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2012 ISBN 978-3-200-02727-5 Gabriele KhanSvik, Paul Mecheril, Annette Sprung, Erol Yildiz (Hg.): Bildungsforschung (in) der Migrationsgesellschaft. Ausgewählte Beiträge einer Tagung an der Universität Graz, 5. und 6. Mai 2011

Bildungsforschung (in) der Migrationsgesellschaft. · 2 Gabriele Khan‐Svik, Paul Mecheril, Annette Sprung, Erol Yildiz (Hg.): Bildungsforschung (in) der Migrationsgesellschaft Ausgewählte

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2012ISBN 978-3-200-02727-5

Gabriele Khan‐Svik, Paul Mecheril, Annette Sprung, Erol Yildiz (Hg.):   

Bildungsforschung (in) der Migrationsgesellschaft. Ausgewählte Beiträge einer Tagung an der Universität Graz, 5. und 6. Mai 2011 

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Bildungsforschung (in) der Migrationsgesellschaft 

Ausgewählte Beiträge einer Tagung an der Universität Graz, 5. und 6. Mai 2011  

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Gabriele Khan‐Svik, Paul Mecheril, Annette Sprung, Erol Yildiz (Hg.):  

Bildungsforschung (in) der Migrationsgesellschaft Ausgewählte Beiträge einer Tagung an der Universität Graz, 5. und 6. Mai 2011  

       Impressum: Hg. von  Univ.‐Doz. Mag. Dr. Gabriele Khan‐Svik (Pädagogische Hochschule Kärnten) Univ.‐Prof. Dr. Paul Mecheril (Universität Oldenburg)  Univ.‐Prof. Mag. Dr. Annette Sprung (Universität Innsbruck) Univ.‐Prof. Dr. Erol Yildiz (Universität Klagenfurt)  Erscheinungsort: Innsbruck 2012 ISBN 978‐3‐200‐02727‐5  

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Inhalt 

 

1. Einleitung  4 

2. Nachlese  6 

Unbegleitete Minderjährige und deren Bildungssituation in Österreich  7 Daniela Blecha 

Heterogenität ist nun auch in Schulen „in“!?  Inklusion im Widerspruch zu neoliberaler Gouvernementalität  21

Cornelia Dinsleder 

Schulabbruch als soziales Problem:  Ursachen, Auswirkungen, Prä‐ und Intervention  32

Erna Nairz‐Wirth und Elisabeth Wendebourg 

„Brauche ich das für den Alltag?“ – DaZ in der Erwachsenen‐bildung am Beispiel berufsspezifischer DaZ‐Kurse  47

Boris Printschitz 

„TORTILLA‐CURTAIN UND STEAK‐HOLDER“.  Migration und Integration aus einer Perspektive der Sozialpädagogik  57

Reinhold Stipsits 

Diversität und Interkulturalität in österreichischen Alten‐ und Pflegehäusern Bildungsperspektiven einer kultursensiblen Altenpflege  66

Daniela Wagner 

3.1 Tagungsprogramm  77

3.2 Kurzberichte zur Tagung  78

 

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1. Einleitung 

Die  gesellschaftliche,  institutionelle  und  soziale  Realität Österreichs wird  grundlegend  (auch)  von Migrationsphänomenen hervorgebracht. Österreich ist eine Migrationsgesellschaft, die diachron wie synchron  von  einer  Vielzahl  mit  der  Bewegung  von  Menschen  und  ihren  Lebensweisen  im transnationalen  Raum  verbundenen  Phänomenen  geprägt  ist.  Gleichwohl  Österreich  als „eigentümliche  Migrationsgesellschaft“  bezeichnet  werden  kann,  tut  sich  der  vorherrschende öffentliche  Diskurs  doch  nach  wie  vor  schwer,  der Migrationstatsache   jenseits  von  ideologisch‐normativer  Kommentierung  sachbezogen  und  nachhaltig  konzeptionell  zu  begegnen.  Diese  von alltäglicher Migrationsrealität  absehende,  sie  zuweilen  ignorierende  politische  und mediale  Praxis findet  in gewisser Wiese auch eine Entsprechung  in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema  Migration.  Dies  gilt  für  die  bildungs‐  und  erziehungswissenschaftliche  Forschung  in besonderer Weise, da  sich diese  in Österreich  eher  zufällig und punktuell, nicht  selten  außerhalb universitärer Kontexte entwickelt hat. Erst in jüngerer Zeit ist eine Veränderung zu beobachten. Eine soziale  und  infrastrukturelle  Ausdifferenzierung  und  Konsolidierung  der  Forschungslandschaft  zu Migration und Bildung in Österreich hat eingesetzt.  

Ein  Blick  auf  die  Geschichte  der  österreichischen Migrationsforschung  zeigt,  dass  diese  sich  viel später etablierte als zum Beispiel in Deutschland oder in der Schweiz. Elisabeth Jaksche konstatierte noch 1998 einen eklatanten Mangel an Forschung, ebenso wie Bernhard Perchinig darauf verwies, dass „migration research stays at the margin of academia“ (Perchinig 2005, S. 12, vgl. auch Bauböck u.  Perchinig  2004).  Die  von  Perchinig  2005  diagnostizierte  Konzentration  der  wissenschaftlichen Auseinandersetzung  auf wenige  Personen  konnte  im  Rahmen  der  Studie  Fassmanns,  die  sich  zur Aufgabe  gemacht  hatte  zu  erheben,  wer  in  Österreich  Migrationsforschung  betreibt,  relativiert werden:  Es  wurden  ca.  200 Wissenschafter/innen  im  Rahmen  dieser  Studie  befragt;  neben  den Forscher/innen,  die  bereits  seit  den  1980er  Jahren  immer  wieder  Themen  in  diesem  Bereich bearbeiten, hat sich eine Gruppe von jüngeren Personen etabliert (Fassmann 2009, S. 31).  

Die  österreichische Migrationsforschung  agiert  in  einem  Feld  unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen  und  bleibt  aufgrund  dessen  in  jeder  dieser Disziplinen  nur  eine  Randerscheinung. Die dafür notwendigen Kooperations‐ und Kommunikationsstrukturen fehlen bis dato: So schätzten die befragten WissenschaftlerInnen, dass  „[d]ie  schwache  Institutionalisierung  (…)  auch  am Verhältnis von bereits länger in der Migrationsforschung tätigen ForscherInnen und JungforscherInnen ablesbar (sei). Es gebe zahlreiche junge ForscherInnen, allerdings schlechte Karrierechancen, insbesondere für mittlere  Jahrgänge, und  generell  eine  geringe Verweildauer der beschäftigten  Personen  innerhalb der Migrationsforschung.“ (Fassmann 2009, S. 27) Des Weiteren meinten die Befragten, dass es zwar personelle  Netzwerke  gebe,  es  aber  durch  die  institutionelle  Mehrgleisigkeit  zu 

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Parallelentwicklungen, mangelnde  Transparenz  und  unklaren  Informationsflüssen  käme, worunter besonders die Newcomer in diesem Metier zu leiden hätten.   

Ein  erster  Schritt  der  Vernetzung  wurde  von  der  Kommission  für  Migrations‐  und Integrationsforschung  im  Herbst  2010  mit  der  1.  Jahrestagung  zur  „Migrations‐  und Integrationsforschung  in  Österreich“  angeregt.  Diese  bewusst  ohne  inhaltliche  Ausrichtung organisierte Tagung hatte zum Ziel,  jede/n, die/der sich  in diesem Feld bewegt, anzusprechen und zum  Austausch  einzuladen.  Man  wird  abzuwarten  haben,  wie  sich  dieses  Netzwerk  entwickelt, welche  Impulse  das  Netzwerk  für  die  Weiterentwicklung  der  Migrationsforschung  in  Österreich setzen wird und welche normierenden  Effekte mit ihm einhergehen werden.  

Im Mai  2011  fand  eine  Tagung  an  der Universität Graz  statt,  die  sich  explizit  auf  historische und systematische  Fragen  der  Entwicklung,  Gegenwart  und  Zukunft  der  Bildungsforschung  in  der Österreichischen Migrationsgesellschaft bezog. Die Tagung  konnte  zeigen, dass die österreichische Bildungsforschung im Themenbereich ‚Migrationsgesellschaft’ lebt, zwar noch einen kleinen Bereich umfasst und diverse Themen bearbeitet, aber auf dem Weg ist sich zu konsolidieren. 

Der  hier  vorgelegte  schmale  Band  versteht  sich  als Nachlese  einiger  Beiträge  aus  dem  Spektrum dieser Tagung. Im Anhang finden sich ein Programm sowie Kurzberichte über die Tagungsinhalte. 

 

Literatur 

Bauböck, Rainer u. Perchinig, Bernhard (Hg., 2004): Migrations‐ und Integrationsforschung in Österreich – Ansätze, Schnittstellen, Kooperationen. KMI Working Paper Series, Nr. 1. Wien: Kommission für Migrations‐ und Integrationsforschung. 

Fassmann, Heinz (2009): Migrations‐ und Integrationsforschung in Österreich: Institutionelle Verankerungen, Fragestellungen und Finanzierungen. KMI Working Paper Series, Nr. 15. Wien: Kommission für Migrations‐ und Integrationsforschung. 

Jaksche, Elisabeth (1998): Pädagogische Reflexe auf die multikulturelle Gesellschaft in Österreich. Innsbruck, Wien: Studienverlag. 

Perchinig, Bernhard (2005): Migration Studies in Austria – Research at the Margins? KMI Working Paper Series, Nr. 4. Wien: Kommission für Migrations‐ und Integrationsforschung. 

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2. Nachlese  

 

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Unbegleitete Minderjährige und deren Bildungssituation  in Österreich 

DANIELA BLECHA 

Abstract 

Die zentrale Rolle, die Bildung für die Zukunft von Jugendlichen und  jungen Erwachsenen spielt,  ist unangefochten. Gleichzeitig steht außer Zweifel, dass ein Ausschluss von Bildung gravierende Folgen für junge Menschen haben kann. Im Rahmen vieler Untersuchungen, etwa der PISA‐Studien als eine der  populärsten  unter  ihnen, wird  die  Effizienz  verschiedener  Schulsysteme  regelmäßig  evaluiert. Was aber oft unberücksichtigt bleibt, ist die Bildungssituation von Personengruppen, für welche das öffentliche  Bildungssystem  nur  wenig  passende  Möglichkeiten  bereithält  –  etwa  jene  von unbegleiteten  Minderjährigen.  Diese  verbringen  getrennt  von  ihrer  Familie  und  fernab  ihres Herkunftslandes eine entscheidende Zeitspanne  in Österreich, welche  für den weiteren Lebensweg im Sinne einer beruflichen Weichenstellung, aber auch  im Sinne einer allgemeinen Selbsterhaltung und  Selbstentfaltung  richtungsweisend  ist  (vgl.  z.B.  Weiss/Enderlein/Rieker  2001,  107).  Ihre Bildungssituation in Österreich ist ein von zahlreichen Herausforderungen geprägtes und gleichzeitig sehr wichtiges und aktuelles Thema, das einen Beitrag für Diskussionen zur Bildungsforschung in der Migrationsgesellschaft leisten kann. Zu diesem Zweck stellt dieser Beitrag relevante Ergebnisse eines neben neun weiteren Staaten auch  in Österreich  implementierten EU‐Projekts  zur Lebenssituation 

unbegleiteter Minderjähriger vor1.  

CAUAM  –  Coordinated  Approach  to  Best  Assist  Unaccompanied  Asylum Seeking Minors 

Das  Projekt  ‚Best  Practices  for  a  Coordinated  Approach  to  Assist Unaccompanied Minor  Asylum‐Seekers  and  Former Unaccompanied Minor Asylum‐Seekers  in EU Member  States’ wurde  von  Juli 2010 bis Dezember 2011 im Auftrag der Europäischen Kommission unter Leitung der Internationalen 

                                                            1 Auf fortwährende Zitierung ebendieser Studie wird im Folgenden verzichtet. Alle Ergebnisse, die nicht anders ausgewiesen sind,  entstammen  dem  Bericht  „Best  Practices  for  a  Coordinated  Approach  to  assist  Unaccompanied Minors  Asylum‐Seekers and Former Unaccompanied Minors Asylum‐Seekers in European Union Member States. National Report Austria“, verfasst von MMag.ª Daniela Blecha, Projektkoordinatorin und vormals wissenschaftliche Mitarbeiterin der  IOM Wien. Er ist  seit März  2012  auf  der Homepage  der  IOM Wien  (http://www.iomvienna.at/index.php?option=com_content&view= category&layout=blog&id=160&Itemid=204&lang=de) veröffentlicht.  

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Organisation für Migration (IOM)2 in zehn EU Mitgliedsstaaten – Belgien, Frankreich, Großbritannien, 

Italien, Niederlande, Österreich, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn – implementiert.   

Ziel  des  Projektes  war  es,  die  Situation  von  unbegleiteten  asylsuchenden  Minderjährigen  und 

ehemaligen unbegleiteten  asylsuchenden Minderjährigen3 hinsichtlich einer Vielzahl  von Aspekten 

wie Asylverfahren, Obsorge, Unterbringung, (Zugang zu) Bildung, (Zugang zu) Arbeit, Freizeit etc. zu erheben.  Im  Vordergrund  stand  die  Eruierung  der  Bedürfnisse  dieser  Jugendlichen  und  jungen Erwachsenen  in  Bezug  auf  ihre  Integration  im  betreffenden  EU‐Land  sowie  die  Sammlung  von sogenannten  ‚good  practices‘,  die  sich  im  jeweiligen  Rahmen  erprobt  haben  und  für  eine Replizierung  in anderen Kontexten geeignet sind. Dies soll in  letzter Konsequenz auch den Wissens‐ und Erfahrungsaustausch zwischen alten und neuen EU‐Mitgliedsstaaten hinsichtlich der Versorgung 

von unbegleiteten Minderjährigen4 in Europa anregen. 

Um die entsprechenden Informationen zu erheben, wurde in allen an der Studie teilnehmenden EU‐Staaten  Primär‐  und  Sekundärforschung  durchgeführt.  Die  Ergebnisse  dieses  mehrmonatigen Forschungsprozesses  sind  in  Länderberichten  dargestellt.  Ein  Anfang  Dezember  2011  im  Rahmen einer internationalen Konferenz in Budapest unter Anwesenheit von Expert/innen aus verschiedenen EU‐Ländern  präsentierter  Synthesebericht  stellt  diese  Resultate  gegenüber  und  verweist  auf Praktiken  aus  Bereichen  wie  Grundversorgung  von  Asylwerber/innen  oder  Integration  und Unterbringung  von  unbegleiteten  Minderjährigen,  die  besonders  gut  funktionieren  und  das Wohlbefinden dieser jungen Menschen bestmöglich fördern.  

Bildung sowie Zugang zur selben sind Themen, die das Leben von unbegleiteten Minderjährigen  in starkem Ausmaß prägen und in den erwähnten Berichten beleuchtet werden.      

Begriffsklärung  

Unbegleitete Minderjährige sind in der Regel Drittstaatsangehörige, welche sich nicht in der Obsorge 

ihrer Eltern bzw. anderer Personen, die mit der Erziehung Ersterer beauftragt sind, befinden5. 

Auf  internationaler Ebene bietet der UNHCR  (1997) sowie das UN Committee on  the Rights of  the Child  (2005)  eine  Begriffsklärung,  die  sehr  häufig  zitiert wird.  Sie  definiert  eine/n  unbegleitete/n Minderjährige/n als  „a person under  the age of eighteen, unless, under  the  law applicable  to  the child, majority is, attained earlier and who is separated from both parents and is not being cared for by an adult who by law or custom has responsibility to do so”. (UNHCR, 1997:1) 

                                                            2 Für weitere Informationen die Internationale Organisation für Migration betreffend sei auf die internationale Homepage www.iom.int sowie auf die Homepage des IOM Länderbüros in Österreich www.iomvienna.at verwiesen. 3  Eingeschlossen  waren  ehemalige  unbegleitete  asylsuchende  Minderjährige,  d.h.  Personen,  die  minderjährig  und unbegleitet nach Europa gekommen sind und um Asyl angesucht haben, mittlerweile aber die Volljährigkeit erreicht bzw. einen finalen Bescheid im Asylverfahren erhalten haben und deshalb nicht mehr unter die eigentliche Definition eines/einer unbegleiteten asylsuchenden Minderjährigen fallen.   4 Aus Gründen der Leserlichkeit des Textes werden unter den Begriff  ‚unbegleitete Minderjährige’ nachstehend auch die Gruppen der ‚ehemaligen unbegleiteten Minderjährigen’ subsummiert. 5 Für weitere  Informationen eine Begriffsklärung betreffend sei auf das Glossar des Europäischen Migrationsnetzwerkes, verfügbar unter http://www.emn.at/images/stories/EMN_GLOSSARY_January_2010.pdf, verwiesen.

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Im europäischen Kontext sind unbegleitete Minderjährige  

Staatsangehörige  von  Drittländern  oder  Staatenlose  unter  18  Jahren,  die  ohne Begleitung  eines  gesetzlich  oder  nach  den  Gepflogenheiten  für  sie  verantwortlichen Erwachsenen  in  das  Gebiet  der  Mitgliedstaaten  einreisen,  solange  sie  sich  nicht tatsächlich  in  der Obhut  einer  solchen  Person  befinden,  oder Minderjährige,  die  ohne Begleitung  zurückgelassen  werden,  nachdem  sie  in  das  Hoheitsgebiet  des Mitgliedstaates eingereist sind. (Richtlinie 2001/55/EG) 

In  Österreich  definiert  das  Niederlassungs‐  und  Aufenthaltsgesetz  (§  2  Abs.  1(17))  eine/n unbegleitete/n Minderjährige/n als „ein[en] minderjährige[n] Fremde[n], der sich nicht in Begleitung eines für  ihn gesetzlich verantwortlichen Volljährigen befindet“. Die Studie, die hiernach vorgestellt wird,  orientiert  sich  an  ebendieser  Definition  und  versteht  unbegleitete  Minderjährige  als ausländische  Minderjährige,  die  nicht  von  einer  erwachsenen  Person,  die  für  deren  rechtliche Vertretung zuständig ist, begleitet werden und welche um Asyl in Österreich angesucht haben. 

Statistiken zu unbegleiteten Minderjährigen in Österreich  

In  den  letzten  sechs  Jahren war  ein  regelmäßiger Anstieg  der  Zahl  der Asylanträge  unbegleiteter Minderjähriger in Österreich festzustellen. Waren es im Jahr 2006 488 Personen, die als unbegleitete Minderjährige  in  Österreich  um  Asyl  ansuchten,  reichten  im  Jahr  2011  1.346  unbegleitete Minderjährige – mehr als doppelt so viele wie im Jahr 2005 – einen Asylantrag in Österreich ein. 

 

Asylanträge von unbegleiteten Minderjährigen in Österreich 2005-2011

881

488582

874

1.185

934

1.346

0

200

400

600

800

1000

1200

1400

1600

2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011

Jahr

Anz

ahl u

nbeg

leite

te

Min

derjä

hrig

e

 

Diagramm 1  Quelle: Asylstatistiken Österreichisches Bundesministerium für Inneres (BM.I) 

 

Die Mehrheit dieser Personen – 79,1% – war zum Zeitpunkt der Asylantragsstellung zwischen 14 und 18 Jahre alt. 6,1% aller Asylanträge gingen von unbegleiteten Minderjährigen ein, die unter 14 Jahre 

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alt waren.  Im Zuge von Altersfeststellungen6, die von Behörden  zur Klärung der Übereinstimmung 

zwischen  proklamiertem  und  tatsächlichem  Alter  angeordnet  werden,  wurden  14,8%  aller Antragssteller/innen  für volljährig erklärt und somit nicht  länger als unbegleitete/r Minderjährige/r geführt.  

 

Alter der unbegleiteten minderjährigen Asylantragsteller/innen 2005‐2011

81 53 50 64 43 34 57

709

361466

706

1.019

653

1.064

91

7466

104

123

247

225

0

200

400

600

800

1000

1200

1400

1600

2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011

Jahr

Anzahl unb

egleitete Minde

rjährige

Volljährigkeitfestgestellt<18

<14

 

Diagramm 2 Quelle: Asylstatistiken Österreichisches Bundesministerium für Inneres (BM.I) 

Die wichtigsten Herkunftsländer von unbegleiteten Minderjährigen, die zwischen 2005 und 2011 um Asyl in Österreich ansuchten, waren Afghanistan, Nigeria, Moldau, die Russische Föderation, Gambia, Indien,  Algerien,  Somalia,  Serbien  und  die Mongolei.  Die  numerische  Bedeutung  dieser  Staaten schwankte  innerhalb des genannten Zeitraums. So stieg etwa die Anzahl der  in Österreich um Asyl ansuchenden  unbegleiteten  Minderjährigen  aus  Afghanistan  zwischen  2007  (100  asylsuchende unbegleitete Minderjährige)  und  2009  (431  asylsuchende  unbegleitete Minderjährige)  besonders stark an, während Indien seit 2005 (64 asylsuchende unbegleitete Minderjährige; 2010 im Vergleich: 15  asylsuchende  unbegleitete  Minderjährige  in  Österreich)  als  Herkunftsland  von  unbegleiteten Minderjährigen stetig an Bedeutung verlor. Somalia war besonders von 2007 bis 2009 ein wichtiges Herkunftsland von unbegleiteten Minderjährigen.  

                                                            6  Für weitere  Informationen  zur Altersfeststellung  sowie  einer  kritischen  Betrachtung  ebendieser  sei  auf  Fronek  (2010) verwiesen.

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Herkunftsländer unbegleiterer Minderjähriger in Österreich 2005‐2010

2103; 33%1964; 31%

160; 3%

160; 3%342; 5%

408; 6%

199; 3% 232; 4%

352; 6%

127; 2%122; 2%

121; 2%

Afghanistan

Nigeria

Moldau

Russische Föderation

Somalia

Algerien

Serbien

Indien

Mongolei

Gambia

Marokko

Sonstige 

Diagramm 3 Quelle: Asylstatistiken Österreichisches Bundesministerium für Inneres (BM.I) 

Methodologie des Projekts 

Die hier vorgestellte Studie basiert einerseits auf den Ergebnissen einer Literaturrecherche. Aktuelle Publikationen zur Situation unbegleiteter Minderjähriger in Österreich und Europa wie „Unbegleitete minderjährige  Flüchtlinge  in  Österreich“  (Fronek  2010),  „Separated  asylum‐seeking  children  in European Union Member States“  (European Union Fundamental Rights Agency 2010) und „Policies on  Reception,  Return,  Integration  Arrangements  for,  and Numbers  of, Unaccompanied Minors  in Austria“  (Europäisches  Migrationsnetzwerk  2009)  wurden  als  Grundlage  für  die  Erstellung  des 

Berichts7  herangezogen.  Andererseits  präsentiert  sie  Ergebnisse  semistrukturierter  Interviews. 

Zwischen  Jänner  und März  2011  wurden  13  Expert/innen  aus  verschiedenen  Bereichen,  die  die Lebenssituation  von  unbegleiteten Minderjährigen  in Österreich maßgeblich  beeinflussen,  für  ein ausführliches Gespräch  gewonnen. Unter  ihnen befanden  sich Personen  aus  zivilgesellschaftlichen Organisationen  wie  auch  Stakeholder  aus  staatlichen  Institutionen.  Die  verwendeten Interviewleitfäden  entstammten  einer  inhaltlich  umfangreichen  Vorlage,  welche  für  die Durchführung der Forschung in allen am Projekt beteiligten Ländern entwickelt wurde.  

Darüber hinaus wurden unbegleitete Minderjährige, die  in Österreich um Asyl angesucht haben,  in den Forschungsprozess eingebunden. Parallel zu den  Interviews mit Expert/innen erklärten sich 23 unbegleitete Minderjährige  zu  einer  Teilnahme  an  dem  Forschungsprojekt  bereit  .  Diese  waren zwischen 14 und 17 bzw. 18 und 20 Jahre alt und kamen aus Afghanistan, Somalia, Eritrea, Gambia,                                                             7  Der  im  März  2012  auf  der  Homepage  von  IOM  Wien  veröffentlichte  österreichische  Länderbericht  ist  nicht  als akademische  Studie  zu  verstehen.  Vielmehr  leistet  er  einen  Überblick  über  aktuelle  rechtliche,  politische  und  soziale Gegebenheiten und präsentiert Expert/innenmeinungen sowie die Stimmen von unbegleiteten Minderjährigen und jungen Erwachsenen selbst. 

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der  Russischen  Föderation  und  der  Mongolei.  Zwei  Drittel  der  Interviewpartner/innen  waren männlich.  

Der  Zugang  zu  den  unbegleiteten  Minderjährigen  erfolgte  über  eine  Kontaktaufnahme  zu Betreuungseinrichtungen, in welchen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen untergebracht sind. Darüber  hinaus  wurden  Interviewpartner/innen  über  eine  Wiener  Bildungseinrichtung,  die  u.a. Hauptschulabschlusskurse  für unbegleitete Minderjährige anbietet, erreicht.  In allen Fällen stellten die zuständigen Betreuungspersonen bzw. Sozialarbeiter/innen und Lehrer/innen den  Jugendlichen das Projekt vor und vermittelten anschließend interessierte Personen an IOM.  

Alle Gespräche mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen wurden persönlich und meistens in Form eines Zweier‐Gesprächs durchgeführt. Die überwiegende Mehrheit aller Interviews fand auf Deutsch oder Englisch statt. Eine Übersetzung war aufgrund der guten Deutsch‐ bzw. Englischkenntnisse der betreffenden  Jugendlichen  bzw.  jungen  Erwachsenen  nicht  vonnöten.  Nur  bei  vier  Gesprächen wurde ein Dolmetscher hinzugezogen.  

Auch die Interviewleitfäden für die unbegleiteten Minderjährigen deckten zentrale Themen wie etwa Asylverfahren,  Obsorge,  Unterbringung,  (Zugang  zu)  Bildung  und  Arbeitsmarkt,  Integration  und Freizeit ab.  

Um die Gespräche mit den  Jugendlichen und  jungen Erwachsenen  aufzulockern, wurden  spezielle methodologische Vorkehrungen getroffen. Diese beinhalteten etwa die Verwendung bunter Karten, welche die Begriffe, die im Zentrum der Forschung standen (z.B. Asylverfahren, Unterkunft, Bildung, Zukunftspläne, Freizeit oder Arbeit) bildlich veranschaulichten. Die Karten wurden herangezogen, um den  Jugendlichen  und  jungen  Erwachsenen  zu  erklären, welche  Themen  im  Gespräch  behandelt werden. Darüber  hinaus  gab  es  den  Projektteilnehmer/innen  die Möglichkeit,  durch  die  Auswahl bzw. Nichtbeachtung einzelner Karten die Inhalte des Gesprächs aktiv zu bestimmen.  

Eine  der  zentralen  Herausforderungen  in  der  qualitativen  Forschung  bzw.  Interviewführung  mit unbegleiteten Minderjährigen ist deren potentielle Ähnlichkeit zu der von den Betroffenen meist als sehr negativ erlebten Befragungssituation im Rahmen des Asylverfahrens. Zusätzlich zur Verwendung jugendfreundlicher  Methoden  und  einer  sanften  Interviewführung  war  deshalb  auch  die Stellungnahme, dass eine Teilnahme am Projekt weder den Verlauf noch das Ergebnis des Ansuchens um Asyl beeinflussen wird, sehr wichtig.  

Bildungssituation – Unbegleitete Minderjährige  

Zugang zu Bildung für unbegleitete Minderjährige 

Schulpflicht  besteht  in  Österreich  für  alle  Kinder  zwischen  dem  6.  und  dem  15.  Lebensjahr  – unbegleitete  Minderjährige  eingeschlossen  (Schulpflichtgesetz,  1985).  Die  Mehrheit  der unbegleiteten Minderjährigen  ist  bei  ihrer  Ankunft  in  Österreich  aber  bereits  über  15  Jahre  alt, wodurch  diese  Regelung  gegenstandslos  wird.  Als  Alternative  besteht  die  Möglichkeit,  eine höherbildende  Schule  zu  besuchen  oder  einen  zweiten  Bildungsweg,  welcher  den  Erwerb  eines 

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Schulabschlusses  nach  Ausstieg  aus  der  Regelschule  vorsieht,  einzuschlagen.  Die  Interviews  mit Expert/innen einerseits und unbegleiteten Minderjährigen andererseits zeigten jedoch auf, dass auch diese Alternativangebote unbegleiteten Minderjährigen  in Österreich nur teilweise offenstehen. Ein 

Experte, der seit Jahren als Sozialarbeiter mit unbegleiteten Minderjährigen8 arbeitet, sagte etwa:  

Am  zweiten  Bildungsweg  […]  ist  es  ganz  gut  möglich.  Wenn  jemand  nicht  mehr schulpflichtig ist und eine Basisbildungsmaßnahme braucht, einen Hauptschulabschluss. Das  geht.  Auf  diesen,  sag  ich  jetzt  mal,  niedrigen  Bildungslevel  von  Basisbildung, Alphabetisierung, Hauptschulabschluss, Deutschlehrgang da gibt es viele Möglichkeiten grad  für  Jugendliche. Wo  es  schwierig  wird  ist,  wenn  es  weitergeht,  also  nach  dem Hauptschulabschluss […].  

Während  also  der  Besuch  von  Weiterbildungsmaßnahmen  im  Zweiten  Bildungsweg  als  leicht beschrieben  wurde,  scheint  die  Integration  unbegleiteter  Minderjähriger  in  eine  höherbildende österreichische Schule deutlich schwieriger zu sein. Der Sozialarbeiter resümierte:  

Leicht  ist die Basisbildung und die Alphabetisierung bis zum Hauptschulabschluss, sofern es einen  Platz  im  Lehrgang  gibt.  Alles  darüber  hinaus  wird  sehr  schwierig  und  ist  nicht zugeschnitten auf die Zielgruppe.  

Die  unbegleiteten Minderjährigen,  die  im  Zuge  dieser  Studie  interviewt wurden,  bestätigen  diese Aussage.  Die Mehrheit  von  ihnen  besuchte  zum  Zeitpunkt  des  Interviews  einen  im  Rahmen  des Zweiten  Bildungsweges  angebotenen  Kurs,  meistens  den  Hauptschulabschlusskurs.  Nur  zwei befragte Mädchen gaben an, in eine höherbildende Schule – in eine HBLA bzw. ein Gymnasium – zu gehen.  Einige  Jugendliche  und  junge  Erwachsene  berichteten,  in  gar  keine  Bildungsmaßnahme eingebunden zu sein. 

Die  Gründe  für  diese  Einschränkungen  sind  vielfältig.  Als  Kernursache  wurde  von  verschiedenen Expert/innen  die  Anforderungen  des  österreichischen  Bildungswesens  genannt.  Diese,  so  die befragten Fachmänner und –frauen, stünden im Widerspruch zu den Bildungshintergründen und den Deutschkenntnissen sowie des Alters der meisten dieser Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Eine systematische  Erhebung  von  Daten  hinsichtlich  der  Bildungshintergründe  von  unbegleiteten Minderjährigen  fehlt  bzw.  wird  von  den  Behörden  im  Rahmen  der  Interviews  im  Asylverfahren lediglich für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des/der befragten Jugendlichen herangezogen (vgl. Fronek  2010:  148).  Die  Interviewpartner/innen,  die  in  täglichem  Kontakt  mit  unbegleiteten Minderjährigen stehen,  teilten aber die Einschätzung, dass die Ausbildung dieser  Jugendlichen und jungen Erwachsenen – vielfach aus Krisenregionen mit beeinträchtigtem Schulsystem kommend – in den meisten Fällen weniger umfangreich war als  jene  ihrer gleichaltrigen österreichischen  ‚Peers‘. Dies wurde auch bei  jungen Flüchtlingen  in Deutschland beobachtet  (Weiss/Enderlein/Rieker 2001, 113). Der Anspruch, diesen  ‚Rückstand‘  innerhalb  von  kürzester Zeit  aufzuholen, um anschließend jene Leistungen erbringen zu können, die  im österreichischen Regelschulsystem gefordert werden, wurde von einer Expertin als unrealistisch bezeichnet:  

                                                            8 Aus Gründen der Anonymität werden Name (und Institution) der befragten Personen nicht offengelegt. 

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Sie kommen aus unterschiedlichen Bildungshintergründen. Es gibt einige, die nie  in der Schule waren und die Deutschkurse machen, dann Vorbereitungskurse machen und dann Hauptschulabschluss.  Also  vielleicht  zwei  Jahre  beschult werden  und  dann  auf  einem Level eines österreichischen  Jugendlichen  sein  sollen, der acht  Jahre  in der Schule war. Das geht nicht. 

Obwohl  es  erlaubt  ist,  älteren  Schüler/innen,  deren  Bildungsstand  nicht mit  den  entsprechenden altersbezogenen  Anforderungen  übereinstimmt,  Plätze  in  vergleichsweise  niedrigen  Schulklassen anzubieten, geschieht dies in der Praxis nur äußerst selten. Die National Coalition für die Umsetzung der  UN  Kinderrechtskonvention  in  Österreich  (2004:  27)  berichtet,  dass  die  Integration  von unbegleiteten  Minderjährigen  in  reguläre  höherbildende  Schulen  kompliziert  sein  und  von  der jeweiligen  Institution  als Belastung  empfunden werden  kann. Auch  für die  Schüler/innen  selbst  – sowohl  für  die  unbegleiteten  Minderjährigen,  als  auch  für  die  österreichischen Klassenkamerad/innen – kann es äußerst frustrierend sein, mit Personen, deren Alter vom eigenen abweicht,  in  dieselbe  Klasse  zu  gehen.  Als  Resultat  ist  es  in  der  Praxis  daher  üblich,  nur Schüler/innen, die maximal zwei  Jahre über  (bzw. unter) dem Altersdurchschnitt der Klasse  liegen, zur jeweiligen Schulstufe zuzulassen, wie ein Sozialarbeiter berichtet:  

Praktisch  ist  es  so,  dass  die  Schulen  auch  jemanden,  der  25  ist  in  eine  erste  Klasse Gymnasium  lassen  könnten.  In  der  Realität  ist  es  so,  dass  sie  maximal  jemanden aufnehmen,  der  zwei  Jahre  über  dem  Klassenschnitt  ist,  d.h.  wenn  die  erste  Klasse Gymnasium mit 14 beginnt, dann  nehmen  sie maximal  jemanden auf, der 16  ist. Wir haben  schon  mal  ein  paar  Ausnahmen  durchgekämpft  [und]  mit  viel  Bitten  die Direktoren  dazu  überredet  in  [einer]  höheren  Lehranstalt  für  wirtschaftliche  und Tourismusberufe. Da haben wir zwei oder drei Leute untergebracht, die aber gescheitert sind, weil sie es nicht ausgehalten haben mit 14‐jährigen in der Klasse. 

Diese  Erfahrung  hat  eine  der  interviewten  Jugendlichen  persönlich  gemacht,  die  zwar  die Aufnahmeprüfung eines Gymnasiums positiv absolviert hat, aber befürchtet, aufgrund  ihres Alters nicht aufgenommen zu werden: „Ich habe die Prüfung geschafft und könnte  ins Gymnasium gehen. Aber ich glaube sie werden mich nicht nehmen, weil ich zu alt bin.“ 

Finanzielle Mittel zur (Aus)bildung von unbegleiteten Minderjährigen 

Ein  Mangel  an  finanziellen  Mitteln  zur  bildungsbezogenen  Unterstützung  unbegleiteter Minderjähriger wird in der Literatur (vgl. z.B. Fronek 2010: 150) sowie von Interviewpartner/innen als weiteres  Hindernis  zur  erfolgreichen  Integration  in  das  österreichische  Schulsystem  genannt.  In Übereinstimmung mit  der  Grundversorgungsvereinbarung  (Art.  9  Abs.  11)  werden  pro  Schuljahr unbegleiteten Minderjährigen EUR 200.‐ für den Ankauf von Schulmaterial zur Verfügung gestellt. Es gibt  allerdings  keine Gelder,  die  die  Teilnahme  unbegleiteter Minderjähriger  an  außerschulischen Veranstaltungen  und  Klassenausflügen  sicherstellen  oder  Förderunterricht,  der  zur  individuellen Unterstützung sehr wichtig wäre, ermöglichen. Auch der Besuch von privaten Schulen, wo spezifische Bedürfnisse einzelner Schüler/innen oft besser berücksichtigt werden können,  ist  im Normalfall  zu teuer. Ein junger Erwachsener berichtete Folgendes:  

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Ich  habe  den  Hauptschulabschluss  gemacht  und  warte,  ob  ich  in  die  [private] Tourismusschule gehen kann. Sie haben mich aufgenommen, aber  ich müsste das Geld zahlen. Wenn  ich das bezahlen kann, dann hab  ich den Platz sicher. Wenn nicht, dann nicht. […] Ich glaube nicht, dass ich in die Tourismusschule komme, weil ich nicht glaube, dass [jemand] dafür aufkommt.  

Integration unbegleiteter Minderjähriger durch Bildung 

Der teilweise Ausschluss von unbegleiteten Minderjährigen vom österreichischen Regelschulsystem ist auch insofern problematisch, weil deren Integration in Österreich erschwert wird. Wie etwa Spiel und Strohmeier (2011, 151) festhalten, bieten interkulturelle Freundschaften im schulischen Kontext eine wichtige Möglichkeit  zur  Reduktion  von  Vorurteilen  und  unterstützen  darüber  hinaus  einen Prozess der Akkulturation. Die Bildungsstätte als einer der wenigen Orte, wo Raum  für kulturellen Austausch   zwischen  jungen Asylwerber/innen und österreichischen Gleichaltrigen besteht, kann so ihrer  wichtigen  Funktion  nur  in  wenigen  Fällen  nachkommen.  Die  meisten  unbegleiteten Minderjährigen  wünschen  sich  aber,  Österreicher/innen  kennenzulernen  und  so  auch  ihre Deutschkenntnisse zu verbessern. Ein afghanischer Jugendlicher, dem eine entsprechende Erfahrung zuteil  wurde,  zeigte  sich  vom  gemeinsamen  Schulbesuch  mit  österreichischen  Jugendlichen begeistert:  

Es war gut mit so vielen Österreichern  in einer Klasse zu sein. Für mich  ist das sehr wichtig gewesen wegen  der  Sprache  und  der  Kultur. Der  größte Vorteil  ist,  dass man  die  Sprache lernen kann. Wenn ich nur mit Afghanen in einer Klasse wäre müsste ich nur Dari sprechen. 

Konzentrationsschwächen und Lernschwierigkeiten 

Herausforderungen, denen unbegleitete Minderjährige beim Versuch, eine schulische (Aus)bildung in Österreich  zu  erhalten,  begegnen,  führen  sich  größtenteils  auch  fort, wenn  der  Zugang  zu  einer Bildungseinrichtung sichergestellt wurde. Fronek (2010: 147) verweist auf Konzentrationsschwächen auf Seiten der  Jugendlichen und  jungen Erwachsenen, die oftmals durch traumatische Erfahrungen im Heimatland oder während der Flucht, beispielsweise die Trennung von Eltern und Freund/innen oder  das  Erleben  von  Krieg  und  Bedrohung,  begründet werden  können. Aber  auch  die  unsichere Situation in Österreich belastet viele unbegleitete Minderjährige zusätzlich. Nicht zu wissen, ob dem Ansuchen nach Asyl stattgegeben werden wird, kann sich ebenfalls negativ auf die Leistungsfähigkeit auswirken,  wie  die  befragten  Jugendlichen  und  jungen  Erwachsenen  berichteten.  Ein  junger Asylwerber aus Somalia sagte etwa: „It’s killing me. […] I don’t know if I will be allowed to stay here.”  Darüber  hinaus  kann  effizientes  Lernen  –  eine  Fähigkeit,  die  weitläufig  als  selbstverständlich betrachtet und deren Bedeutung  leicht übersehen wird –, zum Hindernis werden. Hierzu meint ein im Rahmen der Studie interviewter Sozialarbeiter:  

Das klingt relativ banal, weil wir das [effizientes Lernen, Anmerkung der Autorin] alle in irgendeiner  Form  in  unserer  Schullaufbahn  gelernt  haben.  Viele  unserer  Jugendlichen 

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haben das nicht gelernt. Es  ist ein wichtiger Schritt sich das mit  ihnen anzuschauen wie sie lernen und wie sie effektiver oder besser lernen können. 

Erreichen der Volljährigkeit 

Eine besonders schwierige Zeit  in der Schullaufbahn eines/einer unbegleiteten Minderjährigen tritt häufig ein, wenn der/die betreffende Jugendliche die Volljährigkeit erreicht. Auf den 18. Geburtstag folgt  in  der  Regel  der Umzug  von  einer Unterkunft  für  unbegleitete Minderjährige mit  intensiver Betreuung in eine Unterkunft für erwachsene Asylsuchende oder eine Mietwohnung. Dort finden die jungen  Erwachsenen  oft  nicht  jene  Rahmenbedingungen  vor,  die  sie  brauchen würden,  um  ihre Ausbildung  zielstrebig  weiterzuverfolgen.  Im  Konkreten  heißt  das  etwa,  dass  es  an  Ruhe  und Privatsphäre zur Erledigung der Hausübungen oder zur Vorbereitung auf Prüfungen mangelt. Es kann auch bedeuten, dass wichtige Lernhilfen wie Computer nur  in sehr begrenzter Stückzahl vorhanden sind. Außerdem  ist die Betreuungsintensität  in Einrichtungen  für unbegleitete Minderjährige höher als  in  Einrichtungen  für  erwachsene  Asylwerber/innen,  sodass  etwaige  Zusatzunterstützung  beim Umzug  in  ein Quartier  für  Erwachsene wegfällt.  Fronek  (2010: 182‐184) weist weiters darauf hin, dass mit Erreichen der Volljährigkeit nicht nur die Unterkunft,  sondern  in einigen  Fällen auch das Bundesland gewechselt wird. Dies bedeutet, dass es für manche junge Erwachsene aufgrund der nun vorhandenen Distanz zwischen Wohnort und Bildungsstätte unmöglich  ist, die ursprüngliche Schule weiterhin zu besuchen. 

Bedeutung von Bildung für unbegleitete Minderjährige 

Die große Bedeutung einer  soliden  (Aus)bildung  für unbegleitete Minderjährige unterstreichen die Stimmen  vieler  Interviewpartner/innen.  Sowohl  Expert/innen  als  auch    befragte  Jugendliche  und junge Erwachsene selbst empfanden diese  für die Vorbereitung auf eine eigenständige Zukunft als unabdinglich.  Ein  afrikanischer  Jugendlicher  bekräftigte  dies mit  den  folgenden Worten:  „I  really want to have a future and study. […] I know that now I have a chance which I never had  in my  life. This is studying.“ Auch Fronek (2010: 147) berichtet von einer stark ausgeprägten Bildungsmotivation auf  Seiten der unbegleiteten Minderjährigen. Während  der Wunsch  auf  eine  gute Ausbildung bei vielen jungen Interviewpartner/innen mit dem Wunsch auf Asyl in Österreich verbunden war, sagten Expert/innen,  dass  der  Erwerb  von Wissen  trotz  der  unsicheren  Situation  in Österreich  und  auch angesichts einer eventuell bevorstehenden Rückkehr ins Heimatland essentiell sei. Die Leiterin einer Institution  zur  Unterstützung  von  unbegleiteten  Minderjährigen  in  Bildung,  Arbeit  und  Alltag argumentierte dies folgendermaßen: 

Bildung  kann  man  mitnehmen.  Auch  wenn  sie  nicht  hierbleiben  können.  […]  weil vielleicht [gibt es dann] die Chance in der Heimat oder wo auch immer sie hingehen, dass sie sich dort was aufbauen können. Es [der Ausschluss von unbegleiteten Minderjährigen aus  dem  österreichischen  (Aus)bildungssystem,  Anmerkung  der  Autorin]  ist  kurzfristig gedacht. Wenn  jemand hierbleiben kann, geben wir  ihm etwas. Wenn er  länger hier  ist 

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und warten muss, erwirbt er sich meiner Meinung nach, wenn er selber will und dahinter ist, den Anspruch auf Bildung.  

Bildung als psychologische Stütze für unbegleitete Minderjährige 

(Aus)bildung  wird  darüber  hinaus  als  sinnvolle  Beschäftigung  gesehen,  aus  der  Kraft  geschöpft werden  kann,  wie  zahlreiche  der  an  der  hier  vorgestellten  Studie  teilnehmenden  unbegleiteten Minderjährigen in den Gesprächen betonten:  

The special thing is when you get up early and go to school. We take the train together. You have a mission. You go to school. Every day you’ve got to do something. You see yourself – you are something, you take a good breath, you see a peace, kind of good people.  

Insofern  ist der Zugang  für unbegleitete Minderjährige zu Bildung  in Österreich nicht nur  im Sinne der  Förderung  der  Selbsterhaltungsfähigkeit  äußerst  relevant.  Er  bietet  darüber  hinaus  eine wertvolle Stütze zur emotionalen Bewältigung einer ungewissen Zukunft. Dies berichten auch Weiss, Enderlein und Rieker  (2001, 109), die ebenfalls auf die „Stabilisierungs‐ und Orientierungsfunktion, die die Schule für junge Flüchtlinge haben kann“ verweisen. 

Ressourcen für Bildung von unbegleiteten Minderjährigen 

Als eine der derzeit wichtigsten Ressourcen  für die  (Aus)bildung von unbegleiteten Minderjährigen wurden in einer Vielzahl von Interviews – sowohl von Seiten der Expert/innen als auch von Seiten der Jugendlichen  und  jungen  Erwachsenen  selbst  –  die  Unterstützung  von  ehrenamtlich  tätigen Personen, die Lernhilfe anbieten, genannt:  

I have a very nice private tutor, I got to know her when I made a basic education course. If I have questions, she  invites me to come to her place and explains me everything that I don’t understand.  

Aktuell  wird  dies  beispielsweise  von  lobby.169,  einer  zivilgesellschaftlichen  Organisation  zur 

Förderung  der  Bildungssituation  von  jungen  Flüchtlingen  in  Österreich,  strukturell  durchgeführt. Auch viele Unterbringungseinrichtungen für unbegleitete Minderjährige kooperieren mit Freiwilligen, die sich in Form von Zeit und Wissen für Nachhilfe zur Verfügung stellen.  

Conclusio/Ausblick 

Die  Bildungssituation  von  unbegleiteten Minderjährigen  in  Österreich  ist  von  einer  Vielzahl  von Herausforderungen  geprägt.  Große  Hindernisse,  die  den  Einstieg  in  das  reguläre  österreichische Schulsystem äußerst schwierig machen, sind größtenteils  in der österreichischen Bildungslandschaft  zu verorten. Besonders der Zugang zu  höherbildenden Schulen wie Gymnasien, Höhere Technische Lehranstalten, Handelsakademien etc.  ist aufgrund einer geringen Übereinstimmung  zwischen den 

                                                            9 Für weitere Informationen zu lobby.16 sei auf folgende Homepage verwiesen: http://www.lobby16.org/. 

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lehrplanbezogenen  Anforderungen  einerseits  und  den  Bildungshintergründen  und Deutschkenntnissen sowie dem Alter vieler unbegleiteter Minderjähriger andererseits eingeschränkt. Weitere  Faktoren,  die  die  ausbildungsbezogene  Laufbahn  von  unbegleiteten  Minderjährigen  in Österreich beeinträchtigen, sind ein Mangel an finanziellen Mitteln für bildungsbezogene Materialien und  Aktivitäten  sowie  eine  teilweise  abrupte  Unterbrechung  der  Ausbildung  bei  Erreichen  der Volljährigkeit  und  Überstellung  in  eine  Unterbringung  für  erwachsene  Asylwerber/innen.  Dass unbegleitete Minderjährige dadurch nicht mit  jenen Qualifikationen ausstattet werden, die  sie  für eine selbstständige Bewältigung der Zukunft benötigen, ist offensichtlich. Darüber hinaus begrenzt es deren  Möglichkeiten  zur  Interaktion  mit  jungen  Österreicher/innen  und  zur  Integration  in  ‚die österreichische Gesellschaft‘ stark.  

Als mögliche Lösungsansätze zur Verbesserung der aktuellen Situation empfahlen zahlreiche der  im Rahmen  der  vorgestellten  Studie  befragten  Interviewpartner/innen  strukturelle  Veränderungen einerseits  und  die  verstärkte  Bereitstellung  individueller  Unterstützung  andererseits.  Auf struktureller Ebene wird von den Expert/innen ein Umdenken  im Bildungsbereich, gefolgt von der Einrichtung  von  Schulen,  die  sowohl  den  Bildungshintergrund  als  auch  das  Alter  unbegleiteter Minderjähriger  in  Österreich  ausreichend  berücksichtigen,  als  zielführend  betrachtet.  Auch  die Bereitstellung  höherer  Gelder  sowie  die  Schaffung  eines  Angebots  von  spezifischen  (Berufs‐) Qualifizierungen und dem Zugang  zu Arbeitsmarkt und Lehrstellen wurde als wertvolle Alternative zur  Absolvierung  einer  ‚klassischen’  Schullaufbahn  genannt.  Im  Sinne  individueller  Unterstützung verwiesen die befragten Personen auf die Bedeutung von persönlicher Lernbegleitung, etwa in Form von Patenschaften, Bildungspartnerschaften oder Mentor/innen. Auch die Förderung eines offenen und positiven Klassenklimas, wo Fragen und Zweifel der Jugendlichen und  jungen Erwachsenen mit Verständnis und Wohlwollen begegnet wird und welches durch das Engagement von Einzelpersonen und ohne den Einsatz großer Ressourcen verwirklicht werden kann, wurde von einem  interviewten Sozialarbeiter als wichtiger Lösungsansatz angeführt.  

Die  Umsetzung  dieser  Vorschläge  und  die  konsequente  Verfolgung  des  Ziels,  unbegleiteten Minderjährigen eine möglichst umfassende Ausbildung anzubieten, stellt einen wichtigen Schritt zur Verwirklichung eines sehr zentralen Wunsches von dieser ohnehin auf vielen Ebenen benachteiligten und teilweise besonders vulnerablen Gruppe von jungen Menschen dar.  

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  (Recherchedatum 31.07.2012)  Daniela Blecha hat an der Universität Wien, der Universität  Lund und der Autonomen Universität Barcelona studiert und verfügt über einen Abschluss in Internationaler Entwicklung und Psychologie. Sie arbeitet seit 2008 im  Länderbüro der  Internationalen Organisation  für Migration  (IOM)  in Wien, wo  sie unter anderem  für die Koordinierung des hier vorgestellten Projekts zuständig war.  

   

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Heterogenität ist nun auch in Schulen „in“!?  Inklusion im Widerspruch zu neoliberaler Gouvernementalität 

CORNELIA DINSLEDER 

 Die Verschiedenheit von Schüler_innen  „zu würdigen und als Ausgangspunkt der Gestaltung einer Schule  für  alle  zu  erkennen  und  anzuerkennen,  ist  eine Herausforderung  für  die  gesellschaftliche Institution  Schule“  (Schwohl/Sturm  2010:  17).  Schon  Johann  Friedrich  Herbart  hat  die Nichtbeachtung  der  „Verschiedenheit  der  Köpfe“  (in  Rutt  1957:  176)  als  „Grundfehler  aller Schulgesetze“ (ebd.) und als „das große Hindernis aller Schulbildung“ (ebd.) beschrieben. Im Zeitalter der  Aufklärung  kam  es  unter  Maria  Theresia  1774  zur  Unterzeichnung  der  Allgemeinen Schulordnung.  Eine  sechsjährige  Unterrichtspflicht  in  den  Volksschulen  wurde  durchgesetzt. Mit einem gleichschrittig und einheitlich gestalteten Unterricht wurde und wird eine große Anzahl von Schüler_innen beschult. Der Unterricht lässt sich holzschnittartig folgendermaßen beschreiben: „Die gleichen Schüler  lösen beim gleichen Lehrer  im gleichen Raum zur gleichen Zeit  im gleichen Tempo die  gleichen Aufgaben mit  dem  gleichen  Ergebnis"  (Scholz  2008  zit.  n.  Schwohl/Sturm  2010:  16). Durch  die  Adressierung  der  Schüler_innen  als  Gleiche  und  durch  homogenisierte  Lerninhalte, Lernzeiten  und  Prüfungsformen  sollen  alle  Heranwachsenden,  die  gleiche  Chance  haben,  Bildungstitel und Abschlüsse zu erwerben. 

Wir  leben  in Migrationsgesellschaften1. Phänomene der Alterität erfahren eine Umwertung:   „Diese werden  nicht  länger  perhorresziert,  pathologisiert  und  normalisierend  eingeebnet,  sondern anerkannt, ästhetisch konsumiert und/oder als Ressource nutzbar gemacht“  (Bröckling 2007: 135). Bröckling konstatiert, dass Alterität bzw. das Andersartige anerkannt wird. Durch diese Anerkennung von Alterität wird  jedoch nicht zwingendermaßen  ihre Ausgrenzung  im Sozialen vermindert.  In der beschriebenen  Umwertung  von  Alterität  oder  Andersheit  erfährt  das  Andere  eine  „positive Positionierung“ im Raster einer ökonomischen Verwertbarkeit.  

Die  Heterogenität  von  Schüler_innen  ‐  die  einen  Migrationshintergrund  haben  können,  denen unterschiedliche Begabungen  zugeschrieben werden, die  Lernschwächen und/oder Behinderungen aufweisen können ‐ soll in Schulen in pädagogischer Form Berücksichtigung finden. Heterogenität ist (nun  auch  in  der  Schule)  „in“?  Individuelle  Förderung  von  Schüler_innen  mit  unterschiedlichen Leistungsniveaus  und  Bedürfnissen  werden  durch  bildungspolitische  Reformen  (z.B.  durch Integrationslehrer_innen) in ersten Schritten umgesetzt. Die Zahl der Sonderschulen vermindert sich und  Schüler_innen  werden  mit  ihren  heterogenen  Leistungsvoraussetzungen  in  Regelschulen 

                                                            1 Mit dem „Wir“ beziehe  ich mich auf eine eurozentristische Perspektive, aus der  ich überwiegend spreche.  Jedoch kann sich beinahe  jedes Land und Volk dieser Erde als Migrationsgesellschaft bezeichnen, wobei unterschiedliche Formen der Migration  stattfinden. Wir  leben weiters  in  „multiplen Modernen“/Realitäten  und  die  Herausforderungen  unserer  Zeit lassen sich nicht auf ein „Epochen‐Label“ reduzieren  (vgl. Bröckling 2007: 119). Wir  leben  in einer Migrationsgesellschaft und  in  einer  Risiko‐, Wissens‐  und Multioptionsgesellschaft,  um  nur  einige  der  „Binde‐Strichgesellschaften“  (ebd.)  zu nennen.

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integriert. Schüler_innen sollen auch mehr Selbstständigkeit im Lernen und Problemlösen erreichen, denn  sie  müssen  in  Zukunft  ihr  individuelles  Leistungsprofil  eigenständig  am  Arbeitsmarkt positionieren. 

In  diesem  Beitrag  steht  die  Frage  im  Zentrum,  wie  strukturelle  und  inhaltliche  Merkmale  der Institution  Schule  zur  Exklusion  führen,  obwohl  gesetzliche  Regelungen  und  bildungspolitische Bemühungen  zur  Förderung  von  Chancengerechtigkeit  und  Inklusion  vorhanden  sind.  In  diesem Beitrag wird dargestellt, wie Schulen zur Herstellung und Aufrechterhaltung von sozialer Ungleichheit beitragen  können  (vgl.  Wernet  2003;  Hadjar  2008;  Kupfer  2011,  Bourdieu/Passeron  1971),  was jedoch  im  Widerspruch  zu  einer  inklusiven  Schule  steht.  In  einem  weiteren  Schritt  wird  die Ökonomisierung  der  Schule  und  die  Diffundierung  von  neoliberaler  Gouvernementalität  auf  der Organisationsebene  (Autonomisierung  der  Schulen)  und  darauffolgend  auf  der  Ebene  der pädagogischen  Hauptakteur_innen,  den  Lehrer_innen  und  Schüler_innen  thematisiert.    Einerseits wird  die  Beförderung  sozialer  Ungleichheit  und  die  Beschneidung  der  Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe aufgezeigt. Andererseits wird abschließend das Bild eines unweigerlichen Soges von neoliberalen Vermarktungsprinzipien, die auch die  Institution Schule vereinnahmen und soziale Ungleichheit  verstärken,  relativiert,  indem  eine  Fokusveränderung  auf Alltagspraktiken der Akteur_innen  vorgeschlagen  wird  und  Handlungsmöglichkeiten  und  die  Widerständigkeit  der Subjekte betont werden. 

Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit  

Durch PISA‐Testungen wurde dem deutschen und österreichischen Schulwesen eine hohe Selektivität (vgl. Schwohl/Sturm 2010: 16) bzw. eine frühe Weichenstellung im Verlauf der Bildungskarriere von Schüler_innen  im  Übergang  von  der  Primar‐  auf  die  Sekundarstufe  attestiert. Bildungslaufbahnverlierer_innen  sind  hier  überwiegend  Schüler  und  Schülerinnen  mit  einem benachteiligenden  sozioökonomischen  Status, wobei  hier  in  verschiedenen  Statistiken  die Gruppe der  Menschen  mit  Migrationshintergrund  einen  besonderen  Fokus  erhält.  Die  Hürden  der Anerkennung  von  kulturellem  Kapital  (Schul‐  oder  Hochschulabschlüsse,  Ausbildungen  usw.)  in Österreich  oder  Deutschland  von  ehemals  vor  Jahrzehnten  oder  kürzlich  zugewanderten Migrant_innen und damit verbundene Einschränkungen der Erwerbsmöglichkeiten werden in diesem Zusammenhang weniger diskutiert.  

Fragen  der  Chancengerechtigkeit  und  der  Integration  bzw.  Inklusion  von  Menschen  mit Migrationshintergrund  sind  vor  allem  bezogen  auf  die  Leistungsfähigkeit  der  nationalen Schulsysteme  im  internationalen Vergleich  (vgl. Diskussion der PISA‐Ergebnisse)  in den Mittelpunkt gerückt. Der  bildungspolitische  Auftrag  an  Schulen  und  an  das  Bildungswesen  lautet,  dass  sie  zu Integrationsagenturen  werden  sollen,  in  denen  Heterogenität  Raum  erhält  und  worauf  mit individueller Förderung reagiert werden soll. 

Im  österreichischen  Schulorganisationsgesetz  ist  eine  „allgemeine  Zugänglichkeit  der  Schulen“ festgelegt, die Zugang „ohne Unterschied der Geburt, des Geschlechtes, der Rasse, des Standes, der Klasse,  der  Sprache  und  des  Bekenntnisses“  gewähren  soll  (Österreichisches 

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Schulorganisationsgesetz  1962,  §  4).  Die  allgemeine  Zugänglichkeit  ist  jedoch  aufgrund unterschiedlicher Kapitalausstattungen der Herkunftsfamilien von Schüler_innen verzerrt.  

Fend (2011: 43 ff.) beschreibt vier zentrale Funktionen der Schule: Qualifikation, Selektion oder „eine legitimierbare Allokation von Personen mit bestimmten Aufgaben mit bestimmten Anforderungen“ (ebd., S. 44), kulturelle Reproduktion und  Integration, wozu die „die Legitimation von Autorität als auch  die  Legitimation  von  Leistungsorientierung“  (ebd.,  S.  45)  gehört.  Die  Schulen  stellen unterschiedliche Qualifikationen bereit, die zum „System der Positionsverteilungen“ (Fend 2011: 43) innerhalb  der  Sozialstruktur  einer  Gesellschaft  führen,  in  der  nicht  alle  alles  machen  können. Bildungsverläufe  und  Qualifikationsbemühungen,  die  zu  bestimmten  Positionen  innerhalb  der arbeitsteiligen  Gesellschaft  führen,  sind  weniger  vom  Interesse  der  jeweiligen  Schüler_innen abhängig als von ihrem sozioökonomischen Hintergrund.  

Die Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit basiert zu einem wesentlichen Teil auf den  sich  hartnäckig  haltenden  Mythos  einer  gerechten  Verteilung  von  Gütern,  Ressourcen  und „Erfolg“ aufgrund eines meritokratischen Prinzips  (meritum = Verdienst, kratein = herrschen). „Das meritokratische  Prinzip  sozialer Ungleichheit  legitimiert Unterschiede  in  der  Ressourcenverteilung bzw.  stellt  diese  als  gerecht  dar“  (Hadjar  2008:  45).  Die  gerechte  Verteilung  von  Gütern  und Zugängen  nach  individuellen  Leistungen  von  Menschen  erweist  sich  bei  genauerem  Betrachten gesellschaftlicher Verhältnisse als Chimäre.  

Das  Bestreben,  dass Menschen  ihrer  Leistung  entsprechend  den  gerechten  Lohn  bzw.  Verdienst erhalten,  kann  nicht  von  einer    menschenunabhängigen  Machtinstanz    geregelt  werden.  Die Bestimmung des Wertes von menschlichen Leistungen bildet die Krux des meritokratischen Prinzips im  Hinblick  auf  die  Erreichung  einer  gerechten  Verteilung  von  sozialen  Positionen  und Verdienstmöglichkeiten. Es  ist  „unklar, wer eigentlich  in einer Gesellschaft  festlegen kann, was als Begabung und Leistung anerkannt werden soll, und es besteht die Gefahr, dass in einer Meritokratie die ‚Verdienten‘ selbst diese Art von Definitionen vornehmen, um ihre Privilegien zu sichern“ (Kupfer 2011: 161). 

Zu  den  Aufgaben  von  Lehrer_innen  gehören  im  Wesentlichen  die  Wissensvermittlung  und Leistungsbeurteilung, wobei alle Schüler_innen möglichst gleich  zu behandeln und  ihre  Leistungen objektiv  zu  bewerten  sind.  Die  „Institutionalisierung  eines  universalistisch‐unpersönlichen Leistungsmusters“ (Wernet 2003: 97) stellt einen zentralen Aspekt der „Kulturbedeutsamkeit […] der Schule  in der modernen Gesellschaft“  (ebd.) dar. Die  Legitimation der  schichtabhängig ungleichen Verteilung  von  Bildungsabschlüssen  durch  ein  idealiter  gegebenes  universalistisch‐unpersönliches Leistungsmuster kann  in Analogie  zur Legitimation  sozialer Ungleichheit durch das meritokratische Prinzip betrachtet werden.  Die Leistung von Schüler_innen kann nur subjektiv beurteilt werden bzw. kann die Bewertung  von  intersubjektiv  geteilten Konzepten oder –praktiken  geprägt  sein, die  von bestimmten  (machtvollen)  Menschengruppen  oder  politischen  Instanzen  definiert  wird. Schüler_innen  werden  von  Lehrer_innen  nicht  als  Gleiche  adressiert,  denn  es  kommt  zu systematischen askriptiv‐partikularen Dimensionen in ihrer Bewertung (vgl. Wernet 2003: 98).  

Schülerinnen  und  Schülern  aus  anderen  sozialen  Milieus  (Anm.  d.  Verf.:  abseits  der Mittelschicht)    würde  der  Zugang  zur  Schule  dann  nicht  erst  auf  der  Ebene  des 

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Bildungskanons oder offizieller  Leistungskriterien und Bewertungsmaßstäbe  erschwert, sondern bereits auf der stummen Ebene der Praktiken und des nicht‐expliziten Wissens. Umgekehrt würden  jene  Schülerinnen  und  Schüler  implizit  privilegiert,  die  sich  in  der Schule bereits aufgrund  ihrer Herkunftshabitus heimisch  fühlen und  so  sicher bewegen wie Fische im Wasser (Alkemeyer 2009, 135). 

Die soziale Herkunft der Kinder   bzw. der sozio‐ökonomische Status der Eltern  ist ein wesentlicher Faktor zur Vorhersage ihres Bildungserfolgs. Beim „Wettrennen“ um institutionalisierte Bildungstitel starten  die  Kinder  aus  ganz  unterschiedlichen  Positionen.  Durch  die  Arbeiten  von  Bourdieu  und Passeron  „Illusion  der  Chancengleichheit“  (1971)  wird  deutlich,  dass  schulische  Bildung  nur  in Ausnahmefällen  zum  Eintritt  in  höhere  soziale  Schichten  verhilft.  Bourdieu  hat  anhand  seiner Kapitaltheorie gezeigt, dass neben  institutionalisierten Bildungsabschlüssen das Vorhandensein von kulturellem  inkorporierten Kapital  (z.B.  in Form von milieuspezifischen Habitualisierungen  in Bezug auf  Lesegewohnheiten,  Diskussionskultur  usw.),  sozialem  sowie  ökonomischem  Kapital ausschlaggebend für sozialen Aufstieg ist (Bourdieu 1997).  

Antonia  Kupfer  (2011)  greift  in  diesem  Zusammenhang  in  ihrer  Darstellung  von  Theorien  zur Bildungssoziologie die Debatte von Bildung und sozialer Ungleichheit auf.  

Je höher das ökonomische, kulturelle und soziale Kapital einer Person, das entscheidend den Habitus prägt, desto  erfolgreicher absolviert  sie die  Schule und Universität, da  es sich  um  Bildungseinrichtungen  handelt,  die  mit  ihrer  Beschaffenheit  Menschen  mit höherem  Kapital  und  einem  dazugehörigen  Habitus  fördern  und  Menschen  mit geringerem Kapital und dazugehörigem Habitus benachteiligen (Kupfer 2011: 83). 

Schüler_innen, deren Habitus sich der Mittelschicht zuordnen lässt, entsprechen viel mehr der Norm der homogenisierenden  institutionalisierten Schule, als Heranwachsende aus sozial benachteiligten Schichten oder Kinder und  Jugendliche, deren  inkorporiertes kulturelles Kapital vom  „natio‐ethno‐kulturellen  Zugehörigkeitsraum“2  (vgl.  Mecheril  2003:  18)  abweicht.  „Die  Berufung  auf  den schulischen Leistungsuniversalismus sei deshalb so perfide, weil das Ererbte darin kontrafaktisch zum Erworbenen deklariert wird. Darin drückt sich der  legitimatorische Betrug der Bildungsinstitutionen aus“ (Wernet 2003: 100).  

In der „Disziplinarinstitution“ Schule (vgl. Foucault 1976: 269 ff.), wo die Körper und die Bewegungen der Heranwachsenden  im Blick der  Lehrer_innen  sind, um das Produkt  ihrer Kräfte  zu  vermehren (ebd.,  216),  erhalten  Kinder  aus  sozial  benachteiligten  Schichten  eher  Sanktionen  als  Kinder mit einem Mittelschicht‐Habitus.  Lehrer_innen kommen  selbst überwiegend aus der Mittelschicht und betrachten  ihren  eigenen  Habitus  und  Geschmack  eher  als  Norm  für  die  Heranwachsenden.  Sie bevorzugen tendenziell jene Schüler_innen, die einen ähnlichen Habitus aufweisen (vgl. Kupfer 2011: 169). Die Mittelschichtorientierung der Schule  führt  zu einer  ständisch‐askriptiven  (Re‐)Produktion 

                                                            2 „Die  primären Modi  nationalen  Einbezugs  und  nationalen  Ausschlusses  sind  somit  nicht  allein  auf  das Moment  der formellen  Mitgliedschaft  und  nicht  einmal  allein  auf  symbolische  Mitgliedschaft  überhaupt  beschränkt,  sondern verwirklichen  sich  über  zugebilligte  und  kultivierte  Handlungsfähigkeit,  über  kulturelle  Vertrautheit  sowie  über  die Ausbildung von biographischen Bezügen zu dem sozialen Zugehörigkeitskontext“ (Mecheril 2003: 18).

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sozialer  Ungleichheit  im  Bildungswesen  und  demaskiert  den  als  universalistisch  geltenden Leistungsmythos (vgl. Wernet 2003: 100).  

Gomolla  und  Radtke  (2009)  haben  die  Herstellung  von  sozialer  Ungleichheit  auf  der Organisationsebene von Schule durch den Begriff der „institutionellen Diskriminierung“ untersucht und  dargestellt,  dass  der  Bildungserfolg  von  Schüler_innen mit Migrationshintergrund  durch  die Organisation der  Schule behindert wird. Kinder werden beim  Schuleintritt  in möglichst homogene Schulklassen  eingeteilt.  Weiters  findet  eine  frühe  Selektion  im  Übergang  von  der  Primar‐  zur Sekundarstufe  statt,  wobei  für  Schüler_innen  mit  Migrationshintergrund  meist  nachteilige Weichensetzungen in der Bildungslaufbahn eingeleitet werden. Die häufigere Zuweisung von Kindern mit Migrationshintergrund  zu  spezifischen  Schularten  wie  Sonderschulen  verringert  die  Chancen bzw. führt zur Unmöglichkeit, Ausbildungs‐ und Studienplätze zu erhalten (vgl. Kupfer 2011: 169).  

Autonomisierung der Schulen und neoliberale Gouvernementalität 

Im Zusammenhang mit der Entwicklung einer neoliberalen bildungspolitischen Steuerung steht die Autonomisierung von Schulen und Universitäten  sowie der Einzug eines New‐Public‐Management‐Modells,  das  die  früher  zentralistisch‐politische  Steuerung  von  Schulen  und  Universitäten  ablöst. Schulen  treten mit  ihren Schwerpunktsetzungen und Profilierungen  in Konkurrenz  zueinander und die „Kund_innen“, sprich die Eltern der Schüler_innen, wählen aus dem Angebot aus.  

Was  derzeit  unter  den  Stichworten  “Selbstorganisation”  bzw.  „lernende Organisation“ zur  Schulreform  diskutiert  wird,  trägt  auf  den  ersten  Blick  zwar  das  Gesicht  der Humanisierung,  läuft  letztendlich  jedoch darauf hinaus, die  Zumutungen an die  in der Institution lebenden und lehrenden Menschen zu verstärken (Pongratz 2004: 254). 

Die Mitarbeiter_innen  –  Lehrer_innen  –  werden dazu aufgefordert, am Erfolg des gesamten Schul‐„Betriebes“    mitzuarbeiten,  sich  nicht  mehr  als  „Einzelkämpfer_innen“  zu  verstehen.  Das bildungspolitisch geforderte Modell einer konkurrenzorientierten Angebotsstruktur von Schulen hat zur  Folge,  dass  die  Leistung  der  Lehrer_innen  evaluiert wird  und  es  zu  einer Hierarchisierung  im Lehrkörper  kommen  kann.  In  einem  Interview  aus  den  empirischen  Erhebungen  zu  meiner Dissertation3    mit  einer  Schulleiterin  spricht  diese  in  diesem  Zusammenhang  von  „tüchtigen“ Lehrer_innen und „Kollegen, die nicht so tüchtig sind, die nicht so, solche Zugpferde sind“ (Interview: Barbara  2009,    Z  243  –  256).    Lehrer_innen  und  auch  Schulleiter_innen  sind  dazu  aufgefordert, beständig an der Weiterentwicklung der Schule und  ihrer eigenen professionellen Kompetenzen zu arbeiten.  

Schule wird zum Bildungsbetrieb, der organisiert werden muss und dessen Output an internationalen Leistungsvergleichen gemessen wird. Es sind nicht nur wissenschaftliche Interessen, „die PISA aus der Taufe  hoben“  (Pongratz  2004:  244).  Die  Großorganisation  OECD  (Organisation  for  Economic 

                                                            3 Ich arbeite an meiner Dissertation zu Kontexten sozialer Praxis von Lehrern und Lehrerinnen in Schulen und habe in einem Zeitraum von jeweils einem Jahr eine Hauptschule außerhalb einer Landeshauptstadt und ein Gymnasium in einer Stadt mit einem ethnographischen Forschungszugang untersucht. 

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Coorperation  and Development)  nimmt  Einfluss  auf  Fragestellungen  und  Durchführung  der  PISA‐Studie. 

Es  verwundert  daher  wenig,  dass  sich  hinsichtlich  der  Privatisierungspolitik  und Sprachregelung  bei  globalen  Institutionen  (wie  OECD,  WTO,  Weltbank  oder  IWF) allenthalben  die  gleichen  Zielvorgaben  wiederfinden  lassen.  Sie  lauten:  Durchsetzung privatwirtschaftlicher  Steuerungsprinzipien  im  öffentlichen  Sektor, betriebswirtschaftliche  Umgestaltung  von  Bildungs‐  und  Wissenschaftsinstitutionen, Einführung von Markt‐ und Management‐Elementen auf allen Prozessebenen“ (Pongratz 2004: 244). 

Ingrid Lohmann stellt Erfahrungen mit der Privatisierung des Bildungswesens  in Ländern wie Chile, Neuseeland,  China  und  Kanada  dar.  Zusammengefasst  zeigt  die  Privatisierung  in  den  Ländern folgende  Effekte:  „(S)inkende  Staatsausgaben  für  den  Bildungssektor“  (Lohmann  2002:  103), Verschärfung der sozialen Ungleichheit im Zugang zu Wissen und ein Ansteigen der Homogenisierung von Schüler_innen nach Schichtzugehörigkeit, die aufgrund des sozio‐ökonomischen Hintergrunds in unterschiedliche Schulen gehen (vgl. ebd.). Durch die Autonomisierung von Schulen tritt das Moment der  Konkurrenz  um  leistungsfähige  und möglichst  verhaltensunauffällige  Schüler_innen  stärker  in den Vordergrund, sofern hier nicht bildungspolitische Regulationen  stattfinden.   Denn Schulen mit Schüler_innen,  die  hohe  Leistungen  bei  genormten  Bildungsrankings  (z.B.  Bildungsstandards  oder PISA) erzielen, sind für finanzkräftige Kund_innen (Eltern, Sponsoren ‐ Firmen usw.) attraktiver. 

Anerkennung  von  Differenzen  versus  Individualisierung  im  Sinne  einer Selbstoptimierung 

Bourdieu und Passeron haben in ihrem Buch zur „Illusion der Chancengleichheit“ (1971) einen Ansatz zur Überwindung der Reproduktion der sozialen Ungleichheit durch das Bildungswesen vorgelegt. Er setzt  innerhalb  der  Bildungsinstitutionen  an  und  soll  die  Bildungsergebnisse  der  ungleich ausgestatteten  Bildungspartizipant_innen  nicht  absolut  setzen,  sondern  ihr  „Handikap“  bzw.  die Differenzen  in den Leistungsvoraussetzungen berücksichtigen. Eine wirkliche Chancengleichheit soll durch  eine  Wertung  der  schulischen  Leistung  „proportional  zum  überwundenen  Handikap“ (Bourdieu/Passeron 1971: 83) umgesetzt werden.  

Im Ansatz von Bourdieu und Passeron wird eine Verschiebung von Bewertungsmaßstäben durch die Berücksichtigung der ungleichen Leistungsvoraussetzungen vorgeschlagen, um dem Anspruch einer Chancengleichheit  gerecht  zu werden. Der Anspruch  einer  inklusiven  Schule bzw.  einer  inklusiven Gesellschaft reicht weiter.   Das Vorhaben, „eine Schule  für alle zu schaffen“  (Schwohl/Sturm 2010: 13),  stellt  eine  große  Herausforderung  dar.  Vor  allem  in  Anbetracht  dessen,  dass  Schule  als Schaltstelle  gesellschaftlicher  Normierung,  Homogenisierung  und  Hierarchisierung  betrachtet werden  kann  (vgl.  Foucault 1976), deren Kapazitäten  für das Eingehen auf die Heterogenität  „der Köpfe“ in sehr engem Rahmen konzipiert wurden. 

 Viele  internationale Vereinbarungen, die auch von Österreich mitgetragen werden, wie z. B.  die  Salamanca‐Erklärung  der UNESCO  (1994),  die Deklaration  von Madrid  (2002) 

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und die UN‐Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2007) stützen die Idee einer integrativen/inklusiven Gesellschaft und Schule und können als Grundlage einer veränderten nationalen Bildungspolitik bezeichnet werden (Feyerer 2009 online im Internet). 

Derzeit  wird  „die  veränderte  nationale  Bildungspolitik“  durch  zusätzliche  Lehrkräfte,  die Schüler_innen  mit  nicht  standardisiert  attestiertem  „sonderpädagogischem  Förderbedarf“  (SPF) unterstützen,  realisiert.  Einerseits  können  auch  Kinder  aus  sozial  benachteiligten  Schichten  von dieser  Unterstützung,  die  auch  Kindern  mit  Behinderungen  zukommt,  profitieren,  indem  sie entsprechend ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten gefördert werden. Andererseits ist unklar, inwiefern es  beispielsweise  zur  Diskriminierung  der  betroffenen  Jugendlichen  bei  der  Arbeitsplatzsuche kommt.  Laut  Feyrer, der über die  „Qualität der  Sonderpädagogik“  im  „Nationalen Bildungsbericht Österreich 2009“ schreibt, fehlen hierzu Langzeitstudien. 

Ludwig  Pongratz  (2004)  beschreibt  in  seinem  Beitrag  „Freiwillige  Selbstkontrolle“  die  Schule zwischen Disziplinar‐ und Kontrollgesellschaft im Rekurs auf Michel Foucault und unter Einbeziehung von  neuen  internationalen  gouvernmentalen  Strategien  im  Bildungswesen  (z.B.  PISA).  Unter  den Schlagworten Selbstbestimmung,  Individualisierung und Selbststeuerung  stellt Pongratz  (2004: 249 ff.) die Rolle neuer Selbsttechnologien zur Selbstoptimierung  für die Schüler_innen und die Schule heraus.  

Schüler  (werden)  umdefiniert  zu  Selbstmanagern  des  Wissens,  zu  autopoietischen ‚lernenden  Systemen‘, denen  vor allem dann Erfolg  in Aussicht gestellt wird, wenn  sie moderne  Managementqualitäten  an  sich  selbst  entwickeln,  also:  sich  die Produktionsmittel zur Wissensproduktion aneignen (Lernen des Lernens), sich unter den Selbstzwang  permanenter  Qualitätskontrolle  und  –optimierung  setzen (Motivationsmanagement), sich gleichermaßen als Kunde wie als Privatanbieter auf dem Bildungsmarkt  begreifen  lernen  (Selbstmanagement),  sich  permanenten  Kontrollen, Prüfverfahren und Zertifizierungen aussetzen  (Selbstoptimierung) usw.  (Pongratz 2004: 254). 

Foucault beschrieb aus genealogischer Perspektive die Entwicklung von Regierungsformen im Modus des  Überwachens  und  Strafens  ausgehend  von  einem  sichtbaren  Souverän  bis  zur entpersonalisierten  Disziplinierungsmacht,  die  sich  in  Gefängnissen,  Spitälern  und  Schulen durchsetzte.  „An  die  Stelle  des  Prinzips  von Gewalt/Beraubung  setzen  die Disziplinen  das  Prinzip Milde/Produktion/Profit“  (Foucault  1976:  281).  Während  im  18.  Jahrhundert  die  Körper  von Straftäter_innen noch in der Öffentlichkeit der Folterung ausgesetzt wurden und als abschreckendes Beispiel  dienen  sollten,  entwickelte  sich  im  19.  Jahrhundert  ein  Strafsystem,  das mit Milde  und Disziplinierung ans Werk ging und eine Verhaltensänderung der Straftäter_innen zu erwirken suchte (vgl.  Foucault  1976:  93  ff.). Durch  freiwillige  Selbstkontrolle  und  Selbstevaluation  findet  nun  eine Unterwerfung  „unter  ein permanentes und umfassendes ökonomisches  Tribunal“  (Pongratz  2004: 257)  statt.  „(G)lobales  testing,  ranking  und  controlling“  (Pongratz  2004:  244)  rahmen  die schulpolitischen Initiativen.  

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Pongratz  beschreibt „PISA als ein ‚trojanisches Pferd‘ der Disziplinargesellschaft“ (Pongratz 2004, S. 245),  das  im  „Schutz  einer  Weltverbesserungs‐  und  Freiheitsrhetorik“  (ebd.)  ähnliche Disziplinarprozeduren  erwirkt, wie  zuvor  der  panoptische Wirkungsraum mit  der Möglichkeit  der permanenten Überwachung und Sanktion  (da der/die Gefangene  immer sichtbar war,  jedoch nicht sehen  kann,  ob  er/sie  überwacht  wird).  Weiters  führt  er  aus,  dass  nun  die  „philanthropischen Opponenten,  die  für mehr  (Selbst‐)Verantwortung  und mehr  demokratische  Teilhabe  plädieren“ (ebd.)  von  den  Unterstützern  einer  neoliberalen  Gouvernmentalität  nicht  mehr  unterschieden werden können.  

Foucault legt in seiner Geschichte der Gouvernementalität das Zusammenspiel von einem modernen souveränen  Staat  und modernen  autonomen  Subjekten  dar.  Er  versteht  „Regierung  als  Führung, genauer gesagt als ‚Führung der Führungen‘, die ein Kontinuum umfaßt, das von der ‚Regierung des Selbst‘ bis zur ‚Regierung der anderen‘ reicht“ (Lemke 2000: 3). Bildungspolitische Aufforderungen an Einzelschulen,  mehr  Selbstbestimmung  und  eigenständiges  Lernen  bei  Schüler_innen  zu ermöglichen,  verkörpern  Forderungen des Humanismus und der Reformpädagogik. Die  Forderung von  selbstverantwortlichen  rationalen  Individuen  gehört  jedoch  gleichsam  zum  neoliberalen Programm,  was  den  Rückzug  des  Staates  und  den  „Abbau  wohlfahrtsstaatlicher Interventionsformen“ (Lemke 2000: 11) zur Folge hat. 

Im  Zuge  einer  neoliberalen  Ökonomisierung  verschiedener  Gesellschaftsbereiche  wird Verantwortung  und  auch Macht  an  die  Individuen  übergeben. Der/die  Einzelne  erhält  erweiterte Verantwortung  für die Gestaltung  ihres  Lebens und die Erweiterung der  Freiheit, über das eigene Leben zu entscheiden, wird in Aussicht gestellt. 

Da die Wahl der Handlungsoptionen innerhalb der neoliberalen Rationalität als Ausdruck eines  freien Willens auf der Basis einer  selbstbestimmten Entscheidung erscheint,  sind die  Folgen  des  Handelns  dem  Subjekt  allein  zuzurechnen  und  von  ihm  selbst  zu verantworten (Lemke 2000: 9). 

Lemke (2004) beschreibt ein „Unsicherheitsdispositiv“, da die Individuen zur Orientierung an einem „homo  oeconomicus“  aufgefordert  werden  und  die  Kosten  und  den  Nutzen  ihrer  Handlungen abwiegen  und  evaluieren  sollen  bzw.  müssen.  Die  Subjekte  sind  den  Zugzwängen  einer feinmaschigen  ökonomischen  Rationalität  ausgesetzt,  in  der  sie  sich  in  Konkurrenz  um  begehrte Arbeitsplätze und Kapital selbst optimieren, um als Gewinner hervorzugehen. In der Suggestion eines permanenten  Wettbewerbs  steigt  die  Angst  vor  dem  Scheitern.  Menschen  mit  geringem ökonomischen Kapital und kaum anerkanntem kulturellen Kapital (Bildungstitel, Sprache, Wissen, …) können  dem  jedoch  nur  wenig  entgegensetzen,  denn  sie  verfügen  über  ein  geringes  Maß  an Ressourcen (Schulbildung, Universitätsbildung usw.), die ihnen oder ihren Kindern zu einer besseren Positionierung am (Arbeits‐) markt  verhelfen könnten.  

Abschließende Betrachtungen 

Die  Vermarktlichung  von  Bildung  stellt  ein  Problem  dar,  da  „Märkte  systematisch  Familien  aus höheren sozialen Schichten durch ihr Wissen und ihre materiellen Ressourcen privilegieren“ (Kupfer 

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2011:  177).  Die  Hierarchisierung  der  Gesellschaftsmitglieder  nach  ihrem  Verfügen  über ökonomisches  Kapital  wird  nach  einem  wohlfahrtsstaatlichen  Intermezzo  wieder  verschärft.  Die unterschiedliche Ausstattung mit Ressourcen ist „ausschlaggebend für die weiteren Lebenschancen“ von Menschen,  „die  entsprechend  ungleich  verlaufen“  (ebd.:  179). Mit  dem  verstärkten  Einlass neoliberal ökonomischer Rationalität  in Bildungs‐, Gesundheits‐ und  Sozialsysteme  rückt das  Ideal einer inklusiven Gesellschaft in die Ferne. 

Abschließend soll die Perspektive auf Handlungsmöglichkeiten und die Widerständigkeit der Subjekte innerhalb  von  Organisationen/Institutionen,  sozialen  Milieus  oder  anderen  gesellschaftlichen Kontexten  gerichtet  werden.  Der  Aufbruch  zu  einer  neoliberalen  Marktdynamik  stellt  für Akteur_innen von Schulen beides dar: ihre Unterwerfung unter die Anforderungen des Marktes aber auch Möglichkeiten der Machtaneignung in der Artikulation und Positionierung ihrer Interessen, die wiederum die „Struktur“ verändern können. 

Foucault  reagierte  auf  die  Kritik  seines  Konzeptes  der  doppelten  Subjektivierung  mit  späteren Arbeiten zur Gouvernementalität (2004). Sie bieten eine Erweiterung der doppelten Subjektivierung, die  sich  nicht  auf  eine  zweifache Unterwerfung  des  Subjekts  reduziert,  sondern  die Gestalt  eines doppelten Prozesses der Unterwerfung und Machtaneignung hat. Die Machtaneignung des Subjekts stellt sich „durch die Gewährung von Freiheit und die Ausrichtung der Regierung an der Rationalität und den Interessen der Regierten“ dar  und die Unterwerfung „als Instrumentalisierung der Subjekte durch ihre der Wahrheit des Marktes unterworfenen Selbstregierung“ (Schmidt 2009: 159).  

Die Autonomisierung von Schulen muss nicht zu einer konsequenten Elitärisierung auf der einen bzw. zur Verwahrlosung von „unattraktiven“ Schulen auf der anderen Seite  führen, wenn die einzelnen Schulen und die Menschen dahinter sich entschließen, dem entgegenzuwirken. Auch im Rahmen von selbstgesteuertem  Lernen  können  durch  Anregung  von  Lehrer_innen  Unterstützungssysteme entstehen, die  in eine solidarische Lerngemeinschaft der gesamten Klasse münden können. Für die Darstellung konkreter empirischer Beispiele  fehlt  jedoch hier der Raum, wobei  im Zusammenhang dieses  Perspektivenwechsels  besonders  auf  den  Zugang  der  Cultural  Studies  hingewiesen werden kann. 

Bei den Cultural Studies rückt die Analyse von Alltagspraxen von Akteur_innen  in unterschiedlichen sozialen  Kontexten  ins  Zentrum  (vgl.  Mecheril/Witsch  2006:  13).  Hiermit  werden    auch  die Dimensionen der „Handlungsfähigkeit“ bzw. der „Widerstandsmöglichkeiten des Subjekts“ (Schmidt 2009: 158) deutlicher. Es wird argumentiert, „nicht nur den Blick dahingehend (zu) richten, was die Schule mit  den  Schülern“  (Sauter  2006:  126)  oder mit  anderen  schulischen  Akteur_innen macht, sondern welche  „komplementären Reaktions‐, Bewältigungs‐ und Verarbeitungsweisen“  (ebd.)  auf der Akteur_innenseite entstehen.  

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Schmidt, Bettina (2009). Den Anti‐Bias‐Ansatz zur Diskussion stellen. Beitrag zur Klärung theoretischer Grundlagen in der Anti‐Bias‐Arbeit, Oldenburg. 

Schwohl, Joachim/Sturm, Tanja (2010). Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung. Eine Einführung, in: Schwohl, Joachim/Sturm, Tanja (Hg.): Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung. Widersprüche und Perspektiven eines erziehungswissenschaftlichen Diskurses, Bielefeld, S. 13 – 28. 

Wernet, Andreas (2003). Pädagogische Permissivität. Schulische Sozialisation und pädagogisches Handeln jenseits der Professionalisierungsfrage, Opladen. 

 Cornelia Dinsleder  ist Dissertantin am  Institut  für Erziehungs‐ und Bildungswissenschaft an der Karl‐Franzens‐Universität Graz und beschäftigt sich mit kollegialen Kooperationen bei Lehrer_innen in Schulen.  Sie arbeitet als Sozialpädagogin, ist bei Kunstprojekten in der offenen Jugendarbeit tätig und ihre weiteren wissenschaftlichen Arbeitsschwerpunktinteressen  liegen  in  der  Hochschulforschung  zum  Thema  Herausbildung  professioneller Selbstverständnisse von Hochschullehrenden sowie im interdisziplinären Bereich von Schule und Architektur. 

 

 

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Schulabbruch als soziales Problem:  Ursachen, Auswirkungen, Prä‐ und Intervention

ERNA NAIRZ‐WIRTH UND ELISABETH WENDEBOURG 

Abstract 

Ausgehend  von  einer  Bestandsaufnahme  der  individuellen  und  gesellschaftlichen  Ursachen  und Folgen  von  Early  School  Leaving  befasst  sich  der  Beitrag  mit  Präventions‐  und Interventionsmaßnahmen,  die  wissenschaftlich  als  „erfolgreich“  evaluiert  wurden.  Argumentiert wird,  dass  Präventionsmaßnahmen  im  vorschulischen  Bereich  am  wirksamsten  sind,  ihre Nachhaltigkeit jedoch nur durch eine kontinuierliche Bildungsreform mit dem Ziel gewährleistet wird, allen  jungen Menschen die Motivation und Kompetenzen  für ein nachhaltiges  lebenslanges Lernen zu  vermitteln.  Empfohlen werden  daher  Schulentwicklungsmaßnahmen,  die  auf  den  Ebenen  der Schulleitung, der Interaktion, der professionellen Kompetenz, des Lernklimas und des ambitionierten Lehrens  (Bryk  et  al.  2010)  gleichzeitig  ansetzen,  um  die  Nachhaltigkeit  der  positiven  Effekte  von vorschulischen und schulischen Präventions‐ bzw. Interventionsprogrammen sicher zu stellen. 

Ausgangslage 

Derzeit  leben  in  der  Europäischen  Union  mehr  als  sechs  Millionen  Early  School  Leavers1, das heißt, jeder sechste 18 – 24‐Jährige (European Commission 2011a: 2) geht vorzeitig von der Schule ab. Mit dieser hohen Zahl sind hohe ökonomische Folgekosten verbunden. Berechnungen aus  Finnland, Deutschland  und  den Niederlanden  beziffern  die  volkswirtschaftlichen  Kosten  je  (!) Early School Leaver2 auf eine Million Euro und höher (vgl. European Commission 2011b: 11f.). Noch schwerer  wiegen  die  individuellen  und  sozialen  Folgen.  Denn  Early  School  Leavers  sind  mit schwerwiegenden  Folgen  ihrer  –  den  Normen  der  heutigen  Wissensgesellschaft  nicht  mehr entsprechenden  –  Bildungslaufbahn  konfrontiert:  Stigmatisierungen  durch  Dritte,  geringeres Einkommen,  Beschäftigungslosigkeit,  höhere  Krankheitsanfälligkeit  und  psychische  Folgen  von Arbeitslosigkeit und Armut.  

Heute sind diskontinuierliche Erwerbsverläufe nichts Ungewöhnliches, treffen aber  Jugendliche mit niedrigen  Bildungsabschlüssen  besonders  hart.  Diese  These  hat  seit  dem  Beginn  der  weltweiten Wirtschafts‐ und Finanzkrise im Jahr 2008 nochmals ihre empirische Bestätigung gefunden. In Europa                                                             1  Frühzeitige  Schul‐ und Ausbildungsabgänger  sind Personen  im Alter  von 18‐24  Jahren, die die  folgenden Bedingungen erfüllen: der höchste erreichte Grad der allgemeinen oder beruflichen Bildung entspricht ISCED 0, 1, 2 oder 3c kurz, und die Befragten dürfen  in den vier Wochen vor der Erhebung an keiner Maßnahme der allgemeinen oder beruflichen Bildung teilgenommen haben (Zähler). Der Nenner besteht aus der Gesamtbevölkerung der gleichen Altersgruppe; ausgenommen sind diejenigen, die die Fragen nach dem höchsten erreichten Grad  ihrer allgemeinen oder beruflichen Bildung und nach ihrer Teilnahme bzw. Nicht‐Teilnnahme an einer Maßnahme der allgemeinen und beruflichen Bildung nicht beantwortet haben. Sowohl die Zähler als auch die Nenner stammen aus der EU‐Arbeitskräfteerhebung (EUROSTAT 2011). 2 Die angeführte Summe bezieht sich auf eine potentielle Erwerbslebenszeit von 40 Jahren.

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werden besonders die  Jugendlichen von der Krise unverhältnismäßig hart getroffen  (Abbildung 1). Zwischen 2008 und 2010 ist die Anzahl der arbeitslosen Jugendlichen innerhalb der EU‐273um mehr als  eine  Million  auf  5,5  Millionen  angestiegen.  Die  niedrigsten  Quoten  (<  10%)  verzeichneten Österreich, Deutschland und die Niederlande, die höchsten (> 50%) Griechenland. Im Durchschnitt ist jeder  fünfte Jugendliche  (22%)  laut Eurostat  (2012)  in Europa und  jeder zweite Early School Leaver (53%) arbeitslos (vgl. Europäische Kommission 2011c: 5). Auch innerhalb der OECD haben 30 – 40% aller  Early  School  Leavers  anhaltende  Schwierigkeiten  beim  Zugang  zu  einem  dauerhaften Arbeitsplatz  und  sind  somit  armuts‐  und  ausgrenzungsgefährdet  (vgl.  Scarpetta/Sonnet/Manfredi 2010: 20). 

 

Abbildung 1: Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeitsraten ab 2005 (15‐24‐Jährige).  Quelle: European Commission 2011d: 2.  

 

                                                            3 Zu den EU‐Mitgliedsstaaten gehören: Österreich, Belgien, Bulgarien, Zypern, Tschechische Republik, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Ungarn, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Polen, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden und Großbritannien.

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Abbildung 2: Early School Leavers nachMigrationshintergrund.  Quelle:European Commission 2011b: 8. 

 

Die  bisherige  bildungswissenschaftliche  Diskussion  der  Problemlage  konzentriert  sich  auf Kompetenzdefizite,  Schulabbruch,  RisikoschülerInnen,  Arbeitslosigkeit  und  die  damit  verbundene Verringerung von Teilhabechancen. Der gesellschaftliche Kontext wird noch unzureichend beleuchtet (vgl.  TÁRKI  Social  Research  Institute/Applica  2010;  Gornick/Jäntti  2009).  Auch  in  den hochentwickelten  Ländern wachsen  viele Kinder  in Armut oder ungünstigen Bedingungen auf,  vor allem  Familien  mit  Migrationshintergrund  sind  überproportional  häufig  armutsgefährdet  (vgl. Bundesministerium  für Arbeit,  Soziales und Konsumentenschutz 2011: 55). Allmendinger/Leibfried (2003) haben daher den Begriff Bildungsarmut4 in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt, wobei die  intergenerationale Mobilität  in  die  Analysen  einbezogen  wird.  Die meisten  Personen,  die  in soziökonomisch benachteiligten Milieus  leben, haben über Generationen geringe Aufstiegschancen (vgl.  Schürz  2012;  Van  de  Werfhorst/Mijs  2010).  Early  School  Leaving  sollte  daher  verstärkt  in theoretischen,  gesellschafts‐  und  bildungspolitischen  Zusammenhängen  und  im  Kontext  der Einsatzmöglichkeiten qualitativ hochwertiger Prä‐ und Interventionsmodelle analysiert werden. Eine Basiserkenntnis  besteht  darin,  dass  gesellschaftliche  Ungleichheit  und  ungleiche  Bildungschancen durch familiäre und (vor)schulische Kontextbedingungen reproduziert werden (vgl. Bourdieu 2001). 

Somit  läuft  auch  in der heutigen modernen Wissensgesellschaft  eine  große  Population  an  jungen Menschen Gefahr,  ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit und Teilhabe  in zumindest drei Dimensionen zu  verlieren  (vgl.  Kronauer  2006:  34f.):  Erstens  in  die  gesellschaftliche  Einbindung  durch Erwerbsarbeit  (Ausgrenzung  durch  den  Status  des/der  „Überflüssigen“);  zweitens  in  soziale Netze (Ausgrenzung  durch  Isolation  bzw.  durch  Einbindung  in  Gruppen,  die  in  Konfrontation  zur Mehrheitskultur und zu den herrschenden Institutionen der Politik und Bildung stehen) und drittens in einen kulturell angemessenen Lebensstandard  (Ausgrenzung durch die Unfähigkeit, mit anderen mitzuhalten und durch Erfahrungen der Macht‐ und Chancenlosigkeit). Die größte Bedeutung unter allen ausgrenzenden Faktoren misst Kronauer dem Ausschluss von der Erwerbsarbeit zu, ohne dabei in  eine  andere,  gesellschaftlich  anerkannte  Position  (StudentIn,  RentnerIn,  Kindererziehung  im eigenen Haushalt) wechseln zu können. „Ausgegrenzt sein heißt dann, in der Gesellschaft keinen Ort zu haben, überzählig zu sein.“ (Ebd.) 

Inklusion und Exklusion sind andauernde Prozesse, die in modernen Gesellschaften mehrdimensional ablaufen,  z.B.  nach  Bourdieu  in  Felder  und  Kapitalsorten  gegliedert.  Ihre  theoretische  und methodische  Erfassung  erfolgt  inzwischen  interdisziplinär,  wobei  hier  nur  ein  Einblick  in  die wissenschaftliche Diskussion gegeben werden kann:  

In  Übereinstimmung  mit  der  Dimensionierung  der  Teilhabechancen  durch  Kronauer  (2006) unterscheidet  Levitas  (2005)  drei  Exklusionsdiskurse:  Der  erste  Diskurs  bezieht  sich  auf  soziale Ungleichheit und Verteilungsprobleme, d.h. Armut bzw. der Mangel an ökonomischem, kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital  (Bourdieu)  ist die Hauptform der Exklusion. Der zweite Diskurs 

                                                            4 Begrifflich ist hier eine Binnendifferenzierung vorzunehmen: Kompetenzarmut; Zertifikatsarmut.

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sieht die Ursache der Exklusion  in  kulturellen Diskrepanzen, d.h. benachteiligte Gruppen  (mit und ohne Migrationshintergrund) werden ausgeschlossen. Der dritte Diskurs sieht die Ursache vor allem in  der  Struktur  des  Arbeitsmarktes,  d.h.  Arbeitslosigkeit  und  prekäre  Beschäftigungsverhältnisse führen zu gesellschaftlicher Exklusion. 

Andere Ansätze kennen einen vierten Diskurs, der auf  Individualisierung  fokussiert  (vgl. Beck 1983; Giddens  1996). Das  Individuum wird  zunehmend  als  alleinverantwortlich  für  sein  Lebensschicksal gesehen  (Thompson  2011).  Dieser  Diskurs wird  in  der  offiziellen  Bildungsdiskussion  oft  reduziert aufgenommen, d.h. es wird versucht, dem Individuum unabhängig von Kapital‐ und Feldbedingungen Kompetenzen  und  sogenannte  Skills  zu  vermitteln.  Gelingt  dies  nicht,  erfährt  das  Individuum  oft Abwertung  und  Stigmatisierung,  wobei  auf  die  Fremdstigmatisierung  oft  Selbststigmatisierung, Beschädigung des Selbstwerts und Selbstexklusion  folgen  (vgl. Nairz‐Wirth 2011). Symptome eines solchen  Prozesses  sind  beispielsweise  Schule  schwänzen,  unpünktliches  und  unregelmäßiges Erscheinen am Arbeitsplatz. Die Überführung in sogenannte Übergangssysteme (vgl. Enggruber 2011) und andere Auffangfelder (therapeutische und sozialpädagogische Felder) verfestigen sukzessive den „double bind“ von Inklusion und Exklusion.  

Ursachen von Schulabbruch 

Bis  in  die  jüngste  Vergangenheit  dominierte  eine  auf  das  Individuum  und  psychosoziale  Defizite konzentrierte  Perspektive  rund  um  die  Erforschung  der  Ursachen  von  Schulabbruch.  Aus  einer solchen Forschungsperspektive sind Studien entstanden, die SchulabbrecherInnen mit Schülern bzw. Schülerinnen, die an der Schule bleiben, vergleichen, und zwar üblicherweise anhand dreier typischer Faktorengruppen:  (a) der  soziale Hintergrund  (z.B.  „Rasse“/Ethnie, Geschlecht,  sozioökonomischer Status,  Familienhintergrund,  städtischer Wohnbereich);  (b)  die  schulische  Leistung  (z.B.  schwache Prüfungsergebnisse,  mangelnde  Mitarbeit  im  Unterricht,  Klassenwiederholungen);  und  (c)  das Verhalten,  das mit  der  Schulleistung  verbunden  ist  (z.B.  geringes  Schulengagement,  Schwänzen, Disziplinprobleme).  Die  am  häufigsten  genannten  Risikofaktoren  sind  somit  das  soziale  und  das Leistungsrisiko, wobei  zu  ersterem  demografische  Faktoren  gehören,  also  Ethnie,  Alter,  Sprache, Migrationshintergrund,  Geschlecht,  Familieneinkommen,  Schulbildung  der  Eltern  und Familienstruktur.  Demnach  brechen  insbesondere  Angehörige  aus  Familien  mit  niedrigem Einkommen – und dies betrifft häufiger Familien mit einem Migrationshintergrund außerhalb der EU‐15‐Länder  –  die  Schule  häufiger  ab;  ebenso  Kinder  von  AlleinerzieherInnen  und  aus  Familien,  in denen ein Elternteil oder beide Eltern die Schule nicht abgeschlossen haben. Forschungen, die  ihr Augenmerk  auf  das  Individuum  legen,  sehen  schulische  Probleme  und Distanzierungsprozesse  als Folge  o.g. Merkmale  und  gehen  von  der  These  aus,  dass  die  Gefahr  des  Schulabbruchs mit  der Zunahme bzw. der Häufung der Risikofaktoren, der eine einzelne Person ausgesetzt  ist, steigt  (vgl. Rumberger/Palardy 2005). 

Eine  zentrale  sozialstrukturelle  Ursache  von  Early  School  Leaving  ist  die  soziale  Ungleichheit,  die ungünstige Lebenslage von Kindern in Familien, die über zu geringes bzw. unzureichend anerkanntes soziales  und  kulturelles  Kapital  sowie  ökonomisches  Kapital  verfügen,  das  für  eine  Schulkarriere erforderlich ist. Alleinerziehende Mütter oder Väter, die in prekären Verhältnissen leben, evtl. selbst 

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psychisch oder physisch krank sind und deren Kinder schon in der frühen Kindheit Auffälligkeiten und abweichendes Verhalten  zeigen, bedürfen besonderer  Stützung durch professionelle Maßnahmen, doch gerade diese erfolgt oft nicht ausreichend oder gar nicht. Wenn diese gefährdeten Kinder nicht bereits  durch  ausgezeichnete  Vorschulprogramme  gestärkt  und  aufgebaut  werden,  sind  ihre Chancen auf eine erfolgreiche Bildungslaufbahn von Beginn an reduziert. 

Schulabbruch  ist u.a.  von  folgenden  Kontextfaktoren  abhängig  (vgl.  European  Commission  2011b: 10): qualitativ unzureichende vorschulische Erziehung; große Schulen in Stadtgebieten, in denen vor allem sozial schwache Familien und Personen  in prekären Lebensverhältnissen wohnen; curriculare Strukturen, die nicht an den  Lebenswelten und  Interessen der SchülerInnen ausgerichtet  sind; ein ungünstiges  Schulklima,  das  durch  Konflikt,  Misstrauen  und  Entfremdung  gekennzeichnet  ist; mangelhafte professionelle Kooperation und  fehlende  Spezialkompetenzen, die  z.B. abweichendes Verhalten,  Krankheit  und  familiäre  Probleme  betreffen;  unzureichende  Berücksichtigung  anderer kultureller  Traditionen  und  Ressourcen;  geringe  oder  keine  Unterstützung  für  Schülerinnen  und Schüler, die in Schwierigkeiten geraten.  

Dass die theoriebezogene Trennung zwischen schulischen und außerschulischen Ursachen schwierig ist,  lässt  sich  am  Beispiel  abweichender  Peergruppen  belegen.  Diese  Peergruppen  agieren  zwar hauptsächlich im außerschulischen Bereich, doch städtische Haupt‐ bzw. Mittelschulen, Sonder‐ bzw. Förderschulen  bieten  bessere  Gelegenheitsstrukturen  für  den  Zugang  zu  solchen  Gruppen.  Die organisatorischen Formen der Selektion von Schülerinnen und Schülern haben folglich einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Schulversagen und ‐abbruch. 

Die  in  die  Diskussion  über  Early  School  Leaving  einbezogenen  Faktoren  haben  sich  in  den vergangenen  Jahrzehnten  quantitativ  erhöht.  Doch  entscheidend  sind  die  Veränderungen  in  der theoretischen  Sichtweise. Die demographischen Merkmale  Schicht,  Ethnie, Migrationshintergrund, Geschlecht  etc.  wurden  früher  relativ  fixiert  im  Sinne  einfacher  nicht  veränderbarer  Ursachen gesehen.  Inzwischen  werden  dynamische  Modelle  bevorzugt,  Schulverweigerung  und  früher Schulabgang werden als komplexe Prozesse untersucht, in denen die Betroffenen in Interaktion mit Eltern,  Peers,  Lehrpersonen,  BeraterInnen  u.a.,  sowie  Organisationen  und  sozialen Umweltbedingungen gesehen werden: „This understanding of dropout as a dynamic process has a great  impact  on  the  way  solutions  may  be  viewed.”  (Lyche  2010:  6)  Durch  diese  dynamische theoretische  Sichtweise  werden  auch  die  innerschulischen  Faktoren  in  ihrer  Bedeutung hervorgehoben. 

Die Beschäftigung mit Schul‐ und Lernversagen und ‐verweigerung hat insgesamt gesellschaftlich an Bedeutung gewonnen, da die Anforderungen am Arbeitsmarkt, die  internationale Konkurrenz, auch im Bildungsbereich, die demographischen Entwicklungen und die Bedeutung der Migration politisch in  den  Vordergrund  getreten  sind.  Außerdem  wird  in  den  politischen  und  professionellen Entscheidungen im Schulbereich stärker auf aktuelle Forschung Bezug genommen, als dies früher der Fall war. 

Schul‐ und Lernversagen sowie Schulabbruch werden somit heute im Rahmen von Schulentwicklung, Professionalisierung,  lebenslangem  Lernen und Nachhaltigkeit diskutiert. Die Erkenntnis, dass eine 

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Verringerung der  Schulabbruchraten ein Kennzeichen  von  Schul‐ und Bildungsqualität  ist, hat  sich folglich durchgesetzt. 

Präventions‐ und Interventionsprogramme 

Im  Gemeinsamen  Bericht  „über  die  Umsetzung  des  strategischen  Rahmens  für  die  europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung („ET 2020“)“ des EU‐Rates und  der  EU‐Kommission  (2012:  C  70/11)  wird moniert,  dass  „sich  die  nationalen  Strategien  nur unzureichend  auf  aktuelle Daten  und Analysen  über Ursachen und  Inzidenz  von  Schulabbrüchen“ (ebd.) stützen. Außerdem wird gefordert, dass die Bemühungen um die Verankerung von Prä‐ und Intervention  in  der  frühkindlichen  Erziehung,  der  Lehrkräfteausbildung  und  der  Weiterbildung intensiviert werden.  

Die  Interessenträger  der  verschiedenen  Bildungssektoren  und  Politikfelder,  etwa  der Jugendpolitik  sowie  der  sozialen Dienste  und Arbeitsämter,  sollten  enger  kooperieren. Die Zusammenarbeit mit den Eltern und lokalen Gemeinschaften sollte verstärkt werden. (Ebd.) 

Nach  Hennemann,  Hagen  und  Hillenbrand  (2010)  sind  individuumbezogene Mehrbereichsprogramme  (Individuum,  Familie,  Schule)  wie  z.B.  alternative  Schulkonzepte, peerorientierte Projekte, Gestaltung von Übergängen  (Kindergarten  zu Volksschule, Volksschule  zu höherer  Schule,  Schule  zu  Berufsausbildung)  erfolgreicher  als  Programme,  die  isoliert  spezifische Schwerpunkte setzen 

Alternative Schulkonzepte müssen nicht organisatorisch getrennt sein, sondern können als „Schule‐in‐der‐Schule“  eingerichtet  werden.  Accelerated Middle  Schools  (U.S.  Department  for  Education 2008)  ermöglichen  Schülern  bzw.  Schülerinnen,  die  starken  Nachholbedarf  haben,  in  ein‐  oder zweijährigen  Programmen  parallel  zu  einem  normalen  Schulbesuch  ohne  Überforderung  ihre Kompetenzen  zu  steigern.  Zusätzlich  zu  kleinen  Klassen,  einem  interdisziplinären,  flexiblen Curriculum  und  spezieller  Software  werden  Unterstützungsmaßnahmen  eingesetzt:  Beratung, TutorInnen und Einbindung der Eltern in die schulischen Arbeiten. 

Twelve  Together  (U.S.  Department  for  Education  2007)  ist  ein  Beispiel  für  ein  peerorientiertes Projekt,  indem  gefährdeten  Jugendlichen  einmal  pro  Woche  in  leistungs‐  und  schichtspezifisch heterogenen Gruppen außerhalb der Schule Gesprächsrunden,  zusätzlich Hausaufgabenbetreuung, Besuche von Colleges und gemeinsame Wochenendveranstaltungen angeboten werden. 

Ein zentraler Risikofaktor für die Auslösung von Schuldistanz  ist ein Schulwechsel (vgl. Michel 2005; Hillenbrand 2009: 176; Weiss/Baker‐Smith 2010). Eine besonders sensible Phase stellt der Übergang von  der  Grund‐  bzw.  Volksschule  in  die  Sekundarstufe  I  dar,  aber  generell  stellt  jeder Übergang innerhalb  der  Bildungslaufbahn  die  Kinder  und  Jugendlichen  vor  große  kognitive  und  emotionale Herausforderungen (Wohnortwechsel; Wechsel vom Kindergarten in die Volksschule; Übertritt in die Sekundarstufe  II; Schulwechsel während der Schulstufen) und kann Auslöser  für Schuldistanzierung sein. Schulübergänge sollten daher möglichst umsichtig und positiv gestaltet werden, sodass Angst, Aversion,  Stress  und Unsicherheit  vermieden  bzw. minimiert werden.  Beispielhaft  seien  folgende 

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Risiko  verringernde Maßnahmen  genannt:  Kooperationen mit  Vorgänger‐  und  Nachfolgeschulen; Besuchstermine für SchülerInnen und Lehrkräfte an der aufnehmenden Schule; intensive Betreuung und  Förderung  zu  Schulbeginn  (Orientierungswochen,  persönliche  Betreuung  durch  ältere SchülerInnen, TutorInnen und MentorInnen); Erstellung von Diagnosen  für  jeden Schüler bzw.  jede Schülerin  über  das  Wissen  in  den  Hauptfächern,  das  soziale  Verhalten  und  die  bisherigen Schulschwierigkeiten  als  Basis  für  gezielte  individualisierende  und  fördernde  Maßnahmen; Vermeidung von Über‐ und Unterforderung vor allem in der Orientierungsphase; zusätzliche spezielle Förderungen  für  SchülerInnen mit Umstellungsschwierigkeiten;  Förderung der Selbststeuerung der SchülerInnen (vgl. Nairz‐Wirth et al. 2012). 

International hat  in den beiden vergangenen  Jahrzehnten die Anzahl der Projekte und Programme zur  Prävention  von  Schulverweigerung  sprunghaft  zugenommen.  Es  liegen  viele  Berichte  und Evaluationen  vor,  und  eine  Reihe  von  Reviews  und  Überblicksdarstellungen wurden  erstellt  (vgl. Maynard et al. 2011; Wilson/Tanner‐Smith/Lipsey 2011; Lyche 2010; Prevatt/ Kelly 2003). Allerdings sind die Entscheidungen für geeignete Maßnahmen dadurch keineswegs einfacher geworden. Denn aufgrund der gestiegenen theoretischen und methodischen Anforderungen, der hohen Komplexität des Geschehens und der Unsicherheit der Vorhersage der entscheidenden langfristigen individuellen, gesellschaftlichen  und  ökonomischen  Entwicklungen  erweisen  sich  –  wie  in  den  Reviews  und Metaanalysen  festgestellt  wurde  (vgl.  Maynard  et  al.  2011)  –  Evaluationen  und Maßnahmenvergleiche  und  die  Übertragung  auf  schulische  Kontexte  als  immer  schwieriger.  Die positive  Botschaft  lautet  allerdings:  In  einer  Reihe  von  Schulbezirken  in  den  USA,  in  Kanada, Australien,  Singapur  und  anderen  Ländern  ist  es  gelungen,  mit  Hilfe  aktueller  Forschungs‐  und Interventionsmodelle  bedeutsame  Erfolge  bei  der  Verringerung  der  Schulabbruchraten  und  der Verbesserung des Schulklimas zu erringen. 

Allgemeiner  Konsens  besteht  darin,  dass  präventive  Maßnahmen  zur  Verhinderung  von Schulabbruch erste Priorität haben  sollten, dass  Interventionsprogramme umso wirksamer  sind,  je früher  sie  umgesetzt  werden,  und  dass  der  Professionalisierung  von  Lehrpersonen  und Schulleitungen eine Schlüsselrolle  zukommt. Einem Schulabbruch geht gewöhnlich ein  langjähriger Distanzierungsprozess  voraus,  weshalb  neben  einem  breiten  Wissen  über  die  Ursachen  und Bewältigungsstrategien  von  Schulabbruch  vor  allem  Diagnosekompetenz,  fachwissenschaftliche, fachdidaktische und soziale Kompetenzen der LehrerInnen und SchulleiterInnen notwendig sind.  

Ein weiterer wichtiger  Faktor  ist die Motivation der  SchülerInnen, die durch das  Engagement der LehrerInnen, durch  Individualisierung, durch anregende  Lernumgebungen, durch positives Klassen‐ und Schulklima und durch einen Unterricht, der sich an der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler orientiert, positiv gesteigert werden kann. 

Notwendige Reformen sind allerdings nur in einer Schulkultur möglich, die durch folgende Merkmale gekennzeichnet  ist  (vgl.  Bryk  et  al.  2010:  137f.):  Offenheit,  Vertrauen,  Transparenz, Verantwortlichkeit,  Inklusion,  Anerkennung  von  Diversity,  Öffnung  zur  community,  Kooperation, Individualisierung.  Eine  übergreifende  Verbindung  dieser  Merkmale  ist  eine  gute  Grundlage  zur Vertrauensbildung  bei  allen  Beteiligten  (relational  trust),  sodass  die  weiter  unten  genauer beschriebenen  Dimensionen  Schulleitung,  Interaktion  zwischen  schulischem  Personal,  Eltern  und Schulgemeinde,  professionelles  Team,  Lernklima  und  Lehrverhalten  zu  einer  positiven 

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Schulentwicklung  führen  und  z.B.  hohe  Schulabbruchraten  innerhalb  der  Schulgemeinschaft reduzieren können. Im schulischen Umfeld leistet relational trust zwischen Lehrpersonen, Eltern und Schulleitung  einen wesentlichen  Beitrag  zur  Routinearbeit  an  Schulen  und  stellt  den  Schlüssel  zu Reformen dar. Für notwendige Umstrukturierungen von Schulen hat sich relational trust mit seinen zwischenmenschlichen Aspekten wichtiger für die Entwicklung eines neuen professionellen Umfeldes erwiesen als strukturelle Bedingungen (vgl. ebd.). 

Die  Schulleitung  nimmt  in  diesem  Modell  eine  Steuerungsfunktion  für  die  verbleibenden  vier Dimensionen (Interaktion zwischen schulischem Personal, Eltern und Schulgemeinde, professionelles Team,  Lernklima  und  Lehrverhalten)  ein,  die  in  ihrer  Zusammenwirkung  das  Engagement  der SchülerInnen und ihre Lernergebnisse bestimmen. 

Beeinflusst wird dieser Prozess von der Qualität der Beziehungen in der Schulgemeinschaft und den vorherrschenden lokalen schulpolitischen Rahmenbedingungen (vgl. Sebring et al. 2006: 10). 

Eine  Aufbereitung  der  Erkenntnisse,  Berichte  über  Good  Practices  und  handlungsbezogene Empfehlungen  sollten  kontinuierlich  auf  den  neuesten  Stand  gebracht  und  den  Schulleitungen, Lehrpersonen,  Eltern  und  anderen  Personen,  die  sich  aktiv  an  der  Schulgestaltung  beteiligen,  zur Verfügung gestellt werden. 

Die  auf  diese Weise  gewonnenen  Handlungsempfehlungen  sollten  eindeutig  und  klar  formuliert werden, um gute Ergebnisse bei der Implementierung von Programmen und Maßnahmen in Schulen erreichen zu können (Gottfredson /Gottfredson 2002)5. 

Um  freilich  einen nachhaltigen  Erfolg  zu  erzielen,  sind  zusätzlich  zu diesen Vorgaben  regelmäßige Beobachtungen  und  Evaluationen,  Trainings  der  beteiligten  Personen  und  Integration  der Maßnahmen in die schulische „Normalität“ notwendig (Payne/Eckert 2010). 

In  einem  Katalog  der Maßnahmen  sollte  die  Erfassung  von  Frühindikatoren  an  die  Spitze  gestellt werden, da es sich um ein Prozessgeschehen handelt,  in dem spätere Eingriffe höhere Kosten und geringere  Erfolge  erbringen.  Die  zentralen  Empfehlungen  betreffen  neben  der  systematischen Datenerfassung Mentoring‐Systeme  (adult  advocates),  spezifische  Programme  zur  Steigerung  der schulischen  Leistungen, Steuerung des  sozialen Verhaltens, Personalisierung und  Individualisierung sowie kontinuierliche professionelle Verbesserung des Unterrichts (Dynarski et al. 2008). 

Bryk et al. (2010), auf die bereits in dem Abschnitt über Motivation der SchülerInnen und Schulkultur Bezug  genommen wurde,  gehören  zu  den  führenden  Schulforschungsgruppen  in  den  Vereinigten Staaten,  die  durch  relevante  theoretische  Konzepte  und  empirische  Untersuchungen  die  zwei zentralen  Fragen  beantworten  wollen:  Wie  können  die  Lernprozesse  in  Schulen  substantiell verbessert werden? Welche Komponenten oder Dimensionen sind entscheidend, um die Entwicklung von Schulen zu  fördern? Sie definieren fünf Kategorien der essential supports für die Verbesserung von  Lernerfolgen:  (1)  Schulleitung  (leadership);  (2)  die  Interaktion  zwischen  schulischem Personal/Eltern/Schulgemeinde (parent‐community ties; (3) das Kollegium (professional capacity); (4) ein  auf  die  SchülerInnen  fokussiertes  Lernklima  (student‐centered  learning  climate);  und  (5) ambitioniertes Lehren (ambitious instruction) (vgl. Bryk et al. 2010: 45ff.): 

                                                            5 Für ein Beispiel zu Handlungsempfehlungen, die diesen Standards zu entsprechen versuchen, vgl. Nairz‐Wirth et al. 2012. 

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Abbildung 3:Rahmenmodell der Kategorien und Kontextressourcen für die Verbesserung der Schule.  Quelle: Sebring et al. 2006: 10. 

Eine  strategisch  ausgerichtete  Leitung  führt  gezielt  Personen,  Programme  und  existierende Ressourcen  in einem  längerfristigen, stetigen und  integrierenden Verbesserungsprozess zusammen, der permanent evaluiert wird (vgl. ebd.: 63f.). 

Die Verbindung zwischen Eltern, Schulgemeinde und Schule wird gestärkt, wenn die SchülerInnen in ihrem Umfeld positive Einstellungen der Schule gegenüber wahrnehmen, was wiederum ihre eigene Haltung beeinflusst (vgl. ebd.: 57). 

Angebote der Schule an die Eltern betreffen unter anderem das Vermitteln von Erziehungstechniken, die  Kommunikation  zur  Verstärkung  von  positiven  Lerngewohnheiten  und  ‐erwartungen,  die Einladung  zur  Beteiligung  in  der  Schule  und  das  Fördern  der  Teilnahme  der  Eltern  an Schulentscheidungen (vgl. ebd.: 12). 

Die  Schule  und  vor  allem  die  Schulleitung  arbeiten  kontinuierlich  daran,  ein  Netzwerk  mit  den Organisationen des Schulbezirks  zu knüpfen, durch das Schülerinnen und Schülern die notwendige Unterstützung bei vielfältigen Problemen geboten werden kann (vgl. Sebring et al. 2006: 12). 

Professionelle  Kooperation  erfolgt  in  Teams,  nicht  nur  mit  anderen  Lehrerinnen  und  Lehrern, sondern  auch  mit  zusätzlichem  Personal,  wie  beispielsweise  SozialarbeiterInnen,  Eltern  und VertreterInnen der community. Die LehrerInnenteams treffen sich regelmäßig zweimal in der Woche, primär um über Lernen und Lehren zu  sprechen und kooperieren mit Teams anderer Schulen. Die Erwartungshaltungen  der  Lehrpersonen  gegenüber  allen  Schülerinnen  und  Schülern  sollten  deren Kompetenzen anerkennen und auf Leistungssteigerung ausgerichtet sein, ohne zu überfordern, denn auf Kompetenzmängel gerichtete Einstellungen von Lehrerinnen üben einen negativen Einfluss auf die Lernmotivation der SchülerInnen aus (vgl. Bryk et al. 2010: 60f.). 

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Häufig verwendete Methoden für die Motivation und Stützung von SchülerInnen sind Mentoring und Peer  Tutoring,  d.h.  SchülerInnen,  die  ein  Training  erhalten  haben,  arbeiten mit  Schülerinnen  und Schülern  in den kritischen  Lernbereichen. Derartige gut organisierte Tutorenprogramme erbringen vor  allem  für  unterprivilegierte  und  leistungsschwache  SchülerInnen  signifikante  Lernfortschritte, verglichen mit dem Normalunterricht (vgl.Pigott et al. 1986; Olmscheid 1999; Brewer, Reid, & Rhine, 2003; Topping 2005; Horvath 2011). Außerdem dienen sie mittel‐ und langfristig der Entlastung von LehrerInnen,  so dass diese  sich professionell hochwertigen Aufgaben  stärker widmen  können und erbringen  für  die  beteiligten  SchülerInnen  nachhaltig  wirksame  Selbstwertsteigerung  und Lerntechnikkompetenz,  Eigenschaften,  die  für  die  Vermeidung  von  Schuldistanzierung  und Schulabbruch  bedeutsam  sind.  Peer  Tutoring  Programme  sind  ein  wichtiger  Baustein  zur nachhaltigen  Prävention  von  Early  School  Leaving  im  Rahmen  einer  Reihe  von  erprobten Maßnahmen, die in eine langfristige Schulentwicklung eingebettet sind (vgl. Nairz‐Wirth et al. 2012).  

Early School Leaving Prävention und Vorschulprogramme 

Die  UNESCO  (2007,  2008)  hat  einer  qualitativ  hochwertigen  Vorschulerziehung  höchste  Priorität zugeordnet.  Leider muss  die  triviale  Erkenntnis,  dass  die  Entwicklung  von  Kindern  in  den  ersten Lebensjahren entscheidend für alle Lebensdimensionen  ist, ständig wiederholt werden, da sie nach wie vor unzureichend in politischen und sozialen Entscheidungsprozessen berücksichtigt wird. 

Frühpädagogische  Programme  zur  Unterstützung  von  Familien  und  Kindern  sind  wirksamer  als spätere  Versuche  der  pädagogischen,  psychologischen  oder  medizinischen  Einflussnahme  bei Verhaltensproblemen. Dies  trifft auch auf das Problem des Schulversagens und des Schulabbruchs zu, wobei freilich diese Erkenntnis nichts an der Notwendigkeit ändert, sich um eine Schulgestaltung zu bemühen, die optimale Lernverhältnisse für alle SchülerInnen ermöglicht. 

Professionell gestaltete frühkindliche Bildungsprogramme, z.B. High/Scope Perry Preschool Program (Wiltshire 2012), Chicago Child‐Parent Centers (Temple/Reynolds/Miedel 2000) und das Abecedarian Project  (Barnett/Masse  2007)  reduzieren  –  auch  nachhaltig  –  Chancenungleichheiten  in Bildungslaufbahnen (vgl. Anderson et al. 2003; Reynolds et al. 2007; Barnett 2008; Burger 2010). Auf viel breiterer Basis als diese genannten Programme wurde Head Start (Deming 2009) durchgeführt, wobei  ebenfalls  langfristige  positive  Auswirkungen  festgestellt  werden  konnten,  jedoch  in geringerem Maße als bei den ökonomisch und personell aufwendigeren und damit  auch  teureren Projekten.  Somit  sind  vor  allem  qualitativ  hochwertige  vorschulische  Programme  geeignet,  die Wahrscheinlichkeit  von  Schulversagen  und  Schulabbruch  signifikant  zu  verringern.  Insbesondere Kinder aus sozial schwachen Familien mit geringem ökonomischem und kulturellem Kapital bedürfen dieser  Förderung aufgrund unzureichender  ‚Passungsverhältnisse‘  (Kramer/Helsper 2010), die eine positiv verlaufende Schulkarriere insbesondere in Deutschland und in Österreich unwahrscheinlicher machen. 

Vitaro  (2005)  untersuchte  die  Best  Practice  in  Vorschulprogrammen,  die  sowohl  die kognitive als auch die soziale und emotionale Entwicklung förderten, und fand, dass jene Projekte  am  erfolgreichsten  waren,  die  früh  starteten,  langfristige  und  intensive Angebote zur Verfügung stellten, eine kontinuierliche Unterstützung und Begleitung der 

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Eltern vorsahen, von klaren Curricula mit entwicklungsspezifischen und pädagogischen Zielen  geleitet waren  und  einen  positiven  Betreuungsschlüssel mit  hoch  qualifiziertem Personal aufwiesen. (Stamm et al. 2009: 9) 

Untersuchungen zum Head Start Programm zeigten, dass sich die vorschulischen Leistungserfolge im Laufe  der  Elementarschulzeit  „verflüchtigten“  können.  Head  Start  konnte  somit  als  preiswertes Programm  die  hohen  Standards  des High/Scope  Perry  Preschool  Program  und  des  Chicago  Child‐Parent  Centers  Program  nicht  erreichen,  d.h.  es  ist  in  geringerem  Maße  gelungen,  auf  die  im Vorschulbereich  erworbenen  positiven  Motivations‐  und  Verhaltenskompetenzen  in  der  Schule nachhaltig  aufzubauen  (vgl.  Zigler/Styfco  1994).  Umso mehr  gilt  es,  exzellente  vorschulische  und schulische  Entwicklungsmodelle  zu  implementieren,  die  die  Chancen  von  benachteiligten  Kindern und  Jugendlichen, d.h.  insbesondere Kindern mit Migrationshintergrund, nachhaltig und nicht nur vorübergehend verbessern. Auf einen wichtigen Aspekt sei zuletzt noch hingewiesen: In den neueren Modellen  zur  Professionalisierung  von  LehrerInnen  wird  folgende  oft  als  trivial  angesehene Erkenntnis  vernachlässigt.  Vor  allem  die  Zusammenarbeit  mit  den  Eltern  und  deren Bildungsaktivitäten  erweist  sich  bei  erfolgreichen  Programmen  als  bedeutsamer  Faktor  für  eine erfolgreiche Bildungskarriere. 

Resümee 

In den  vergangenen  Jahrzehnten  sind  Schul‐ und Berufsbildung  für  eine  gesellschaftliche  Teilhabe und  die  Ermöglichung  eines  individuell  und  sozial  erstrebenswerten  Lebenslaufs  immer wichtiger geworden. Es ist zu erwarten, dass sich dieser Trend fortsetzt. Folglich ist Early School Leaving bzw. Schulabbruch ein Schwerpunkt politischer und  schulischer Bemühungen. Nach den  internationalen Forschungsergebnissen liegen zwar die Hauptursachen von Early School Leaving in außerschulischen 

Faktoren6,  doch  eine  mehrperspektivische  Verbesserung  der  Schule  und  anderer 

Bildungseinrichtungen  würde  die  innerschulischen  Wirkungschancen  erhöhen.  International anerkannte  theoretische  Modelle,  z.B.  die  von  Bryk  et  al.  (2010),  und  Prä‐  und Interventionsprogramme  sollten  auch  in  Österreich  und  Deutschland  in  innovativen frühpädagogischen und  schulischen Vorhaben  stärker berücksichtigt werden, wobei dies nicht nur einer  Verringerung  des  Schulabbruchs  und  der  Unterstützung  der  SchülerInnen  mit Migrationshintergrund dienen würde, sondern generell dem Ziel, möglichst viele junge Menschen für ein nachhaltiges lebenslanges Lernen zu begeistern, zugutekäme. 

Literaturvereichnis 

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                                                            6  Die  Schätzungen  der  innerschulischen Wirkungen  auf  Schuldistanzierung  und  Schulabbruch  sind  von  den  gewählten Modellen,  den  Daten  und  von  statistischen  Verfahren  abhängig. Mickelson/  Nkomo  (2012)  referieren  Reanalysen,  die zeigen, dass die Bedeutung schulischer Faktoren in früheren Untersuchungen unterschätzt wurde.

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 Ao.  Univ.‐Prof.  Dr.  Erna  Nairz‐Wirth  ist  Leiterin  der  Abteilung  für  Bildungswissenschaft  an  der Wirtschaftsuniversität Wien.  Dr.  Elisabeth  Wendebourg  ist  Diplom‐Pädagogin  und  arbeitet  zur  Zeit  an  der  Hochschule  Hannover  im Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung (NIFBE) sowie als Lehrbeauftragte an der DIPLOMA Hochschule im BA‐Studiengang „Frühpädagogik ‐ Leitung und Management“. 

 

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„Brauche ich das für den Alltag?“ – DaZ in der Erwachsenen‐bildung am Beispiel berufsspezifischer DaZ‐Kurse 

BORIS PRINTSCHITZ 

Einleitung 

Wie  lernen Erwachsene? Wie  lernen  sie  vor allem  Zweitsprachen – DaZ? Und welche makro‐ und mikrodidaktischen Konsequenzen ergeben sich daraus? 

Diese  Fragen  beschäftigen  die  Erwachsenenbildung,  die  Zweitsprachenerwerbsforschung  und  die Sprachlehrforschung  gleichermaßen. Daher  soll  im  Folgenden der Versuch unternommen werden, aktuelle  Erkenntnisse  dieser  drei  Disziplinen  zu  kombinieren  und  ein  Muster  für  möglichst maßgeschneiderte  Kurse  –  berufsspezifische  Deutschkurse  mittels  Sprachbedarfserhebung  –  zu entwerfen und anzubieten. 

Wobei hier betont werden soll, dass die Bedeutung von Deutschkursen für den Zweitsprachenerwerb nicht  genau  eingeschätzt  werden  kann.  Studien  darüber  liegen  bisher  kaum  vor. Zweitsprachenerwerb  findet  bekanntlich  nicht  nur  in  Kursen  statt,  sondern  eben  auch  durch Sprachkontakte, über Medien aller Art, usw. (vgl. Plutzar 2009: 104). 

Ziel muss  es daher  sein, den  empfohlenen Maßnahmen  zur Umsetzung der Mindeststandards  für nachhaltige  Sprachförderung  gerecht  zu  werden  und  hier  vor  allem  die  Empfehlungen  für Institutionen und die Didaktik als grundlegend zu erachten. Dazu ein Auszug: 

• Differenzierung der Angebote nach Voraussetzungen und Perspektiven der Lernenden. 

• Anerkennung und Weiterführung mitgebrachter Ressourcen und Qualifikationen. 

• Überwindung  der  derzeitigen  Einheitsangebote  in  der  Erwachsenenbildung  durch Entwicklung zielgruppenspezifischer Angebote (Kurse und Prüfungen) … 

• Bewusste Wahrnehmung der sprachlichen Aspekte des Sach‐ und Fachunterrichts 

• Angebote  zur  beruflichen,  sozialen  und  kulturellen  Weiterbildung  über  reine Sprachförderung  hinaus  als  Integrationsmaßnahme,  die  Mehrsprachigkeit  zulässt. (Plutzar/Kerschhofer‐Puhalo 2009: 22). 

Aktueller Stand in Österreich 

Zahlreichen Arbeiten und Aufsätzen zum Themenkomplex Migration, Integration und Bildung ist die Kritik am  sog.  „defizitären Blick“ auf MigrantInnen gemein. Nicht das bisher  formell und  informell 

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Gelernte  und  Erworbene  steht  im  Mittelpunkt,  sondern  fehlende  Kompetenzen,  vor  allem Deutschkenntnisse, die zuerst einmal von Grund auf gelernt werden müssen. 

So zeigen die Daten der Statistik Austria, dass es  für Personen mit ausländischen Abschlüssen sehr schwierig  ist,  ihrer Qualifizierung entsprechend adäquate Anstellungen zu bekommen  (vgl. Gächter 2010:  162).  Gächter    kritisiert  hier,  dass  „Ausbildungsmaßnahmen  für  EinwandererInnen mit  im Ausland  abgeschlossener  Ausbildung  fast  durchwegs  auf  eine  formelle  Dequalifizierung“  zielen. Parallel  dazu  „zielen  auch  die  Vermittlungsstrategien  des  AMS  bislang  (…)  auf  möglichst  rasche Unterbringung in gering qualifizierten Tätigkeiten“ (ebd.). 

Im 2. Österreichischen Migrations‐ und  Integrationsbericht wird  in diesem Zusammenhang von der Schwierigkeit  gesprochen,  im  Ausland  erworbenes  Wissen  in  den  heimischen  Arbeitsmarkt  zu übertragen: 

Weiters  ist  insbesondere  im  Zusammenhang  mit  berufsspezifischem  Wissen  eine Umsetzung  des  im  Ausland  Gelernten  oft  nur  eingeschränkt  möglich,  da Ausbildungsinhalte  einen  Bezug  zur  sozialen,  wirtschaftlichen  und  rechtlichen Organisationsstruktur eines Landes aufweisen, was einen Einsatz in einem anderen Land ohne ‚Übersetzungshilfen‘ zum Teil unmöglich macht. (Biffl 2007: 280). 

Wie  könnten  alternative  Kursmodelle  und  –inhalte  auch  im  kleinen  Umfang  im  Sinne  eines nachhaltigen  Lernerfolgs  aussehen?  Wie  können  Lernende  ob  der  scheinbar  starren Rahmenbedingungen motiviert werden, solche Kursmodelle anzunehmen?  

Dazu sei ein kurzer Exkurs erlaubt. 

Exkurs: Wissenskonstruktion, Lernmotivation und DaZ 

Neurobiologische  Erkenntnisse  (Roth  1998,  2003)  im  Sinne  eines  informationstheoretischen, gemäßigten  Konstruktivismus  zeigen,  dass  neu  aufgenommene  Informationen  nicht  isoliert abgespeichert  werden.  Vielmehr  wird  das  Wissen  in  einem  Teilbereich  neu  konstruiert,  indem vorhandenes Wissen und Vorerfahrung mit der neuen Information verbunden werden.  

Mithilfe des Modells von Roth  lassen sich konstruktivistische Erkenntnisse der Lernpsychologie auf physiologischer Ebene erklären und veranschaulichen (vgl. Abb. 1): 

Die Aufmerksamkeit auf neue  Informationen wird vom Gedächtnis, also dem vorhandenen Wissen gesteuert. Größere Aufmerksamkeit bekommen also  jene  Informationen, die  in  irgendeiner Weise mit  bereits  bestehenden  Gedächtnisinhalten  verknüpft  sind.  Einfach  ausgedrückt:  Die Aufmerksamkeit  steuert,  welche  Informationen  überhaupt  wahrgenommen  werden  (vgl. Holstein/Wildenauer‐Jozsa 2010: 84).  

Werden jetzt sprachliche Informationen aufgenommen, findet ein steter Vergleich statt: 

Jedes  als  Wort,  Wortgruppe  und  Satz  identifizierte  Ereignis  wird  unbewusst  mit  Inhalten  des Sprachgedächtnisses  verglichen.  So  werden  die  vorhandenen  Bedeutungen  aktiviert  oder  neu zusammengestellt,  je nachdem, was  für den/die  jeweilige(n) SprecherIn am Sinnvollsten erscheint. 

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Wird  diese  neu  zusammengestellte  Bedeutung  sprachlich  realisiert, wird  diese  Struktur  allerdings noch nicht automatisch im Gedächtnis verankert. Davor trennt das sogenannte Limbische System für den/die  jeweilige(n)  SprecherIn  wichtige  und  interessante  Informationen  von  unwichtigen  und uninteressanten: Nur  die wichtigen  und  interessanten werden  abgespeichert. Diese  Bewertungen neuer  Informationen  werden  auch  maßgeblich  von  der  individuellen  Motivation  bestimmt  (vgl. ebd.84f). 

Roth zufolge kommt „dem limbischen System im Lernprozess“ daher eine „besondere Funktion“ zu. Er bezeichnet es als den „eigentlichen Kontrolleur des Lernerfolgs, da dieses System Affekte, Gefühle und Motivation vermittelt“ (Roth 2003: 22). 

Der Zweitsprachenerwerb ist bekanntlich ein psycholinguistischer Prozess, der von  

• sprachbezogenen  Faktoren  (Kenntnisse  der  L1,  L2,…  und  der  typologische Verwandtschaftsgrad zueinander), 

• nichtsprachlichen internen Faktoren (Motivation und Einstellung) und  

• nichtsprachlichen externen Faktoren (Handlungsabsichten, Optionen  in der Gesellschaft der Zielsprache, Bildungserfahrung in der Familie, Kontaktmöglichkeiten mit Muttersprachlern) 

beeinflusst wird (vgl. Ahrenholz 2010: 65). 

Für Roth sind die nichtsprachlichen  internen Faktoren Motivation und Einstellung Basisfaktoren, die über Erfolg oder Misserfolg im Sprachlernprozess entscheiden (vgl. Roth 2003: 22). 

Aus konstruktivistischer Sicht werden Lernerfolge umso wahrscheinlicher,  je anschlussfähiger neue Informationen  an  bereits  vorhandenes  Wissen  sind.    Folgende  makro‐  und  mikrodidaktischen Überlegungen und Forderungen ergeben sich daraus: 

• Oberstes Ziel didaktischen Handelns  ist es, Erwachsene zu motivieren und zu unterstützen, sich lernend mit sich, den Mitmenschen und der Welt auseinander zu setzen. (Siebert 2006: 19). 

• Wesentliche  Kriterien  bei  der  Gestaltung  von  Bildungsmaßnahmen  für  Erwachsene  sind daher  die  zielgruppenadäquate  Gestaltung  des  Angebots  (angepasst  an  Lebenssituation, Ziele  und  Vorkenntnisse  der  Lernenden),  Niederschwelligkeit,  eine  entsprechende Preisgestaltung  und  eine  den  Zielen  und  Voraussetzungen  von  Lernenden  angepasste Methodik und Didaktik. (Kerschhofer‐Puhalo 2009: 176). 

• …  the  best  language  provision  is  one  targeting  the  concrete  personal  and  professional communication area of migrants, based on a careful diagnosis and consultation progress… (Krumm 2008: 6). 

Provokant vereinfacht  formuliert, wären die entscheidenden Fragen  (erwachsener)  Lernender also stets: Lohnt es sich, das zu lernen? Kann ich das verwenden, und wenn ja, wo und wofür? 

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Bildungs‐ und Berufssprache Deutsch 

Sprechen wir  von berufsspezifischen DaZ‐Kursen,  sprechen wir weder  von der  reinen Vermittlung alltagssprachlicher  Fertigkeiten  allgemeiner  DaZ‐Kurse,  noch  vom  Auswendiglernen  einiger ausgewählter  Fachtermini.  Wir  sprechen  von  Vermittlung  und  Beherrschung  der  sog. Bildungssprache (vgl. Bethscheider u.a. 2010: 8). 

Für Gogolin  ist Bildungssprache ein  formelles Sprachregister und  findet vor allem  in Lernaufgaben, Lehrwerken,  zusätzlichen  Unterrichtsmaterialien  und  Prüfungen  Verwendung.  Je  weiter  die individuelle  Bildungsbiographie  fortschreitet,  desto  größer  wird  die  Rolle  bildungssprachlicher Fertigkeiten.  Zur  Ausdifferenzierung  zwischen  Fächern  dienen  bestimmte  Wortbestände, Redeweisen und Textsorten (vgl. Gogolin 2009:61). 

Bildungssprachliche  Fähigkeiten  sind besonders dann  erforderlich, wenn das Handelen nicht  auf  Basis  einer  Face‐to‐Face‐Kommunikation  erfolgen  kann,  sondern  –  wie  in Qualifikationsmaßnahmen  –  über  Texte  vermittelt  werden  muss,  die  sich  nicht  auf kontextuelle  oder  interpersonelle  Hinweise  stützen  können  und  deshalb  u.a.  explizit, präzise, strukturiert und objektiv sein müssen. (Bethscheider u.a. 2010: 8). 

„Tailoring“ – maßgeschneiderte Kurse für Berufssprache Deutsch 

 „Wer  braucht  welche  Deutschkenntnisse  wofür?“  fragt  sich  in  diesem  Zusammenhang  Barbara Haider  in  ihren Arbeiten zur Berufssprache Deutsch  (vgl. Haider 2008a). Sie verweist somit sowohl auf zentrale Aspekte der Erwachsenenbildung  ‐ der relevanten, verwertbaren und anschlussfähigen Informationen – als auch auf die Notwendigkeit bildungssprachlicher Fertigkeiten. Am Beispiel des Nostrifikationslehrgangs  für  Pflegekräfte  zeigt  sie,  dass  diese  in  ihrer  Auslegung  nicht  als Deutschkurse  gedacht  und  entsprechende  Deutschkompetenzen  vorab  in  Eigenverantwortung  zu erwerben waren und immer noch sind (vgl. Haider 2008b: 70).  

Allgemeinen  Deutschkursen  mangelt  es  aber  wieder  an  berufsbezogenen  Inhalten  und  Termini, sodass der „Entwurf eines eigenen Curriculums, eine spezielle Schulung der Lehrkräfte, Entwicklung von  eigenem  Unterrichtsmaterial,  etc.“  nötig  wäre,  um  die  Lernenden  ggf.  auf  vorhandene Ausbildungslehrgänge  vorzubereiten.  Ein  „Erwerb  von  fachspezifischen  Deutschkenntnissen“  kann hier „nur als erhofftes Nebenprodukt des Unterrichts gesehen werden“ (Haider 2008b: 70f).  

So  fordert Bethscheider, dass Weiterbildungslehrgänge „grundlegende Kompetenzen  für die Arbeit mit Fachtexten“ vermitteln bzw. weiterentwickeln. Dazu  soll neben des „Wissens über  sprachliche Strukturen  und  die  Funktion  sprachlicher  Mittel  und  Textsorten“  auch  „Verstehens‐  und Lesestrategien  sowie  Lernstrategien  (Nutzung  von  Wörterbüchern  und  Nachschlagewerken, systematische Wortschatzarbeit, ect.)“ ins Curriculum einfließen (Bethscheider u.a. 2010: 10). 

Für  Barbara  Haider  steht  am  Beginn  eines  berufsspezifischen  Curriculums  die  kritische Sprachbedarfserhebung:  „Mittels  einer  kritischen  Sprachbedarfserhebung  wird  versucht,  ein bestimmtes  Sprachhandlungsfeld  in  seiner  Ganzheit  zu  beschreiben,  Machtmechanismen 

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aufzudecken und kritisch zu hinterfragen“ (Haider 2008b: 60). Dazu sind mehrere Perspektiven nötig (vgl. ebd. 60f): 

objektiver Sprachbedarf:     kommunikative Anforderungen im beruflichen Alltag            Erwartungen des leitenden Personals            Theoretisches Berufsbild 

subjektive Sprachbedürfnisse:     Wünsche und Erwartungen der Lernenden           (Sprachlern‐)Erfahrungen           Selbsteinschätzung im Bezug auf Sprachkenntnisse 

Szablewsky‐Cavus  unterscheidet  hier  auch  zwischen  Sprachbedarf  und  Sprachbedürfnis  als elementare  Grundlage  eines  jeden  DaZ‐Kurses.  Sie  lobt,  dass  das  Thema  Arbeitsbereiche  bereits Eingang  in  allgemeine  DaZ‐Kurse  und  Lehrwerke  gefunden  hat,  diese  aber  lediglich  am  Rande erwähnt werden (vgl. Szablewsky‐Cavus 2008: 40). 

Die  drei  Teilbereiche  im  Arbeitsleben,  in  denen  es  laut  Szablewsky‐Cavus  Probleme  mit  der deutschen Sprache geben könnte, sind (vgl. ebd. 40f): 

• Arbeitsbezogene Kommunikation  z.B. betriebliche Kommunikationsanforderungen, fest definierte Beziehungsstrukturen 

• Berufsbezogene Kommunikation   z.B. fachliche Kommunikation, Fachtermini, Fachdiskurse 

• Qualifizierungsorientiertes Deutsch  Lernen in der Zweitsprache – Bildungssprache Deutsch 

Bei  allen  notwendigen  Bildungsmaßnahmen  ist  zu  betonen,  dass  das  „Ziel  des  berufsbezogenen Deutschunterrichts  –  die  Verbesserung  der  deutschsprachigen  Kommunikation  im  Berufs‐  und Qualifizierungsalltag – nicht allein durch die Vorgabe der besonderen Inhalte und der dazu gehörigen sprachlichen  Muster  zu  erreichen“  ist.  Zusätzlich  benötigt  es  eine  „gezielte  Kooperation  und Abstimmung von (Fach)Ausbildungen und dem berufsbezogenen Deutschunterricht“ (ebd.: 42). 

Nicht zu vergessen  ist hier außerdem der ständige Austausch mit den Betrieben, um die tatsächlich benötigten  sprachlichen  Mittel  arbeitsbezogener  und  berufsbezogener  Kommunikation  stets  zu hinterfragen. 

Geplanter Housekeeping‐Kurs 

Im  „Haus der beruflichen Bildung und  Integration“  (Habibi) des Österreichischen  Integrationsfonds finden  gegenwärtig  Daz‐Kurse  auf  den  Niveaus  A1  bis  B1  für  Asylberechtigte,  subsidär Schutzberechtige und MigrantInnen, die die  Integrationsvereinbarung nicht erfüllen müssen,  statt. Neben  den  Alphabetisierungs‐  und  Computerkursen  finden  auch  verstärkt  berufsspezifische  DaZ‐Kurse Eingang in den Lehrbetrieb. Im hauseigenen Jobcenter und in Kooperation mit dem AMS bzw. der WKÖ wird immer wieder Bedarf für berufsspezifische DaZ‐Kurse erkannt. 

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Am Beispiel des  in Planung befindlichen Kurses „Deutsch  für Housekeeping“ möchte  ich den Wert einer  kritischen  Sprachbedarfserhebung  vor,  während,  aber  auch  nach  der  Kurskonzeption  kurz darstellen. 

Das  makro‐  und  mikrodidaktische  Vorgehen  zur  Kurskonzipierung  orientiert  sich  dabei  an  der kritischen Sprachbedarfserhebung (Haider 2008a/2008b): 

Jobcenter im Habibi sieht einen Bedarf an berufsspezifischen Deutschkursen  

• Beratungsgespräche mit potenziellen KundInnen finden statt:  Teilweise stellt dies bereits eine Bedarfserhebung I in Form von Ausformulierung subjektiver Sprachbedürfnisse dar, die für das Team Sprache dokumentiert werden. Hierzu wird auch bereits verstärkt mit dem Sprachen‐ und Qualifikationsportfolio gearbeitet.  

• Es kommen Anfragen bezüglich Deutschkursen von Firmen, aber auch z.B. vom AMS. 

Team Sprache – Kontakte mit Firmen und Terminvereinbarungen 

• Zu Vorrecherchezwecken und zur weiteren Zusammenarbeit wird eine bekannte Hotelkette kontaktiert und ein erster Gesprächstermin vereinbart. 

Bedarfserhebung II – Objektiver Sprachbedarf 

• Vor Ort wird ein erstes theoretisches Berufsbild erarbeitet. Folgende Fragen stehen am Anfang:  Gibt es ein (internes) Weiterbildungsprogramm? Gibt es dazu Material?  Ein Ausbildungsprogramm gibt es für den konkreten Fall z.Z. keines. Am Markt finden sich ein „Houskeeping“‐Lehrwerk für Deutsch als Erstsprache bzw. diverse Schulungsprogramme zur Sensibilisierung des Managements für ein effizientes, hausinternes Houskeeping‐Programm. 

• Erwartungen der Hotel‐ bzw. Personalleitung werden aufgenommen und möglichst konkretisiert: Welche Deutschkenntnisse, möglichst mit Beispielen, werden für dieses Berufsfeld gefordert? (mögliche Handlungsfelder, Gesprächssituationen, usw.)  Bei den meist recht allgemeinen Formulierungen durch die Hotelleitung z.B. „Arbeitsanweisungen verstehen“ wird nachgefragt z.B. „Welche Arbeitsanweisungen meinen Sie genau? Wie werden diese Anweisungen weitergeleitet? Persönlich, telefonisch, via E‐Mail?“ Danach wird ein Überblick über sprachliche Handlungsfelder, sprachliche Fertigkeiten, Textsorten, usw. erstellt. 

• Erfassung der kommunikativen Anforderungen im beruflichen Alltag:  Hierzu werden Interviews mit MitarbeiterInnen und VorarbeiterInnen aus dem beruflichen Kontext durchgeführt. Zusätzlich findet eine Begleitung im beruflichen Alltag statt 

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(„Shadowing“), eine Praxis, die viel Überzeugungsarbeit bei der Hotelleitung bedurfte. Folgende Fragen sind hierzu hilfreich:  Was sind Ihre täglichen Aufgaben? Wo brauchen Sie Deutsch? Mit welchen Leuten haben Sie Kontakt? Wo sehen Sie sprachlichen Bedarf?  Für den konkreten Fall waren z.B. das Telefonieren bzw. konkreter Wortschatz gefordert.  Auch mit diesem sprachlichen Input wird ein Überblick über sprachliche Handlungsfelder, sprachliche Fertigkeiten, Textsorten, usw. erstellt. 

Intensive Material‐ Kurs‐ Projektrecherche  

• Was gibt es bereits an Unterrichtsmaterialien?  Eine intensive Recherche verschafft einen Eindruck über die Materie. Die KursentwicklerInnen betreten hier nämlich auch teilweise absolutes fachliches Neuland. Konkret zu diesem Berufsbild gibt es wenig ergiebiges Material, das speziell für den DaF/DaZ‐Bereich ausgelegt ist:  Cornelsen: Erfolgreich in Gastronomie und Hotellerie  Langenscheidt: Zimmer frei.  Pfleger/Steinmetz: Housekeeping. Management im Hotel. 

• Gibt es ggf. sogar laufende und/oder abgeschlossene Projekte und/oder Evaluationen?  Am Kompetenzzentrum NOBI1 und deren Koordinierungsstelle für berufsbezogenens Deutsch findet sich ein Leitfaden zur Umsetzung von berufsbezogenem Unterricht Deutsch als Zweitsprache.  Die Unternehmungsberatung 3S in Wien hat im Auftrag der MA 27 eine Studie zu folgendem Thema durchgeführt: Wissensempowerment – Förderung der beruflichen Weiterbildungskompetenz und Weiterbildungsmotivation von bildungsfernen Gruppen in Wien und dazu europaweit sog. Best‐Practice‐Beispiele gesammelt und ausgewertet.  Das Deutsche Institut für Erwachsenenbildung (DIE) legte eine Expertise zum sprachlichen Bedarf von Personen mit Deutsch als Zweitsprache in Betrieben vor, um nur die wichtigsten Ergebnisse der Recherche kurz zu erwähnen. 

Bedarfserhebung III – Objektiver Sprachbedarf 

• Präsentation der Rechercheergebnisse und der Befragungen und eine erneute Besprechung zwecks Abklärung und Konkretisierung der konkreten Inhalte mit der Hotel‐ bzw. Personalleitung werden durchgeführt.  Darin werden auch die Pflichten der Hotel‐ bzw. Personalleitung (z.B. Schnupperpraktikum während des Kursbesuchs) fixiert.  

                                                            1 Kompetenzzentrum NOBI (norddeutsches Netzwerk zur beruflichen Integration von Migrantinnen und Migranten)

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Erstellung eines Curriculums inkl. Praktika während der zweiten Kurshälfte  

• Ein Rahmencurriculum mit Themenfeldern (z.B. Hotelaufbau und –organisation, Berufe im Hotel, Berufsbild „Housekeeping“, Arbeitsalltag „Housekeeping“, Kommunikation mit Rezeption, Gästen, …) wird erstellt. 

• Globale und detaillierte Kann‐Beschreibungen werden ausformuliert. z.B. Arbeitsalltag „Housekeeping“  Global Produktion mündlich: Die TN/innen kennen die Anforderungen an dieses Berufsfeld und können das Aufgabenspektrum sowie sämtliche Tätigkeiten, die damit verbunden sind, beschreiben.  Detail Produktion mündlich: Die TN/innen können den Ablauf einer Zimmerreinigung Schritt für Schritt beschreiben und dabei das benötigte Fachvokabular anwenden. 

Erstellen von Unterrichtsmaterialien 

• Möglichst authentisches, praxis‐ und alltagsrelevantes Material wird im Team erstellt. 

• Die Verwendung des SQuP2 (vgl. Verein Integrationshaus) soll dabei einen wesentlichen Beitrag leisten. 

Einschulung der TrainerInnen 

• Künftige TrainerInnen werden zu Projektstand, Curriculum, neue Materialien, SQuP, etc. eingeschult, bzw. teilweise waren TrainerInnen an der  Projektentwicklung beteiligt, die auch Kurse leiten werden. 

Bedarfserhebung IV – Vorbesprechung der TrainerInnen mit interessierten TN 

Künftige  KursleiterInnen  führen  erste  Infogespräche  über  Inhalte  und  Methoden  mit interessierten TeilnehmerInnen durch.  

Start des berufsspezifischen Deutschkurses (Pilotkurs zwecks paralleler Nachbesserung) 

Geplante  Finanzierung  durch  ÖIF,  AMS  bzw.  Firmen  ist  derzeit  unklar.  Derzeit  wird  von Wirtschaftsseite kein aktueller Bedarf gesehen.  

                                                            2 SQuP = Sprachen‐ und Qualifikationsportfolio

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Derzeitiger Projektstand, Ausblick und Wünschenswertes 

Der  Anspruch  an  die  kritisches  Sprachbedarfserhebung  im  Gegensatz  zur  deskriptiven Sprachbedarfserhebung  liegt darin, über die bloße Beschreibung des  Ist‐Zustandes hinaus zu gehen  um  bestehende  Strukturen  zu  hinterfragen  und  ggf.  nach  Reformmöglichkeiten  zu  suchen  (vgl. Haider 2008b: 61). Wünschenswert wäre dazu  allerdings eine  grundsätzliche Diskussion, ob Kurse dieser Art  für sogenannte „unqualifizierte“ Personen wirklich hilfreich und nachhaltig sind, oder ob sie  lediglich  der  Einzementierung  des  Status  Quo  dienen.  Außerdem  wäre  eine sprachwissenschaftliche Begleitung in Form von Evaluierungen z.B. der Kann‐Beschreibungen, wie sie Vogt  (2011)  für  kaufmännische  Berufssprachen  durchgeführt  hat,  unerlässlich.  Eine Gesamtevaluierung  im  Sinne  einer  beruflichen Nachhaltigkeit  nach  erfolgreicher Absolvierung  der Kurse wäre darüber hinaus wünschenswert. Aus diesen Gründen  sind unabhängige Kooperationen mit  den  Universitäten,  den  Trägern  der  Erwachsenenbildung  und  den  NGO´s  zu  begrüßen.  Der aktuelle Projektstand „Deutsch  für Housekeeping“ gibt z.Z.  leider wenig Anlass zur Hoffnung: Zwar liegt  das  Kurskonzept  inklusive  Unterrichtsmaterialien  komplett  ausformuliert  vor,  weder  der Pilotkurs noch ein Regelbetrieb sind allerdings derzeit vorgesehen. 

Literaturverzeichnis 

Ahrenholz, Bernt (2010). Zweitsprachenerwerbsforschung. In: Ahrenholz, B./Oomen‐Welke, I. (Hg.). Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler/Schneider. S. 64 – 80. 

Bethscheider, Monika/Dimpl, Ulrike/Ohm, Udo/Vogt, Wolfgang (Hg.) (2010): Weiterbildungsbegleitende Hilfen als zentraler Bestandteil adressenorientierter beruflicher Weiterbildung. Zur Relevanz von Deutsch als Zweit‐ und Bildungssprache in der beruflichen Weiterbildung. Frankfurt/Main/Amt für multikulturelle Angelegenheiten. 

Biffl, Gudrun (2007): Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit: die Bedeutung von Einbürgerung, Herkunftsregion und Religionszugehörigkeit. In: Fassmann, Heinz (Hg.): 2. Österreichischer Migrations‐ und Integrationsbericht. Celovec/Drava. S. 265‐282. 

Gogolin, Ingrid (2009): Über (sprachliche) Bildung zum Beruf: Sind bessere Berufsbildungschancen für junge Menschen mit Migrationshintergrund auch in Deutschland möglich? In: Kimmelmann, Nicole (Hg.): Berufliche Bildung in der Einwanderungsgesellschaft. Diversity als Herausforderung für Organisationen, Lehrkräfte und Ausbildende. Aachen. S. 54‐65. 

Haider, Barbara (2008a): Wer braucht Deutsch wofür? In: ÖDaF‐Mitteilungen 24(1), 7‐21. Haider, Barbara (2008b): „Die Beherrschung der deutschen Sprache (…) ist für die Berufsausübung 

unabdingbar.“ Sprachbedarfe und –bedürfnisse im Kontext der Nostrifikation von ausländischen Pflegediplomen. In: Krumm, H.‐J./Portmann‐Tselikas, P. (Hg.): Sprache und Integration. Innsbruck/StudienVerlag. S. 59 – 80. 

Holsten, S./Wildenauer‐Józsa, D. (2010): Wissenskonstruktion und Lernmotivation. In: Ahrenholz, B./Oomen‐Welke, I. (Hg.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler/Schneider. S. 81 – 94. 

Kerschhofer‐Puhalo, Nadja (2009): Erwachsenenbildung. Qualität, Kontinuität und Nachhaltigkeit von Sprachlernprozessen bei Erwachsenen. In: Kerschhofer‐Puhalo, N./Plutzar, V. (Hg.): Nachhaltige Sprachförderung. Innsbruck/StudienVerlag. S. 174 – 188. 

Krumm, Hans‐Jürgen/Plutzar, Verena (2008): Tailoring language provision and requirements and the needs and capacaties of adult migrants. Internet: 

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http://www.coe.int/t/dg4/linguistic/MigrantsSemin08_ListDocs_EN.asp. (Recherchedatum: 14.11.2011). 

Plutzar, Verena/Kerschhofer‐Puhalo, Nadja (Hg.) (2009): Nachhaltige Sprachförderung. Innsbruck: StudienVerlag. 

Roth, Gerhard (2003): Warum sind Lehren und Lernen so schwierig? In: Report: Literatur‐ und Forschungsreport Weiterbildung 26(3). S. 20 – 28. 

Roth, Gerhard (1998): Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Frankfurt/Main/Suhrkamp. Siebert, Horst (2006): Didaktisches Handeln in der Erwachsenenbildung. Didaktik aus 

konstruktivistischer Sicht. Augsburg/Ziel. Szablewski‐Cavuc, Petra (2008): Deutsch als Zweitsprache: eine Schnittmenge der beruflichen 

Bildung. In: ÖDaF‐Mitteilungen 24(1), 37‐46. Vogt, Karin (2011): Fremdsprachliche Kompetenzprofile.  Entwicklung und Abgleichung von GER‐

Deskriptoren für Fremdsprachenlernen mit einer beruflichen Anwendungsorientierung. Tübingen/Narr. 

Internetlinks 

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3S: Wissensempowerment – Förderung der beruflichen Weiterbildungskompetenz und Weiterbildungsmotivation von bildungsfernen Gruppen in Wien. http://www.forschungsnetzwerk.at/downloadpub/wissensempowerment_MA_wien_3s_2010.pdf (Recherchedatum: 14.11.2011). 

SQuP für MigrantInnen und Flüchtlinge. Verein Integrationshaus.   http://www.integrationshaus.at/portfolio/ (Recherchedatum: 14.11.2011). 

Kompetenzzentrum NOBI: Leitfaden zur Umsetzung von berufsbezogenem Unterricht DaZ. http://ep‐bi.de/upload/pdf/Publikationen_2009/IQ_Impuls2_Deutsch_am_Arbeitsplatz_Mappe_deutsch.pdf. (Recherchedatum: 14.11.2011). 

Abbildungen: 

 

 

 

 

 

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„TORTILLA‐CURTAIN UND STEAK‐HOLDER“.  Migration und Integration aus einer Perspektive der Sozialpädagogik 

REINHOLD STIPSITS 

Der  Begriff  Migration  erfreut  sich  einer  gewissen  Konjunktur  und  wirbelt  gleichzeitig  viel akademischen  Staub  auf. Viel Unklares  kommt  in den Blick, und manches bleibt  im Verborgenen, auch  wenn  Suchscheinwerfer  disziplinären  Fragens  Aufklärung  über  die  Grenzen  herbeiführen wollen. 

Im  Monat  März  2011  konnte  ich  als  Visiting  Scholar  an  der  University  Austin,  Texas,  einige Aufschlüsse über sogenannte illegale Migration aus Mexico in die USA gewinnen, die ich reflektieren möchte.  Und  ich  beginne mit  einer  Erklärung  des  ambivalenten  Titels,  der  ja möglicherweise  zu Irritationen geführt hat. 

Was heißt Tortilla Curtain, was heißt Steak‐holder?  

Sie  haben  es  vielleicht  erkannt:  Tortilla  Curtain  ist  der  literarisch  verspielte  Ausdruck  den  der amerikanische  Autor  T.C.  Boyle  in  seinem  Roman  Tortilla  Curtain  (1995)  auf  Deutsch  „América“ (1995)  für die Grenze  zwischen Mexiko und den USA  gefunden hat. Der Ausdruck Tortilla Curtain bezeichnet  eine  nahezu  romantisierende  Formel, die Beschreibung  der Grenze  zwischen  den USA und  Mexiko.  Im  Roman  prallen  die  westlich‐bürgerlichen  Werte  der  situierten  amerikanischen Mittelschicht  und  die  Wertvorstellungen  illegaler  Einwanderer  aus  Mexiko  aufeinander.  Die Handlung  ist,  kurz  gesagt,  die  verwobene  Geschichte  zweier  Familien,  die  zunächst  nichts miteinander zu tun haben, und dann durch das Schicksal der Romanfiguren ständig in das Leben der anderen  verstrickt  werden.  Die  einen,  die  illegalen  Einwanderer,  stürzen  praktisch  von  einer Kalamität  in  die  nächste  ziehen  die  anderen,  die  Repräsentanten  der weißen Mittelschicht,   mit hinein  in  ihren Überlebenskampf. Der nach eigenen Worten „liberale Humanist“ wandelt sich  zum rassistischen Ausländerhasser. 

1Das  einfache  Maisbrot  und  die  saftigen  Steaks  sind  schier  unverträglich.  Beunruhigend  und aufwühlend, wie es dem Autor T.C. Boyle gelingt, den clash of cultures darzustellen. Und den Leser überkommt das Gefühl, ob man sich seiner Werte so sicher ist, kann in Ausnahmesituationen getrost bezweifelt werden. Und das Leben an der Grenze bietet offenbar ständig Ausnahmesituationen. 

Die  von mir  gewählte  Bezeichnung  nimmt  also  jene  Personen  in  den  Blick,  die mit  Tortillas  als Grundnahrungsmittel  aufgewachsen  sind, MigrantInnen  in die Vereinigten  Staaten  aus dem Raum Mittel‐  und  Südamerika.  Zugegeben,  stereotypisch  formuliert,  gelten  diese  Menschen  als  große Kinder,  mit  einem  Hang  zu  ausgelassener  Fröhlichkeit  und  einem  Talent  für  „conviviality“,  also Lebensfreude,  sofern man  sie nur  leben  lässt.  Ivan  Illich, der  in Wien  geborene Kroate und große 

                                                            1 Tortilla bezeichnet das mexikanische Fladenbrot. Steak ist charakteristisch für Gegenden wie Texas.

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Kritiker westlicher Technokratie, der  viele  Jahre  in Mexico  gearbeitet hat, hat Menschen mit dem Hang  zur  conviviality  einmal  jene  genannt,  die  das  Gegenteil  von  industrieller  Produktivität hochschätzen (Illich, Selbstbegrenzung – tools for conviviality 1973, 32). 

Die Bezeichnung steak‐holder  ist (zumindest phonetisch) nicht weniger mehrdeutig. Gringos, das  ist die etwas abschätzige Bezeichnung der Mexikaner für ihre weißen amerikanischen Nachbarn. Deren heimliches  Ideal  ist  der  lonesome  hero,  der  auf  sich  allein  gestellte  Kämpfer,  der  seinen  Besitz verteidigt.  Gringos  sind  Steak‐Esser.  Die  Steak‐Holder  haben  es  sich  gerichtet,  und  sie  haben  es bemerkt, pun  intended, meint also ein von mir beabsichtigtes Wortspiel: Denn, „Stakeholder“ sind üblicherweise „Anspruchsberechtigte“ oder „Anspruchsträger“ aufgrund von Besitz.  Ihre  Interessen sind  weitgehend  auch  mit  den  rechtlichen  Fassungen  von  Eigentümerrechten  abgesichert  und werden  darin  formuliert.  Im  hier  gemeinten,  doppelbödigen  Sinn,  sind  „steak‐holder“  auch  jene Personen,  die  es  sich  leisten  können,  Steaks  zu  braten,  jede  teure  Anschaffung  von  der Grundversorgung bis zu den Interessen an der Wahrung ihres Einflusses im Staat abzusichern. Steak‐holder / Stakeholder können ihren Wohlstand wahren, weil sie ihre Interessen zu verteidigen in der Lage  sind.  Individueller Wohlstand wird nahezu buchstäblich  fundiert durch Anteile an Grund und Boden,  materieller  Wohlstand  wird  aus  Einkünften  erreicht,  Gewinne  erzielt,  die  nicht  durch körperliche  Arbeit,  sondern  durch  ökonomisches  Geschick  entstehen.  Stakeholder  sichern  durch ihren Einfluss auf die Rechtwerdung und Rechtssprechung ihre Vorteile und ihren Status ab. 

So weit vorerst zum Titel.  

Meine zentrale These  ist: Die Situation an der Europäischen Außengrenze und der Grenze zwischen den  USA  und  Mexiko  hat  erstaunlich  viele  Parallelen  und  doch  finden  sich  recht  kontroverse Vorstellungen von sozialpädagogischen Maßnahmen zum Thema Integration. An beiden Grenzen  ist Migration  vorwiegend  in  der  einen  Richtung  unterwegs:  Von  den  sozial  und  wirtschaftlich benachteiligten  Regionen  mit  einer  ökonomisch  gesehen  armen  Bevölkerung,  die  in  die prosperierende Wohlstandgesellschaft  drängt. Die MigrantInnen  stammen meist  aus  Ländern mit überdurchschnittlichem Bevölkerungswachstum, und sie werden  förmlich von Verheißungen dieser Wohlstandsgesellschaft angezogen. Sie sind mit dem Versprechen ausgestattet, dass  the pursuit of happiness nach westlicher Wertvorstellung üblich  sei,  ja  sogar,  dass das  Streben nach dem Glück verfassungsmäßig garantiert sei. 

Was an politisch Verfolgten einer keineswegs „einheitlichen Ethnie“ aus Asien nach Europa will, ähnelt in gewisser Weise den unzähligen von Bürgerkriegen und Armut geschlagenen Menschen aus dem Raum Mittelamerika. So werden die „Tore Europas“ zwischen den beiden NATO Ländern Griechenland und Türkei zu einer schmalen Öffnung wie eine Schleuse schmal, und an dem Fluss Evros kommen pro Tag bis zu 200 Flüchtlinge oder illegale Einwanderer in die europäische Union. Die Mehrzahl der illegalen Einwanderer kommt aus den Staaten: Afghanistan, Irak, und Nordafrikanische Staaten. Da wie dort: niedriger sozialer Status kennzeichnet vor allem die illegalen Einwanderer. (Quelle: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,737341,00.html vom 1.1. 2011) 

Die  stakeholder  wahren  ihre  Ansprüche  und  Interessen  durch  die  Gesetzgebung,  die  den europäischen Raum sichert oder verteidigt.  Insofern  lässt sich eine andere Parallele auch bezüglich der Überwachung an den Grenzen aufzeigen: Was an der EU Außengrenze in das Aufgabengebiet der 

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FRONTEX2 fällt, übernimmt zwischen Mexico und den USA die Border Patrol3. Und nach dem Vorbild der Regierung der USA hat doch Griechenland  im  letzten Jahr mit einem Wunsch nach einem Zaun als Grenzwall aufhorchen lassen.  

Wer  sich  mit  Migration  befasst,  nimmt  einen  Begriff  mit  in  den  Blick,  der  sich  als  nahezu selbstverständlich  aufdrängt:  den  Begriff  der  Grenze.  Der  Name  Grenze  kommt  als  eines  der markanten Worte aus dem Slawischen, was ursprünglich „Hranica“, also Grenze geheißen hat.  

Und  so  wie  gar  nicht  weit  von  Graz,  als  dem  Austragungsort  dieses  Symposiums,  eine  Grenze zwischen dem slawischen und dem deutschsprachigen Sprachraum besteht, mit allen Konsequenzen für  die  wechselhaften  Beziehungen  zwischen  den  Angehörigen  beider  Gruppen,  finden  sich sprachliche und kulturelle Grenzen in einer analogen Weise in den USA mit Mexico. Diese Grenze gilt als jene mit dem meisten Grenzverkehr bzw. den häufigsten Grenzübertritten weltweit. 

Nirgendwo sonst auf der Welt  ‐ wie zwischen den USA und Mexico  ‐   treffen so unmittelbar die so genannte Erste und Dritte Welt aufeinander. Der reiche Norden und der arme Süden. Obendrein  in den Zeiten der Kolonialisierung der Neuen Welt waren beide Seiten der heutigen Grenze Bestand eines  gemeinsamen  Reiches. Gerade  heuer  feiert man  in  Texas  die  175  Jahre  der  Erinnerung  an Alamo, als der Staat Mexico noch Landesteile vom heutigen Kalifornien, Arizona, New Mexico und Texas umfasste. Damals 1835/36 hat man immerhin gegen die Mexikaner eine Belagerung verloren, aber daraus den „Spirit of Texas“, zumindest dem selbst erzählten Mythos nach, gewonnen. Damals wie heute prallen in der Region zwei Gesellschaftssysteme aufeinander. Die Mehrzahl der Migranten und Migrantinnen in den USA sind „Latinos“. Mit dieser Sammelbezeichnung sind Menschen aus den Ländern Mexiko  und  Guatemala,  auch  anderer Mittel‐  und  Südamerikanischer  Staaten,  inklusive Brasilien gemeint. Sie hoffen zwar auf legale Einreise in die reichen USA, aber sie riskieren ihr Leben auch als illegale Einwanderer über den Tortilla Curtain.  

Wir  finden auch ganz andere Namen dafür: Todesstreifen, Eiserner Vorhang, The Wall, The Fence. Die   „reaper´s  line“  (vgl. Morgan, Lee,  II, The  reaper's  line:  life and death on  the Mexican border, 2006), meint  eine  Schneise,  die  der  Sensenmann,  also  der  Tod,  schlägt. Und  hier  an  der Grenze zwischen der ersten und der dritten Welt schlägt der Tod erbarmungslos zu. 

Zuerst will  ich  einige Bemerkungen über die  „Berechtigung“ machen,  dass  an der Grenze  eine  so deutliche  Schneise  gezogen wird.  Das  einschlägige  Gesetzespapier  ist  der  Sicherung  der Grenzen gewidmet  und  hat  weit  reichende  Aufgaben:  Das  Homeland  Security  Department  beruft  sich bezüglich des Grenzschutzes auf den Secure Fence Act 102. 

Secure Fence Act 

Section 102 of  the Secure Fence Act  requires  the Department of Homeland Security  to construct –  in  the most  expeditious manner possible –  the  infrastructure necessary  to 

                                                            2 Frontex: European Agency for the Management of Operational Cooperation at the External Borders of the Member States of  the  European  Union),  gegründet  2007 mit  den  Aufgaben  der  Überwachung  der  EU  Außengrenze  hat  den  Sitz  des Hauptquartiers in Warschau. 3 United States Border Patrol ist ein bewaffneter Polizeiverband, der dem Department of Homeland Security unterstellt ist und  bereits  1924  gegründet wurde. Die USBP  hat  die Überwachung  der US Außengrenze  zu  sichern  und  vor  allem  die illegale Einreise in die USA zu verhindern.

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deter and prevent illegal entry on our Southwest Border, including pedestrian and vehicle fencing, roads, and technology. 

Gaining effective control of our nation’s borders is a critical element of national security.  Among other benefits, this will help make our nation’s borders more secure by: 

Establishing a  substantial probability of apprehending  terrorists  seeking entry  into  the United States 

Disrupting and restricting the smuggling of narcotics and humans 

Preventing violence against border residents and illegal immigrants 

Promoting better environmental health along the Southwest Border 

Restricting potentially harmful diseases (both human and agricultural) from crossing the border. 

Quelle: http://www.dhs.gov/files/programs/editorial_0128.shtm 

Nationale  Sicherheit  zu  garantieren  ist  das  Hauptanliegen  der  Grenzpatrouille.  Mit  dieser umfassenden Aufgabe  ist  eben die Border Patrol beauftragt und  steht damit  in den Diensten der inneren Sicherheit   des Landes. Die CBP  (The Customs and Border Protection)    ist  im Zuge der SBI (Secure  Border  Initiative)  autorisiert,  Maßnahmen  zu  ergreifen,  die  sowohl  den  Fracht  und Güterverkehr  betreffen,  als  auch  darüber  hinaus  biometrische  Daten  zu  erheben  von  jenen Personen,  die  nicht  US  Staatsbürger  sind, wenn  sie  an  einer  Einreisestelle  ankommen,  oder  von jenen, die Nicht‐US Staatsbürger sind, und versuchen auf illegale Weise in das Land einzureisen. Trotz dieser  vermehrten  Anstrengung  gelingt  es  immer  wieder  illegalen  Einwanderern  in  die  USA überzusetzen.  

Einige Zahlen seien genannt, die Auskunft geben können, ohne dass das Problem der Grenzgänger damit wirklich erfasst werden kann. Statistik  ist nun einmal keine emotionale Angelegenheit, außer man sagt, es sei aufregend, zu erfahren, dass schon wieder eine Anzahl von „illegalen Einwanderern“ an der Grenze unter dramatischen Umständen ums Leben gekommen oder bloß aufgegriffen worden sei, und wieder zurückgeschickt wurde.  

Hier  sind  einige  Daten  aus  dem  Bereich  der USA  an  den  Grenzen  zu Mexico.  Betroffen  sind  die Staaten California, Arizona, New Mexico und Texas.  

Die Länge der Grenze beträgt 1952 Meilen, also etwa 3.150 Kilometer. 

Ein Gesetz aus 2006 erlaubt den Bau von neuen befestigten Grenzeinrichtungen auf mehr als 700 Meilen, also ca. 1.150 Kilometer Länge, auf vielen Meilen lang davon ist die Fertigstellung ungewiss.  

Seit  1904  patrouilliert  die  US  Grenzwache,  damals  vor  allem  um  asiatische  Einwanderer  zu verhindern. Ca. 900 000 Mexikaner  flohen  im Zusammenhang mit der Revolution von 1910  in die USA, aber  in den dünn besiedelten Gebieten und dem Bedarf an Arbeitskräften war Migration kein Thema.  Die  Einwanderungszahlen  explodierten  förmlich  seit  1990,  nach  dem  NAFTA  Abkommen zwischen Mexiko und den USA, einem Freihandelsabkommen, das eigentlich dazu erdacht war, die Einwanderung zu stoppen.   Es  ist eine Tatsache, dass die Bewohner an der Grenze  in den USA von 

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ihren  südlichen Nachbarn  leben.  Zäune  treiben  die  Preise  nach  oben. Und,  bei  all  den Millionen Einwanderern, die  ihr Glück  im Gelobten Land versuchen  ‐ wäre dort keine Arbeit, würden viele es auch nicht riskieren, einzureisen. 

Gemäß  den  Zahlen  des Migration  Policy  Institute  leben mehr  als  Eine Million  Einwanderer  ohne Papiere  in  Texas.  (Siehe  http://www.texastribune.org/immigration‐in‐texas/immigration/)4.  Die Gesamtbevölkerung von Texas beträgt derzeit ca. 25 Millionen. 

Aufgrund  seiner  geografischen  Nähe  zu  Mexico  lebt  in  Texas  die  zweithöchste  Anzahl  nach Kalifornien, von diesen  illegalen Einwanderern  in den USA (Quelle: The Texas Tribune, March 13th, 2011). 

In einem offiziellen Bericht der Civil Rights Commission aus dem  Jahr 2003 wird  festgehalten, dass nach  Schätzungen  der Regierung  seit Mitte der Neunziger  Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts  an  der Grenze  zu  Mexiko  ungefähr  zweitausend  Menschen  beim  Versuch,  die  unbefestigte  Grenze  zu überqueren,  zu  Tode  gekommen  sind.  Todesursachen  waren  Dehydration  (weil  eben Menschenschmuggler  die  Flüssigkeitsaufnahme  der  eingeschmuggelten  MigrantInnen  auf  ein Minimum  reduzieren)    oder  Tod  durch  Ertrinken, wenn  ungeübte  Schwimmer  im  Rio Grande  die Überquerung  der  Grenze  versuchen,  oder  Tod  durch  Erschöpfung,  aufgrund  der  unzulänglichen Grundversorgung während der „Einreise“.   

Immer  wieder  faszinieren  Berichte  von  Überlebenden,  bei  denen  hörbar  wird,  wie  knapp  das Überleben geschafft wurde. 

Einige der nachfolgenden Daten verdanke ich Luis Sandoval, einem in den USA lebenden, aus Mexico gebürtigen Psychologen. Sandoval verweist auf die Praktiken von Coyotes, den Schleppern, die ihren Tribut von den MigrantInnen erpressen. Die Zahl der (illegalen) Einwanderer von Mexiko in die USA hat sich von 2000 bis 2009 dramatisch erhöht. Mit mehr als 6,5 Millionen Einwanderer (2000 waren es  „nur“  4,5 Millionen)  steht Mexiko  mit  Abstand  an  der  Spitze  der  Herkunftsländer  von  allen Einwanderern  in die USA. Die nächstfolgenden Herkunftsländer erreichen bei weitem keine Million, und aus anderen Ländern zusammen, die nicht Lateinamerika umfassen, sind es insgesamt auch nur 1,5  Millionen  Einwanderer.  Entsprechend  dieser  „Beliebtheit“  bei  mexikanischen  MigrantInnen haben sich die „Tarife“ der Schlepper für den gefährlichen Transport erhöht. 

Einfache  oder  Deluxe  Packages  machen  die  Einwanderung  zu  einem  profitablen  Business,  ohne Skrupel und ohne Moral. Menschen, wie Sardinen  in Lastwagen geschlichtet, zahlen an die Coyotes (das  ist  der Name  der  Person,  die  beim  illegalen Übertritt  über  die Grenze  „hilft“). Das  einfache Package, also einfache Überfahrt, mit einer Chance die Grenze zu passieren, kostet eine Menge und wird mit Konditionen  angeboten.  Für den willigen Migranten  liest  sich das dann  so: Minimum  an erforderlichem Bargeld: fünf Dollar pro Tag. Dann eine Summe xx an den Coyoten. Mitzunehmen ist nur  eine  Ersatzkleidung  in  einem  kleinen  Rucksack,  KEINE  extra  Verpflegung,  KEIN  extra Wasser. Zusätzliches Geld ist erforderlich für die Abwehr von Raub, Vergewaltigung. 

                                                            4  Eine  sehr  informative  und  “objektive”  Berichterstattung  bietet  „The  Texas  Tribune“,  die  eine  „Literary  review“  zu einschlägigen Themen eines Zeitungsverbunds liefert.

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Mit dem Anwachsen des Zauns an der Grenze wurden die Tarife  für die Coyotes  stetig  teurer.  Im Jahre 2007 zahlte man 1.500 Dollar bei einfachem Übertritt mit einer Chance. Inzwischen sind bis zu 5.000 Dollar für den einfachen Übertritt zu zahlen.  

Das Deluxe package sieht vor, einige Liter Wasser inklusive. Warum ist das bereits deluxe? Wasser ist teuer  in der Wüste. Aber ‐ wer Wasser trinkt, muss öfter seine Notdurft verrichten. Also steigert er das  Risiko,  aufgegriffen  zu  werden,  wenn  der  Lastwagen  anhält.  Und  das  erhöhte  Risiko  ist  zu bezahlen. 

Befürworter der Einwanderungspolitik in den USA sprechen sich dafür aus, Einwanderung großzügig zuzulassen. Sie meinen, dass ohne die Anzahl der Einwanderer (auch der illegalen) der Arbeitsmarkt daniederläge, dass am Baugewerbe, der Landwirtschaft und  in zahlreichen Dienstleistungsbetrieben ohne diese Schattenarmee an Beschäftigten das Lebensniveau  in den US Haushalten nicht aufrecht zu halten wäre.  Je näher an der Grenze Menschen leben, umso eher argumentieren sie sachlich, weil sie auch viele verwandtschaftliche Beziehungen zu „drüben“ haben (vgl. Bowden 2007). 

Eine Allianz von Befürwortern aus  Industrie und Handel stößt auf eine Front von Ablehnung durch jene, die meinen, der Staat würde bereits viel zu viel für die Einwanderer ausgeben. Sozialstaatliche Argumente  spielen  dabei  nur  eine  geringe  Rolle.  Vorurteile  werden  schnell  konstruiert  und nachhaltig  verbreitet.5  Soziale  Verträglichkeit  wird  an  Rechte  für  Teilhabe  geknüpft.  Feindbilder werden durch Neid und Missgunst geschürt. Eine nicht zu unterschätzende Kraft machen Vorurteile bezüglich  prestigearmen  und  prestigeträchtigen  Herkunftsländern  aus.    Latinos  genießen  keinen hohen Status an Sozialprestige. Schnell kann man daher meinen, es gäbe einfach „zu viele“. 

Hier einige Zahlen aus der Tabelle 1 der Einwanderungsstatistik in den USA  

Einige rechtliche Unterschiede bestehen  in den „Zielländern“. Harte oder weniger harte gesetzliche Regelungen  in Europa bestehen  zwischen Staaten und bezüglich der Einreise und Weiterreise  von Migranten, Asylanten und Flüchtlingen. In den USA gibt es den Terminus sanctuary cities mit einem durchaus umstrittenen Status. Sanctuary Cities  ‐ man muss dabei an Refugien denken und  ist weit weg von romantisierenden Vorstellungen der heilen Welt. 

Was  sind  Sanctuary Cities?  Sanctuary Cities  ist  kein gesetzlicher Ausdruck,  aber  ist  inzwischen ein Schlagwort  für  jene  Städte  in  Texas  geworden,  die  sich  bezüglich  der  verstärkten  gesetzlichen Kontrolle von illegalen Einwanderern zurückhaltend geben. Grundsätzlich gilt, nach dem Gesetz darf die Polizei  jemanden nicht anhalten, oder auf Verdacht hin  festnehmen und befragen, wenn nicht ausdrücklich  ein  Vergehen  gegen  den  Beschuldigten  nachzuprüfen  ist.  Dementsprechend  sind Vergehen von Einwanderern in der Mehrzahl nach dem Zivilrecht zu ahnden. In Sanctuary Cities wird die Aktion „Law enforcement“, also Festhalten auf Verdacht, nicht ausgeführt (siehe Aguilar 2011). 

                                                            5 Das muss uns doch bekannt vorkommen! Zumindest der Boulevard schreibt in Österreich in einem ähnlichen Tonfall der Ablehnung  von  MigrantInnen.  Im  Zuge  der  Aufhebung  der  Arbeitsplatzbeschränkungen  für  Angehörige  aus  den angrenzenden  EU  Staaten mit  1. Mai  2011  sind  auch  in Österreich  derartige  Aussagen  vernehmbar.  Schätzungen  über Einwanderungsabsichten decken sich nur selten mit den nachträglich ermittelten Zahlen. Interessensgebundene Aussagen sind bestens geeignet, Vorurteile zu konstruieren und wach zu halten.

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Die Einstellungen und Reaktionen der Bevölkerung sind dazu ausgewogen verteilt: 

Nur  14  %  befürworten  das  Existieren  von  Sanctuary  Cities,  17  %  sind  strikt  dagegen,  69  %  der Bevölkerung  haben  keine  Meinung  dazu.  Einige  glauben,  dass  Houston  eine  Sanctuary  City  sei, andere ‐ und darunter sind die obersten Behörden der Einwanderung ‐ verneinen diese Auffassung.  

Das Gesetz HB 12 sieht vor, dass in Texas, so wie seit dem Jahr 2010 in Arizona, jedermann jederzeit von  der  Polizei  festgehalten werden  kann,  um  auf  die Daten  und  seinen  Verbleib  hin  befragt  zu werden. Dass  sich  diese Maßnahme  in  der  Praxis  natürlich  in  erster  Linie  gegen  jene  Population wendet, die allein schon dem Augenschein nach, also vom Phänotyp her, Latinos sind,  ist evident. Wer wie  ein  Ausländer  aussieht,  ist  potentiell  verdächtig.  Klar  gedeiht  eine  politische  Praxis  der Verdächtigung  prächtig,  besonders wenn  sie  geschürt  vom Misstrauen  gegenüber  dem  Fremden etabliert wird. Sie ist im Grunde nur abzulehnen.  

Sanctuary  Cities  meint  also  jene  Städte,  in  denen  derartigen  Verdächtigungen  nicht  so  sehr nachgegangen wird. Und dabei  ist  vor  allem  zu bemerken, dass die meist über die  grüne Grenze Eingewanderten in diesen Städten einer regulären Beschäftigung nachgehen. Das heißt: Wenn es den Einwanderern  (und  in  der Mehrzahl  sind  es Mexikaner)  gelingt,  Arbeit  zu  finden,  erhalten  sie  in diesen Regionen der Sanctuaries eine Sonderaufenthaltsgenehmigung.  

Sanctuary  Cities  sind  einer  humanen  Geste  entsprungen,  heben  aber  keineswegs  die  erfahrene Ungerechtigkeit auf. Die Pädagogische Provinz feiert hier keine fröhlichen Urstände, sondern hat sich mit den Möglichkeiten des Arbeitsmarktes arrangiert. Wer am Arbeitsmarkt gebraucht wird, hat eher Chancen auf einen humanen Umgang. Refugien sind alles andere als kostenlos zu haben. 

Grenzregime 

Ein sozialpädagogischer Blick kann nur umfassend auf diese Situation hinschauen und beide Seiten der  Grenze  in  den  Blick  nehmen.  In  generalstabsmäßiger  Manier  sind  hier  verflochtene Zusammenhänge organisiert, die auf den ersten Blick nicht leicht zu erkennen sind. 

Menschenhandel, Menschenschmuggel, trafficking, so die  international verbreitete Bezeichnung,  ist ein ungeheures Geschäft. Menschenhandel ist inzwischen ein Industriezweig, der nur gut organisiert funktioniert. Profiteure sitzen auf beiden Seiten der Grenze. Als nicht unbedeutende Nebenzweige dieses  Geschäftes  sind  Drogenschmuggel,  Drogenhandel  und  Waffenhandel  zu  nennen.  Die Drogenkartelle  sind  wie  internationale  Firmen  aufgebaut,  mit  klarer  Befehlsstruktur  und  sind Kartelle, die den Markt beherrschen.     Als Nebenzweige des   Geschäfts  gehören Prostitution und Beschaffungskriminalität dazu. Ein massives Problem ist die allerorts eingestandene Korruption. Auch dazu einige Zahlen: Wenn ein Transport mit Menschen pro Nacht ca. 20 Personen umfasst, so sind bei  5.000  Dollar  pro  Nacht  an  transportiertem  „Wert“  100.000  Dollar  „Gebühren“  fällig.  Für  die Summe  von  beispielsweise  50.000  fällt  es  dann  den  Behörden  schon  ein,  die  Grenze  genau  zu kontrollieren,  aber  in  die  andere  Richtung  zu  schauen.  Korruption  ist  für  gewöhnlich  der Machtmissbrauch anvertrauter Macht  in einer  Funktion  zu privatem Vorteil. Allerdings, die Macht der Grenzbehörden steht auf dünnen Beinen. Schon mit einer Zusatzbemerkung, der Grenzer habe doch Familie, und seine Kinder wollten eventuell in den USA studieren ‐ was bekanntlich sehr teuer 

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ist ‐ macht es auch loyalen Gesetzeshütern schon sehr schwer, nicht beide Augen zuzudrücken. Man könnte    in  der Nacht  so  viel  verdienen, wie  die  ganze  Familie  für mehr  als  das  Jahr  zum  Leben benötigt.   … Noch mehr Geld  ist nur mit Waffenhandel und dem Drogenschmuggel zu machen. Das ist  obendrein  noch  gefährlicher. Die  derzeit  kolportierten  Tarife  sind:  Für  einen  Auftragsmord  an einem Konkurrenten: 200 Dollar. Wenn die Leiche unauffindbar bleiben soll, dann steigt der Tarif auf 500 Dollar. Mit der Korruptionsbekämpfung ist die Border Patrol gerade in den eigenen Reihen sehr beschäftigt.  

Als  Nebenschauplatz  verblasst  dagegen  die  Einwanderung,  sei  es  die  legale  oder  illegale Einwanderung. Und die  (bei uns) so hochgespielte Frage der  Integration  ist, man muss es  leider so nennen, auch nur von sekundärer Bedeutung. Der Markt beherrscht die Szene. Also die Nachfrage bestimmt das Angebot, und die Wege zur Versorgung werden sichergestellt. Wenn Peripherie dazu benutzt wird, das Zentrum zu bedienen, so stellt die Grenze nur einen Zwischen‐Fall dar: Das Leben an der Grenze  läuft dann reibungslos, wenn die Verkehrswege nicht aufgehalten werden, wenn das Geschäft nicht  ins Stocken kommt. Sozialpädagogen mit Bemühungen um  Integration  sind allemal Zweite, oder  gar  erst nur Dritte nach den Überwachungsorganen und den Abnehmern der Ware. Hinter  den  politischen  und  den  rechtlichen  Rahmenbedingungen  für  einen Markt  ist  das  triviale menschliche  Elend,  ob  die  Anpassung  an  neue  Lebensumstände  gelingt,  oder  das  Überleben überhaupt eine Chance bekommt, wird dem Einzelnen umgehängt. Ein Unterschied besteht zwischen staatlichen und privaten Helfern in Europa oder den USA. Das Land, in dem  pursuit of happiness in der Verfassung steht, überlässt die soziale Integration weitgehend dem Einzelnen. Der Staat hat von sich aus keine großen Ambitionen, soziale Netze zu spannen (siehe Sandoval 2011). Eine beachtliche Rolle  spielen die Vertreter kirchlicher Gemeinschaften. Auf  ihren Einfluss wird gehört. Community based  work  ist    durchaus  erwünscht,  wenngleich  wiederum  von  privaten  Stiftungen  und  Fonds getragen und auf diese angewiesen.6  

Die tex/mexanische Grenze zeigt das Primat der Politik vor der (Sozial‐) Pädagogik. So wird Regierung zu einem bestimmenden Faktor. Rahmen, Ordnungen werden hergestellt im Wege der Verordnung, der Gesetze. Und das Regulativ heißt einmal mehr: Wer zahlt, schafft an. Betrüblicherweise, muss man konstatieren. Der Blick auf den Grenzbereich zwischen Mexico und den USA macht das nur allzu deutlich. Menschenfleisch wird gehandelt nach gängigen Marktpreisen. Pädagogik  ist ein Geschäft auf  Zeit.  Es  dauert  Generationen,  bis  jemand  der  mit  Tortillas  aufgewachsen  ist,  zum  Steak‐holder/stakeholder wird.  

Literatur 

Aguilar, Julian (2011). Texas Lawmakers prepare for Sanctuary City Battle, in: The Texas Tribune, 30. 3. 2011.  

                                                            6 Ein Beispiel für eine mehr oder weniger geglückte Intervention in einem Konfliktfeld ist die Arbeit von Rico Ainslie. Der in Mexiko gebürtige Amerikaner bringt wiederholt  seine Kompetenz bei einer ethnographisch psychoanalytisch angelegten Studie  in einer  texanischen Kleinstadt  ein.  (Siehe: No dancin´  in Anson, 1995).   Und  in    einer  zweiten  Studie über eine Dorfgemeinschaft,  in  der  ein Mord  aus  rassistischen Gründen  geschah  (Ainslie:  The  Road  to  Redemption,  1998),  zeigt Ainslie die „Heilung“ einer Kommune. 

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Ainslie, Ricardo (1995). No dancin´in Anson. An American Story of Race and Social Change, New Jersey, London. 

Ainslie, Rico (1998). The Road to Redemption. Jasper, Texas: The healing of a community in crisis, Austin. 

Bowden, Charles (2007). Our Walls, Ourselves, in: National Geographic. May 2007, 116‐139.  Guzman, Mark (2002). Coyote crossings: the role of smugglers in illegal immigration and border 

enforcement, in: Mark G. Guzman, Joseph H. Haslag, Pia M. Orrenius (Hg.): Publication Information, Dallas. 

Illich, Ivan (1973). Selbstbegrenzung ‐ Tools for conviviality, New York. Morgan, Lee, II. (2006). The reaper's line: life and death on the Mexican border, 

Tucson.  Sandoval, Luis (2011). Latino or Hispanic? Mental Health & Access to Care. Unpublished paper, 

Austin. 

Internet Quellen: 

Homeland Security Department. Internet: http://www.dhs.gov/files/programs/editorial_0128.shtm (Recherchedatum: 11.11.2011). 

 Migration Policy Institute. Internet: http://www.migrationinformation.org/Feature/display.cfm?ID=19 (Recherchedatum: 11.11.2011). 

The Texas Tribune. Internet: http://www.texastribune.org/contact/ 

U.S. perspective of “Latino” America  Count  percentage 

Total  35,238,481  12.5 

Mexicano  20,900,102  7.4 

Puertorriqueño  3,403,510  1.2 

Cubano  1,249,820  0.4 

Centroamericano1  1,811,676  0.6 

Sudamericano2  1,419,979  0.5 

Dominicano  799,768  0.3 

Español  112,999  ‐ 

Otro hispano3  5,540,627  2.0 

Tabelle 1:  (Quelle: Luis Sandoval, Latino or Hispanic? Mental Health & Access to Care, 2011) 

 Ao. Univ. Prof. Dr. Reinhold Stipsits arbeitet am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien und forscht  zum Thema Sozialpädagogik, Minderheiten in Mitteleuropa und Biographieforschung.

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Diversität und Interkulturalität in österreichischen Alten‐ und Pflegehäusern Bildungsperspektiven einer kultursensiblen Altenpflege 

DANIELA WAGNER 

Mein  Dissertationsprojekt  und  damit  auch  dieser  Artikel  basieren  auf  zwei  grundlegenden gesellschaftlichen  Entwicklungen:  einerseits  das,  alle Menschen  betreffende Alter(n),  andererseits die historisch‐demografisch verankerten und weiter  im Zunehmen begriffenen Migrationsprozesse. Ausgehend von diesen Prozessen  fokussiere  ich meine Arbeit auf Diversität und  Interkulturalität  in österreichischen  Alten‐  und  Pflegehäusern,  wobei  unter  Alten‐  und  Pflegehäusern  alle  sozialen Einrichtungen  der  stationären  Langzeitpflege  und  ‐betreuung  alternder  Menschen  verstanden werden, also etwa 1000 Einrichtungen österreichweit. Dabei leitet mich die Frage: Wie gestaltet sich das kulturelle Zusammenleben und –arbeiten in stationären Einrichtungen der Pflege und Betreuung alternder Menschen?  

Im  Folgenden  werden  zuerst  die  grundlegenden  Fragestellungen  und  Ansätze  meines Forschungsprojektes  vorgestellt. Danach  erfolgt  anhand  einiger  ausgewählter Beispiele  und  erster vorläufiger  Ergebnisse  eine  Einführung  in  den  speziellen  Aspekt  der  Bildungsperspektiven  einer kultursensiblen Altenpflege. 

Demografische Entwicklungsprozesse zwischen Alter(n) und Migration 

Zu den Alterungsprozessen 

In  Österreich  leben  knapp  8,4 Millionen Menschen,  über  4 Millionen Männer  und mehr  als  4,3 Millionen Frauen. Im Jahr 2000 waren über 1,2 Millionen Menschen mindestens 65 Jahre alt, 570.000 waren sogar mindestens 75 Jahre alt. 2010 zeigt die Statistik bereits 1,5 Millionen Menschen über 64 Jahre und 670.000 über 74 Jahre. Dabei wächst die Gruppe der Hochaltrigen  (85+) am schnellsten, auch  die  Gruppe  der  70  bis  84  jährigen  folgt  dem Wachstumstrend.  Diese  alternden Menschen werden  etwa  2030  ein  Drittel  der  Gesamtbevölkerung  ausmachen  (vgl.  Statistik  Austria  2011).  

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Abbildung 1: Bevölkerung Österreichs von 1869 bis 2071 nach Alterskategorien von Amann (2004) Quelle: Statistik Austria 2007, Volkszählungen 1869 bis 2001 & Statistik Austria 2008, Bevölkerungsprognose 2008, Hauptvariante 

 

Aufgrund  der  rückläufigen  Geburtenzahlen,  dem  Nachrücken  geburtenstarker  Jahrgänge  (Baby‐Boom)  und  der  Zuwanderung  wird  eine  Zunahme  an  alternden  und  hochaltrigen  Menschen  in Österreich zu erwarten sein. Eine weiterhin steigende Lebenserwartung (Medizin, Hygiene, Technik, Lebensbedingungen) wird für die Zukunft prognostiziert. Es kommt somit zu einer Veränderung der Alter(n)sstruktur der österreichischen Bevölkerung.  

Immer mehr Menschen erreichen das 100ste Lebensjahr und dabei weisen 80% dieser Langlebigen eine gute bis befriedigende Lebensqualität auf. Bereits Hochbetagte zwischen 90 und 100 Jahren sind in  ihrer Anzahl rapide ansteigend, ebenfalls bei gesundheitlich zufriedenstellender Verfassung. Eine zunehmende  Lebenserwartung  kann  durchaus  einen  „Gewinn“  behinderungsfreier,  gesunder, mobiler  und  aktiver  Jahre  bedeuten,  woraus  sich  beispielsweise  auch  der  Terminus  der  „Neuen Alten“ entwickelt hat. Zudem ist das Altern ein Prozess der zwar jeden Menschen prägt, aber durch ein  enormes  Ausmaß  an  Heterogenität  charakterisiert  ist.  Leitend  für  diese  Befunde  sind  die Darstellungen der Statistik Austria  (2010)  sowie die Werke von Amann  (1989, 2004), Wick  (2008), Prahl  und  Schroeter  (1996),  Tews  (1979)  und  ebenso  Herschkowitz  und  Chapman  Herschkowitz (2006). 

Und  obgleich  die  „Neuen  Alten“  durchaus  einen  Zugewinn  an  Lebensqualität  noch  im  hohen Lebensalter genießen können, darf nicht vergessen werden, dass mit dem ansteigenden Lebensalter das  Risiko  für  psychische  und  physische  Beeinträchtigungen  zunimmt,  bei  Hochaltrigen Multimorbidität  immer wahrscheinlicher wird und damit die Hilfs‐ sowie Pflegebedürftigkeit steigt. Der Alterungsprozess fordert Tribut: Etwa 8.000 Personen zwischen 60 und 74 Jahren befinden sich heute schon in Heil‐/Pflegeanstalten bzw. Pensionisten‐/Altersheimen, was 0,7% dieser Altersgruppe entspricht.  Bereits  7%  der  Menschen  ab  75  Jahren,  also  mehr  als  46.000  Personen  leben  in 

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stationären Einrichtungen. Dabei zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen den Geschlechtern. Während  bei  den  „Jungen  Alten“  ab  60  Jahren  sowohl  0,7%  der Männer  als  auch  der  Frauen  in stationären  Einrichtungen  leben,  sind  es  3,6%  der  Männer  ab  75  Jahren,  das  heißt  gut  8.000 Menschen, und 8,8% der Frauen, die in Alten‐ und Pflegeheimen  leben, also etwas mehr als 38.000 weibliche Personen sind bereits 75 Jahre und älter. Insgesamt verteilen sich etwa 59.000 Personen, das  entspricht  0,7%  der  Bevölkerung  auf  etwa  70.000  Plätze  für  Pflege  und  Betreuung,  die österreichweit angeboten werden. Von allen alternden betreuungs‐ und pflegebedürftigen Personen befinden  sich  16%  in  stationären  Einrichtungen,  die  anderen werden  zu  Hause  von  Angehörigen sowie mobilen Diensten betreut (vgl. bmsk 2008 / Statistik Austria 2011).  

Die  zunehmende  Inanspruchnahme  sozialer  Unterstützungsleistung,  zusätzlich  forciert  durch netzwerkbezogene  Veränderungen  (Familienstruktur  und  –beziehung),  bringt  auch  sozialpolitische Probleme mit sich. Dies insbesondere dann, wenn „Defizite“ der Alten öffentlich in den Mittelpunkt gestellt  werden,  wodurch  zunehmend  die  Gefahr  entsteht,  dass  alternde  Menschen  als Sondergruppe behandelt und  in  stationären Einrichtungen  separiert werden, oder allgemein einer Altersdiskriminierung unterliegen, wie Hoppe und Wulf (1997), Prahl und Schroeter (1996), Dibelius und  Uzarewicz  (2006),  Herschkowitz  und  Chapman  Herschkowitz  (2006),  Kneissl  (1999),  Amann (1989,  2004)  und  Noack  (et  al.  2007)  befürchten.  So  stehen  die  Alterungsprozesse  in  einem Spannungsfeld zwischen erfülltem Alter(n), Hilfs‐ und Pflegebedürftigkeit sowie Diskriminierung, was mitunter in der Arbeits‐ und Lebenswelt von Alten‐ und Pflegeheimen besonders spürbar wird.  

Zu den Migrationsprozessen 

Migrationsbewegungen  charakterisieren  die  gesamte Menschheitsgeschichte  und  so  ist  es wenig verwunderlich, dass knapp 1,3 Millionen Menschen nicht  in Österreich geboren wurden und etwa 895.000 Menschen nicht die österreichische Staatsbürgerschaft haben. Die Gesellschaft Österreichs ist  von  einer  insgesamt  zunehmenden  Multi‐  und  Interkulturalität  geprägt  (vgl.  Statistik  Austria 2011).  Dies  ergibt  sich  für  Reinprecht  (2009:  243)  vorwiegend  aus  prägenden  historischen Einschnitten, die das vergangene  Jahrhundert zu einem Zeitalter der Migration werden  ließen: der Zerfall  der  Monarchie,  der  Erste  Weltkrieg,  die Weltwirtschaftskrise,  die  NS‐Herrschaft  und  der Zweite Weltkrieg,  die  politische  Neuordnung  Europas  und  der Wirtschaftsaufschwung  sowie  die grenzüberschreitenden  „Arbeiterwanderungen“  in der  zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts. Durch die  bis  heute  vorhandenen  Migrationsprozesse  wurde  die  Bevölkerungsstruktur  Österreichs nachhaltig verändert. Neben den  insgesamt zunehmenden  langfristigen Zuwanderungen wären hier auch  die  von  Rolshoven  und  Winkler  (2009)  explizierten  Formen  von  Transnationalität  und Translokalität zu inkludieren.  

Diese Entwicklungen zu einer kulturell vielfältigen Gesellschaft in Österreich führen dazu, dass immer mehr Menschen  aus  anderen  Ländern  und  Kulturen  in  sozialen  Dienstleistungseinrichtungen  der stationären  Betreuung  und  Pflege  arbeiten.  Von  über  4  Millionen  Erwerbstätigen  haben  etwa 450.000 Personen nicht die österreichische Staatsbürgerschaft, etwa 700.000 Menschen sind nicht in Österreich  geboren.  Im Dienstleistungssektor  arbeiten  fast  2,9 Millionen Personen, das  entspricht 69,4% der Erwerbstätigen (vgl. Statistik Austria 2011a).  

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Dabei  sind vorwiegend Frauen  in Dienstleistungseinrichtungen  tätig und auch Arbeitsmigrantinnen konzentrieren sich in diesem Bereich.  

„Die  Arbeitsmigration  von  Frauen  ist  auf  einige  wenige  weiblich  dominierte Beschäftigungsbereiche  in Verbindung mit  traditionellen geschlechtsspezifischen Rollen konzentriert. Segmentierung und Stereotype am Arbeitsmarkt definieren die Nachfrage nach  Arbeitsmigrantinnen:  die  Nachfrage  ist  vor  allem  steigend  bei  den Pflegedienstleistungen  in  gering  qualifizierten  und  abgewerteten  Jobs,  […],  sowie  in qualifizierten  und  geschätzten  Arbeitsstellen,  wie  Krankenpflege  und  auch Gesundheitspflege  in privaten Einrichtungen  für SeniorInnen und Behinderte“  (Moreno‐Fontes Chammartin 2008: 1f).  

Erhebungen  des  Bundesministeriums  für  Arbeit,  Soziales  und  Konsumentenschutz  (2007,  2008) zeigen  zwar, dass  in österreichischen Alten‐ und Pflegeheimen etwa 33.000 Personen, davon 85% Frauen, in unterschiedlichen Berufssparten arbeiten: diplomiertes Gesundheits‐ und Pflegepersonal, Pflegehilfspersonal, Hilfspersonal,  verschiedene  Fachkräfte,  ärztliches Personal  – wobei die Anzahl der  diplomierten  Pflege‐  und  Betreuungspersonen  im  Steigen  begriffen  ist.  Auf  die  Vielfalt  der Kulturen unter den Beschäftigten in österreichischen Senioren‐ und Pflegehäusern lassen sich aus der aktuellen  Datenlage  noch  keine  genauen  Rückschlüsse  ziehen,  doch  die  Diversität  und Interkulturalität zeigte sich mir in meinen Besuchen verschiedener Häuser der stationären Pflege und Betreuung.  In  einem Haus  beispielsweise  besitzen  von  240  Beschäftigten  103  Personen  nicht  die österreichische Staatsbürgerschaft und 184 MitarbeiterInnen sind nicht in Österreich geboren. Diese MitarbeiterInnen  kommen  aus Ägypten, Äthopien, Australien,  Bolivien,  Bosnien,  Bulgarien,  China, Indien, Kroatien, Mazedonien, Nigeria, Österreich, Philippinen, Polen, Rumänien, Russland, Serbien, Slowakei,  Slowenien,  Südafrika,  Tschechien,  Türkei, Ukraine, Ungarn  und  Valegrande.  Auch wenn viele MitarbeiterInnen  in Österreich  leben, gibt es  in einigen Häusern MitarbeiterInnen, die  täglich oder wöchentlich zwischen Beruf und Familie und damit zwischen zwei Ländern hin‐ und herpendeln. 

Der Arbeit in den Häusern und dem Austausch im Team erwachsen Chancen und Herausforderungen für  die  integrierten  AkteurInnen.  Hohe  physische  und  psychische  Belastungen,  bereichernde Momente des gegenseitigen Kennenlernens sowie des  intensiven Für‐ und Miteinanders mit vielen verschiedenen  BewohnerInnen,  Angehörigen  und  KollegInnen  unterschiedlicher  Vergangenheiten (Kultur,  Geschlecht,  Geschichte)  weisen  auf  besonders  interessante  Konstellationen  des gemeinsamen Lebens und Arbeitens hin. 

Dabei wird bereits ein weiterer Aspekt deutlich, denn auch Personen mit Migrationshintergrund sind von  zunehmendem Altern betroffen, weshalb  eine  kulturelle Vielfalt bei den BewohnerInnen und Angehörigen  zu  erwarten  ist.  Interkulturalität macht  vor  stationären  Einrichtungen der Betreuung und  Pflege  nicht  halt,  wodurch  die  Diversität  (Gesundheit,  Befindlichkeit,  Geschlecht,  Alter)  der BewohnerInnen und Angehörigen eine weitere Dimension erhält. Die Versorgung der MigrantInnen in  stationären Betreuungs‐ und Pflegeeinrichtungen  führt bisher  jedoch noch ein  Schattendasein  ‐ nicht nur  in den Statistiken, sondern ebenso  in den Einrichtungen. Häufig erfolgten erst auf meine Anfrage  genaue  Recherchen  in  den  Datenblättern  und  das  Erstaunen  über  die  vorherrschende Herkunftsvielfalt. Beispielsweise wurde  in einem Wiener Trägerverband der  stationären Betreuung und  Pflege  alternder  Menschen  auf  meine  erste  Anfrage  geantwortet:  „ich  würde  Ihnen  gerne 

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weiterhelfen, allerdings sind in unseren Einrichtungen kaum bzw. nur sehr vereinzelt BewohnerInnen mit  Migrationshintergrund“.  Nachdem  schließlich  der  Kontakt  zu  einem  Haus  dieses  Trägers hergestellt  war  und  eine  detaillierte  Nachfrage  stattfand,  wurde  festgestellt,  dass  26 BewohnerInnen, von  insgesamt knapp 270 betreuungs‐ und pflegebedürftigen Personen  in diesem Haus, in neun Staaten außerhalb Österreichs geboren wurden. Vier Personen haben nicht Deutsch als Erstsprache gelernt. Diese bislang wenig beachtete Heterogenität (hinsichtlich Nationalität, Religion, Sprache)  offenbart  sich  tendenziell  auch  in  anderen Häusern, wodurch  die  Relevanz  des  Themas Diversität und Interkulturalität in Pflegehäusern deutlich wird. 

Zusammenfassend  kann  man  festhalten,  dass  Migrations‐  und  Alterungsprozesse  aktuell  und zukünftig  zu  BewohnerInnen,  Angehörigen  sowie  Betreuungs‐  und  Pflegepersonal  aus unterschiedlichen  Herkunftsländern,  mit  unterschiedlichen  Religionen,  Muttersprachen, Perspektiven, Einstellungen und Werten führen werden. Diese Diversität bereichert und fordert das Füreinander sowie Miteinander in österreichischen Alten‐ und Pflegeheimen. Ausgehend von diesen Prozessen und Entwicklungen stellt der Bereich der Langzeitpflege  in der gemeinsamen „Heimwelt“ einen besonders interessanten Aspekt dar, charakterisiert durch die Interaktion  

• von BewohnerInnen mit unterschiedlichen Biographien, Gewohnheiten und Vorlieben, 

• von,  in  individuelle  Lebenswelten  eingebundenen  Angehörigen  mit  differenzierten Erwartungen und 

• von  mehr  oder  weniger  häufig  wechselndem  Betreuungs‐  und  Pflegepersonal  aus unterschiedlichen Herkunftsländern.  

Überblick über das empirische Design 

Um  diese  Diversität  und  Interkulturalität  in  österreichischen  Alten‐  und  Pflegeheimen möglichst perspektivenreich  zu  erfassen,  orientiere  ich mich  bei meinem  Vorgehen  an  der  Interpretativen Sozialforschung.  Im  Speziellen  lehne  ich  mein  methodisches  Design  an  die  Grounded  Theory (Strauss/Corbin 1996) an. Qualitative Interviews mit BewohnerInnen, Angehörigen, MitarbeiterInnen und  leitendem  Personal  in  unterschiedlichen  Häusern  eröffnen  viele  Perspektiven,  wobei  eine strukturierende  Inhaltsanalyse  von Mayring  (2001, 2002, 2008)  interessierende Passagen  aufdeckt die  in  einer  line‐by‐line‐Analyse  im  Sinne  der Grounded  Theory  (Strauss/Corbin  1996)  spezifiziert werden. Aufgrund der mangelnden Datenlage  strebe  ich weiters eine österreichweite quantitative Erhebung  an,  die  einen  Überblick  über  Nationalitäten,  Religionen  und  Sprachen  von  allen AkteurInnen  in  Heimen  geben  wird.  Multiple  Bezugspunkte  (durch  Kombination  und  Inklusion qualitativer  und  quantitativer  Methoden  im  Sinne  einer  Triangulation)  werden  dabei  helfen, spezifische Aspekte der unglaublich komplexen Realität in Alten‐ und Pflegeheimen möglichst genau erfassen zu können.  

Im  folgenden  Teil werden  Erkenntnisse  aus der qualitativen  Erhebung herangezogen, weshalb  ich eine  einführende  Explikation  meines  Vorhabens  voranstelle.  Entsprechend  dem  Grundsatz  des theoretical  sampling  werden  InterviewpartnerInnen  in  einem  zirkulären  Prozess  (Erstellung  des Leitfadens,  Wahl  der  zu  Befragenden,  Durchführung,  Analyse,  Überarbeitung  des 

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Erhebungsinstruments,  die  Auswahl  weiterer  Befragter  und  so  weiter)  eingeladen,  persönliche Erfahrungen,  Gedanken,  Meinungen,  Perspektiven  zu  offenbaren,  wobei  subjektive Relevanzsetzungen erfasst werden.  In mittlerweile 28  Interviews  in  fünf Alten‐ und Pflegeheimen, wobei  städtische  (Wien,  Graz)  wie  ländliche  Häuser  (Steiermark)  unterschiedlicher  Träger  der kontrastierenden  Auswahl  entsprechen,  wurden  zwei  Pflegedienstleiterinnen,  dreizehn MitarbeiterInnen,  drei  Angehörigenfamilien  sowie  elf  BewohnerInnen  befragt.  In  den  Häusern arbeiten MitarbeiterInnen  und  leben  teilweise  auch  BewohnerInnen  mit Migrationserfahrungen, wobei dieser, aufgrund der von den Alten‐ und Pflegehäusern erfassten Datengrundlage anhand des Geburtslandes  festgestellt  wird.  Während  die  unterschiedlichen  kulturellen  Hintergründe  der MitarbeiterInnen  eine  hohe  Präsenz  in  den  Häusern  hat,  scheint  das  Bewusstsein  für  die Heterogenität  der  BewohnerInnen  noch  nicht  entsprechend  ausgeprägt  zu  sein,  wie  das vorangestellte Beispiel meiner Anfrage zu BewohnerInnen mit Migrationshintergrund im Haus zeigt. Die  hohe  Zahl  an  nicht  in  Österreich  geborenen  BewohnerInnen  überraschte  selbst  die Pflegedienstleitung. 

Die  qualitativen  Erhebungen  mit  Pflegedienstleiterinnen,  MitarbeiterInnen,  Angehörigen  und BewohnerInnen  werden  in  Form  von  situationsflexiblen  leitfadenorientierten  und problemzentrierten (ExpertInnen)Interviews durchgeführt. Diese Leitfadeninterviews sind sehr offen gestaltet.  Ich  gehe  von  einem weiten  Kulturverständnis  „Kultur  ist  das, was  dich  und mich  zum Menschen macht“ (Greverus 1994: 9) aus und inkludiere zudem Aspekte der Diversität, weshalb am Beginn  meiner  Befragungen  allgemeine  Fragen  nach  der  Lebensgeschichte  (Herkunft,  Bildung, Berufserfahrung)  die  in  diesen  Beruf  sowie  dieses  Haus  geführt  hat  und  den  individuellen Erfahrungen  mit  BewohnerInnen,  Angehörigen,  KollegInnen  (Herausforderungen,  freudige Erinnerungen)  stehen. Wird  von  den  Befragten  kein  Bezug  zur  kulturellen  Heterogenität  in  den Häusern  hergestellt,  dann  frage  ich  nach  Erfahrungen  mit  unterschiedlichen  Gewohnheiten, Vorlieben  und  Kulturen  in  ihrer  Arbeits‐  und  Lebenswelt.  Schließlich  interessieren mich  noch  die Rahmenbedingungen,  sowie  Wünsche  und  Visionen  für  die  Zukunft.  Aufgrund  meines  zweiten Studiums  der Weiterbildung,  der  lebensbegleitenden  Bildung  fokussiere  ich  schließlich  auch  auf Bildungsperspektiven der AkteurInnen in Alten‐ und Pflegeheimen.  

Die daraus entstehenden Bildungsdimensionen für MitarbeiterInnen aber auch BewohnerInnen und Angehörige,  die  implizit  in  den  Berichten  der  interviewten  Personen  enthalten  sind  und  explizit erfragt  werden,  bilden  die  Basis  für  die  folgenden  Eindrücke  zu  Bildungsperspektiven  für  eine kultursensible Altenpflege.  

Bildungsperspektiven einer kultursensiblen Altenpflege  

Dieser  Bereich  stellt  lediglich  einen  exemplarischen  Ausschnitt  meines  Forschungsprojektes  dar. Mein  Interesse wurde  in  den  Interviews  geweckt,  die  immer wieder  Bildungsprozesse  zum  Inhalt haben,  einerseits  durch  Aus‐  und  Weiterbildungen  und  andererseits  durch  informelle Austauschprozesse. 

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Formale und non‐formale Bildungsangebote  

In den Gesprächen mit MitarbeiterInnen wird betont, dass das Thema der  kultursensiblen Pflege, wenngleich  vorwiegend  bezogen  auf  die  BewohnerInnen,  in  formalen  und  non‐formalen Bildungsangeboten durchaus  behandelt wird.  Im  Folgenden werden  zwei  „typische“ Beispiele  von Weiterbildungsmöglichkeiten österreichischer Bildungseinrichtungen aufgezeigt. 

Die  Volkshilfe  Oberösterreich  bietet  ein  breites  Bildungsprogramm,  welches  auf  einer standardisierten  Bildungsbedarfserhebung  basiert.  Von  insgesamt  acht  übergeordneten Themenfeldern gibt es einen Schwerpunkt „Interkulturelles“ mit drei Seminaren zur Interkulturellen Öffnung. Das Seminar „Kultur der Geschlechter versus Geschlechter  in den Kulturen. Konzepte und praktische  Anwendung“  thematisiert  den  Zusammenhang  von  Geschlechterbeziehung  und interkultureller Arbeit, wobei  in der Seminarbeschreibung exemplarisch aufgezeigte Stereotypen  im Aufeinandertreffen von „Menschen mit Migrationshintergrund und sogenannte[n] Einheimische[n]“ ins  Blickfeld  gerückt  werden,  mit  dem  Ziel  der  Entwicklung  von  Handlungsstrategien  und Argumentationskompetenz  als  Beitrag  „zu  einer  Gleichberechtigung  der  Geschlechter“  (Volkshilfe Bildungsakademie 2011: 66). Das, von der gleichen Person geleitete, Bildungsangebot mit dem Titel „Umgang mit (kultureller) Vielfalt für Fortgeschrittene“ fokussiert auf interkulturelle Kommunikation und  Kompetenz.  Es  handelt  sich  dabei  um  ein  Vertiefungsseminar  das  einerseits  ermöglicht  „die eigene  Praxis  im  Zusammenhang mit  kultureller Vielfalt“  zu  reflektieren und  andererseits werden „weitere  Konzepte  des  Umgangs  mit  kultureller  Vielfalt  bearbeitet  (Diversitätsmanagement, Interkulturelles Management)“  (Volkshilfe Bildungsakademie 2011: 67). Schließlich wird das Thema „Begegnung mit anderen Kulturen und Religionen“  ins Zentrum gestellt, wobei der Wissenserwerb und  damit  einhergehende  Sensibilisierung  grundlegend  für  die  kompetente  Begegnung  von Menschen  aus  anderen,  nicht  vertrauten  Kulturkreisen  gesehen  wird.  Neben  Basiswissen  zu Religionen und Ritualen werden Besonderheiten der Pflege, Betreuung und Begleitung  spezifiziert (Volkshilfe Bildungsakademie 2011: 68).  

Bei näherer Betrachtung dieser Angebote der Volkshilfe fällt auf, dass Schlagworte wie Einheimische, interkulturelle  Kompetenz  und  Vielfalt  oder  Toleranz  verwendet  werden.  Vielfach  lässt  die Formulierung  darauf  schließen,  dass  sich  die  Angebote  eher  an  Angehörige  der „Mehrheitsgesellschaft“  richten. Auffallend  ist, dass der allgemeine Umgang mit kultureller Vielfalt im Mittelpunkt  steht  und  weniger  zwischen  der  Zusammenarbeit  im  Team  oder  der  Betreuung, Begleitung  und  Pflege mit  den  KundInnen  differenziert wird.  Lediglich  im  dritten  Seminarbeispiel bildet dieser Aspekt den Schwerpunkt.  

Die  Evangelische  Akademie Wien  bietet  „Deutsch  für  Gesundheits‐  und  Pflegeberufe“  an. Neben allgemeinen  Deutschkursen  für  Personen  mit  nicht  deutscher  Muttersprache,  die  von unterschiedlichen  Einrichtungen  angeboten  werden,  gibt  es  zahlreiche  Angebote  für  spezielle Berufsgruppen, wie  in diesem Beispiel. Als AdressatInnen werden  jene Personen genannt, die nicht Deutsch als Muttersprache haben und „die  in einem Gesundheits‐ oder Pflegeberuf arbeiten, oder eine Pflegeausbildung machen möchten. Im Kurs wird der berufsspezifische Wortschatz trainiert und auf  spezielle  Situationen  im  Pflegeberuf  vorbereitet“  (Evangelische  Akademie  Wien  2011). 

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Unterschiedliche  Organisationsformen  (tagsüber,  Abend‐  oder  Intensivkurse)  ermöglichen  die Verknüpfung von Beruf und Weiterbildung.  

Dieses  Beispiel  zeigt  nicht  nur  ein  typisches  Weiterbildungsangebot  für  MitarbeiterInnen  mit Migrationshintergrund,  sondern  auch die  Konzeption  von berufsspezifischen Bildungsmaßnahmen, die  sich  überwiegend  an  das  gesamte  Gesundheits‐  und  Pflegepersonal  richtet.  Hier  können  die Teilnehmenden  aus  dem  Bereich  der  Altenpflege  von  den  bereits  weiter  vorangeschrittenen Erfahrungen und Erkenntnissen im medizinischen Sektor (Krankenhäuser) profitieren.  

Zusammenfassend  fokussieren  Weiterbildungsangebote,  die  sich  vorwiegend  an  Angehörige  der Mehrheitsgesellschaft  richten,  auf  den Wissenserwerb  über  Kulturen  und  die  Sensibilisierung  im Umgang  mit  kultureller  Vielfalt,  benannt  als  (inter)kulturelle  Kompetenz  und  Kommunikation. Bildungsmöglichkeiten  für  Personen  mit  Migrationshintergrund  stellen  vorwiegend  die Sprachkompetenz  ins  Zentrum,  indem  Deutschkurse  für  bestimmte  Berufsgruppen  den fachspezifischen Wortschatz vermitteln.  

Der informelle Austausch in den Häusern 

Neben Aus‐ und Weiterbildungsangeboten wird die Heterogenität der AkteurInnen  in den Häusern genutzt,  um  Informationen  und  Wissen  auszutauschen  sowie  Einblick  in  unterschiedliche Lebenswelten  zu  gewinnen.  Unter  den  MitarbeiterInnen  erfolgt  dieser  Austausch  vorwiegend informell, wie das Zitat einer Mitarbeiterin verdeutlicht: „also  für mich als Europäerin und römisch katholisch erzogen worden, is oft spannend zu hörn wos ma da Kollege ahm erzählt von, Koran ja es is  nicht  die  gleiche  Religion“.  Teamsitzungen  sowie  gemeinsame  Pausen  bieten Möglichkeiten  im Team  andere  Menschen  bzw.  KollegInnen  näher  kennen  zu  lernen,  auch  mit  deren  kulturellen Lebenswelten. Hier betont eine Angehörige die Bedeutung der Beziehungsarbeit: „i bin hoit ane die die Leut dann holt a anred und frogt ‚Woher kumman Sie‘ oder so net und das damit krieg i a Menge an  Information“.  Das  Grundwissen  um  die  kulturellen  Gewohnheiten  wie  die  biografischen Geschichten  der  Menschen,  der  MitarbeiterInnen  und  auch  der  BewohnerInnen  wird  in  den Interviews als sehr wichtig betont.  

Besonders hervorheben möchte  ich die Metapher einer Mitarbeiterin: „jeder trägt a Geschichte am Rücken  in  einem  Rucksack“,  sie  beschreibt  weiter  mögliche  biografische  Erfahrungen  der BewohnerInnen:  „des  is  eine  Generation  wos  nicht  leicht  im  Leben  gehabt  hat  zwa Weltkriege mitgemacht  hat Wiederaufbau  und  und  sehr  viel  an  Verlusten  ghobt  hot,  und  das  der Mensch vielleicht  jetzt  so  ist  und  nicht  anders,  is  so,  das  hat  uns  das  Leben  unser  Leben  geprägt“. Diese Hintergründe  werden  in  der  Arbeit  besonders  hervorgehoben,  so  herrschen  in  den  meisten besuchten  Häusern  biografische  Ansätze  in  der  Pflegearbeit  vor,  die  die  individuelle Auseinandersetzung mit den Biografien der BewohnerInnen und der daran  orientierte  Pflege und Betreuung zu Grunde liegen.  

Ein weiteres Beispiel wird in einem Haus genannt, in dem ein interdisziplinärer Austausch angestrebt wird,  wobei  vorwiegend  den  BewohnerInnen  und  Angehörigen  Einblick  in  die  kulturelle 

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Heterogenität  der  MitarbeiterInnen  gewährt  wird.  Interkulturalität  wird  wie  folgt  versucht  zu thematisieren  

„wir mochn manchmal a so Feste das  international gekocht und sehr hübsch wenn die Nationen  rauskommen  […] zum  internationalen Teil mit einem Bambustanz und einem sehr schönen Lied hob i leider vergessn und zwei Bauchtänzen […] und amol hob ma Essn gmocht do hot  i glaub wir hobn do fünfundzwanzig Nationen oder so net  is natürlich a Hit des worn Spezialitäten von chinesischer Küche bis ebn Kuskus mm des wor gut“.  

Wie  die Mitarbeiterin  selbst  bestätigt  dienen  solche  Feste,  bei  denen  sich  die MitarbeiterInnen freiwillig  in  selbst  gewählten  Formen  engagieren,  der  Bewusstwerdung  der  unterschiedlichen Kulturen. Alle  in diesem Haus  befragten  Personen  erwähnten diese  gemeinsamen  Feste,  erlebten diese  sehr positiv. Auch  in  einem  anderen Haus wird  ein  ähnlicher Ansatz  gewählt. Diesbezüglich wird von einem Projekt zum Thema Diversität erzählt: 

„Also wir habn a Jahresprojekt […] Thema Diversität wobei wenn wir Diversität  in allen Belangen sehn das sind Jung und Alt das sind Mitarbeiter die vielleicht auch schon über fünfzig fünfundfünfzig sind […] da gehts genauso um Einbau von Migrationshintergrund von  Menschen  mit  Behinderungen  und  all  diese  Faktoren  werden  angeschaut  und werden auch versucht im Haus zu leben“. 

In einem Haus  in der Steiermark sprach  ich mit einer Bewohnerin, die  lange Jahre  in Amerika  lebte und seither die englische Sprache vermisst, gar zu verlernen fürchtet. Mit wehmütiger Stimme fügte sie hinzu: „ich glaub die meisten können nicht englisch hier“. Wenig später führe ich im selben Heim ein  Interview mit  einer Mitarbeiterin  in  Deutsch  und  Englisch,  weil  sie  sich  in  ihrer  Erstsprache Englisch besser ausdrücken konnte.  

Zusammenfassend  sind  in  den  vorangegangenen  Interviewpassagen  und  Explikationen Bildungsperspektiven aufgezeigt worden, die derzeit das Für‐ und Miteinander  in der  Lebens‐ und Arbeitswelt Alten‐ und Pflegeheim zu fördern versuchen. Diese zeigen zwar bereits Bemühungen um eine  kultursensible  Altenpflege  in  den  Alten‐  und  Pflegehäusern,  jedoch  beruhen  sie  meist  auf Initiativen einiger weniger Personen. Meist  liegt es an den einzelnen Personen sich  füreinander zu interessieren, auch wenn das Wissen und der Respekt  für andere Gewohnheiten, Erfahrungen und Werte  durchaus  als  bedeutsames  Element  hervorgehoben  werden.  Sensibilisierung  für  diese Thematik  und  den  Umgang  mit  kultureller  Vielfalt  wird  zukünftig  einen  wesentlichen  Aspekt darstellen um (professionelle) Bildungsprozesse anzustoßen.  

Fazit 

Es bleibt resümierend festzuhalten, dass in der Altenpflege kulturelle Vielfalt Einzug gehalten hat. In städtischen wie  ländlichen Regionen sind vor allem MitarbeiterInnen mit Migrationserfahrung tätig, aber  auch  BewohnerInnen  sind  immer  öfter  nicht  in Österreich  geboren. Das  birgt  Chancen  und Herausforderungen.  Es  bleibt  die  Frage  inwiefern  Bildungsangebote  dieses  von  Diversität  und Interkulturalität geprägte Für‐ und Miteinander fördern können. Eine verbesserte Sprachkompetenz der  MigrantInnen,  der  Wissenserwerb  und  eine  initiierte  Sensibilisierung  der 

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„Mehrheitsangehörigen“ für den Umgang mit der vorherrschenden Heterogenität sind Beispiele der non‐formalen  Bildung.  Zudem  kommt  der  informelle  Austausch  in  den  Alten‐  und  Pflegehäusern, geprägt vom individuellen Interesse und den organisierten Angeboten beispielsweise bei Festen und Feiern.  Dabei  bewegen  sich  die  Veranstaltenden  zwischen  einer  Vertiefung  der  vorherrschenden Stereotypen  und  einem  Einblick  für  ein  besseres  Verständnis  für  „fremde“  Gewohnheiten  sowie einer kompetenten Bewältigung der unterschiedlichen Bedürfnisse.  

Mit  meiner  Dissertation  stehe  ich  im  Spannungsfeld  zwischen  wissenschaftlich‐theoretischen „Idealen“ sowie den Erfahrungen der Praxis und vor der Herausforderung beide Seiten respektvoll zu verknüpfen.  Ein  Teilbereich wird weiter den hier  gestellten  Fragen nachgehen: Wie  kann das  von Diversität und Interkulturalität geprägte Füreinander und Miteinander in österreichischen Alten‐ und Pflegeheimen  durch  Bildungsangebote  gefördert  werden?  Wie  kann  Bildungsbedürfnissen  von BewohnerInnen, Angehörigen und MitarbeiterInnen mit unterschiedlichen (Migrations‐) Biografien in einer gemeinsamen Lebens‐ und Arbeitswelt entsprochen werden? 

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Daniela  Wagner  beschäftigt  sich  einerseits  im  Rahmen  einer  Dissertation  am  Institut  für  Soziologie  mit (kultureller)  Diversität  in  österreichischen  Alten‐  und  Pflegeheimen,  andererseits  forscht  die  Autorin  zum Arbeitsschwerpunkt  innovative  Lehr‐  und  Lernkulturen  an  Hochschulen  als  Dissertantin  am  Institut  für Erziehungs‐  und  Bildungswissenschaft  der  Karl‐Franzens‐Universität  Graz.  Das  Engagement  für Hochschulforschung kommt weiters in den Tätigkeiten als Projektunterstützung am Institut für Erziehungs‐ und Bildungswissenschaft  sowie  am  Zentrum  für  Lehrkompetenz  zum  Ausdruck.  Kontakt: [email protected]‐graz.at 

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3. Anhang 

3.1 Tagungsprogramm  

Programm  5. Mai 2011 (9.00‐ 18.30)  

9.00 ‐ 9.45 Begrüßung und Einführung  Alfred Gutschelhofer  (Rektor der Universität Graz) Begrüßungsworte der VeranstalterInnen   9.45 ‐ 11.00  Das nomadisierende Prinzip –  Forschungsentwicklung zu Migration  und Bildung in Österreich Dietmar Larcher (Universität Klagenfurt) Moderation: Paul Mecheril  11.30 ‐ 13.00  Thematische Foren, Teil I ‐ Institutionen, Rahmenbedingungen (F1)  Chair: Erol Yıldız  Beiträge von: Gülay Ates/Christoph Reinprecht, Norbert Bichl/Sonja Zazi, Doris Kapeller/Silvana Weiss 

‐ Rassismus, Diskriminierung (F2)  Chair: Rudolf Leiprecht (Universität Oldenburg)  Beiträge von: Niku Dorostkar/Rudolf de Cillia/ Alexander Preisinger, Christiane Hintermann, Martin Vieregg/Michael Wrentschur  

‐ Zugehörigkeit, Identität, Religion, Biographie (F4) Chair: Astrid Messerschmidt (Pädagogische Hochschule Karlsruhe)  Beiträge von: Nadja Thoma, Margret Steixner/ Susi Zoller‐Mathies, Reinhold Stipsits  

 14.30 ‐ 16.30  Thematische Foren, Teil II ‐ Institutionen, Rahmenbedingungen (F1)  Chair: Erol Yıldız  Beiträge von: Johann Bacher/Norbert Lachmayr/Heinz Leitgöb, Barbara Herzog Punzenberger/ Philipp Schnell, Marlene Lentner, Erna Nairz‐Wirth  

‐ Sprache, Mehrsprachigkeit (F3)  Chair: İnci Dirim (Universität Wien)  Beiträge von: Antonela Cvitanovic/Barbara Pöchhacker/Gottfried Wetzel, Ines Garnitschnig/Ewelina Sobczak/Regina Studener‐Kuras, Angela Pilch‐Ortega, Boris Printschitz  

‐ Zugehörigkeit, Identität, Religion, Biographie (F4) Chair: Astrid Messerschmidt  

Beiträge von: Marika Gruber, Mikael Luciak, Helga Moser  

 17.00 ‐ 18.30  Plenumsdiskussion Ergebnisse aus den thematischen Foren Moderation: Marc Hill (Universität Klagenfurt)  

6. Mai 2011 (9.00 ‐ 14:00)  

9:00 ‐ 10:15 Aktuelle Perspektiven und zukünftige  Herausforderungen interkultureller Bildungsforschung Yasemin Karakaşoğlu (Universität Bremen) Moderation: Erol Yıldız  10:30 ‐ 12:00 Forschungskolloquien  Chairs: Paul Mecheril, Annette Sprung, Gabriele Khan Beiträge von: Cornelia Dinsleder, Ines Garnitschnig/Nora Sternfeld, Judith Kröll, Katja Naschenweng, Katharina Resch, Martina Stadlmayr, Marion Thuswald, Nadine Ulseß‐Schurda, Daniela Wagner   12:30 ‐ 14:00 Visionen einer „gerechten“ Migrations‐ gesellschaft – Perspektiven im Gespräch  Podiumsdiskussion  Rüdiger Teutsch (BMUKK) Yasemin Karakaşoğlu (Universität Bremen) Barbara Herzog‐Punzenberger (BIFIE) Rubia Salgado (MAIZ) Colette M. Schmidt (Der Standard) Moderation: Hakan Gürses (ÖGPB, UniversitätWien) 

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3.2 Kurzberichte zur Tagung 

Plenarvortrag: Dietmar Larcher „Das nomadisierende Prinzip – Forschungsentwicklung zu Migration und Bildung in Österreich“ 

(Bericht: Paul Mecheril)  

 

Inhaltlich wurde die Tagung durch einen Plenarvortrag von em. Universitätsprofessor Dietmar Larcher  (Klagenfurt/Wien)  eröffnet,  der  seine  Ausführungen  zur  Forschungsentwicklung  zu Migration und Bildung in Österreich unter dem Titel „Das nomadisierende Prinzip“ vorstellte.  Larcher wies  in  seinem Beitrag darauf hin, dass  in den  1970er und  80er  Jahren  –  als  Folge intensiver  Befassung  der  kritischen  Bildungsforschung  mit  der  Situation  diskriminierter österreichischer Minderheiten – Migration nur ein Nebenthema war. Später verschob sich das wissenschaftliche Interesse von lokalen Minderheiten zu Migrationsminderheiten. Die in Bezug auf  lokale Minoritäten  entwickelte  Perspektive  der Wichtigkeit  der  Bewahrung  sprachlich‐kultureller  Identität bei gleichberechtigter Teilnahme am öffentlichen Leben hingegen wurde auch  für  die  neuen  Aufgaben  erkenntnisleitend,  um,  so  Larcher,  unter  die  Oberfläche  der homogenen Wirklichkeitskonstruktion  „deutsches  Österreich“  zu  schauen  und  die  darunter liegende Vielfalt wahrzunehmen  sowie die historischen, politischen, ökonomischen,  sozialen und  psychosozialen  Gründe  für  die  Verdrängung  der  Vielfalt.  Forschung  zu  Bildung  und Migration in dieser Phase bezeichnete Dietmar Larcher als territorialisierte Forschung, das Ziel war Öffnung der Heimat für die Vielfalt von Sprachen und Kulturen. 

Ein  radikaler  Paradigmenwechsel  erfolgte  durch  wichtige  Impulse,  die  Larcher  mit  der wachsenden  Zahl  Studierender,  aber  auch  ForscherInnen  und  Lehrender  mit Migrationshintergrund  in  Zusammenhang  brachte.  „Ihre  unmittelbare  Kenntnis  der psychischen und sozialen Situation von Zugewanderten machte sie skeptisch gegenüber dem paradigmatischen  Konzept  der  Territorialisierung.“  Dass  die  Wirklichkeit  der Migrationsgesellschaft  mehr  denn  je  einem  nomadisierenden  Prinzip  folgt, Diskursgemeinschaften  und  Zugehörigkeiten  wechseln,  Heimat  keinen  Ort  mehr,  sondern Inklusion  bedeutet,  machte  Larcher  als  weitgehenden  Konsens  in  der  gegenwärtigen österreichischen  Forschung  zu Migration  und  Bildung  aus.  Hierbei  halte man weiterhin  am aufklärerischen Anliegen, das auch die erste Phase der Forschung prägte, fest, doch statt um die  Anerkennung  von  Heimat  im  territorialen  Sinn  gehe  es  heute  um  grundlegende Menschenrechte. 

In  der  Diskussion  wurden  Fragen  in  den  Vordergrund  gerückt,  die  zu  einem  die methodologische  Anlage  der  historischen  Skizze  betraf  als  auch  den  impliziten  normativen Standpunkt der Analyse. So wurde darauf hingewiesen, dass die Forschung zu Migration und Bildung  diachron  wie  synchron  eher  von  Vielfalt  und  durchaus  konkurrierenden  Ansätzen geprägt sei. Auch wurde auf die Gefahr der Romantisierung der Heimatlosigkeit hingewiesen. 

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Berichte zu den thematischen Foren 

Institutionen, Rahmenbedingungen (Forum 1) 

(Bericht: Erol Yıldız) 

 

Im Rahmen dieses Forums gab es insgesamt 7 Vorträge. 

Im ersten Beitrag von Christoph Reinprecht und Gülay Ates vom Department of Sociology der Universität Wien  standen  informelle Bildungsprozesse  im  Kontext  von Migration  und deren Bedeutung  für  die  Erwachsenenbildungseinrichtungen  in Österreich  im Mittelpunkt.  Es  ging vor  allem  darum,  inwiefern  Bildungsangebote  in  diesem  Bereich mit  den  Bedürfnissen  und Lebenswirklichkeiten der betroffenen Gruppen korrespondieren, welche strukturellen Hürden existieren und wie  die  institutionellen Rahmenbedingungen  verbessert werden  können. Die Ausführungen  basierten  auf  den  Ergebnissen  einer  vergleichenden  europäischen  Studie. Norbert  Bichl  und  Sonja  Zazi  vom  Beratungszentrum  für  Migrantinnen  und  Migranten arbeiteten  in  ihrem  Beitrag  heraus,  wie  die  Potentiale  von  Zugewanderten  auf  dem Arbeitsmarkt  besser  genutzt,  wie  ihre  Kompetenzen  und  Qualifikationen  sichtbar  gemacht werden können und welche strukturellen Maßnahmen dafür erforderlich sind. Doris Kapeller vom Institut für praxisorientierte Genderforschung in Graz stellte anschließend die Ergebnisse eines  Forschungsprojektes  „Migrantinnen  –  Qualifizierung  –  Arbeitsmarkt  (MIQUAM)  vor. Ausgehend  davon,  dass  Migrantinnen  von  Dequalifizierungsprozessen  überproportional betroffen  sind,  wurde  in  erster  Linie  untersucht,  wie  man  das  Wissen  über arbeitsmarktrelevante Qualifikationen von höher qualifizierten Migrantinnen aus Drittstaaten verbessern  kann.  Norbert  Lachmayr  (Österreichisches  Institut  für  Berufsbildungsforschung Wien), Johann Bacher und Heinz Leitgöb (Institut für Soziologie, Universität Linz) präsentierten eine  quantitative  Untersuchung  der  Zusammenhänge  zwischen  Bildungswahl  und Migrationshintergrund in der 8. Schulstufe: Inwiefern beeinflussen beispielsweise Aspekte wie „Migrantenanteil  in der Klasse“, „Haushaltsnetto‐Einkommen“, „Geschlecht“, „Sprache“ oder „elterliche  Unterstützung“  die  Bildungswahl?  In  einer  ebenfalls  quantitativ  ausgerichteten Studie  gingen Barbara Herzog‐Punzenberger  (Bundesinstitut  für Bildungsforschung  Salzburg) und  Philipp  Schnell  (Österreichische  Akademie  der Wissenschaften Wien)  der  Frage  nach, inwiefern  das  Ausmaß  der  Bildungsbeteiligung  bestimmter  Herkunftsgruppen  zwischen verschiedenen  europäischen  Ländern  variiert.  Der  Fokus  richtete  sich  vor  allem  auf Nachkommen  von  Migrantinnen  und  Migranten  aus  der  Türkei  und  Gleichaltrigen  aus einheimischen Familien. Der Hauptbefund der Studie ist, dass die Bildungsungleichheit in allen untersuchten  Ländern von der  sozialen Herkunft abhängig  ist und nicht von  regionaler oder ethnischer.  Marlene  Lentner  (Institut  für  Berufs‐  und  Erwachsenenbildungsforschung, Universität  Linz)  stellte  die  Befunde  einer  quantitativen  Studie  über  Berufsorientierung  von Jugendlichen  mit  Migrationshintergrund  vor.  Ziel  der  Studie  war  es,  Prozesse  der Berufsorientierung  der  Jugendlichen  zu  erfassen  und  Handlungsfelder  zu  identifizieren.  Im letzten  Beitrag  wurden  von  Erna  Nairz‐Wirth  (Institut  für  Allgemeine  Pädagogik  und Philosophie,  Universität  Wien)  die  Ergebnisse  einer  qualitativen  Studie  zum  „Habitus  von 

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frühen SchulabbrecherInnen“ vorgetragen.  In diesem Kontext  stellte sie den „ambitionierten Typus“  vor. Dabei wurde diskutiert, welche Rolle das  soziale Kapital bei Bildungslaufbahnen spielt und was einen „ambitionierten Typus“ ausmacht. 

In  der  gemeinsamen  Diskussion  wurde  vor  allem  die  Frage  aufgeworfen,  ob  und  wie  die Bildungsinstitutionen auf migrationsbedingten Wandel in Österreich reagiert haben und ob die institutionelle  Normalität  mit  den  Lebenswirklichkeiten  der  betroffenen  Gruppen korrespondiert.  Es  wurde  festgestellt,  dass  es  in  Österreich  fast  in  allen  Bereichen  der Gesellschaft  weiterhin  strukturelle  Barrieren  gibt,  die  den  Zugang  zu  Bildung,  Beruf  und Arbeitsmarkt verhindern bzw. limitieren. Potentiale und Fähigkeiten, die die Migrantinnen und Migranten  und  deren  Nachkommen  mitbringen,  werden  kaum  wahrgenommen,  oft  sogar gezielt  abgewertet.  Gesellschaftliche  Negativbilder  über  Migration  dienen  oftmals  zur Legitimation von Ausgrenzung.   Die Ergebnisse der hier vorgestellten Studien zeigen, dass ein Hauptgrund für die Diskriminierung dieser Bevölkerungsgruppen  im Bildungsbereich oder auf dem  Arbeitsmarkt,  dass  sie  in  niederen  Bereichen  über‐  und  auf  höheren  Ebenen unterrepräsentiert sind, nicht aus angeblich ethnischen Eigenschaften und Herkunft resultiert. Vielmehr  handelt  es  sich  um  strukturelle  Bedingungen,  die  das  Weiterkommen  von bestimmten  Migrantengruppen  in  der  Gesellschaft  verhindern.  Daher  brauchen  wir Institutionen  und  Strukturen,  die  für migrationsbedingte Veränderungen  offen und  sensibel sind, somit auch eine neue Anerkennungskultur.  

 

Rassismus, Diskriminierung (Forum 2) 

(Chair: Rudolf Leiprecht, Bericht: Gabriele Khan‐Svik) 

 

In den Beiträgen des Forums war die Auseinandersetzung mit Sprache und mit der Darstellung in Zusammenhang mit Rassismus und Diskriminierung zentral. Dabei ging es vor allem um das Sichtbar‐Machen einer unreflektierten „schiefen Optik“. 

Das  von  Wiener  Sprachwissenschaftern  durchgeführte  Projekt  „migration.macht.schule“, angesiedelt  zwischen  Universität  und  Schule  (sparkling  science‐Projekt),  setzt  sich  mit Rassismen  in der österreichischen Online‐Zeitschrift derStandard.at  auseinander.  Zum  einen geht es um die Aufarbeitung (versteckter) Rassismen in den Foren und Postings, zum anderen um  die  Vermittlung  der  Methode  der  Kritischen  Diskursanalyse,  die  die  mitarbeitenden SchülerInnen  eines  Wiener  Gymnasiums  zu  sprachlicher  Reflexion  und  Sprachbewusstsein anleiten soll.  

Auch das Projekt „Migration im Schulbuch“ widmet sich der Analyse von Texten und fragt nach der Repräsentation von MigrantInnen in den Schulbüchern und ob sich diese im Laufe der Zeit verändert hat. Während bis  in die 1980er  Jahre hinein  in vielen Büchern Migration  ignoriert wurde, werden die Themen nun angesprochen – allerdings zum Teil  in simplifizierender oder oberflächlicher Art. Dieses  Forschungsprojekt  findet  eine  Fortsetzung  in  Form  von  sparkling 

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science – SchülerInnen analysieren gemeinsam mit den WissenschafterInnen die Schulbücher, die sie selbst in Verwendung haben. 

 

Sprache, Mehrsprachigkeit (Forum 3) 

(Chair und Bericht: İnci Dirim) 

 

In  dem  Forum  wurden  vier  Vorträge  gehalten  und  diskutiert,  über  die  im  Folgenden  kurz berichtet wird: 

- Gottfried  Wetzel,  Barbara  Pöchhacker,  Antonela  Cvitanovic,  Universität  Salzburg: „Sprachförderungsmaßnahmen für Kinder mit Migrationshintergrund in Salzburg“ 

- Es wurden die Ergebnisse von Studien über die Projekte „Rucksack“ und Lernförderung beim Verein „Viele“, beides in Salzburg angesiedelt, vorgestellt. Das Projekt „Rucksack“ richtet  sich  an  Mütter  von  Kindern  im  Kindergartenalter;  es  handelt  sich  um  ein Elternbegleitungsprojekt, das Eltern – vor allem im Hinblick auf sprachliche Erziehung – in  ihrer  Erziehungsrolle  zu  unterstützen  anzielt  und  ihre  Sprache(n)  und Lebensbedingungen berücksichtigt. 

- Ines  Garnitschnig,  Katrin  Großauer,  Ewelina  Sobczak,  Regina  Studener‐Kuras, Universität  Wien:  Spracherwerb  und  lebensweltliche  Mehrsprachigkeit  im Kindergarten. Konzeption und erste Ergebnisse eines laufenden Forschungsprojekts an Wiener Kindergärten 

- Ein  interdisziplinäres  Team  im  Rahmen  des  Projekts  „Spracherwerb  und lebensweltliche Mehrsprachigkeit  im Kindergarten“ untersucht unter der Leitung von Rudolf de Cillia und Wilfried Datler  im 15. Wiener Gemeindebezirk über Bedingungen und  Möglichkeiten  sprachlicher  Bildung  von  Kindern  vor  dem  Hintergrund lebensweltlicher  Sprachenvielfalt  im  Kindergarten.  Im  Zentrum  stehen  die  Faktoren, die sich  für die Entfaltung von sprachlichen Kompetenzen  in den Bereichen der Erst‐ und Zweitsprache als  förderlich bzw. hemmend erweisen, sowie die Erforschung von Möglichkeiten der Unterstützung von Prozessen der Sprachaneignung. 

- Angela  Pilch  Ortega,  Universität  Graz:  Mehrsprachigkeit  in  der  Forschungspraxis  ‐ Herausforderungen  und  methodische  Implikationen  des  Übersetzens  von Bedeutungen 

- Der Vortrag  thematisiert den Umgang mit Mehrsprachigkeit  in der Forschungspraxis. Es wird auf die Frage der Zielsetzungen und Bedingungen von Übersetzungsprozessen in  Interviews  eingegangen  und  damit  einhergehende  methodische  Implikationen. Dabei stehen mit Rekurs auf kritische Positionen der Translation Studies soll vor allem die  Verstricktheit  von  Übersetzung  in  globale  Machtverhältnisse  und  damit einhergehende Asymmetrien zwischen Sprachen und Sprechenden Im Zentrum.  

- Boris Prinschitz: „Brauche ich das für den Alltag?“ – DaZ in der Erwachsenenbildung  

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- An  Hand  der  Fragen  „Wie  lernen  Erwachsene?“,  „Wie  lernen  sie  vor  allem Zweitsprachen – DaZ?  „ und  „Welche Makro‐ und Mikrodidaktischen Konsequenzen ergeben sich v.a. für berufsspezifische DaZ‐Kurse daraus?“ wird das Sprachkonzept des Österreichischen Integrationsfonds vorgestellt. 

Zugehörigkeit, Identität, Religion, Biografie (Forum 4) 

(Chair und Bericht: Astrid Messerschmidt) 

 

Die  sieben  Beiträge  des  Forums  reflektierten  sozialpädagogische  Praktiken  und erziehungswissenschaftliche  Ansätze  im  Kontext  der  Migrationsgesellschaft  und  stellten Forschungsergebnisse vor, durch die subjektive Strategien von MigrantInnen im Bemühen um Zugehörigkeit und  im Umgang mit  Integrationserwartungen sichtbar wurden. Die subjektiven Strategien,  bspw.  bei  der  Gestaltung  von  Betreuungsbeziehungen  von  Jugendlichen  in Verhältnissen  der  Fremdunterbringung  oder  bei  der  Suche  nach  Bildungsperspektiven  von minderjährigen  Flüchtlingen,  sind  jeweils  bedingt  von  den  strukturellen  Faktoren,  die Zugehörigkeiten  begrenzen  und  die Möglichkeiten, Differenzen  zu  leben,  einschränken. Die Versuche  von Migrantinnen,  die  eigenen  beruflichen  Qualifikationen  als  kulturelles  Kapital nutzen zu können, stoßen auf die Grenzen der Arbeitsmarktverhältnisse und der  rechtlichen Bedingungen von Einwanderung. Alle Beiträge boten Impulse, die im Zuge der Interkulturellen Pädagogik stark fokussierte Kulturkategorie zu relativieren und  im Zusammenhang von sozial‐strukturellen und politischen Bedingungen  zu betrachten. Dabei  rückten die Grenzregime  in den  Blick,  durch  die  Migration  zu  einem  Faktor  machtpolitischer  Interessen  wird.  Die Illegalisierung  von Migration  begünstigt  ausbeuterische  Beziehungen,  in  denen menschliche Ressourcen Gewinn steigernd verwertet werden können. Für alle Problemstellungen ergeben sich  forschungsmethodologische Fragen: Welche Sichtweisen  leiten die Forschenden bei der Wahrnehmung  ihrer  Zielgruppen  und  wie  wirken  sich  diese  Sichtweisen  auf Forschungsergebnisse aus? 

Die  Kategorie  der  Religion  wurde  nur  in  einem  der  Beiträge  thematisiert,  was  auf  eine Leerstelle  in  der  migrationsbezogenen  erziehungswissenschaftlichen  Bildungsforschung aufmerksam macht, die vielleicht auf das Selbstbild eigener Nichtreligiosität der Forschenden zurück zu führen  ist. Diskutiert wurden religiöse Selbstdarstellungen  in den digitalen Medien, die ein Forum für islamistische wie antimuslimische Identifikationen bieten. Wie können beide Formen der Instrumentalisierung von Religion erforscht und reflektiert werden? 

Das Forum entwickelte  selbstkritische Perspektiven auf die eigenen Forschungskonzeptionen und  auf  sozialpädagogische  Konzepte.  So  zeigt  sich  immer  wieder  eine  Dominanz assimilatorischer  Praktiken, wenn  Integration  als  Leitlinie  vorgegeben  ist.  Die  nach wie  vor bestehende  Kulturalisierungstendenz  begünstigt  die  Vernachlässigung  von  sozialen Ungleichheitsverhältnissen  und  klassenbezogener  Diskriminierung.  Für  die  theoretische Weiterentwicklung  kann  die  erinnernde  Rekonstruktion  der  Anlässe  für  eine  interkulturelle Pädagogik dazu beitragen,  sich mit den  sozialen Bewegungen auseinander zu  setzen, die  für Anerkennung  und  Gleichberechtigung  gekämpft  haben.  Sie  erinnern  an  die  historischen 

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Kämpfe,  die  zur  Vorgeschichte  einer  kritischen  Migrationspädagogik  gehören  und  deren aktuelle Ausprägungen neue Perspektiven heraus fordern. 

 

Plenarvortrag Yasemin Karakaşoğlu:  Aktuelle Perspektiven und zukünftige Herausforderungen interkultureller Bildungsforschung  

(Bericht: Erol Yıldız) 

 

Zum  Schluss  ging  Yasemin  Karakaşoğlu  (Universität  Bremen)  auf  aktuelle  Perspektiven  und zukünftige  Herausforderungen  interkultureller  Bildungsforschung  ein.  Nachdem  sie  die Verortung  Interkultureller  Bildungsforschung  als  eigenständige  Disziplin  aus  historischem Blickwinkel  skizziert  hatte,  wurde  die  politische  Instrumentalisierung  interkultureller Bildungsaspekte  erörtert,  die  fachliche  Identität  der  Interkulturellen  Bildungsforschung  aus unterschiedlichen  Blickwinkeln  diskutiert  und  anschließend  offene  Fragen  sowie  zentrale Herausforderungen  Interkultureller Bildungsforschung  in der  globalisierten Welt benannt.  In ihren  Ausführungen  befasste  sich  Yasemin  Karakaşoğlu  mit  unterschiedlichen,  teils kontroversen  Ansätzen  (Auernheimer,  Scherr,  Bommes,  Terkessidis  etc.)  und  stellte anschließend  einige  problematische  Aspekte  heraus,  die  einer  Weiterentwicklung Interkultureller Bildungsforschung  im Wege  stehen.  In  diesem  Kontext wurde  vor  allem  die immer noch vorhandene kulturalisierende und ethnisierende Dichotomie  kritisiert und neue Perspektiven gefordert, die solche polarisierenden Denkweisen auflösen. Kritisch wurden auch die  Mechanismen  institutioneller  Diskriminierung  angesprochen,  die  im  deutschsprachigen Raum  bisher  wenig  Aufmerksamkeit  erfuhren.  Erforderlich  sei  eine  „zeit‐  und ressourcenintensive  Grundlagenforschung“  im  interkulturellen  Bildungskontext.  Darüber hinaus sollte das Verhältnis der Interkulturellen Bildungsforschung zu anderen Konzepten von „Heterogenität“  intensiviert und neu durchdacht werden (Diversity‐Education, Transkulturelle Erziehung,  Globales  Lernen,  Inklusive  Pädagogik).  In  diesem  Kontext  seien  neue Begrifflichkeiten  notwendig,  die  mit  der  gesellschaftlichen  Realität  korrespondieren,  wie beispielsweise „Hybridität“, „Mehrfachzugehörigkeit“, „Postmigranten“.   

Forschungskolloquien 

(Bericht: Annette Sprung)

 

Im Rahmen der Forschungskolloquien wurden am zweiten Konferenztag noch nicht abgeschlossene Forschungsarbeiten (wie z.B. Dissertationen) präsentiert und diksutiert. Die Beiträge umfassten Projekte aus dem Feld Erwachsenenbildung/Arbeitsmarktpartizipation 

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(Dequalifizierung, didaktische Aspekte, Altenpflege) ebenso wie aus dem schulischen und elementarpädagogischen Kontext. Darüber hinaus standen informelle Lernprozesse (Beispiel: Betteln) wie auch Fragen der Geschichtsvermittlung zur Diskussion. Die Forschungskolloquien veranschaulichten ein breites inhaltliches Spektrum an „Nachwuchsforschung“ und stellten spannende Erkenntnisse in Aussicht bzw. konnten Teilergebnisse bereits in den Kolloquien diskutiert werden. 

 

Podiumsdiskussion 

(TeilnehmerInnen: Barbara Herzog‐Punzenberger, BIFIE; Yasemin Karakaşoğlu, Universität Bremen; Rubia Salgado (MAIZ) und Rüdiger Teutsch, BMUKK; Bericht: Gabriele Khan‐Svik)  

 

Den  Abschluss  bildete  eine  Podiumsdiskussion,  die  sich  „Visionen  einer  ‚gerechten’ Migrationsgesellschaft – Perspektiven im Gespräch“ widmete.  

Die  Hindernisse  für  die  Umsetzung  einer  gerechteren  Gesellschaft  wurden  in  den unvereinbaren  Partikularinteressen  und  in  der  Verhaftung  in  einem  ethnischen Nationalitätsbegriff  gesehen.  Die  österreichische  (wie  auch  die  deutsche)  Schule  ist  eine Institution, die aufgrund der Struktur zu einer Reproduktion der sozialen Verhältnisse führt – statt  zu einer Milderung oder  gar Überwindung derselben beizutragen. An  Lösungsansätzen wurden  einige  geboten,  doch müsste  es  zuallererst  zu  einer  rechtlichen  Gleichstellung  der MigrantInnen  mit  den  ÖsterreicherInnen  kommen,  woraus  sich  gleiche  Privilegien  und Gleichberechtigung  entwickeln  könnten.  Des Weiteren müsste  der  Nationalitätsbegriff  vom Begriff der Ethnizität entkoppelt werden.  

Was könnte die Schule tun? Die Institutionen müssten die tradierten Selektionsmechanismen fallen  lassen  und  notwendige  Selektionen  so  spät  als  möglich  ansetzen.  Es  müsste flächendeckend  die  ganztägige  Schule  angeboten  werden,  um  alle  Kinder,  besonders  aber jene, die seitens der Eltern nicht unterstützt werden können, zu ihren Höchstleistungen führen zu können.