die Musik auf 

andere wirkte; jedoch für meinen Teil kann ich feststellen, daß ich die ganze Zeit geradezu ver-

zückt war, als ob ich mit dem Heiligen Paulus im dritten Himmel wäre. Bisweilen sangen 16 oder20 Sänger zusammen unter der Leitung eines Meisters oder Moderators, der sie dirigierte; und

während sie sangen, spielten die Instrumentalisten ebenfalls. Manchmal spielten 16 Musiker zu-

sammen auf ihren Instrumenten; 10 Posaunen (sagbuts), 4 Cornette und 2 Violen da Gamba von

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außergewöhnlicher Größe; manchmal 10, nämlich 6 Posaunen und 4 Cornette; manchmal 2, ein

Cornet und eine Diskant-Violine.

Jene zwei Theorbenspieler beschlossen die Musik dieses Abends, welche mindestens 3 volleStunden dauerte. Denn man begann um etwa 5 Uhr und endete nicht vor 8 Uhr. Auch am Vormit-

tag dauerte es so lange; so oft nur mehrere Musiker spielten, spielten die Orgeln mit, von denen

es in diesem Raum regelrecht 7 Stück gab, welche alle in einer Reihe beisammen standen. Vonden Sängern gab es drei oder vier, die so hervorragend waren, daß - wie ich glaube - wenige oder

niemand in der Christenheit sie übertreffen könnte; vor allem denke ich an einen, der eine so un-

vergleichliche und in gewisser Weise übernatürliche Stimme besaß, eine Stimme von so ausneh-mender Süße und einem solchen Wohlklang, daß ich meine, es hätte nie einen besseren Sänger in

der Welt gegeben; denn er vermittelte seinen Zuhörern nicht nur das denkbar angenehmste Ge-

fühl von Wohlbehagen, sondern erfüllte sie zugleich mit Staunen und Verwunderung. Ich glaubteimmer, es wäre ein Eunuch, was - wäre dies der Fall gewesen - einen Teil meiner Bewunderung

genommen hätte, weil diese ganz allgemein überdurchschnittlich gut singen; aber er war keiner,weshalb es um so bewundernswerter war. Zudem war ich um so mehr voller Bewunderung, als erein Mann mittleren Alters war, etwa um die 40 Jahre. Denn die Natur verleiht im allgemeinen

solch einzigartige Stimmen mehr Knaben und Jünglingen als Männern dieses Alters. Außerdem

war die Stimme um so außergewöhnlicher, als sie nicht forciert, angestrengt oder affektiert klang,sondern aus ihm mit der größten Leichtigkeit floß, die ich je gehört hatte.

Alexandre Touissaint Limojon de Saint Didier: La Ville et la Republique de Venise (1680)

Vom Karneval

Der Karneval Venedigs ist in so großem Ansehen in ganz Europa, daß diejenigen aus den fernenLändern, die Lust haben, Venedig zu sehen, diese Saison abwarten, in der die Stadt sich gewöhn-

lich voller Fremder aller Nationen zeigt; aber der größte Teil derer, die die Neugierde dorthin

lockt, fühlt sich in seiner Erwartung betrogen; denn die Schönheit des Karnevals besteht nicht,

wie sie es sich vorstellen, in der Pracht der häufigen öffentlichen Theatervorstellungen, in denpompösen Maskeraden, die man oft in mehreren Städten Italiens sehen kann: es fällt gleichwohl

schwer, genau zu sagen, worauf sich die Wertschätzung gründet, die man so allgemein diesem

Karneval entgegenbringt; aber ich bin überzeugt, daß eine Unzahl von Dingen kursiert, um ihn so

berühmt zu machen: ganz besonders der Gebrauch, den jeder durch eine bequeme Verkleidungdavon macht, die äußerste Freiheit, mit der die Masken überall erscheinen können, der unver-

brüchliche Respekt, den man ihnen entgegenbringt und die große Anzahl der Lustbarkeiten, die

man in Venedig während dieser Zeit vorfindet. Nichts ist sonderbarer, als die ganze Stadt sozusa-gen in Maske zu sehen; die Mütter tragen auf ihren Armen ihre verkleideten Kinder; sowohl die

Männer als auch die Frauen, die auf den Markt gehen oder einen Einkauf von fünf Soldis in der

Krämerei machen wollen, gehen dort verkleidet hin: Der Markusplatz ist das große Theater, wo

sich alle Tage die Pracht des Karnevals entfaltet, es gibt keine Maske in Venedig, die sich nichteine Stunde vor Sonnenuntergang dorthin begibt, und wie groß der Platz auch sei, kann er kaum

die Menge der Masken fassen und die Menge derer, die sie anschauen gehen.

Von der Oper 

Venedig sagt man die Erfindung der Oper nach; aber obwohl sie dort ehemals von einmaliger

Schönheit war, kann man gleichwohl sagen, daß Paris gegenwärtig alles überholt, was man in

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Venedig zu machen wußte; man hatte Mühe, sich im Anfang davon zu überzeugen, daß die fran-

zösische Sprache sich den Solopartien in der Musik anpassen könne, die im Italienischen so na-türlich erscheinen.

Man spielt in Venedig mehrere Opern auf einmal; die Theater sind groß und prächtig, die Deko-

rationen kostbar und ziemlich abwechslungsreich, aber sehr schlecht beleuchtet; die Maschinen

dort sind manchmal annehmbar und manchmal lächerlich; die Zahl der Schauspieler ist immersehr groß, und alle sind reich gekleidet; aber ihre Schauspielerei ist meistens unangenehm; die

Stücke sind lang und wären sogar unterhaltend während der vier Stunden, die sie dauern, wenn

sie von besseren Dichtern gemacht wären, die die Regeln des Theaters besser wüßten, wovon ihrWerk kein Zeugnis ablegt: dasselbe ist oft die Ausgabe nicht wert, die man macht, um es aufzu-

führen. Man sieht dort so jammervolle Ballett-Einlagen zwischen den Akten, daß es sehr viel

besser wäre, wenn es gar nichts davon gäbe. Man behauptete, diese Leute tanzen zu sehen, diewie mit Blei beschwert sind, und gleichwohl bekommen sie den Beifall der ganzen Versamm-

lung, weil man nie etwas Besseres gesehen hat.

Diejenigen, welche die Opernmusik komponieren, halten sich daran, die Szenen der Hauptdar-

steller mit Arien enden zu lassen, die bezaubern und mitreißen, um endlich den Beifall des gan-

zen Theaters hervorzulocken. Das gelingt gemäß ihrer Absicht so gut, daß man nur »benissimo«von tausend Stimmen auf einmal hört; aber nichts ist eigentümlicher als die seltsamen Segnungen

und die lächerlichen Wünsche, welche die Gondolieri, die im Parterre sind, den guten Sängerin-

nen darbringen; am Ende aller ihrer Szenen schreien sie mit allen Kräften »sias tu benedetta, be-nedetto è'l padre ehe te genrè«; aber diese Beifallsrufe halten sich nicht immer an die Grenzen der

Bescheidenheit, dieser Pöbel sagt ungestraft all das, was ihm gefällt und ist sich sicher, die Ver-

sammlung mehr zum Lachen zu bringen als ihr zu mißfallen.

Man hat Edelleute so entrückt und so außer sich durch den Zauber der Stimme dieser Mädchen

gesehen, daß sie ganz oben von ihren Logen schrien, indem sie sich hinauslehnten: »Ah cara! mi

butto, mi butto«, um damit zu sagen, daß sie sich gleich hinabstürzen würden in ihrem Vergnü-

gungstaumel, den diese göttlichen Stimmen bei ihnen auslösten. Zum Schluß muß ich noch sa-gen, daß die Priester überhaupt keine Skrupel haben, auf dem Theater zu erscheinen und dort alle

denkbaren Personen darzustellen, da ja das in Rom üblich geworden ist; im Gegenteil läßt sie ihre

schauspielerische Qualität tugendhaft erscheinen; eines Tages erkannte einer der Zuschauer einen

Priester in der Verkleidung der Alten und schrie ganz laut »ecco Pre Pierro, ehe fa la vecchia«.Mittlerweile spielen sich alle Dinge in der Oper mit viel mehr Schicklichkeit ab als in der Komö-

die, weil man natürlich die Musik liebt und dort mehr ehrenwerte Leute hingehen; auch zahlt man

vier Livres an der Tür und zwei Livres im Parterre für den Stuhl, was 46 französische Sousmacht, ohne das Opernbuch zu rechnen und den kleinen gerollten Wachsstock, den alle Zuschau-

er kaufen, denn ohne dies hätten selbst die Einheimischen Mühe, etwas vom Geschehen auf der

Bühne und demzufolge vom Stück zu verstehen.

Joachim Christoph Nemeitz: Nachlese besonderer Nachrichten von Italien (1726) 

Die Music in den Kirchen bey den 4. Hospitälern, als alla Pieta, all’Mendicanti, all’Ospidaletto,

und all’Incurabili, versäumt man nicht gerne zu hören. Sie wird alle Samstag, Sonn- und Fest-

Tage gemacht; fängt an etwa um 4. Uhr Nachmittag, und währet biß ein wenig nach 6. Uhren. In

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diesen 4. Hospitälern werden auf der Republic Kosten arme gebrechliche Leute, wie auch arme

Kinder und Findlinge unterhalten, und letztere in der Gottesfurcht, Lesen, Schreiben, und sonder-lich in der Music durch gewisse dazu verordnete Cantore oder Sängerinnen unterrichtet, auch

zum Spinnen und Neben angewiesen. Unter denen ist nun das Hospital la Pietà wohl das conside-rabelste, als worinnen bey die 900. Mädgen, lauter Findlinge, ausgenommen die, welche von ge-

ringen Leuten als pensionaires hineingethan sind, versorget und unterhalten werden. Diese Kin-

der, welche iedoch nicht allemahl Findlinge, sondern je zuweilen aus rechter Ehe, aber vonnothdürfftigen Eltern gezeugte Kinder sind, als die die Mittel nicht haben, selbige zu ernehren,

und sie daher in dem bey dem Hospital an der Wand ausgehauenem Stein zur Nacht-Zeit heim-

lich hinein schieben, werden nun auf vorbesagte Art unterrichtet und ist zu verwundern daß vielenicht nur in der Vocal- sondern auch in der Instrumental-Music excelliren, und auf der Violin,

Violoncello, Orgel, Tiorbe, ja so gar auf der Hautbois und Flöte en maitre spielen. Sonderlich

sind dermahlen wegen des Singens daselbst berühmt die Polonia und Gerdrut, auf der Orgel laTonina, auf der Tiorbe la Prudenza, auf der Hautbois Ia Susanna, und auf der Violin die Anna

Maria, als welche auf diesem so schweren und delicaten Instrumenten, auch von Virtuosen unsersGeschlechts wenig ihres gleichen hat. Al’Mendicanti, allwo nebst einigen armen Leuten lauterWäysenKinder, welche weder Vater noch Mutter mehr haben, unterhalten werden, ist bekannt die

Theresia wegen ihrer Stimme, und die Barbara wegen der Orgel und Hautbois. Die übrige beyde

Hospitäler, als Al’Incurabili, und L’Ospidaletto, haben zwar auch noch ein und andere guteStimmen; kommen aber den ersten beyden nicht bey. Nebst denen ordinairen Moteten machen sie

verschiedene Cantaten ohne und mit Instrumenten, und weil alla Pietà ein dermassen auserlesenes

Orchestre, dergleichen an wenig grossen Höfen zu finden, so werden auch daselbst die trefli-chesten Concerten gespielet. Ein jedes von diesen Hospitälern hat seinen eigenen CapellMeister,

welcher von der Republic besoldet wird; und hat sich der berühmte Vivaldi nicht geschämet,

noch vor einigen Jahren einen Capell-Meister alla Pietà abzugeben.

Sonsten findet man auch hin und wieder in denen Clöstern bey den Nonnen annoch verschiedene

schöne Stimmen, und höret man sonderlich bey Einkleidung einer Nonnen und andern Solennitä-

ten, die eine jede Kirche ins besondere celebriret, zuweilen daselbst die treflichsten und vollkom-

nesten Musiquen.

Charles de Brosses: Brief aus Venedig vom 29.8.1739

Dieser Karneval beginnt am fünften Oktober, und dann gibt's noch einen kleinen zu Himmelfahrt.

Danach kann man auf gut sechs Monate rechnen, wo hier alle Welt maskiert geht, Priester und

Laien, selbst der Nuntius und der Türschließer der Kapuziner. Denken Sie nicht, daß ich imScherz rede. Maske gehört zum Anzug. Die Pfarrer, sagt man, werden unwillig auf ihre Pfarrkin-

der, der Erzbischof auf seine Geistlichen, wenn sie nicht die Maske in der Hand oder auf der Na-

se haben. Es tut mir leid, diese sonderbare Zeit zu verpassen, vor allem aber um die Opern und

Komödien, die dann gespielt werden. Nicht als ob ich jetzt Musik entbehren müßte, vergeht dochfast kein Abend, an dem nicht irgendwo »Academia«, das heißt Konzert ist. Nach ihnen strömt

das Volk auf dem Kanal zu, als ob es das erstemal wäre.

Sie können sich nicht vorstellen, wie das ganze Volk darein vernarrt ist. Vivaldi hat sich mit mir

angefreundet, um mir recht teuer seine Concerti zu verkaufen, was ihm zum Teil auch geglückt

ist. Wogegen ich, wie ich wünschte, nun Gelegenheiten die Hülle und Fülle habe, gute Musik zu

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Barocke Musikmetropolen: Venedig Seite 9

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hören. Der alte Herr ist von einer wahren Kompositionswut besessen. Ich hörte ihn sich anhei-

schig machen, ein concerto mit allen seinen Teilen schneller zu komponieren, als der Kopistschreiben könne. Es wundert mich, daß er hierzulande nicht, wie er es verdiente, geschätzt wird.

Aber alles ist hier Modesache, man hört seine Werke schon zulange, und Musik, die ein Jahr altist, bringt nichts mehr ein. Augenblicklich ist der berühmte »Sassone« Mann des Tages. Ich hörte

ihn und seine Gattin, die gefeierte Faustina, bei ihm im Hause, sie singt mit vielem Geschmack 

und bezaubernder Leichtigkeit, aber ihre Stimme ist nicht mehr frisch: die liebste und gefälligsteDame der Welt, aber nicht die beste Sängerin.

Am besten in Venedig musizieren vier Waisenhäuser, die ausschließlich mit Waisenmädchen,außerehelich geborenen oder solchen besetzt sind, deren Eltern keine Mittel zu ihrer Erziehung

haben. Der Staat läßt sie auf seine Kosten aufziehen und einzig zu guten Musikantinnen ausbil-

den. Kein Wunder, daß sie wie Engel singen, geigen, flöten, Oboe, Orgel, Cello und Konterbaßspielen, und selbst vor den größten Instrumenten nicht zurückschrecken. Sie leben zusammen wie

Nonnen im Kloster und sind hier in Venedig die einzigen, die Musik ausüben. In jedem Konzertwirken einige vierzig Mädchen. Ich schwöre Ihnen, es gibt keinen ergötzlicheren Anblick, als soeine junge, hübsche Nonne, die im weißen Kleid und ein Granatblütensträußchen über dem Ohr

ihr Orchester anführt und mit unübertrefflicher Anmut und richtigem Gefühl den Takt schlägt

Wie leicht ihre Stimmen einsetzen, und wie rein sie die Töne treffen, ist einfach himmlisch, waswir Franzosen freilich unter Tonrundung und dem gleichmäßigen Langausspinnen eines Tons

verstehen, kennt man hier nicht. Die Zabetta von den »Incurabili« hat einen verblüffenden

Stimmumfang und ganz erstaunliche Geigentöne in der Kehle, daß sie eine Fiedel des vortreffli-chen Somis verschluckt hat, steht für mich außer Zweifel. Alle geben ihr den Preis, und wer eine

andere ihr gleichzustellen wagte, riskierte, daß ihn der Pöbel vor Wut umbringt. Aber, pst, nie-

mand hört's, wenn ich Ihnen ganz leise ins Ohr sage, daß die Margarita von den »Mendicanti«

ebenso gut ist und mir sogar weit lieber.

Das der vier Waisenhäuser, wohin ich am häufigsten gehe und wo ich mich am besten unterhalte,

ist das der »Pietà«, für Symphonien steht es unbedingt an der Spitze. Welche Straffheit der Aus-

führung! Nur hier bekommen Sie diesen ersten Geigenstrich zu hören, den man sehr zu Unrechtder Pariser Oper nachrühmt. Italiens beste Geige wäre sicherlich die Chiaretta wegen ihres groß-

zügigen Spiels, wenn ihr nicht vielleicht die Anna-Maria von den Hospitalitinnen noch überlegen

ist. Daß ich auch die letztgenannte gehört habe, traf sich sehr glücklich, indem sie die Grille hat,

kaum mehr als einmal im ganzen Jahr zu spielen.

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MORBACH LIVE – ALTE MUSIK

Mittwoch, 28. Juni 2006 18.05-19.00 Uhr

 BAROCKE MUSIKMETROPOLEN

11. Folge: Hamburg

Seit dem 12. Jahrhundert prägte der Handel das Gemeinwesen der Stadt Hamburg,

deren Gründung im frühen 9. Jahrhundert erfolgt und die bereits 831 zum Sitz eines

Bischofs geworden war. 1511 wurde Hamburg als Freie Hansestadt bestätigt, wodurch

das Fundament zu einer fruchtbaren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ent-

wicklung gelegt wurde. Die Geschicke der Stadt wurden in allen Bereichen des öffentli-

chen Lebens von einem Rat der eingesessenen Kaufleute gelenkt. Das geistlich-

administrative Fundament der Stadt bildeten neben dem Dom die fünf Pfarr- bzw.

Hauptkirchen (St. Petri, St. Nicolai, St. Catherinen, St. Jacobi und St. Michaelis), die sich

auch zu bedeutenden Pflegestädten der Musik entwickelten.

Über die geistliche Musik im vorreformatorischen Hamburg fehlen Informationen fast

völlig. Bereits in frühreformatorischer Zeit waren weltliche und kirchliche Institutionen

der Musikpflege miteinander verbunden worden, denn das Zentrum der Pflege geistli-

cher Musik war seit einer Kirchenordnung des Jahres 1529 die anstelle der Domschule

neu gegründete Lateinschule im alten Johanniskloster. Der Musiklehrer des Johan-

neums war gleichzeitig Stadtkantor und hatte die Aufgabe, die Musik an den fünf

Hauptkirchen Hamburgs zu organisieren, worin er von vier jüngeren Pädagogen, den

 jeweils zuständigen Küstern und den Gemeindeschulen unterstützt wurde. Dem Stadt-

kantor wurde später der Titel eines »Musikdirektors der Hauptkirchen« verliehen.

Um 1600 war im wohlhabenden Hamburg eine bodenständige Musikkultur zu großer

Blüte gekommen, die auch immer mehr von ausländischen Musikern mitgeprägt wurde,

wobei Instrumentalisten der Ratsmusik (siehe unten) auch an der Gestaltung der festli-

chen Sakralmusik teilhatten. Die Mehrchörigkeit venezianischer Prägung bildete in der

ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die stilistische Orientierung für die Musik an den

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Barocke Musikmetropolen: Hamburg Seite 2

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Hauptkirchen Hamburgs. Einen ersten künstlerischen Höhepunkt erlebte sie unter dem

Kantor Thomas Selle, der 1641 dieses Amt übernahm und es bis zu seinem Tod im

Jahr 1663 innehatte. An den Hauptkirchen kam jeweils sechs mal im Jahr figurale

(kunstvolle, neu komponierte) Kirchenmusik zur Aufführung. Andere Institutionen der

Pflege solcher Musik waren der Dom und größere Kapellen der Stadt. In der Druck-

schrift Hamburger Musik des Jahres 1657 wird mit Stolz berichtet dass »man allhier in

dieser guten und weitberühmten Stadt Hamburg / Die herrliche und wohlbestalte Musik

/ das gantze Jahr auch nach Hertzens-Wunsch vergnüglich anhören kann«. Große Pas-

sionsmusiken entsprachen dem großbürgerlichen Repräsentationsbedürfnis im sakra-

len Bereich ganz besonders. Mit seiner Johannes-Passion (1643) legte Thomas Selle

gar das Fundament des eigenständigen Genres der »oratorischen Passion«, wobei

Hamburg zu einem Zentrum der Passionsvertonung wurde.

Die hohe Bedeutung des Amts des städtischen Musikdirektors zeigt die äußerst auf-

wendig inszenierte Amtseinführung des Schütz-Schülers Thomas Bernhard im Jahr

1663. Nach elf Jahren kehrte er als Vizekapellmeister nach Dresden zurück. Unter sei-

nem Hamburger Amtsnachfolger Johann Gerstenbüttel verfiel die Autorität des städti-

schen Musikdirektors allmählich. Stattdessen gewannen Ratsmusiker und später auch

Opernkomponisten bei der Ausrichtung der Kirchenmusik immer größere Bedeutung.

Georg Philipp Telemann, der 1721 Kantor am Johanneum und Musikdirekter der fünf

Hauptkirchen in Hamburg wurde, vermochte Würde und Bedeutung des Kantorenamts

wieder zu steigern. Allerdings übergriffen seine Interessen die Kirchenmusik bei wei-

tem. Ihm oblag die Organisation der vielen alljährlich stattfindenden städtischen Fest-

lichkeiten, zu denen er eine große Zahl eigener Kompositionen beisteuerte. 1722 ü-

bernahm Telemann zusätzlich die Leitung der Oper. Telemanns Nachfolger als Hambur-

ger Stadtkantor wurde 1678 Carl Philipp Emanuel Bach. Nach seinem Tod 1788 wurde

über die Abschaffung der Musikdirektorenstelle nachgedacht. 1832 wurde sie erstmals

nicht mehr besetzt. Den Kantoren und Organisten der einzelnen Kirchen oblag nun-

mehr die Ausrichtung der Kirchenmusik in eigenständiger Verantwortung.

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Barocke Musikmetropolen: Hamburg Seite 3

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Bereits seit der Einrichtung des Amts des Stadtkantors waren die Organisten an den

Hauptkirchen mit besonderen Aufgaben betraut, vor allem weil der Kantor die Gottes-

dienste nur turnusmäßig betreuen konnte. Zu einer wichtigen Aufgabe des Organisten

wurde die Begleitung des Gemeinde- und Chorgesangs und dessen Umrahmung durch

kunstvolle Vor- und Nachspiele. Außer solcher Orgelmusik, die an Choralmelodien ge-

bunden war, wurden freie Kompositionen in der Kirche üblich, etwa Fugen zu Beginn

und zum Schluss der Gottesdienste. Es bildete sich eine besondere Orgelvirtuosität in

Hamburg heraus, die ihrerseits natürlich hervorragende Instrumente zur Vorausset-

zung hatte. Besonders erwähnenswert ist die Schnitger-Orgel der St. Jacobi-Kirche

(1689–1693). Als besonders herausragende Organisten wären Johan Adam Reincken

an St. Catharinen (ab 1663) und Vincent Lübeck an St. Nicolai (ab 1702) zu nennen.

Der Jacobi-Organist Matthias Weckmann organisierte seit 1655 gar öffentliche Kon-

zerte. Wie die meisten anderen Organisten (nicht nur in Hamburg) machte er sich auch

als Komponist von vokal-instrumentaler Kirchenmusik einen Namen. Nebenbei be-

merkt: In der Regel waren die Organisten die fortschrittlicheren Komponisten, gerade

weil sich viele in öffentlichen Konzerten mit ihrer Musik an ein anspruchsvolleres Publi-

kum wandten. In Lübeck tat dies Dietrich Buxtehude in seinen berühmten »Abendmusi-

ken«. Dass Johann Sebastian Bach 1720 seine Bewerbung für das Organistenamt an

St. Jacobi zurückzog, kann als Zeichen dafür gewertet werden, dass die Orgelkunst in

Hamburg ihren Zenit überschritten hatte.

Das Fundament der weltlichen, bürgerlichen Musikkultur in Hamburg bildeten seit dem

frühen 16. Jahrhundert die Mitglieder der Ratsmusik. Um 1553 waren acht Ratsmusi-

ker fest bei der Stadt angestellt. Eigentümlich für Hamburg ist die hohe Bedeutung, die

dem Streichklang bei repräsentativen Musikaufführungen zukam. Diese waren nicht nur

auf offizielle »Staatsaktionen« beschränkt. Vielmehr spielten Ratsmusiker auch bei

bürgerlichen Festen auf, was diese sogar ihren dienstlichen Verpflichtungen in den

Hauptkirchen vorzogen. In den Kreisen der reichen Hamburger Bürger wurden traditio-

nell besonders die Hochzeitsfeste mit großem Aufwand und musikalischer Prachtentfaltung so ex-

orbitant inszeniert, dass behördliche Vorschriften gegen ein allzu üppiges Feiern erlassen wurden.

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Barocke Musikmetropolen: Hamburg Seite 4

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Geleitet wurde das Ensemble der Ratsmusiker, dessen Obergrenze im 17. Jahrhundert

auf 15 Mitglieder festgelegt war, durch den Ratsmusikdirektor, der selbstverständlich

auch als Komponist in Erscheinung treten musste. In der ersten Hälfte hatten der Eng-

länder William Brade (1560–1630) und Johann Schoop (um 1590–1667) dieses Amt

inne. Dass die Tanzmusik in ihrem Schaffen eine besondere Bedeutung hat, erklärt sich

aus dem oben genannten Auftreten der Ratsmusiker bei bürgerlichen Festen. Der wohl

bedeutendste Ratsmusikdirektor in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war Nico-

laus Adam Strungk (1640–1700). Dieses Amt, das er 1678 antrat, bildete allerdings

nur eine eher unbedeutende Etappe in der Karriere dieses Komponisten, Violinisten

und Organisten, der danach unter anderem Hofkapellmeister in Dresden und Operndi-

rektor in Leipzig war.

Eine bedeutende Konkurrenz im Hamburger Musikleben erwuchs den Ratsmusikern

durch das 1660 vom Jacobi-Organisten Matthias Weckman gegründete »Collegium

musicum«. Mit ihm wurde das öffentliche Konzertwesen in der Hansestadt begründet.

14 Jahre lang fanden wöchentliche Liebhaberkonzerte im Refektorium des Doms statt.

Das »Collegium« bestand teilweise aus 50 Musikern. Zur Aufführung kamen die besten

avantgardistischen Kompositionen aus den europäischen Musikmetropolen Dresden,

München, Venedig und Rom. Auch Passionen standen auf dem Programm. Dass solche

Kompositionen auch außerhalb des Gottesdiensten gegen Bezahlung in öffentlichen

Konzerten aufgeführt wurden, rief natürlich den Protest von konservativen Geistlichen

hervor, der aber keine Wirkung zeitigte.

Nach 1700 gab es in Hamburg private und öffentliche Konzerte geradezu im Übermaß.

Ein bemerkenswerter musikalischer Aufwand wurde bei dem alljährlich stattfindenden

Jubelmahl der Hamburger Bürgerkapitäne geleistet. Die 57 Hauptleute oder Kapitäne

(vom frz. »capitaine«) der in 57 Kompanien und 5 Regimenter als Bürgerwache zur

Stadtverteidigung zusammengefassten wehrfähigen Männer bildeten ein hoch angese-

henes Kollegium, welches sich einmal im Jahr ein opulentes Fest gönnte. Der musikali-

sche Anteil bestand aus einem geistlichen Oratorium und einer weltlichen Serenata.

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Barocke Musikmetropolen: Hamburg Seite 5

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Dabei wirkten, wie ein Bild zeigt, im Jahre 1719 insgesamt 40 Instrumentalisten und

Vokalsolisten mit. Telemann komponierte in seiner Amtszeit als Musikdirektor 40 sol-

cher Kapitänsmusiken , wobei er alle seine im Amt für Stadt und Kirche komponierten

Werke gegen Eintrittsgeld vor der Öffentlichkeit in Konzerten wiederholte. Seine Kon-

zentration auf die Kompositionen und die konzertante Aufführung der Werke war Tele-

mann nur dadurch möglich geworden, dass er sich als Musiklehrer am Johanneum von

einem Substituten vertreten ließ. Er hatte wohl hauptsächlich deshalb den Ruf nach

Leipzig als Thomaskantor abgelehnt, weil ihm Hamburg vielfältige und gewinnbringen-

de Beschäftigungsperspektiven eröffnete, wo »außer den anwesenden vielen Standes-

Personen, auch die ersten Männer der Stadt, ja das ganze Raths-Collegium, sich den

öffentlichen Concerts nicht entziehen; item die vernünftigen Urtheile so vieler Kenner

und kluger Leute geben Gelegenheit darzu; nicht weniger die Opera, welche itzo im

höchsten Flor ist; und endlich der nervus rerum gerendarum, der hier bei den Liebha-

bern nicht fest angewachsen ist.«

Die Hamburger Oper, die mit Telemann eine letzte Blüte erlebte, hatte ihre feste Spiel-

stätte im Opernhaus am Gänsemarkt, das am 2. Januar 1678 mit dem biblischen Sing-

spiel Der erschaffene, gefallene und aufgerichtete Mensch eröffnet wurde. Die Oper am

Gänsemarkt war das erste deutsche Opernhaus überhaupt. Es musste allerdings bereits

1738 nach einem dramatischen Besucherrückgang geschlossen werden, der mögli-

cherweise mit falscher Repertoirewahl und schlechter Sängerbesetzung zusammen-

hing. Der Abriss des Gebäudes erfolgte schließlich 1757. Im 17. Jahrhundert jedoch

hatte die Oper am Gänsemarkt eine große Blüte erlebt. Das Unternehmen wurde von

Mäzenen und Diplomaten mit großen Geldsummen gefördert, die prachtvolle Inszenie-

rungen ermöglichten. Bis ins späte 17. Jahrhundert waren die Komponisten eher

zweitrangig. Der erste international bedeutende Komponist war Johann Sigismund

Kusser, der die Oper am Gänsemarkt 1694 und 1695 leitete. 1679 kam Reinhard Kei-

ser nach Hamburg, der bis 1738 mit einigen Unterbrechungen Hauptkomponist am

Gänsemarkt war und über 70 Opern für Hamburg schuf. Durch den guten Ruf der Insti-

tution angezogen, arbeiteten auch Georg Friedrich Händel und Christoph Graupner für

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die Oper am Gänsemarkt. Georg Philipp Telemann schließlich komponierte über 25 O-

pern, Serenaten und Intermezzi für das Haus.

Johann Mattheson wirkte seit 1696 zuerst als Sänger, dann aber auch als Komponist

am Gänsemarkt. Er ist vielleicht als die zentrale Persönlichkeit im Hamburger Musikle-

ben um 1700 anzusehen, denn er war ein hervorragender Komponist, dessen Werke

heutzutage allmählich wiederentdeckt werden, darüber hinaus Musikschriftsteller, Kriti-

ker und einer der bedeutendsten Theoretiker. Sein Buch Der vollkommene Capell- 

meister , Hamburg 1739, ist heute für das Verständnis der Barockmusik überhaupt eine

zentrale Quelle, und zwar gleichermaßen für Wissenschaftler, Musikliebhaber und In-

terpreten.

Bernhard Morbach 

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MORBACH LIVE – ALTE MUSIK

Mittwoch, 12. Juli 2006 18.0519.00 Uhr

 BAROCKE MUSIKMETROPOLEN 

12. Folge: Madrid 

Madrid ist eine für europäische Verhältnisse recht junge Metropole. In den Jahren 852

bis 886 wurde eine maurische Burg (alcázar) an der Stelle des heutigen Madrider Kö-

nigspalastes errichtet. Die umgebende Anlage wurde magerit genannt, und ab 939

Madschrít. 1038 wurde Madrid Teil des kastilischen Königtums. Die Stadt wurde 1109

durch den Almoraviden Jusuf erfolglos belagert. 1309 (oder bereits 1239) fand hier

die erste Zusammenkunft des Cortes de Castilla (Kastillischen Städteparlament) unterFernando IV. statt.

Mit der Verlegung der Corte (Parlament) im Jahr 1561 und der königlichen Residenz

nach Madrid durch Philipp II. im Jahr 1588 begann der Aufstieg der Stadt. Sie wurde

faktisch zur offiziellen Hauptstadt Spaniens, was sie – abgesehen von einer kleinen Un-

terbrechung von 1601 bis 1606 – bis zum heutigen Tag ist. Der Teil von Madrid, der

unter den Spanischen Habsburgern errichtet wurde, nennt sich bis heute »El Madrid delos Austrias« (Das Madrid der Österreicher). In dieser Zeit wurden die Puerta del Sol,

das Kloster Descalzas Reales, Palacio de Uceda, die Plaza de la Villa, das Schaustück

Habsburgischer Architektur die Plaza Mayor sowie die Kathedrale von San Isidor er-

baut.

Zwischen 1701 und 1713 fand der Spanische Erbfolgekrieg statt, 1706 folgte die eng-

lische und portugiesische Besetzung. Von 1808 bis 1813 war Madrid von den Franzo-sen besetzt, wobei Napoleons Bruder Joseph König wurde.

Unweit von Madrid befindet sich der Klosterpalast El Escorial. Nachdem Philipp II. von

Spanien am 10. August 1557, dem Gedenktag des heiligen Laurentius (span. San Lo-

renzo), in der Schlacht von SaintQuentin den französischen König Heinrich II. besiegt

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Barocke Musikmetropolen: Madrid Seite 2

hatte, schwor er, zu Ehren des Heiligen ein Kloster zu bauen. Seine Astrologen wählten

den kleinen kastilischen Ort El Escorial (deutsch: die Schlackenhalde) aus. Am 23. April

1563 begannen die Bauarbeiten, die bis zum 13. September 1584 dauerten. Entwor-

fen wurde El Escorial von Juan Bautista de Toledo, einem Schüler Michelangelos. Nach

dessen Tod 1567 übernahm Juan de Herrera die Nachfolge und wurde so zum eigentli-

chen Schöpfer der Klosterresidenz, von der aus Philipp II. als Gicht geplagter Schreib-

tischmonarch die halbe Welt regierte.

Die städtische Residenz der spanischen Herrscher war der Alcázar von Madrid, der

erstmals um 1350 von dem kastilischen König Pedro I. als Festung genutzt und nach

der Erhebung Madrids zu Hauptstadt von Philipp II. zu einem repräsentativen Königspa-

last umgebaut wurde. Ein verheerende Brand zerstörte das Schloss 1734 in seiner bau-

lichen Substanz, wodurch viele Kunstschätze – so auch Musikalien – unwiederbringlich

verloren gingen. Der Neubau wurde von dem ersten spanischen Bourbonen, Philip V.,

initiiert.

Bereits seit der Mitte des 16. Jahrhunderts standen zwei Kapellen im Dienst der spani-

schen Monarchie. Der »Capilla española« oblag mit Sängern und Instrumentalisten die

Gestaltung der kaiserlichen Kammermusik. Die größtenteils aus flämischen Sänger-

Komponisten bestehende »Capilla flamenca« war für die musikalische Zier der reprä-

sentativen Gottesdienste zuständig.

Was die spanische Musikgeschichte betrifft, so ist die Grenzziehung zwischen Renais-

sance und Barocke »um 1600« besonders problematisch, denn die geistliche Vokalpo-

lyphonie, die in der Renaissance in den Gattungen Messe und Motette zur Entfaltung

kam, blieb in Spanien im Bereich der Sakralmusik verpflichtende stilistische Richt-

schnur bis ins 18. Jahrhundert hinein. Die Einführung der Monodie, also des instru-

mental begleiteten Sologesangs in die Kirchenmusik fand in Spanien erst um 1650

statt – 50 Jahre später als in Italien! Allerdings war die spanischen Kirchenmusik (bzw.

die iberische insgesamt) nicht radikal reaktionär. Modernes zeigte sich seit 1600 etwa

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in der mehrchörigen Anlage von Messen und Motetten oder in einem deklamatorischen

Chorstil, in dem die Polyphonie lediglich zur Auflockerung einer akkordischen Grund-

faktur dient. Hinzu kommt die instrumentale »Unterfütterung« des Vokalklangs durch

einen Basso continuo.

Dieser Stil ist charakteristisch für die geistlichen Kompositionen von Matheo Romero.

Er wurde als Matthieu Rosmarin um 1575 in Lüttich geboren. Nachdem er offenbar

bereits in seiner Heimatstadt in Gesang und Komposition ausgebildet worden war, ver-

vollkommnte er seine Fähigkeiten in der »Capilla flamenca« am Madrider Königshof,

deren Leiter er 1599 wurde. Mit dem Ehrentitel »Maestro Capitán« bekleidete er die-

ses Amt bis 1634. Vizekapellmeister unter Romero war Joan Baptista Comes (um

1582–1643), ebenfalls ein Meister des mehrchörgen Sakralstils.

Die spanische Hofkapelle der Barockzeit (Capilla real) war aus der Verschmelzung der

Capilla española mit der Capille flamenca zu Beginn des 17. Jahrhunderts hervorge-

gangen. Das Ensemble bestand aus 30 bis 40 Sängern und Instrumentalisten, von de-

nen sich einige auch als Komponist einen Namen machten. Von den meisten Kapell-

meistern und komponierenden Kapellmitgliedern am Madrider Hof der Barockzeit (also

bis ca. 1750) könnte man nur die Namen nennen; ihre Musik ist – zumindest als

CDEinspielung – offenbar noch nicht wiederentdeckt. Zu den wenigen Ausnahmen ge-

hören die königlichen Musiker Juan Hidalgo und Sebastián Durón, die in der Geschichte

des spanischen Musiktheaters zur Zeit der Könige Philipp IV. und Karl II. eine zentrale

Rolle spielen.

Dass es in Spanien Musik auf dem Theater bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahr-

hunderts gegeben hat, weiß man im Grunde nur aus szenischen Anweisungen. Bei Cer-

vantes und Lope de Vega beispielsweise finden sich Hinweise auf unzählige Tänze,

Lieder, Intermedien und Auftritte von Musikanten und Sängern. Für den Schritt von

der Theatermusik zum Musiktheater ist das erste greifbare Datum das Jahr 1629, in

dem im königlichen Palast in Madrid das allegorische Pastoraldrama La selva sin amor,

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Der Wald ohne Liebe aufgeführt wurde. Bühnenbilder und Maschinerie wurden von ei-

nem Italiener hergestellt, der Text stammte von Lope de Vega, der Komponist ist un-

bekannt und die Musik verschollen. Dass sie aber eine bedeutende Rolle gespielt haben

muss, geht aus einer Anmerkung Lopes im Vorwort hervor, die besagt, dass die Verse

in diesem Werk »das Wenigste« seien: »cosa nueva en España«, »eine Neuheit in Spa-

nien.« Solche Bühnenwerke, »fiestas cantadas« (gesungene Festlichkeiten) genannt,

deuten im Spanien des 17. Jahrhunderts zumindest in Richtung Oper. Das nächste

wichtige Datum ist das Jahr 1648, denn in diesem Jahr wurde nicht in Madrid, sondern

im ZarzuelaPalast Calderóns E Jardin de la Falerina aufgeführt, ein Liederspiel natio-

nalen Charakters. Es erlangte solch große Bedeutung, dass die neue Gattung, die es

begründete, Zarzuela genannt wurde. 1657 tragen Calderóns El Gol o de Sirenas und

sein Laurel de Apolo erstmals diese Bezeichnung. Der Unterschied zwischen Oper und

Zarzuela lässt sich folgendermaßen umreißen: In der Oper wechseln arienhafter Ge-

sang und deklamierendes Rezitativ, in der Zarzuela folgen gesprochener Text und Ge-

sang aufeinander. Die musikalischen Formen orientieren sich am Villancico, am mehr-

stimmigen Lied in Spanien, dessen Melodik durch Einflüsse aus der Volksmusik ge-

kennzeichnet ist. Im theatralischen Bereich taucht für solche Sätze die Gattungsbe-

zeichnung »Tono humano« auf. Allerdings wurden diese Kompositionen auch außer-

halb der Zarzuela musiziert, so dass »Tono humano« in einem übergreifenden Sinne

die Bezeichnung der weltlichen Kantate in Spanien ist, die allerdings viel kleinere Di-

mensionen hat als ihr italienisches Gegenüber. Als bedeutendste Komponisten von

»Tonos humanos« wären Juan Hildalgo (1614–1685) und José Marín (1618–1699)

zu nennen. Ersterer war Harfenist in der königlichen Kapelle, letzterer im Hauptberuf

Beamter in der höfischen Administration. Wichtiger Bestandteil der Musik der Zarzuela

waren Tänze, die auch Gegenstand von gesonderten Sammlungen sind, etwa der Pub-

likation Luz y Norte musical , die von Lucas Ruiz de Ribayaz 1677 in Madrid zum Druck

befördert wurde.

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r Calderon verdanken wir zwei regelrecht Opernlibretti: La púrpu a de la rosa , im selben

Jahr im Buen Retiro aufgeführt, und Celos aún del aire matan , die älteste erhaltene

spanische Oper.

Das erste spanische Bühnenwerk, das ausdrücklich als Oper bezeichnet wurde, ist die

Opera escenica, deducida de la Guerra de los Gigantes  von Sebastián Durón. Durón

wurde 1666 in der Provinz Guadalajara geboren. 1679 wurde er Schüler des Organis-

ten Andrés de Sola in Zaragoza und erlangt 1680 durch eine Auswahlprüfung den

Posten eines zweiten Organisten an der Kathedrale. Als Organist wirkte er auch in El

Burgo de Osuna und Palencia. Allerdings gelang es ihm, sich auch als Komponist einen

Namen zu machen, derart, dass er im September 1691 die Ernennung zum Mitglied

der Königlichen Kapelle erhält: Karl II. ernennt ihn als Nachfolger von José Sanz zum

zweiten Organisten. Duróns Beziehungen zum König müssen eng und herzlich gewesen

sein, denn die Organistenstelle war nur der Beginn einer außerordentlichen Karriere

bei Hof, die ihn in eine Vertrauensstellung brachte, in der er die letzte Instanz prak-

tisch aller musikalischen Aktivitäten war, nicht nur der geistlichen sondern auch der

theatralischen. Obwohl Durón die Rückkehr Spaniens zu Österreich erhoffte, verlor er

auch nach der Machtübernahme durch die Bourbonen seine Ämter nicht. Erst als er im

Juni 1706 die Einnahme Madrids durch Erzherzog Karl mit der gesamten Kapelle fei-

erte, schickt ihn der im Oktober zurückgekehrte Philipp von Anjou ins Exil. Duróns ü-

beraus reiches Werk besteht neben seinen musiktheatralischen Kompositionen aus

einer dreichörigen Totenmesse mit Orchester, Totenlektionen, Litaneien, Vespermusi-

ken, Orgelwerken, halbgeistlichen Villancicos, »Tonos humanos« und Kammerkantaten

im Stil Alessandro Scarlattis besteht.

Nach 1700 wurde in Madrid die Tradition der spanischen Oper besonders durch die

Werke von Juan de Nebra fortgeführt. Der spanischen war jedoch durch die italieni-

sche Oper daselbst eine Konkurrenz erwachsen. Kompositionen von Galuppi, Jomelli,

Pergolesi und anderen kamen hauptsächlich im Theater Los Caños el Peral zur Auffüh-

rung. Was das typisch spanische Theater betrifft, so war im 18. Jahrhundert ein be-

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Barocke Musikmetropolen: Madrid Seite 6

sonderes Genre der Zarzuela populär geworden, die »Tonadilla excénia«. Thematisch

geht es in den Stücken, in denen das gesprochene Wort in der Regel dominiert, um das

Zusammenleben zwischen einfachem Volk und der Aristokratie in einer Metropole wie

Madrid. Bedeutendster Repräsentant der »Tonadilla« ist Antonio Ridríguez de Hita

(1724–1787).

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Was schließlich die Instrumentalmusik betrifft, so ist das barocke Madrid die Wirkungs-

stätte von solch prominenten italienischen Komponisten wie Luigi Boccherini (1743–

1805) und Domenico Scarlatti (1685–1757). Ersterer stand viele Jahre im Dienst des

Prinzen Don Luis de Borbón, dem Bruder König Karl III. Stilistisch weist seine Musik

allerdings schon über barocke Idiomatik heraus. Scarlatti war mehr als 25 Jahre am

spanischen Hof Lehrer und Kammermusiker der Königin Bárbara de Braganza. In Mad-

rid hat er die meisten seiner über 500 Sonaten komponiert. Dabei verschmolz er ita-

lienische Elemente mit der alten iberischen Traditionen der Musik für Tasteninstru-

mente. In die ganz substanziell die einheimischen barocken Komponisten von Tasten-

musik, Sebastián Albero (1722–1756) und Padre Antonio Soler (1729–1783), einge-

bunden sind. Nach einer Tätigkeit als Kapellmeister an der Kathedrale von Lérida trat

Soler 1752 als Hieronymit in das Kloster El Escorial ein, wo er als Organist und Chor-

leiter arbeitete und möglicherweise Unterricht von Domenico Scarlatti erhielt. Den ein-

sätzigen italienischiberischen Sonatentypus erweiterte er zu einer mehrsätzigen Form.

Bernhard Morbach 

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MORBACH LIVE – ALTE MUSIK

Mittwoch, 6. September 2006

18.05-19.00 Uhr

 BAROCKE MUSIKMETROPOLEN

13. Folge: Bologna

Bologna, die Hauptstadt der norditalienischen Region Emilia-Romagna, welche auf die

etruskische Stadt Felsina zurückgeht, wurde 189 v. Chr. als Bononia eine römische Mili-

tärkolonie und gehörte seit dem 6. Jahrhundert zu dem byzantinischen Exarchat Ra-

venna. Im 15. Jahrhundert wurde Bologna dem Kirchenstaat unterstellt. Allerdings war

die Macht der päpstlichen Gesandten von Anfang an durch einen Senat eingeschränkt,

der von adligen Familien der Stadt gestellt wurde. Den in der Stadtverwaltung vertrete-

nen Familien gelang es nahezu 300 Jahrhunderte lang, die untergeordneten Bevölke-

rungsschichten zu beherrschen.

Bologna entwickelte sich unter diesem Herrschaftssystem zu einem bedeutenden geis-

tigen und geistlichen Zentrum in Italien. Die bereits im 11. Jahrhundert gegründete

Universität galt in ganz Europa als Zentrum der Jurisprudenz. Bischofssitz Bolognas

wurde die Kathedrale San Pietro. Um 1700 gab es etwa 150 Kirchen in der Stadt, von

denen viele natürlich Kapellen zur Pflege der liturgischen Musik unterhielten. Aber das

wirkliche geistliche Zentrum der Stadt war die dem Schutzpatron Bolognas geweihte

Basilika S. Petronio aus dem 15. Jahrhundert. Planung, Entwurf und Bau unterlagen

alle der Signoria, der städtischen Regierung, so auch die Einrichtung und Unterhaltung

der kirchenmusikalischen Institution der Basilika, der Capella musicale di S. Petronio.

Gegründet 1436, bestand sie fast fünf Jahrhunderte und war die prominenteste Insti-

tution der Musikpflege in Bologna überhaupt. Bereits im späten 16. Jahrhundert ist

neben dem Sängerensemble eine stattliche Anzahl von Instrumentalisten an S. Petro-

nio nachweisbar. Zinkenisten, Posaunisten und Violinisten wirkten bei der Kirchenmusik

mit.

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Das sakrale »Klanggeschehen« wurde seit dem 16. Jahrhundert wesentlich von Orgeln

mitgeprägt, die hinter dem Hauptaltar im Chor einander gegenüber aufgestellt worden

waren und heute noch nahezu im Originalzustand erhalten sind. Die erste wurde von

1470 bis 1475 gebaut, die zweite 1596 fertig gestellt. Bereits seit 1558 ist in S.

Petronio die Aufführung mehrchöriger Sakralmusik nachgewiesen, die mit der neuen

Orgel nunmehr besondere, stationäre Klangfundamente erhielt.

Eine weitere bedeutende Stätte des städtischen Musiklebens war bereits seit dem 13.

Jahrhundert der Palazzo di Comune, ganz in der Nähe von San Petronio gelegen. Er

war die Wirkungsstätte des städtischen Instrumentalensembles, des Concerto Palatino

di Bologna. Um 1550 ist ein stattliches Ensemble von 19 Musikern nachweisbar. Die

Besetzung mit acht Trompeten, vier Zinken, vier Posaunen, einer Harfe, einer Laute und

Schlaginstrumenten blieb fast zwei Jahrhunderte unverändert. Die Aufgaben dieses

frühen »städtischen Orchesters«, das auch an der Gestaltung der Kirchenmusik in S.

Petronio teilhatte, wurden in einer Verordnung des Jahres 1556 folgendermaßen fest-

gelegt: »Die Zinken und Posaunen haben jeden Morgen und Abend auf dem Balkon und

nicht auf der Galerie [des Palazzo di Comune] zu spielen und müssen in dem üblichen

Raum üben. Sie müssen an den Hauptfesttagen während der Messe spielen, und wenn

die Signoria [der Stadtrat] die Kirche verlässt, müssen sie, nachdem die Trompeten ge-

endet haben, eine ganze Motette spielen. Sie haben die Herren beim Herausgehen zu

begleiten und müssen, bei deren Rückkehr in den Palast, auf der ersten Stufe des Aus-

gangs der Riformationi  spielen, wenn keine Legaten oder Vizelegaten anwesend sind,

und, wenn dies doch der Fall ist, ganz oben auf der Treppe, wobei sie schließlich den

edlen Herrn bei der Rückkehr in seine Gemächer begleiten müssen. Harfenisten und

Lautenisten müssen morgens, wenn die Herren frühstücken, und während des Abend-

mahls spielen, und zwar ab Ostersonntag bis einschließlich zum Fest San Petronio, und

sie müssen auch während der Prozession spielen.« (zit. nach dem Beiheft der CD »Il

Converto Palatino de Bologna«, Accent 1989)

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Seit dem 16. Jahrhundert boten in Bologna die Kapelle von S. Petronio, das städtische

Ensemble des Palazzo und die Kapellen der größeren städtischen Kirchen und Klöster

vielen beruflichen Musikern eine Beschäftigungsperspektive. Bedeutende musikalische

Zentren waren besonders die Nonnenklöster der Stadt. Jahrhunderte lang gab es in

keiner anderen italienischen Stadt ein öffentliches Musikleben von einer vergleichbaren

Größe und Qualität.

Darüber hinaus gab es seit dem späten Mittelalter private literarisch-musikalische Aka-

demien in Bologna, die Amateurmusikern private und öffentliche Auftrittsmöglichkeiten

boten. Dieser Aspekt des städtischen Musiklebens nahm im 17. Jahrhundert dadurch

an Bedeutung zu, dass professionelle Musiker nunmehr Mitglieder der Akademien wer-

den konnten. Giovanni Giaccobbi etwa, von 1604 bis 1630 Kapellmeister an San

Petronio, war Mitglied der »Accademia dei Gelati«, in der sich gelehrte Patrizier neben

der Musik der Literatur und dem Theater widmeten. Die erste Akademie in Bologna, die

sich allein der Musik zuwandte, war die 1615 von Adriano Banchieri (1568–1634) ge-

gründete »Accademia dei Floridi«. Die Treffen fanden im Olivetanerkonvent S. Michele

in Bosco in der Nähe von Bologna statt. Dort war Banchieri Mönch und Organist. Als

Komponist hinterließ er ein bedeutendes Œuvre mit Beiträgen zu allen Gattungen der

musikalischen Komposition seiner Zeit. Zu seinen wichtigsten Leistungen gehört die

Übertragung des instrumental begleiteten Sologesangs in den Bereich der geistlichen

Musik. Besonders bekannt sind heute seine Beiträge zur Gattung der Madrigalkomödie

(La Barca di Venezia per Padova , 1605).

Die Mitglieder der Signoria Bolognas organisierten mithilfe der Akademien prunkvolle

Feste mit Musikdarbietungen in den Palästen der prominentesten Adligen. Giacobbi

komponierte Intermedien, bei den es sich gewissermaßen um selbständige »Miniatur-

opern« handelt, die zwischen den Akten eines Schauspiels aufgeführt wurden. Und

1610 wurde in Bologna während des Karnevals im Teatro del Publico erstmals eine O-

per in Bologna aufgeführt. Zwar entstanden im Laufe des 17. Jahrhundert mehrere öffentliche The-

ater in Bologna, aber die prominentesten Aufführungsorte von Opern waren die Privatpaläste von Adligen.

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Das Zentrum des Musiklebens Bolognas war während der ganzen Barockzeit jedoch S.

Petronio. Eine besondere Blüte erlebte die Kapelle der Basilika unter der Leitung von

Maurizzio Cazzati (um 1620–1677), der das Kapellmeisteramt 1657 übernahm und

eine Reorganisation der Kirchenmusik an S. Petronio durchführte. Er formierte eine

Kapelle, die aus 22 Vokalisten und 15 Instrumentalisten bestand, darunter ein voll-

ständiges Streichensemble mit Instrumenten in allen Stimmlagen. Besonders beein-

druckt waren die Zeitgenossen von Cazzatis musikalischer Gestaltung der jährlichen

Feier von S. Petronio am 4. Oktober, die das Ansehen Bolognas insgesamt förderte, ins-

besondere der musikalischen Vereinigungen und des Adels, der letztlich Träger der

städtischen Musikkultur war. Aber der Erfolg Cazzatis rief in professionellen Musiker-

kreisen Bolognas Neider auf die Bühne. Es kam zu erbitterten Auseinandersetzungen,

die schließlich dazu führten, dass Cazzati 1661 entlassen wurde. Danach griffen im Be-

reich der Kirchenmusik an S. Petronio erst einmal drakonische Sparmaßnahmen, was

sogar dazu führte, dass die Kapelle 1696 aufgelöst wurde. Fünf Jahre später kam es

allerdings zu einer Neugründung.

Unter der Leitung von Giovanni Paolo Colonna (1637–1695), der 1674 das Kapell-

meisteramt übernahm, nachdem er bereits 1659 als Organist an S. Petronio angestellt

worden war, kam es zu einer neuerlichen Blütezeit der Kirchenmusik an der städtischen

Basilika. Diese betraf nun aber an erster Stelle die Instrumentalmusik. Aus heutiger

Perspektive mag das überraschen, denn mit dem Begriff »Geistliche Musik« verbindet

man in der Regel – gewissermaßen notwendigerweise – Vokales. Aber auch Instrumen-

talmusik wurde besonders in Italien seit dem späten 16. Jahrhundert zur Zierde festli-

cher Liturgien eingesetzt, und zwar vor allem instrumentale Ensemblemusik. Um 1600

war San Marco in Venedig die prominenteste Pflegestätte solcher Musik. In Messe und

Vesper erklangen im Wechsel mit vokalen Sätzen, bei denen die Mitwirkung von In-

strumenten aber nicht ausgeschlossen war, Sonaten und Canzonen. Ein Jahrhundert

später wurde S. Petronio in Bologna die wichtigste Pflegestätte der »geistlichen In-

strumentalmusik«.

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Der bedeutendste Komponist in diesem Bereich war ohne Zweifel Giuseppe Torelli

(1658–1709), der 1686 als Violaspieler an S. Petronio angestellt wurde. Nachdem er

eine zeitlang in Wien und Ansbach (daselbst als Kapellmeister) gewirkt hatte, kehrte er

1701 nach Bologna zurück, wo er Violinist an S. Petronio wurde, und zwar unter der

Leitung von Giacomo Antonio Perti (1661–1756), der 1696 in der Nachfolge von Co-

lonna Kapellmeister geworden war. Von Torelli ist ein umfangreiches instrumentales

Œuvre überliefert, wobei der größte Teil noch in den Archiven von S. Petronio seiner

Wiederentdeckung harrt. Torelli gilt als der Schöpfer der beiden Typen des Solokon-

zerts für Violine und Trompete. Beide Gattungen haben damit ihren Ursprung in der

Kirchenmusik an S. Petronio, fanden jedoch rasch ihren Weg in die außerkirchliche

Sphäre und ihre eigentliche musikgeschichtliche Entfaltung im Bereich der Kammer-

musik. Weitere bedeutende Instrumentalisten und Komponisten an San Petronio in der

zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts waren Giovanni Battista Vitali, Giuseppe Iacchini

und Domenico Gabrielli. Letzterer komponierte erstmals Musik für Violoncello solo.

Natürlich war die Instrumentalmusik nur »sekundäre Zier« der Liturgien an San Petro-

nio. Klanglich voluminös komponierte Messen und Vesperpsalmen entstanden im spä-

ten 17. Jahrhundert in großer Zahl, wobei hier die beiden Kapellmeister Colonna und

Perti die bedeutendsten Kompositionen geliefert haben. Beide haben auch als Orato-

rienkomponisten hervorragendes geleistet; die entsprechenden Werke harren noch ih-

rer Wiederentdeckung. Während der äußerst langen Kapellmeisterschaft von Perti er-

lebte die Kirchenmusik an S. Petronio bisweilen eine geradezu voluminöse Klanggestalt.

Denn an den großen kirchlichen Festtagen konnte das aus etwa 30 Mitgliedern beste-

hende Stammensemble der Kapelle auf über 100 Mitwirkende vergrößert werde. Im

europäischen Vergleich ereignete sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die

größtmögliche kirchenmusikalische Prachtentfaltung in der städtischen Basilika von S.

Petronio. Das Repräsentationsbedürfnis des hohen Adels Bolognas übertraf in dieser

Hinsicht sämtliche europäischen Fürstenhöfe. Auch am kaiserlichen Hof in Wien und am

französischen Königshof hatte man dem nichts entgegen zu setzen.

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Wohl in erster Linie von Musikern an S. Petronio war bereits 1666 die bedeutendste

und geschichtsträchtige Akademie gegründet worden, die »Accademia dei Filarmonici«.

Ihre Mitgliedschaft spaltete sich in die Kategorien Komponisten, Sänger und Instrumen-

talisten auf. Zweimal in der Woche fanden abendlich die »esercizi« der Komponisten,

einmal die »conferenze« der übrigen Mitgleider statt. Jeden Monat fand eine öffentli-

che Veranstaltung statt. Die »Accdemia dei Filarmonici« gewann rasch die musikalische

Vormachtstellung im außerkirchlichen Musikleben Bolognas und ein hohes Ansehen

weit über die Stadt hinaus. 1721 hatte sie 300 Mitglieder. Der berühmteste Leiter der

»Accademia« im 18. Jahrhundert war gewiss Padre Giambattista Martini (1706–1784),

der 1725 das Kapellmeisteramt an San Francesco in Bologna übernommen hatte und

1729 zum Priester geweiht worden war. Ohne seine Leistungen als Komponist gering

schätzen zu wollen, war er im damaligen Europa aufgrund seiner umfassenden Bildung

höchste Autorität in Fragen der Musiktheorie, was seine Korrespondenz mit den bedeu-

tendsten Komponisten seiner Zeit eindrücklich belegt. An erster Stelle ist natürlich

Wolfgang Amadeus Mozart zu nennen, der selbst Mitglied der »Accdemia dei Filarmoni-

ci« in Bologna war. Bereits 1749 hatte der aus Bologna stammende Papst Benedikt XIV.

ihr das alleinige Recht erteilt, Musiker dazu zu befähigen, an den Kirchen der Stadt ein

Amt zu übernehmen.

Was schließlich die Oper im Bologna des 18. Jahrhunderts betrifft, so befanden sich die

beiden größten Theater im Besitz von Adligen. Nachdem diese beiden Häuser durch

Brand und Verfall um 1750 nicht mehr bespielbar waren, unterbreiteten Bürger und

Adlige der städtischen Administration ein Gesuch, das sich auf die Errichtung eines

neuen Theaters unter Beteiligung der städtischen Gemeinschaft richtete. Das Teatro

Comunlae wurde 1757 fertig gestellt, hatte aber – was die Aufführung von Opern be-

trifft – von Anfang an mit großen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen, so dass es

hauptsächlich für das Sprechtheater und öffentliche Unterhaltung genutzt wurde.

Bernhard Morbach 

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MORBACH LIVE – ALTE MUSIK

Mittwoch, 20. September 2006

18.05 - 19.00 Uhr

 BAROCKE MUSIKMETROPOLEN 

14. Folge: Leipzig 

Seit dem Mittelalter – Leipzig erhielt im späten 12. Jahrhundert das Stadtrecht – war

das Thomasstift das geistliche Zentrum der Stadt. In der Mitte des 13. Jahrhunderts

wurde parallel zur Ausbildungsstätte der Novizen eine Schule für die Kinder von Bür-

gern gegründet. Die Mitwirkung von Schülern bei der musikalischen Gestaltung der

Gottesdienste an St. Thomas ist seit dem späten 14. Jahrhundert nachgewiesen. Das

Amt des Kantors wurde im frühen 15. Jahrhundert eingerichtet. In dieser Zeit hatte

der Konvent des Thomasstifts verfügt, dass an den Sonn- und Festtagen alle nicht in

St. Thomas benötigten Schüler bei der Kirchenmusik an der Parochialkirche St. Nikolai

zum Einsatz kommen sollten. Zu diesem Zweck wurde eine zweite, kleinere Kantorei

eingerichtet. Bis zur Reformation diente St. Nikolai der im Jahr 1409 gegründeten Uni-

versität als Gotteshaus und Aula.

Nachdem Herzog Heinrich der Fromme offiziell die Reformation im Herzogtum Sachsen

eingeführt hatte, wurden in Leipzig alle Pfarrer und Lehrer – und somit auch die Tho-

mas-Schule – dem Rat der Stadt unterstellt. Die Verpflichtung der Thomaner und ihres

Kantors zur Gestaltung der Kirchenmusik an der Nikolaikirche wurde in einem Dekret

des Jahres 1549 bestätigt. Seit der Reformation ist die Genealogie der Thomaskanto-

ren, die gleichzeitig auch das Amt des städtischen Musikdirektors innehatten und auch

das Musikwesen der Universität zu organisieren hatten, nahezu lückenlos zu rekon-

struieren. Wenn man die Grenzziehung zwischen den Epochen Renaissance und Barock

mit vollzieht, so stellt sie sich für unseren Zeitraum folgendermaßen dar:

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Thomaskantor Amtszeit 

Sethus Calvisius (*1556) 1594–1615

Johann Hermann Schein (*1586) 1615–1630

Tobias Michael (*1592) 1631–1657

Sebastian Knüpfer (*1633) 1657–1676

Johann Schelle (*1648) 1677–1701

Johann Kuhnau (*1660) 1701–1722

Johann Sebastian Bach (*1685) 1723–1750

Seit dem frühen 17. Jahrhundert traten die musikalischen Aufgaben des Thomaskan-

tors stärker in den Vordergrund. Seine außermusikalische Unterrichtsverpflichtung

wurde eingeschränkt. Stattdessen musste er besonders begabte Schüler durch geson-

derte, private Unterrichtsstunden fördern.

Exkurs: Rats-, Universitätsmusik und Oper 

Die Ursprünge des städtischen Musiklebens Leipzigs liegen in den musikalischen Ver-

pflichtungen des Stadthirten und der Wächter auf den Türmen der Nikolai- und Tho-

maskirche, sowie im Pfeifer- und Trommlerpaar, das dem Bürgerrat unterstand. Seit der

zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts unterhielt die städtische Administration eine »ge-

regelte Ratsmusik«, die aus vier Stadtpfeifern bestand. Sie waren bei städtischen Fest-

lichkeiten sowie bei Hochzeiten und Gastmählern zur musikalischen Aufwartung und

seit 1599 zum täglichen Abblasen vom Rathausturm verpflichtet. Bereits 1587 hatten

sich die Stadtpfeifer mit dem Pfeifer- und Trommlerpaar zu einer Innung zusammen-

geschlossen. Eine Konkurrenz erhielt diese Vereinigung gegen Ende des 16. Jahrhun-

derts durch zwei Streichergruppen, die sich aus den zahlreichen »Bierfiedlern« der

Stadt herausgebildet hatten. Seit etwa 1600 wurden Stadtpfeifer und »Kunstgeiger«

neben dem Thomanerchor auch in der Kirchenmusik an St. Thomas und St. Nikolai ein-

gesetzt. Darüber hinaus waren sie bei Festen der Universität und in Bürgerhäusern zu

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hören. Während der Amtszeit der Kantoren Knüpfer, Schelle und Kuhnau erlebte die

Stadtpfeiferkunst in Leipzig und im ganzen mitteldeutschen Raum ihren Höhepunkt in

den Sonaten und Suiten von Johann Christoph Pezel (1639–1694). Er war zuerst

Kunstgeiger und dann Stadtpfeifer, was auch für Gottfried Reiche (1667–1734) zu-

trifft, der sich als Instrumentalist besonders als Spieler der barocken Naturtrompete

(Clarinbläser) einen Namen machte.

Wie an allen Universitäten Europas so war auch in Leipzig die Musik, um genauer zu

sein: die philosophisch ausgerichtete Disziplin der »Ars musica«, Lehrgegenstand an

der Artistenfakultät. Allerdings war die Leipziger Universität seit alters auch eine Stätte

der praktischen Musikausübung, wobei hier zwei Aspekte wichtig sind: Auf der einen

Seite wurden die Gottesdienste der Universität (in St. Nikolai) mit figuraler (mehrstim-

miger) Musik geziert, deren Ausführung Mitgliedern des Thomanerchores und seit dem

späten 16. Jahrhundert auch musikalisch ausgebildeten Studenten oblag. Auf der an-

deren Seite war seit dem 15. Jahrhundert das Musizieren in studentischen Kreisen

sehr beliebt. Immer wieder sah sich der Rat der Stadt gezwungen, das Singen von un-

anständigen Liedern sowie das nächtliche Musizieren von Studenten, welches offenbar

besonders laut und mit heftiger, nichtmusikalischer Geräuschbildung verbunden war,

nach Bürgerprotesten zu verbieten. Einschlägiges Liedgut war die <i>Singende Muse an 

der Pleiße </i>, die 1736 von dem Juristen Johann Sigismund Scholze (alias Sperontes)

herausgegeben wurde. Die »2 mahl 50 Oden« können als ein Reflex studentischen Mu-

sizierens gewertet werden, da Sperontes selbst in Leipzig studiert hatte! Sperontes be-

nutzte beliebte Lied- und Instrumentalmelodien, um sie mit eignen Texten zu unterle-

gen. Ein Auszug aus einem Liedtext mag den Ungeist (bzw. den Geist) der Dichtung von

Sperontes erhellen, wobei sich die wirkliche Bedeutung das altschlesisch-sächsischen

»kürmeln« von selbst erschließt; die offizielle Übersetzung lautet »gurren, zärtlich

sein«:

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»Es kürmelt, was da lebt,

In Dörfen, Städt’ und Feldern,

In Gärten, Tal und Wäldern,

was in den Lüften schwebt.

Es kürmelt, was da lebt.

Die Kietze liebt den Kater,

Die Mutter schläft beim Vater,

Und ziert, und tändelt sich:

Ist das nicht wunderlich?

Man kürmelt um die Wette,

Bis man vom Tisch zu Bette

Sich endlich gar erhebt.

Es kürmelt, was da lebt!«

(Quelle: Beiheft der CD »Sperontes. Unerhörte Lieder«, RAM Musikproduktion GmbH,

MDR, 2005)

Den bedeutendsten Beitrag, den die Studenten zur Musikkultur Leipzigs geleistet ha-

ben, ist die Institution des Collegium musicum. Seit 1657 stand eines unter der Leitung

des Nikolaiorganisten Adam Krieger, 1673 ein weiteres zuerst unter Johann Pezel,

dann unter Johann Kuhnau. Zwei weitere wurden nach 1700 gegründet, das erste

1702 von Georg Philipp Telemann (1681–1767), der seit 1702 als Jurastudent in

Leipzig immatrikuliert war und 1704 Organist an der Neukirche wurde, das zweite um

1708 von Johann Friedrich Fasch, der 1701 als Alumnus der Thomasschule nachweis-

bar ist. Beide Collegia trafen sich ein- bis zweimal pro Woche. Im Winter musizierte man

in einem Kaffeehaus, während des Sommers in den Kaffeegärten, wobei in erster Linie

Instrumentalmusik zur Aufführung kam. Bei festlichen Huldigungen und Serenaden

kamen auch Kantaten zur Aufführung. Von 1729 bis 1737 und wieder von 1739 an

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Barocke Musikmetropolen: Leipzig Seite 5

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leitete Johann Sebastian Bach das nach dem Neukirchenorganisten G. B. Schott be-

nannte »Schottische Collegium musicum«, die angesehenste Institution dieser Art. Man

musizierte im Zimmermannschen Coffé-Haus bzw. im Zimmermannischen Garten. Die

Besitzer der Kaffeehäuser trugen die Kosten der Zusammenkünfte und waren deshalb

die ersten Konzertveranstalter Leipzigs. 1743 aber erhielten die Collegia musica eine

massive Konkurrenz in einem von der Kaufmannschaft gegründeten Konzertunterneh-

men. Seit 1744 fanden die Konzerte im Saal des Gasthofs »Zu den drei Schwanen«

statt. Nicht zuletzt dadurch, dass dieses Unternehmen die besten studentischen Musi-

ker an sich band, war der Niedergang der Collegia musica nicht mehr aufzuhalten.

Die Musiker des Telemannschen Collegium musicum wurden auch in der Leipziger Oper

eingesetzt. Nachdem schon vorher studentische Musiker und reisende Theatergesell-

schaften Opern in Leipzig aufgeführt hatten, wurde 1693 das am Brühl erbaute

Opernhaus eröffnet. Leiter »der ersten Stunde« war der Dresdner Vizehofkapellmeister

Nicolaus Adam Strunck. Telemann übernahm 1702 die Leitung und gilt mit über 20

Werken als der Hauptkomponist der Leipziger Oper. Nach ihm leitete der jeweilige Neu-

kirchen-Organist die Opernaufführungen. 1720 wurde der Spielbetrieb am ersten Leip-

ziger Opernhaus wegen finanzieller Schwierigkeiten und Baufälligkeit des Gebäudes

eingestellt. Opern wurden aber auch weiterhin – besonders während der Messen – auf-

geführt. 1744 wurde ein neues Theater im Reithaus am Rannischen Tor eröffnet und

vor allem zur Spielstätte von italienischen Operntruppen, die die Leipziger mit der

Kunst der Kastraten und Primadonnen beeindruckten.

Während des dreißigjährigen Krieges war das städtische Leben Leipzigs in jeder Hin-

sicht stark beeinträchtigt. Wegen der geringen Anzahl von Schülern und Alumnen sah

Thomaskantor Schein die Kirchenmusik in Leipzig insgesamt als gefährdet an. Aber

nach 1648 kam es zu einem großen Aufschwung der städtischen Musikkultur insge-

samt, an dem neben der Kirchenmusik auch die Rats- und Universitätsmusik teilhatte.

Die Aufgaben der Thomasschule und ihres Kantors nahmen 1699 erheblich zu, als die

frühere Franziskanerkirche (nunmehr Neukirche) und die Peterskirche als weitere

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Stadtkirchen eingerichtet wurden. Der Thomanerchor war nunmehr in vier »Sonntags-

kantoreien« aufgeteilt. Mittlerweile erhielten ältere Schüler auch Unterricht im Spiel

von Instrumenten. Damit unterstützten sie die Ratsmusiker im instrumentalen Bereich

der Kirchenmusik; die Thomasschule war damit eine konservatoriumsähnliche Instituti-

on geworden. Kantaten erklangen sonntags abwechselnd in St. Thomas und St. Nikolai,

teilweise auch unter Mitwirkung von studentischen Musikern. Zur größten musikali-

schen Prachtentfaltung kam es bei der jährlichen Ratswahl-Feier in St. Nikolai, bei den

Gottesdiensten am Reformationstag, sowie an Gedenkfesten und den Feiern anlässlich

bedeutender politischer Ereignisse.

Das Amt des Nikolaiorganisten hatte von 1651 an ein bedeutender Komponist inne, der

das Musikleben Leipzig maßgeblich prägte und zeitweise auch als Vertreter des altern-

den Thomaskantors Tobias Michael wirkte, mit dem er befreundet war, nämlich Johann

Rosenmüller (1619–1684). Rosenmüller, im vogtländischen Ölsnitz geboren, seit 1640

an der Leipziger Universität eingeschrieben und bereits seit 1642 »Collaborator« an

der Thomasschule, war vom Rat Leipzigs sogar als Nachfolger Michaels vorgesehen,

musste aber 1655 unter dem Verdacht der Päderastie aus Leipzig fliehen. Über Ham-

burg gelangte er schließlich nach Venedig, wo er zunächst als Posaunist an der Kapelle

von San Marco wirkte. In den 60er und 70er Jahren genoss er als Komponist eine her-

ausragende Stellung im Musikleben Venedigs, wobei sich sein Ruhm weit über die

Grenzen der Lagunenstadt verbreitete. Im europäischen Vergleich ist seine Musikspra-

che durch eine Einzigartigkeit gekennzeichnet, die substanziell mit Rosenmüllers Bio-

grafie verknüpft ist. Seine groß angelegten, vielstimmigen sakralen Kompositionen –

besonders beeindruckend ist ein zehnstimmiger Gloria-Satz von etwa 15 Minuten Län-

ge – zeigt besonders im vokalen Bereich die gediegene kontrapunktische Kunst der

deutschen Kantorentradition, wobei Rosenmüller auf eine kantable Gestaltung aller

Stimmen im polyphonen Gefüge achtet. Andererseits ist die Musik durchdrungen von

farbiger, virtuoser Gestik und von einer Expressivität, die ganz und gar italienischen

Ursprungs ist und vornehmlich auf die avantgardistische Instrumentalmusik und die

Oper verweist. 1682 kehrte Rosenmüller nach Deutschland zurück, und zwar nach Wol-

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fenbüttel, um im Auftrag von Herzog Anton Ulrich die Hofkapelle neu aufzubauen. Ro-

senmüller starb daselbst bereits im September 1684.

In Leipzig begann unter dem Thomaskantor Sebastian Knüpfer die glanzvollste Periode

der Leipziger Kirchenmusik nach dem Dreißigjährigen Krieg. Sein Nachfolger Johann

Schelle führte die Evangelienkantate in Leipzig ein, deren Texte exegetisch Bezug auf

das jeweilige Sonn- oder Feiertagsevangelium nehmen und in der Regel in zwei Teilen

die gesprochene Predigt des Pfarrers umrahmten. Unter Schelles Nachfolger Kuhnau

verlagerte sich der Schwerpunkt der Kirchenmusik in Leipzig von den Hauptkirchen St.

Thomas und St. Nikolai auf die Neukirche. Mit Sorge musste Kuhnau feststellen, dass

die besten studentischen Musiker durch Oper und Neukirche gebunden waren. Auch

das Interesse von Rat und Bürgerschaft schien sich vornehmlich auf letztere Institution

zu richten. Seit 1704 etablierte dort Telemann mithilfe seines Collegium musicum eine

eigenständige Kirchenmusik. Bezeichnenderweise wurde dort auch (1717) die erste

oratorische Passion in Leipzig aufgeführt; vielleicht war es die Brockes-Passion von Te-

lemann. 1721 erklang dann in der Thomaskirche im Karfreitags-Vespergottesdienst mit

der Markus-Passion von Kuhnau erstmals eine solche Komposition.

Johann Sebastian Bachs Wirken an der Thomaskirche und als städtischer Musikdirektor

gestaltete sich von Anfang an mit vielen Problemen beladen. Diese betrafen zuerst

einmal seinen Kampf um das Amt des Universitätsmusikdirektors, den er schließlich

aufgab. Es folgten Auseinandersetzungen mit dem Rat der Stadt und dem Rektor der

Thomasschule. Bachs höchste Sorge galt Erhaltung und Verbesserung von Chor und

Instrumentalensemble der Thomaskirche, welcher er in der Eingabe Kurtzer, iedoch 

höchsthnöthiger Entwurtff einer wohlbestallten Kirchen Music  vom 23. August 1730

höchst eindrucksvoll Ausdruck gab. »All diese Kämpfe und Schwierigkeiten zeigen, wie

fragwürdig die Stellung der protestantisch-lutherischen Kirchenmusik mit ihren überlie-

ferten Formen und Ordnungen in der Zeit des Pietismus und der beginnenden Aufklä-

rung (Johann Christoph Gottsched war 1724 an die Universität gekommen) geworden

war. Die ersten Leipziger Jahre Bachs waren hinsichtlich seines Kirchenmusik-Schaffens

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die produktivsten. Zwischen 1723 und 1727 komponierte er unter gelegentlichem

Rückgriff auf Werke der Weimarer Zeit drei Kantatenjahrgänge, den letzten unter Ein-

beziehung von Kantaten seines Vetters Johann Ludwig Bach. Dieser Periode gehören

auch die Johannes- und Matthäus-Passion an.«

(Peter Krause im Artikel Leipzig der neuen MGG, Sachteil, Band …, Sp. 1057)

Nebenbei bemerkt: Als Thomaskantor war Johann Sebastian Bach eigentlich nur die

vierte Wahl. Vor ihm hätten Georg Philipp Telemann, Johann Friedrich Fasch und Jo-

hann Christoph Graupner die Gelegenheit gehabt, dieses Amt zu übernehmen. Der Rat

der Stadt wusste die Qualität von Komponisten wohl einzuschätzen. Für uns ist dies ein

Grund, dem Schaffen der drei Konkurrenten mit der angemessenen Aufmerksamkeit zu

begegnen und es nicht – wie allgemein üblich – dem von Bach in der Wertigkeit unre-

flektiert unterzuordnen. Erfreulicherweise ist die Renaissance von Telemann, Fasch und

Graupner in vollem Gange und auch den Vorgängern Bachs im Thomaskantorat wird

zunehmend von den Interpreten Beachtung geschenkt, sodass man sich mittlerweile

auch als Musikhörer ein geschlossenes und differenziertes Bild von der barocken Mu-

sikgeschichte Leipzigs machen kann.

Bernhard Morbach 

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MORBACH LIVE – ALTE MUSIK

Mittwoch, 25. Oktober 2006 18.05 Uhr

 BAROCKE MUSIKMETROPOLEN 

15. Folge: Rom 

Im Herbst 1997 wurde im Zuge der Vorbereitungen des Vatikans auf das Heilige Jahr

2000 mit der Restaurierung der Sängerkanzel in der Sixtinischen Kapelle begonnen.

Beim vorsichtigen Entfernen einiger Farbschichten jüngeren Datums an der Wand ka-

men zum Erstaunen der Konservatoren zahlreiche Grafitti von päpstlichen Kapellsän-

gern des 15. bis 17. Jahrhunderts zum Vorschein. An der Echtheit dieser prominenten

Kritzeleien – es handelt sich um Initialen, volle Namenszüge, Symbole, lateinische

Sprüche und sogar kurze Notenpassagen – besteht nach kunsthistorischem Urteil kein

Zweifel. Verewigt haben sich auf der Cantoria – heute mehr oder minder klar erkenn-

bar – Josquin des Préz, Jacques Arcadelt, Annibale Zoilò, Giovanni Maria Nanino, Lore-

to Vittori und viele andere mehr. Auf beeindruckende, wenn auch ungewöhnliche Wei-

se zeigen diese – wohl während des Gottesdienstes angebrachten – „Wandverschöne-

rungen“, in welchem Maße die Stadt Rom während der Renaissance- und Barockepo-

che Anziehungspunkt für herausragende Musiker aus ganz Europa war.

Der künstlerische Reichtum jener Zeit war das Ergebnis einer langen historischen Ent-

wicklung. Hatte Rom im ausgehenden Mittelalter stark unter den Folgen des großen

abendländischen Schismas und des Exils der Päpste in Avignon gelitten, so trat zu Be-

ginn des 15. Jahrhunderts eine Trendwende für die Stadt ein. Beflügelt von Humanis-

mus und Renaissancegeist verliehen die fortan wieder in Rom residierenden Päpste

der Stadt eine unvergleichliche Pracht. Zahlreiche Kirchen und Paläste wurden erbaut,

weitsichtige Straßenzüge und Plätze angelegt. Der gewaltige Aufschwung setzte sich

bis ins 17. und frühe 18. Jahrhundert fort und gab Rom jenes großartige Bild, das

auch heute noch bei einem Gang durch die Stadt nachvollziehbar ist.

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Barocke Musikmetropolen: Rom Seite 2

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Anfang des 17. Jahrhunderts war Rom eine der größten Städte der italienischen Halb-

insel und gleichzeitig wohl die Stadt mit der höchsten „Klerikerdichte“ weltweit: Auf

reichlich 100.000 Einwohner entfielen rund 5.000 Priester und Ordensangehörige.

Die vielen Bauprojekte und die zahlreichen Adelshöfe sorgten für Arbeit und damit für

einen relativen Wohlstand, auch in den unteren Bevölkerungsschichten. Zudem sorgte

der nicht abreißende Pilgerstrom, besonders während der alle 25 Jahre veranstalteten

„Heiligen Jahre“, für gute Geschäfte im Gastgewerbe und – einen deutlichen Anstieg

des Weinkonsums.

Rom war also in der Barockepoche eine wohlhabende Großstadt, geprägt natürlich von

der Zentrale der katholischen Kirche. Fast alle wichtigen italienischen Adelsfamilien

hatten inzwischen einen Palast in der Stadt gebaut und versuchten, sich gegenseitig in

Pracht und Größe zu übertreffen und sich damit eine günstige Ausgangsposition im

Gerangel um hohe kuriale Ämter, vor allem innerhalb des Kardinalskollegiums, zu ver-

schaffen. – Denn die Struktur der römischen Herrschaft war einzigartig: Nicht eine Dy-

nastie, wie bei den Medici in Florenz oder den Gonzaga in Mantua, gab die Macht im-

mer wieder an die Nachkommenschaft weiter, sondern mit dem Tod eines Papstes er-

losch plötzlich die Macht der entsprechenden Familie. Im Konklave ging es dann dar-

um, Koalitionen zwischen den Machtblöcken der Kardinäle herzustellen.

Ein plastisches Beispiel dafür ist Urban VIII. aus der Familie der Barberini. Einen seiner

Brüder und zwei seiner Neffen ernannte er zu Kardinälen, ein weiterer Neffe wurde

Präfekt der Stadt Rom. Während der 21 Jahre seines Pontifikats (1623–1644) wur-

den Paläste und Kirchen erbaut, viele Künstler engagiert, spektakuläre Feierlichkeiten

durchgeführt, kirchliche Entscheidungen erwirkt und sogar ein Feldzug gegen das Her-

zogtum Parma unternommen. Das Wappen der Barberini zieren Bienen – Symbol für

Fleiß und Klugheit –, man findet es noch heute an allen Ecken der Stadt.

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Barocke Musikmetropolen: Rom Seite 3

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Die Kehrseite folgte jedoch auf dem Fuß: Nach dem Tod des Papstes brach eine Art

Anarchie in der Stadt aus, die restlichen Angehörigen der Familie sahen sich gezwun-

gen, nach Frankreich zu fliehen, die Staatsschuld war während des Pontifikats auf

mehr als das Doppelte angewachsen. Nachfolger wurde mit Innozenz X. ein Vertreter

der konkurrierenden Pamphili-Familie.

So kurios es klingt: Die Musik profitierte von dieser einzigartigen Herrschaftsstruktur.

Die meisten der führenden römischen Adelsgeschlechter besaßen einen ausgeprägten

Sinn für Kunst und bemühten sich, bekannte Architekten, Maler, Bildhauer, Dichter, in

besonderer Weise aber auch Musiker an ihren Hof zu verpflichten. So wurde Rom nach

und nach einer der wichtigsten europäischen Anziehungspunkte für Kapellmeister,

Sänger und Instrumentalisten.

Im Laufe des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts kam es zu einer deutlichen Auf-

wertung der Kirchenmusik. Es mehrten sich kleine und große Anlässe, zu denen in der

Kirche musiziert wurde. Gründe für diese Entwicklung sind in dem veränderten religiö-

sen Klima nach dem Konzil von Trient (1545–1563) zu suchen, das eine Erneuerung

von Liturgie und Klerus gefordert hatte. Die neuen geistlichen Gemeinschaften, wie

Jesuiten, Oratorianer, Theatiner, aber auch kleinere und unbekanntere Bruderschaf-

ten, suchten nach neuen Formen der Frömmigkeit und des Gottesdienstes. Damit zu-

sammenhängend pflegten sie in ihren Einrichtungen eine musikalische Kultur, die vor-

her in diesem Ausmaß nicht existent war. Rom besaß als unbestrittener Mittelpunkt

der katholischen Welt eine Leitfunktion auch in der kirchenmusikalischen Entwicklung.

Mit der hohen Würdigung der Kirchenmusik ging ein institutioneller Aufschwung ein-

her, der vor allem die Gründung und Pflege musikalischer Einrichtungen betraf. Hatte

es zu Anfang des 16. Jahrhunderts nur vereinzelt Kapellgründungen an den großen

Basiliken gegeben, häuften sie sich in der Zeit um 1600. Nicht mehr nur die reichen

Kapitel der bedeutenden Kirchen leisteten sich Sängerkollegien, sondern auch religiö-

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se Orden, Laien-Bruderschaften, Nationalkirchen und kleinere Gotteshäuser. In der

Mitte des 17. Jahrhunderts ist von mindestens 25 solcher Kirchenkapellen in Rom

auszugehen, wobei ihre Größe zwischen 3 und 30 Sängern differierte. Nahezu alle Kir-

chen beschäftigten einen Organisten, der in kleineren Institutionen das Amt des Ka-

pellmeisters in Personalunion ausübte. Größere Kirchen schlossen an ihren Musikbe-

trieb noch eine Ausbildungsstätte in Form einer Sängerschule an, der dortige Kapell-

meister übernahm dann die musikalische Unterweisung der Knaben.

Wie gründlich die Ausbildung in solchen Einrichtungen war, bezeugt ein Bericht des

Komponisten und Sängers Giovanni Andrea Bontempi, der als Sängerknabe am Pe-

tersdom gelernt hat:

„Die römischen Schulen wiesen die Schüler an, jeden Tag eine Stunde zum Singen

komplizierter und beschwerlicher Gesangspassagen zu verwenden, eine weitere, um

Triller zu üben, eine weitere für Koloraturen, eine weitere zum Studium der Literatur

und eine weitere zur Lektüre von Gesangsanweisungen und -übungen, die unter Anlei-

tung des Lehrers vor einem Spiegel geprobt wurden, um sich keinerlei Unannehmlich-

keiten, weder in der Körperhaltung, noch an der Stirn, den Wimpern oder dem Mund,

anzugewöhnen. Dies waren die Aufgaben des Vormittags. Am Nachmittag beschäftigte

man sich eine halbe Stunde mit theoretischer Lehre, eine weitere halbe Stunde mit

dem Studium des Kontrapunktes über dem Cantus firmus, eine Stunde mit dem schrift-

lichen Abfassen des Kontrapunktes und eine weitere mit dem Studium der Literatur.

Der weitere Verlauf des Tages wurde mit Cembalospiel und dem Verfassen von Kom-

positionen, darunter je nach Vorlieben Psalmen, Motetten, Canzonetten oder Cantile-

nen, ausgefüllt... Die Übungen außerhalb des Hauses waren das Singen im Freien, au-

ßerhalb der Porta Angelica, am Fuß des Monte Mario, um mit Hilfe des natürlichen

Echos die eigene Stimme zu beurteilen, ferner das Singen fast aller Musikrichtungen in

den römischen Kirchen und das Beobachten der Gesangstechniken vieler herausra-

gender Sänger, die während des Pontifikates Urbans VIII. bekannt waren. Schließlich

legte man dem Lehrer, wenn er ins Haus zurückkehrte, Rechenschaft ab. Der Lehrer

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prägte sich umso mehr in den Geist der Schüler ein, da er ihnen notwendige Anwei-

sungen und nützliche Warnungen gab.

Das waren die Aufgaben und die musikalische Schule, die wir in Rom bei Virgilio Maz-

zocchi absolviert haben, jenem hervorragenden Lehrer und Kapellmeister an St. Peter,

welcher der Musik neuen Glanz verliehen hat.“

(Giovanni Andrea Bontempi, Historia musica , Perugia 1659)

Die musikalische Institutionenvielfalt im kirchlichen Bereich hatte neben der Entste-

hung eines hohen musikalischen Niveaus noch einen ganz praktischen Effekt: Der Be-

ruf des Musikers stand von dieser Zeit an auf einer neuen Grundlage. Ausbildung, Un-

terhalt und Einkommen, aber auch Rechte und Pflichten der Musiker waren fest gere-

gelt. In den meisten Sängerkapellen hielten exakt formulierte Dienstordnungen die

entsprechenden Bestimmungen fest. Natürlich gab es Unterschiede in der Entlohnung

 je nach Bedeutung und Umfang der Aufgaben in der jeweiligen Kapelle, generell kann

 jedoch der Dienst eines Musikers an einer kirchlichen Institution in dieser Zeit in Rom

als gut dotiert bezeichnet werden.

War während der Renaissance-Epoche die Messe mit dem fünfteiligen Ordinarium un-

bestrittener Mittelpunkt kompositorischer Entwicklung, wurde sie mit Beginn des 17.

Jahrhunderts von der Vesper als Ort der feierlichsten und modernsten Musik abgelöst.

Besonders an Sonn- und Feiertagen fanden aufwändige Musikaufführungen der Psal-

men und Antiphonen statt, häufig mit Einsatz zahlreicher Vokal- und Instrumental-

stimmen. In Rom kam es dabei zu einem kollegialen Austausch zwischen den einzelnen

Kirchenkapellen: Feierte der Petersdom Patronats- (29.6.) oder Kirchweihfest

(18.11.), verstärkten Musiker aus der gesamten Stadt die ansässige Cappella Giulia,

um eine mehrchörige Vesper aufzuführen. In der Vatikanischen Bibliothek überlieferte

Abrechnungslisten belegen die Teilnahme von bis zu 100 Sängern und Instrumentalis-

ten, die auf eigens dafür errichteten Podesten in der riesigen Basilika postiert wurden

und den zahlreich anwesenden einheimischen sowie auswärtigen Besuchern ein enor-

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mes liturgisches Klangereignis boten. Auch kleinere Kirchen Roms veranstalteten zu

den feierlichen Vespern ihrer Gemeinde ähnliche „musikalische Feste“, freilich mit et-

was weniger Mitwirkenden.

Die Liste der während der Barockzeit in römischen Kirchen beschäftigten Musiker ist

lang, viele prominente Namen finden sich darunter: In der Päpstlichen Kapelle sangen

so bekannte Musiker wie Gregorio Allegri, Stefano Landi und Marc’Antonio Pasqualini,

„nebenan“ im Petersdom wirkte Girolamo Frescobaldi mehrere Jahrzehnte lang als

virtuoser Organist. Kapellmeister am Petersdom waren u. a. Francesco Soriano, Virgi-

lio Mazzocchi und Orazio Benevoli, an anderen Kirchen der Stadt dienten u. a. Antonio

Maria Abbatini, Giacomo Carissimi, Francesco Foggia und Bonifazio Graziani.

Keineswegs aber beschränkte sich die römische Musik nur auf den kirchlichen Sektor.

Eine weitere Arbeitsmöglichkeit für Musiker stellten die vielen Höfe von Papst, Kardi-

nälen und weiteren Adelsfamilien der Stadt dar. Diese Adligen – z. B. die Familien

Borghese, Barberini, Aldobrandini und Chigi – wirkten in vielen Fällen auch als Musik-

Mäzene, indem sie Kapellmeistern, Sängern und Instrumentalisten in ihren Palästen

Unterkunft boten, ein nicht unbeträchtliches Gehalt zahlten und musikalische Auffüh-

rungen, Instrumente sowie Veröffentlichungen in großzügiger Weise finanzierten. Die

Haushalte der Kardinäle umfassten nicht selten 100 bis 200 Personen, worunter sich

häufig einige Musiker befanden. Sie hatten die Aufgabe, für ihren Patron zu musizie-

ren, sowohl im privaten Rahmen, als auch bei großen Empfängen und Festen. Johann

Hieronymus Kapsberger beispielsweise diente mehrere Jahrzehnte als Lautenvirtuose

und Komponist im Palast des Papstneffen und Kardinals Francesco Barberini. Im spä-

ten 17. und frühen 18. Jahrhundert konnten in zunehmendem Maße größere Chöre

und Instrumentalensembles an den Höfen installiert werden, wofür die bekannten rö-

mischen Kompositionen von Arcangelo Corelli, Georg Friedrich Händel und Alessandro

Scarlatti sprechen.

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Gerade von kirchlichen Würdenträgern ausgehend, war Rom in der Barockzeit offen für

weltliche Musik, zu Anfang des 17. Jahrhunderts ein Zentrum der noch jungen Gattung

Oper und ab der Jahrhundertmitte eine Quelle für bedeutende Instrumentalmusik. Eng

verbunden mit diesen weltlichen Musikaktivitäten sind die häufig veranstalteten großen

Feste in Rom. Besonders ins Gewicht fielen dabei die Karnevalsfeiern, die oft persönlich

vom Papst und seinen Nepoten organisiert, durchgeführt und finanziert wurden. Große

Bedeutung besaß ferner der musikalische Kreis um die Königin Christina von Schweden,

die nach ihrer Abdankung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Rom lebte und

solch bekannte Künstler wie Bernardo Pasquini, Marco Marazzoli, Arcangelo Corelli und

den jungen Alessandro Scarlatti an ihrem Hof musizieren ließ.

Die immer größer werdende Zahl von Sängern und Instrumentalisten in Rom gab schon

im 16. Jahrhundert Anlass zur Gründung einer gemeinsamen Interessenvertretung. So

wurde 1566 die „Congregazione di Santa Cecilia“ ins Leben gerufen. Dies war vor allem

eine Reaktion auf die verstärkten Exklusivitätsbemühungen der Päpstlichen Kapelle. Die

„Congregazione“ bedeutete – gestützt auf Entschlüsse des Konzils von Trient – eine be-

wusste Stärkung des Laientums im kirchenmusikalischen Dienst und entwickelte sich

sprunghaft zu einer großen Organisation, geteilt in vier Kategorien (Kapellmeister, Or-

ganisten, Instrumentalisten, Sänger). Ab 1596 musste sogar eine kleine Aufnahmeprü-

fung abgelegt werden. Damit hatte die musikalische Elite von Rom ein eigenes Forum,

das im Laufe des 17. Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung gewann.

Rom war in der Barockzeit zweifellos eine der bedeutendsten Metropolen. Ich wage so-

gar zu behaupten, dass das beschriebene musikalische Niveau zu Beginn des 17. Jahr-

hunderts generell seinesgleichen sucht: Kaum eine andere Stadt kann in so einem engen

Zeitrahmen solch eine Lust am musikalischen Experimentieren und solch eine Dichte an

außergewöhnlichen Aufführungen der verschiedensten Gattungen aufweisen.

Bernhard Schrammek