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Birgit Glock Stadtpolitik in schrumpfenden Städten

Birgit Glock Stadtpolitik in schrumpfenden Städten · 2013. 7. 23. · fen strukturell bedingt ist, sind die Städte bis heute damit konfrontiert. In ost deutschen Städten wird

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  • Birgit Glock

    Stadtpolitik in schrumpfenden Städten

  • Stadt, Raum und GesellschaftBand 23

    Herausgegeben von Hartmut HäußermannDetlev IpsenThomas Krämer-BadoniDieter LäppleMarianne RodensteinWalter Siebel

  • Birgit Glock

    Stadtpolitik inschrumpfenden StädtenDuisburg und Leipzig im Vergleich

  • ..

    1. Auflage November 2006

    Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006

    Lektorat: Monika Mülhausen / Britta Laufer

    Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media.www.vs-verlag.de

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes istohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesonderefür Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei-cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesemWerk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solcheNamen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachtenwären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

    Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergDruck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., MeppelGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in the Netherlands

    ISBN-10 3-531-15171-1ISBN-13 978-3-531-15171-7

    Bibliografische Information Der Deutschen NationalibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

    http://dnb.d-nb.dehttp://www.vs-verlag.de

  • Danksagung

    Das vorliegende Buch basiert auf meiner Promotionsschrift, die ich im September 2005 am Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht habe. Mein besonderer Dank gilt Hartmut Häußermann, der mich im Forschungsprozess mit seinem fachlichen Rat begleitete und unterstützte. Neben seiner Bereitschaft und seinem Engagement, sich bei vielen Gelegenheiten mit meinen Argumenten kritisch auseinanderzusetzen, profitierte meine Arbeit von dem konstruktiven und kooperativen Austausch mit den Mitarbeitern am Bereich Stadt- und Regionalsoziologie der Humboldt-Universität.

    Den vielen Experten in Duisburg und Leipzig, die tagtäglich mit den Problemen und Schwierigkeiten einer schrumpfenden Stadt konfrontiert sind, bin ich zu Dank verpflichtet. Sie widmeten mir ihre wertvolle Zeit, um meine Fragen zu beantworten. Ohne ihr Engagement und ihre Kooperation wäre diese Arbeit schlicht nicht möglich gewesen.

    Besonders verpflichtet bin ich meiner Freundin Cathleen Kantner. Sie hat mich gerade in den schwierigen Phasen meiner Promotion durch unermüdliches Zuhören, Gegenlesen und Kritisieren aus dem fernen Florenz immer wieder motiviert, weiter zu machen und nicht aufzugeben. Neben vielen anderen waren Scott Gissendanner und Kari-Maria Karliczek wertvolle Gesprächspartner, die mir wichtige Hinweise für die Konzeption und Verschriftlichung der Arbeit gaben. Für das gewissenhafte Lektorat bedanke ich mich bei Regina General und für die professionelle Unterstützung in allen computertechnischen Fragen bei meinem Bruder Michael Glock. Meiner Familie und insbesondere meinem Freund, Jan General, danke ich für den emotionalen Rückhalt. Sie waren immer für mich da, wenn ich sie brauchte.

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  • Inhalt

    Abbildungsverzeichnis 10

    Tabellenverzeichnis 11

    1 Einleitung 13

    2 Ursachen und Folgen städtischer Schrumpfungsprozesse 23

    2.1 Schrumpfende Städte West: Die Verlierer des Strukturwandels 24 2.1.1 Strukturwandel und räumliche Ungleichheit 26 2.1.2 Folgen der Schrumpfungsprozesse 29 2.1.3 Neue Entwicklungstypen von Städten? 30 2.1.4 Vereinigungsbedingter Wirtschaftsboom und

    demographische Schrumpfungsprozesse 33 2.2 Schrumpfende Städte Ost: Die Verlierer des Strukturbrachs 34

    2.2.1 Postsozialistische Transformation 36 2.2.2 Folgen der Schrumpfungsprozesse 39 2.2.3 Mehr Stadt für weniger Bürger - Chancen des

    Schrumpfens? 41 2.3 Schrumpfung als Herausforderung an die Stadtentwicklungspolitik .. 43

    3 Politik in schrumpfenden Städten: Theoretisch-konzeptionelle Perspektiven 51

    3.1 Strukturelle Ansätze: Staat und Ökonomie 52 3.2 Handlungszentrierte Ansätze: Akteure und Kooperationsformen 56

    3.2.1 Gemeindemachtforschung 57 3.2.2 Wachstumsmaschinen 59 3.2.3 Urbane-Regime 60

    3.3 Ideenzentrierte Ansätze: Kognition und Lernen 65 3.3.1 Neuer Institutionalismus 66 3.3.2 Lerntheoretische Ansätze 69

    3.4 Analysemodell: Konzeptionalisierung und Operationalisierung 71

    7

  • 4 Städte im Profil: Duisburg und Leipzig 79

    4.1 Duisburg: Die schrumpfende Stahlstadt am Rhein 79 4.1.1 Industrialisierung und Stadtwachstum 80 4.1.2 Stahlkrise und Stadtschrumpfung 83 4.1.3 Fiskalische, soziale und räumliche Folgen 87 4.1.4 Lokale Besonderheiten: Konkurrenz und

    Kooperation 91 4.1.5 Prognosen 94

    4.2 Leipzig: Die schrumpfende „Boomtown" im Osten 97 4.2.1 Industrialisierung und Stadtwachstum 97 4.2.2 Sozialismus und beginnende Schrumpfung 99 4.2.3 Postsozialistische Transformation und

    Schrumpfung 102 4.2.4 Fiskalische, soziale und räumliche Folgen 106 4.2.5 Lokale Besonderheiten: Umbruch und „Aufbau

    Ost" 110 4.2.6 Prognosen 112

    5 Instrumente und Strategien in Duisburg und Leipzig 117

    5.1 Duisburg: Große Würfe und kleine Schritte 117 5.1.1 Technologieförderung, Gewerbeparks und

    Attraktivitätssteigerung 118 5.1.2 Große Proj ekte, Dienstleistungsparks und

    Festivals 121 5.2 Leipzig: Weniger Dichte, mehr Grün? 126

    5.2.1 „Leipzig kommt!" mit großen Projekten 126 5.2.2 Neue Gründerzeit und Pakt der Vernunft 129

    8

  • 6 Diskussions- und EntScheidungsprozesse in Duisburg und Leipzig 137

    6.1 Duisburg 137 6.1.1 Problemwahrnehmung und Problemdeutung:

    Schrumpfung als Talsohle im ökonomischen Strukturwandel? 138

    6.1.2 Agenda-Setting und Politikformulierung: Wer kennt wen? 148

    6.2 Leipzig 164 6.2.1 Problemwahrnehmung und Problemdeutung:

    Schrumpfung als langfristige Entwicklung? 164 6.2.2 Agenda-Setting und Politikformulierang: Wer

    bindet wen ein? 172

    7 Umgang mit Schrumpfung: Ergebnisse und Implikationen 193

    7.1 Ergebnisse der Fallstudien 194 7.2 Implikationen für Politik 204

    Literatur 209

    9

  • Abbildungsverzeichnis

    Abbildung 1: Integriertes Analysemodell: Strukturen als unabhängige Variable 73

    Abbildung 2: Integriertes Analysemodell: Diskussions- und Entscheidungsprozess als intervenierende Variable 74

    Abbildung 3: Integriertes Analysemodell: Diskussions- und Entscheidungsprozess als intervenierende Variable 76

    Abbildung 4: „Single-loop" und „Double-loop learning" als abhängige Variable 78

    Abbildung 5: Entwicklung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten insgesamt und nach Sektoren in Duisburg im Zeitraum von 1976-1999 (absolut) 86

    Abbildung 6: Entwicklung der Bevölkerung mit Hauptwohnsitz im Zeitraum 1960-2003 in Duisburg (jeweiliger Gebietsstand) .. 87

    Abbildung 7: Entwicklung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten insgesamt und nach Wirtschaftszweigen in Leipzig (1997-2001) 104

    Abbildung 8: Bevölkerungsentwicklung Leipzig 1989-2003 (jeweiliger Gebietsstand) 106

    Abbildung 9: Themen im Rat der Stadt und in den Fachausschüssen nach Stichworten und Relevanz Stadt Duisburg 1997-2001 140

    Abbildung 10: Anfragen und Anträge zu den Großprojekten im Rat der Stadt Duisburg und in den Fachausschüssen, nach Ratsfraktionen, absolut (1997-2001) 155

    Abbildung 11: Lokale Akteurskonstellationen in Duisburg 164 Abbildung 12: Beschlüsse im Rat der Stadt Leipzig 1990-2003 nach

    Stichworten und Relevanz 167 Abbildung 13: Anfragen der politischen Parteien im Leipziger Stadtrat

    nach Themen 1994-2002 179 Abbildung 14: Lokale Akteurskonstellationen in Leipzig 192 Abbildung 15: Ein-Kreis-Lernen in Duisburg 199 Abbildung 16: Zwei-Kreis-Lernen in Leipzig 200

    10

  • Tabellenverzeichnis

    Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung Duisburg 1945-1960 82 Tabelle 2: Anteil der Arbeitsplätze im Stahlbereich an allen Arbeits

    plätzen in Duisburg und anderen Ruhrgebietsstädte 1970 (in %) 83

    Tabelle 3: Wahlergebnisse in den Kommunalwahlen in Duisburg von 1964-1999 (in %) 92

    Tabelle 4: Prognosen der Einwohner mit Hauptwohnsitz in Duisburg 2005-2015 96

    Tabelle 5: Bevölkerungsentwicklung Leipzig 1945-1990 101 Tabelle 6: Wahlergebnisse in den Kommunalwahlen in Leipzig von

    1990 bis 1999 (in %) 111 Tabelle 7: Prognose der Einwohner mit Haupt- und Nebenwohnsitz in

    Leipzig 2015-2030 115

    11

  • 1 Einleitung

    „The outstanding fact of modern society is the growth of great cities" (Burgess 1984: 47).

    Wachstum galt mit der Herausbildung der modernen (Industrie-) Großstadt, die sich im Gefolge gewaltiger Bevölkerungsumschichtungen vom Land zur Stadt Ende des 19. Jahrhunderts formierte, als universalisierbares Muster der Stadtentwicklung (Häußermann/Siebel 1987: 7). Aufgrund der massenhaften Ansied¬ lung von Industrien und Einwohnern dehnten sich viele Städte bald weit über ihre ursprünglichen Grenzen aus, um dem wachsenden Flächenbedarf gerecht zu werden. Der Stadtentwicklungspolitik und -planung kam die Aufgabe zu, die demographischen und ökonomischen Wachstumsprozesse in geordnete Bahnen zu lenken sowie sie sozial- und raumverträglich abzufedern: Sämtliche Maßnahmen, Instrumente und Strategien der Stadtentwicklungspolitik sind seitdem auf die Steuerung von Wachstumsprozessen ausgerichtet.

    Mittlerweile schrumpfen zahlreiche Städte, das heißt, sie verlieren sowohl Einwohner als auch Arbeitsplätze. Diese Prozesse konzentrierten sich in den 1970er und 1980er Jahren in Westdeutschland in den altindustrialisierten Städten, deren ökonomische Basis auf die klassischen Hochindustriesektoren wie Bergbau, Kohle, Stahl oder Schiffsbau ausgerichtet waren (vgl. Berg/Drewett/ Klaassen/Rossi/Vijverberg 1982; Friedrichs 1990; Friedrichs/Häußermann/Siebel 1986a; Häußermann/Siebel 1986, 1987, 1988; Stoleru 2001). Da das Schrumpfen strukturell bedingt ist, sind die Städte bis heute damit konfrontiert. In ostdeutschen Städten wird die Schrumpfung seit Mitte der 1990er Jahre besonders deutlich, denn hier leiden fast alle Städte unter dramatischen Einwohner- und Arbeitsplatzverlusten - eine Entwicklung, deren Folgen sich in einem massenhaften Wohnungsleerstand manifestieren (vgl. u.a. Berliner Debatte Initial 2002, 2005; Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen 2000, 2001; Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen/Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2003b).

    Bei den Schrumpfungsprozessen handelt es sich nicht mehr um eine kurzzeitige, vorübergehende Krise, mit der die Städte umgehen müssen, sondern vielmehr um langfristige und sich wahrscheinlich künftig noch verfestigende

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  • Verwerfungen, die durch Prozesse der Deindustrialisierung, der Suburbanisie¬ rung und des Rückgangs der Geburtenrate verursacht werden.

    Städte, die von strukturell bedingten Einwohner- und Arbeitsplatzverlusten gekennzeichnet sind, durchlaufen einen allgemeinen Peripherisierungs- und Ent-wertungsprozess mit weitreichenden sozialen und räumlichen Folgen: Hohe Arbeitslosenquoten, die sich unabhängig von der Konjunktur auf hohem Niveau eingependelt haben, sozial selektive Abwanderungsprozesse, eine Unterauslastung und Verteuerung der sozialen und technischen Infrastruktur, Verödungstendenzen und Funktionsverluste von großen innerstädtischen Flächen sowie ein struktureller, nicht temporärer Wohnungsleerstand sind die offensichtlichen Symptome (vgl. Beer 2001; Bensch 1987; Franz 2001; Glock 2002; Hannemann 2003; Knorr-Siedow 2001; Kujath 1988; Power 2002; Rietdorf/Liebmann/Haller 2001; Rommelspacher/Oelschlägel 1986). Die schwierige Situation schrumpfender Städte wird zusätzlich dadurch erschwert, dass die strukturellen Arbeitsplatz- und Einwohnerverluste die Finanzausstattung der betroffenen Städte erodieren lassen. Einem steigenden Handlungsbedarf stehen sinkende Finanzmittel und damit ein abnehmendes Steuerungspotential gegenüber. Es kommt in schrumpfenden Städten häufig zu Problemlagen, die sich wechselseitig verstärken, von denen also kumulative Niedergangs- und Verfallsprozesse ausgehen können. Die Bilder von US-amerikanischen oder englischen Städten, in denen Schrumpfung zu einem weitreichenden städtischen Verfall führte und wo Armut und Hoffnungslosigkeit den Alltag einer Stadt bestimmen, sind hierzulande zwar noch nicht zu beobachten, sie geben aber eine Vorstellung davon, was passiert, wenn Schrumpfung allein den Marktprozessen überlassen wird.

    Mit dem Bund-Länder-Programm „Stadtumbau Ost" und „Stadtumbau West" stehen den Städten bei allen Unterschieden in der Förderkulisse erstmals Finanzmittel für die Anpassung städtebaulicher und wohnungswirtschaftlicher Strukturen unter den Bedingungen rückläufiger Einwohnerzahlen, schwindender Arbeitsplätze sowie steigendem Wohnungsleerstand zur Verfügung (vgl. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2003a; Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen 2001). Der Umgang mit demographischen und wirtschaftlichen Schrumpfungsprozessen stellt die Städte jedoch vor ungewohnte Herausforderungen. Zwar sind die kommunalen Planungs- und Politikinstrumente in den letzten Jahrzehnten durchaus erweitert worden, um das ausbleibende Wachstum in den Städten zu stimulieren, aber - und darauf beruht die Schwierigkeit des politischen Umgangs mit Sclmimpfungsprozessen - die grundsätzliche Orientierung an Wachstum wurde mehr oder weniger aufrecht erhalten. Während für die Steuerung von Wachstumsprozessen in den Städten ein umfassendes Arsenal erprobter Instrumente zur Verfügung steht, existieren für den Umgang mit Schrumpfungsprozessen weder bewährte Politikstrategien,

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  • noch ,best practices', an denen sich lokale Akteure in schrumpfenden Städten orientieren könnten. Zukunftsorientierte, die veränderten Bedingungen der Stadtentwicklung anerkennende politische Instrumente, Strategien und Maßnahmen müssen erst noch entwickelt werden.

    Ob und wie es Städten gelingt, sich auf die veränderten sozialen, ökonomischen und demographischen Bedingungen der Schrumpfung mit neuen politischen Maßnahmen und Strategien einzustellen, ist sozialwissenschaftlich bislang kaum erforscht.

    Die soziologische Stadtforschung konzentrierte sich in den 1970er und 1980er Jahren unter dem Stichwort der „declining city" fast ausschließlich darauf, Ursachen und Folgen des regional ungleich verlaufenden ökonomischen Strukturwandels zu erklären (vgl. Bradbury/Downs/Small 1982; Friedrichs/Häu-ßermann/Siebel 1986b; Hall 1985; Hall/Metcalf 1978). Arbeitsplatz- und Einwohnerverluste betrachtete man als ein eher temporäres, ökonomisches Anpassungsproblem, so dass die Ende der 1980er Jahre von Hartmut Häußermann und Walter Siebel geäußerte Vermutung, es könnte sich bei der schrumpfenden Stadt um einen neuen Entwicklungstypus handeln, von der Forschung nicht weiter aufgegriffen wurde. Ihre Hypothese, dass die in den Städten dominante Orientierung am Wachstum die negativen Folgen der Schrampfungsprozesse verstärkt und darüber hinaus auch die möglichen Chancen neuer urbaner Lebensformen verhüllt, fand keine Resonanz (Häußermann/Siebel 1987: 120).

    Auch die lokale Politikforschung, die sich mit den Inhalten, Strukturen und Prozessen von Politik in Städten beschäftigt, richtete ihr Hauptaugenmerk in den 1980er Jahren auf die Bedingungen und Möglichkeiten der politischen Organisation eines ökonomischen Strukturwandels in den altindustrialisierten Städten. Dabei stand die Analyse spezifischer kommunaler Handlungsfelder im Vordergrund, die für die Bewältigung der ökonomischen Krise besonders relevant erschienen, wie beispielsweise die kommunale Sozial-, Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik. Im Wesentlichen ging es in diesen Arbeiten darum, die überlokal initiierten sozialen, ökonomischen und politischen Veränderungen und ihre Effekte auf die kommunale Ebene zu beleuchten, wobei die Bestimmung kommunaler Handlungsspielräume angesichts geringer werdender Ressourcen im Vordergrund stand (vgl. Blanke/Evers/Wollmann 1986; Heinelt/Wollmann 1991; Jaedicke/RuMand/Wachendorfer/Wollmann 1990).

    Während sich die Forschung in den 1980er und 1990er Jahren - abgesehen von wenigen Ausnahmen - mit der schrumpfenden Stadt nicht beschäftigte, begann sie sich Ende der 1990er Jahre mit dem Phänomen auseinanderzusetzen. Hintergrund dafür waren die massiven Wohnungsleerstände, die als Folge von Arbeitsplatzverlusten und Abwanderung in fast allen ostdeutschen Städten auftraten. Die Forschung begleitet zum einen den Stadtumbau in Ost und West,

    15

  • wobei die Umsetzung der Bund-Länder-Programme im Vordergrund steht (vgl. u.a. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2003a; Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen/Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2003a, 2004; Gesamtverband Deutscher Wohnungsunternehmen 2003; Institut für Stadtforschung und Strukturpolitik 2004), zum anderen sucht sie nach möglichen architektonischen und stadtplanerischen Lösungen bzw. Leitbildern für den Rückbau und das Brachflächenmanagement (vgl. u.a. Fuhrich 2003; IBA-Büro 2010 2005; Oswalt 2005; Oswalt/Overmeyer/Schmidt 2001). Die Fokussierung der wissenschaftlichen Debatte auf die wohnungswirtschaftlichen und baulich-räumlichen Aspekte des Stadtumbaus wurde bereits verschiedentlich kritisiert (siehe u.a. Bürkner/Kuder/Kühn 2005: 33f; Franz 2005: 14; Ka-bisch/Bernt/Peter 2004: 22f). Analysen, die sich beispielsweise mit endogenen Potentialen (Hannemann 2004), den vom Stadtumbau betroffenen Bewohnern (Kabisch/Bernt/Peter 2004) oder den Akteurskonstellationen und Steuerungsformen in schrumpfenden Städten (vgl. Weiske/Kabisch/Hannemann 2005) beschäftigen, sind die Ausnahme.

    Untersuchungsziel, Fallauswahl und Methoden

    Auf der Basis einer empirischen Analyse der Stadtentwicklungspolitik in zwei Städten wird im Folgenden der Frage nachgegangen, wie die Städte auf den grundlegenden Wandel in den Bedingungen der Stadtentwicklung reagieren. Schlägt sich dieser Wandel in einer Neuorientierung städtischer Politiken nieder?1 Unter welchen Bedingungen negieren betroffene Städte die Entwicklungen und hoffen darauf, dass Schrumpfen wieder in Wachsen umschlägt? Wann und warum betreiben Städte Stadtentwicklungspolitiken, die auf die Forderung eines lokalen ökonomischen und demographischen Wachstums setzen und unter welchen Voraussetzungen erkennen sie die gewandelten strukturellen Bedingungen des Schrumpfens an und beginnen, neue Strategien, politische Programme oder Maßnahmen zu institutionalisieren, mit Hilfe derer der Prozess des Schrumpfens gesteuert und im Interesse der verbliebenen Bürger gestaltet werden kann? Um das herauszufinden, sind in der vorliegenden Arbeit folgende konkrete Fragen untersucht worden:

    1 Die im angloamerikanischen Sprachraum übliche, semantisch klare Trennung der Begriffe „polity", „politics" und „policies" existiert im Deutschen nicht (Schmidt 1987; 185). Mit dieser begrifflichen Schwierigkeit wird im Folgenden so umgegangen, dass „Stadtentwicklungspolitik" die prozessuale, also die Politics-Dimension, meint. Wenn von „Stadtentwicklungspolitiken" die Rede ist, wird die inhaltliche, also die Policies-Dimension, angesprochen.

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  • • Ob - und wenn ja - wann, wird in der Stadt die bisherige Politik in Frage gestellt? Gibt es besondere Ereignisse, die zur Delegitimation der bisherigen Strategien beitragen oder geschieht dies eher zufällig?

    • Welche Akteure stellen das Wachsrumsziel in Frage bzw. wer mahnt eine Umorientierung an: Akteure aus der Landespolitik, die Parteien, die Öffentlichkeit, der Rat, die Verwaltung oder Experten?

    • Wie gelingt es, die Probleme der Schrumpfung zu kommunizieren, gemeinsame Wahrnelimungsmuster zu etablieren und Koalitionen zu schmieden, um Handlungsfähigkeit zu erreichen?

    • Wann werden die formellen Beschlüsse der Stadt über Infrastrukturausstattung, Arbeitsplätze, Entwicklungspläne verändert - das heißt, wann wird ein Umsteuern institutionell verfestigt?

    • Welchen Einfluss haben die Förderprogramme von Bund und Ländern? Begünstigen oder behindern sie den Wandel?

    Man könnte gegen die hier skizzierten Untersuchungsfragen einwenden, dass es wenig sinnvoll sei, sich mit den Bedingungen und Möglichkeiten des politischen Umgangs mit Schrumpfungsprozessen zu beschäftigen: Städte seien angesichts der strukturellen, überörtlichen Ursachen von Schrumpfungsprozessen ohnehin ohnmächtig. In der vorliegenden Studie wird dagegen von der normativen Prämisse ausgegangen, dass es einen Unterschied macht, ob Städte die Schrumpfung als ein langfristiges Problem anerkennen und im Interesse ihrer verbliebenen Bürger steuern wollen oder nicht.

    In dieser Untersuchung sollen die Bedingungen identifiziert werden, unter denen sich herkömmliche, vornehmlich an Wachstumsprozessen ausgerichtete politische Instrumente, Maßnahmen und Strategien wandeln und innovative Ansätze in der Stadtentwicklungspolitik wirksam werden. Als Innovationsleistung wird die Institutionalisierung neuer politischer Strategien verstanden, die den Schrumpfungsprozess als ein langfristiges und politisch zu steuerndes Problem begreifen. Ein solcher Politikenwandel müsste sich deutlich von punktuellen, inkrementalen Veränderungen unterscheiden, die alleine einer dramatischen Finanznot geschuldet sind.

    Für die Studie ist eine akteurszentrierte Perspektive forschungsleitend, sie schließt damit an die handlungszentrierten Ansätze der lokalen Politikforschung an. Mit diesen Arbeiten teilt sie die Annahme, dass sich die in Städten verfolgten politischen Maßnahmen, Instrumente und Strategien durch den lokalen politischen Entscheidungsprozess und die daran beteiligten Akteure erklären lassen. Wie in den schrumpfenden Städten auf die veränderten Bedingungen der Stadtentwicklung reagiert wird, lässt sich in einer solchen Perspektive als das Ergebnis städtischer Konflikt- und Konsensbildungsprozesse analysieren.

    17

  • Obwohl es diese Ansätze erlauben, den politischen Umgang mit Schrumpfungsprozessen mit Rekurs auf das konkrete Handeln lokaler Akteure zu erklären, vernachlässigen sie die Handlungsorientierungen, Problemwahrnehmungen und Deutungsmuster der Akteure. Wie wichtig diese Faktoren für den Politikenwandel und die Politikinnovation sind, haben unterschiedliche ideenzentrierte Forschungsansätze in der Politikfeldanalyse und Institutionentheorie in den letzten Jahren überzeugend herausgearbeitet. Insbesondere die neoinstitutiona-listischen Ansätze haben die Bedeutung kognitiver Prozesse für kollektives Handeln wiederentdeckt. Deshalb werden in der vorliegenden Arbeit die akteurszentrierten Ansätze der lokalen Politikforschung durch die neueren, ideenzentrierten Ansätzen in der Politikwissenschaft ergänzt, die in kognitiven, kommunikativen oder diskursiven Faktoren - wenn auch nicht unabhängig von Akteuren und Interessen - einflussreiche Variablen im politischen Prozess und dessen Ergebnissen sehen. Obgleich die ideenzentrierten Ansätze bislang nicht in der lokalen Politikforschung rezipiert wurden, stellen sie eine wichtige analytische Ressource für die in dieser Arbeit diskutierten Fragen dar.

    Eine auf das Handeln lokaler Akteure fokussierte Perspektive sieht sich jedoch schnell dem Verdacht ausgesetzt, in die „Lokalismusfalle" zu tappen, das heißt, Städte als „Miniaturrepubliken" (Peterson 1981: 3) zu konzipieren, die sie aufgrund ihrer begrenzten Handlungsspielräume durch ökonomische, nationale oder supranationale Gegebenheiten nicht (mehr) sind. Nicht nur die aus der neomarxistischen und neoklassischen Politökonomie entspringenden strukturellen Ansätze in der lokalen Politikforschung haben darauf aufmerksam gemacht, dass die ökonomischen und staatlichen Rahmenbedingungen wichtige Faktoren für die auf lokaler Ebene verfolgten Politiken darstellen. In der vorliegenden Untersuchung wird die institutionell-rechtliche Einbindung der Städte und die ihnen zur Verfügung stehenden Fördermittel und Subventionsprogramme als ermöglichende oder begrenzende Faktoren lokalen Handelns mit einbezogen.

    In der Untersuchung wird von der Hypothese ausgegangen, dass es, trotz ähnlicher Problemlagen in schrumpfenden Städten, unterschiedliche lokale Antworten auf die Probleme der Schrumpfung gibt. Es sind nicht nur die problematischen Entwicklungen unter den Bedingungen der Schrumpfung an sich oder die staatlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen allein, die stadt-entwicklungspolitische Strategien determinieren, sondern es sind die Entscheidungen der maßgeblichen Akteure in der Stadtentwicklungspolitik. Im Zentrum der Analyse stehen also die, an der Politikformulierung und -Implementierung beteiligten, städtischen Akteure und Akteurskonstellationen, ihre Problemwahrnehmung und Kooperationsformen.

    Um zu analysieren, wie lokale Akteure auf die veränderten Bedingungen der Stadtentwicklung reagieren, sind für die empirische Forschung zwei Städte

    18

  • ausgewählt worden, die sich hinsichtlich ihrer sozioökonomischen Problemlagen weitgehend ähneln.2 Leipzig und Duisburg sind beide mit einem strukturellen und nicht temporären Einwohner- und Arbeitsplatzverlust konfrontiert.

    Duisburg erlebte mit der Industrialisierung und dem damit einhergehenden Aufschwung der Montanindustrie einen wirtschaftlichen und demographischen Wachstumsprozess, der zunächst nur gelegentliche konjunkturelle Einbrüche erlebte (vgl, Heid 1983; Pietsch 1983). Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich die Stadt aufgrund ihrer verkehrsgünstigen Lage am Zu-sammenfluss von Rhein und Ruhr zum wichtigsten Standort der bundesdeutschen Eisen- und Stahlindustrie, so dass 1970 mehr als ein Viertel aller Arbeitsplätze in Duisburg im Stahlbereich angesiedelt waren (Bünnig 1983: 105). Die Mitte der 1970er Jahre beginnende Strukturkrise der Eisen- und Stahlindustrie führte zu einem tiefgreifenden ökonomischen, sozialen und demographischen Wandel. Seitdem verliert die Stadt nicht nur kontinuierlich an Arbeitsplätzen und Einwohnern, sondern auch an Wirtschaftskraft.

    Auch Leipzig ist eine schrumpfende Stadt. Während Duisburg mit den Erbschaften einer ökonomischen Monostruktur zu kämpfen hat, sind es in Leipzig die Folgen der Vereinigung, die zu anhaltenden Arbeitsplatz- und Einwohnerverlusten führen. Leipzig erlebte mit der Industrialisierung einen ungeheuren wirtschaftlichen und demographischen Wachstumsprozess (vgl. Bergfeld 2002; Grimm 1995; vgl. Rink 1995). Durch Nationalsozialismus und Krieg verließ die Stadt den Wachstumspfad und konnte auch zu DDR-Zeiten daran nicht wieder anknüpfen, weil sie wie der gesamte sächsische Ballungsraum zu den Verlierern der zentral gelenkten Ressourcenzuweisung gehörte (Grundmann 1991: 120). Verfallende gründerzeitliche Quartiere, der näher an die Stadt heranrückende Braunkohletagebau sowie die Ausstöße der Chemieindustrie im Dreieck Halle, Leipzig, Bitterfeld ließen Leipzig ab Mitte der 1960er zur einzigen .sozialistischen' Großstadt avancieren, die einen permanenten Einwohner- und sogar Arbeitsplatzverlust zu verzeichnen hatte (Rink 1995: 68). Mit der Vereinigung war die Hoffnung groß, dass es sich bei den negativen Trends zu DDR-Zeiten nur um eine Unterbrechung eines langfristigen Wachstumsprozess handelte. Diese Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht: Die Arbeitsplatz- und Einwohnerverluste beschleunigten sich.

    Der Aufbau der kommunalen Selbstverwaltung in den neuen Bundesländern folgte zwar dem Muster einer „endogenen Pfadabhängigkeit", orientierte

    Es handelt sich dabei allerdings nicht um ein „most-similar-cases" Design, weil bei der Fallauswahl nicht umfassend untersucht wurde, ob die beiden Städte ein Höchstmaß an Ähnlichkeiten hinsichtlich bestimmter Basisstrukturen aufweisen (Prezworski/Teune 1982: 32ff). Ein solches Vorgehen hätte eine weitaus differenziertere Vorauswahl der zu untersuchenden Städte vorausgesetzt, was aufgrund zeitlicher Einschränkungen nicht möglich war.

    19

  • sich aber an dem Institutionenmodell der alten Bundesrepublik (Wollmann 1998: 153): Mit dem fast vollständigen Institutionentransfer, der durch einen weitreichenden Personal- und Finanztransfer in die neuen Bundesländer begleitet wurde, agieren die west- und ostdeutschen schrumpfenden Städte seit der Vereinigung unter sehr ähnlichen institutionell-rechtlichen Rahmenbedingungen und operieren mit vergleichbaren Instrumenten in der Stadtentwicklungspolitik, auch wenn es mit Blick auf Finanzzuweisungen des Bundes oder Strukturprogramme der Europäischen Union noch Unterschiede gibt.

    In der Untersuchung werden im Wesentlichen die „Policies-Dimension" und die „Politics-Dimension" in beiden Städten analysiert und dargestellt. Um sowohl die inhaltlichen, als auch die prozessualen Aspekte zu erheben und auszuwerten, war eine Kombination aus unterschiedlichen Erhebungs- und Auswertungstechniken nötig. Wenngleich sich die verwendeten Methoden nicht an einem bestimmten Wissenschaftsparadigma orientieren, sondern problembezogen zusammengestellt wurden, bedient sich die vorliegende Studie qualitativer Methoden.

    Im Vorfeld der eigentlichen Analyse wurde zunächst eine Recherche zur Problemlage in der Stadt und den stadtentwicklungspolitischen Debatten durchgeführt. Eine Fülle städtischer Publikationen, wissenschaftlicher Studien und die lokalen Zeitungen wurden ausgewertet. Rund 40 leitfadengestützte Experteninterviews bilden den Hauptschwerpunkt der empirischen Primärdatenerhebung in beiden Städten. Auf der Grundlage bisheriger politikwissenschaftlicher Untersuchungen wurden die im Politikfeld Stadtentwicklung agierenden Akteursgruppen identifiziert:

    • Leiter und Mitarbeiter der Verwaltung (Ämter für Stadtentwicklung und Wirtschafts förderung)

    • Beigeordnete • Repräsentanten der politischen Parteien im Fachausschuss Stadtentwick

    lung • Personal aus privatwirtschaftlich organisierten städtischen Gesellschaften

    (Stadtmarketing, Wirtschaftsförderung) • Repräsentanten lokaler Verbände, Kammern oder Bürgervereine

    Für die Auswahl der Interviewpartner war maßgeblich, dass sie innerhalb des Politikfeldes entweder über relevantes Wissen (z.B. als Mitarbeiter in der Verwaltung oder als Mitglied des Fachausschusses) oder/und über eine Schlüsselposition (z.B. als Amtsleiter oder Beigeordnete) verfügten (Meuser/Nagel 1991:

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  • 443).3 Die qualitativen Experteninterviews ermöglichen es, die Sichtweisen der Akteure, ihre Einschätzung von Problemen, Handlungsoptionen und Konflikte in der Stadtentwicklungspolitik zu rekonstruieren.

    Um außerdem auch die prozeduralen Abläufe empirisch zu erheben, wurde eine umfassende Analyse der offiziellen politischen Dokumente der Stadtverwaltung und der Stadtverordnetenversammlung durchgeführt. In beiden Städten wurden die Niederschriften und Protokolle der Ratsversammlung und der Fachausschüsse sowie die Mitteilungs- und die Beschlussvorlagen, aber auch die Anträge und Anfragen der Parteien ausgewertet. Trotz einiger Unterschiede in der Systematisierung4 wurden die Dokumente in beiden Städten nach dem gleichen Prinzip inhaltsanalytisch ausgewertet. Das heißt, sie wurden nach vordefinierten Kriterien und Stichwortlisten untersucht und dadurch strukturiert. In beiden Städten war es zudem möglich, den Inhalt der Datenbank auf quantifizierbare Veränderungen der Inhalte zu durchsuchen.

    Aufbau der Arbeit

    Die vorliegende Arbeit gliedert sich in sechs weitere Kapitel. Zunächst werden in Kapitel 2 die allgemeinen Ursachen und Folgen städtischer Schrumpfungsprozesse analysiert, um die ersten, einleitend getroffenen Überlegungen zu vertiefen. Dabei wird deutlich, dass sich das Ausmaß und die Ursachen der Schrumpfung zwischen den west- und den ostdeutschen Städten zwar unterscheiden, dass sich die Zukunftsperspektiven jedoch gleichen. Insgesamt deutet nichts auf eine Zunahme der Bevölkerungszahlen in den großen Städten im Osten wie im Westen hin. Die Frage, wie lokale Akteure mit Schrumpfungspro-

    Die Interviews wurden aufgezeichnet und in einem Protokoll zusammengefasst Dies schloss eine Teiltranskription ein. Auf eine vollständige Transkription der Interviews wurde verzichtet, weil nur einige Interviewpassagen die Grundlage für eine ausführliche interpretative Auswertung bilden sollten. Ausgewertet wurden die Interviewprotokolle durch eine strukturiert-qualitative Inhaltsanalyse: Die notwendigerweise entstandene Materialfülle wurde so bereits bei der Aufarbeitung der Interviews entweder durch Selektion oder Bündelung reduziert, der Abstraktionsgrad erhöht (Mayring 1990: 85f). Im kommunalen Sitzungsdienst Duisburgs, der sich für die Jahre 1997 bis 2001 auf CD-Rom befindet, sind alle politischen Dokumente der Stadt archiviert, so dass nach festgelegten Stichworten in einer Datenbank gesucht werden konnte. In Leipzig sind die gleichen Dokumente zeitlich und sachlich anders geordnet. Sie sind von 1990 bis 2003 zugänglich, gliedern sich allerdings nicht nach Jahren, sondern nach Wahlperioden und sind thematisch in Verwaltungsvorlagen und Beschlüsse sowie in Fachausschüsse untergliedert. Ein besonderes Problem in Leipzig war, dass die Unterlagen des Fachausschusses, die sich in Duisburg als eine wichtige Informationsquelle herausgestellt hatten, dort nicht öffentlich sind. Die Unterlagen des Fachausschusses konnten in Leipzig zwar eingesehen werden, dürfen in dieser Arbeit aber leider nicht zitiert werden.

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  • zessen in der Stadtentwicklung umgehen, wird in der Zukunft also noch an Relevanz gewinnen. Der Umgang mit demographischen und wirtschaftlichen Schrumpfungsprozessen stellt die Städte jedoch vor ungewohnte Herausforderungen, auf die sie unzureichend vorbereitet sind.

    Kapitel 3 beschäftigt sich mit den theoretisch-konzeptionellen Perspektiven der lokalen Politikforschung. Obwohl der Umgang mit Schrumpfung bislang noch ein empirisches Desiderat der lokalen Politikforschung ist, bieten die Ansätze und Arbeiten aus diesem Forschungsfeld eine wichtige analytische Ressource für die hier zu untersuchende Fragestellung. Sie haben sich - wenn auch nicht auf das Problem der Schrumpfung bezogen - in den letzten Jahrzehnten durchaus damit beschäftigt, welche Faktoren für den politischen Umgang mit veränderten sozialen und ökonomischen Bedingungen in Städten relevant sein könnten. Um dieses analytische Potential zu nutzen, werden zunächst die beiden wichtigsten Ansätze der lokalen Politikforschung, die strukturellen und die handlungszentrierten, dargestellt und insbesondere auf ihre Konzeption des lokalen Politikprozesses und des lokalen Politikenwandels befragt. Danach werden die gewonnenen Werkzeuge durch neuere, ideenzentrierten Ansätze aus der Politikwissenschaft ergänzt. Am Ende des Kapitels wird ein integriertes theoretisch-konzeptionelles Analysemodell entwickelt, welches das empirische Vorgehen in den folgenden Kapiteln leiten und theoretisch informieren wird.

    Die Kapitel 4, 5 und 6 sind der empirischen Analyse der beiden Fallstudien, Duisburg und Leipzig, gewidmet. Zuerst werden Stadtprofile erstellt, die für den spezifischen Einzelfall zeigen und angesichts der lokalen Konstellationen belegen, dass sowohl Duisburg als auch Leipzig schrumpfen und perspektivisch mit weiteren Schrumpfungsprozessen bezüglich des Arbeitsplatzangebots und der Einwohnerzahlen rechnen müssen (Kapitel 4). Reagiert die Stadtentwicklungspolitik in beiden Fällen gleich auf die Probleme und Herausforderungen? In Kapitel 5 werden die jeweiligen Reaktionen beschrieben. Es wird gezeigt, dass sich der grundlegende Wandel in den Bedingungen der Stadtentwicklung in einer unterschiedlichen Re- und Neuorientierung städtischer Policies in Duisburg und Leipzig niederschlägt. Im Kapitel 6 werden die politischen Diskussions- und Entscheidungsprozesse in der Stadtentwicklungspolitik anhand der Akteure, ihrer Wahrnehmung und ihrer Konflikt- und Konsensbildungsprozesse analysiert und verglichen.

    Abschließend werden in Kapitel 7 die Ergebnisse aus der empirischen Untersuchung expliziert und theoretisch diskutiert. Dabei wird insbesondere gezeigt, unter welchen Bedingungen die Institutionalisierung neuer städtischer Politiken in Leipzig gelang. Die aus der Untersuchung folgenden politikrelevanten Implikationen für den Umgang mit Schrumpfung werden am Ende dieses Kapitels skizziert.

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  • 2 Ursachen und Folgen städtischer Schrumpfungsprozesse

    Kaum eine europäische Stadt verschwand nach dem 11. Jahrhundert völlig von der Landkarte. Dennoch gab es einzelne Städte, die aufgrund politischer, ökonomischer oder technologischer Umwälzungen ihre einstmalige Bedeutung verloren und niedergingen (Benke 2005: 49). Die Evolution des europäischen Städtesystems war seit der frühen Neuzeit kein linearer Wachstums- und Expansions-prozess: „The creation of an urban network in Europe has not been a steady, slow progression. Rather, long spurts of growth have alternated with times of Stagnation and decline" (Hohenberg/Lees 1985: 7f).

    Mit der Industrialisierung und dem explosionsartigen natürlichen Bevölkerungswachstum bildete sich ein Muster der Stadtentwicklung heraus, welches durch das „Wachstum von Bevölkerung, Fläche, Arbeitsplätzen und damit Wirtschaftskraft" charakterisiert war (Häußermann/Siebel 1987: 91). Zwar schwächte sich in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus das enorme Städtewachstum wieder ab. Durch die Herausbildung eines fordistischen Industrialisierungsmodells, das auf dem Trias Wohlfahrtsstaat, Massenproduktion und Vollbeschäftigung beruhte, erlebten die Städte bis Ende der 1960er Jahre jedoch erneut Prosperität: Probleme sah man allenfalls in den negativen Folgen von ungesteuerten Expansions- und Wachstumsprozessen (Läpple 1986b: 909). Räumliche Disparitäten innerhalb eines Nationalstaates bestanden zwischen den „fortschrittlichen Städten" und einem „rückständigen, peripheren Land" (Läpple 1998: 193). Es ist dieses Wachstumsparadigma, das bis heute unser Denken über Stadtentwicklung prägt.

    Im folgenden Kapitel werden die Ursachen und Folgen städtischer Schrumpfungsprozesse dargestellt. Im ersten Schritt wird gezeigt, dass sich seit der Industrialisierung ein fundamentaler Wandel in der Stadtentwicklung vollzogen hat. Schrumpfende Städte in West- und Ostdeutschland leiden unter einer erodierten ökonomischen Basis. Ihre Einwohnerzahlen nehmen aufgrund von Abwanderung oder Geburtendefiziten beständig ab. Erste Tendenzen dieser Art zeigten sich in der Krise altindustrialisierter Städte und Regionen der Bundesrepublik in den 1970er und 1980er Jahren. Es wird dargestellt, dass das ausblei-

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  • bende Wachstum nicht nur konjunkturell, sondern strukturell bedingt ist und dass die Städte damit bis heute konfrontiert sind (siehe Abschnitt 2.1.).

    Ostdeutsche Städte sind erst seit der Vereinigung mit Schrumpfungsprozessen konfrontiert. Nun treten diese jedoch außerordentlich klar und fiächende-ckend auf. Fast alle ostdeutschen Städte leiden in den letzten Jahren unter dramatischen Einwohner- und Arbeitsplatzverlusten. Die heute zu beobachtenden Prozesse des Schrumpfens in ostdeutschen Städten unterscheiden sich qualitativ und quantitativ von denen in Westdeutschland (siehe Abschnitt 2.2.).

    Doch der Umgang mit demographischen und wirtschaftlichen Schrumpfungsprozessen stellt alle betroffenen Städte vor die gleichen, ungewohnten Herausforderungen. Die Aufgaben der Stadtentwicklungspolitik haben sich in den altindustrialisierten Städten des Westens und den von der Transformation betroffenen Städten des Ostens grundlegend verändert: Es geht nicht mehr darum, Wachstumsprozesse in geordnete Bahnen zu lenken, sondern darum Schrumpfungsprozesse sozialverträglich und so zu gestalten, dass die Lebensqualität für die verbleibenden Bürger erhalten bleibt. Da davon ausgegangen werden kann, dass sich die Situation in Ost und West in den nächsten Jahren zuspitzt, wird die Frage nach Voraussetzungen und Möglichkeiten der Erprobung neuer Strategien in der Stadtentwicklungspolitik vor Ort umso dringlicher, zumal sämtliche Instrumente, Maßnahmen und Strategien der Stadtentwicklungspolitik bislang an Wachstumsprozessen ausgerichtet sind. Das gilt für Ostwie westdeutsche Städte gleichermaßen (siehe Abschnitt 2.3).

    2.1 Schrumpfende Städte West: Die Verlierer des Strukturwandels

    Das traditionelle Interpretationsmuster „Stadt = Wachstum von Wirtschaftskraft, Einwohnern und Siedlungsfläche" büßte in allen westlichen Industrienationen Mitte der 1970er Jahre an Plausibilität ein. Während das Umland der Kernstädte, aber auch die ländlichen und gering verdichteten Gebiete an Arbeitsplätzen und Einwohnern gewinnen konnten, verloren die Großstädte (Irmen/Blach 1994: 450; Läpple 1998: 193). Diese räumliche Dezentralisierung industrieller Arbeitsplätze wurde in zahlreichen Untersuchungen für die USA, Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland empirisch belegt (vgl. u.a. Bradbury/Dow-ns/Small 1982; Friedrichs/Häußermann/Siebel 1986a; Hall/Metcalf 1978). Die britischen Forscher Peter Hall und David Metealf zeigten Ende der 1970er Jahre, dass der Verlust industrieller Arbeitsplätze im Verdichtungsraum London zwischen 1961 und 1974 siebenmal so hoch wie im nationalen Durchschnitt war (Hall/Metcalf 1978: 66). Ein ähnlicher Befund wurde Mitte der 1980er Jahre auch für die Bundesrepublik herausgearbeitet. In den westdeutschen Großstäd-

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  • ten gingen zwischen 1970 und 1984 33,1% der Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe verloren, während diese national nur um 20,1% zurückgingen (Friedrichs 1986: 121). Umgekehrt wiesen die Gebiete außerhalb der traditionellen Verdichtungsräume die höchsten Wachstumsraten auf.

    Die Großstädte waren hiervon jedoch nicht einheitlich betroffen (siehe Beiträge in Friedrichs/Häußermann/Siebel 1986a). Während in einigen Großstädten die Arbeitsplatzverluste im produzierenden Gewerbe durch das Wachstum neuer Arbeitsplätze im tertiären Sektor ausgeglichen wurden, konnte der Arbeitsplatzverlust in anderen Großstädten nicht durch neue Beschäftigungsmöglichkeiten kompensiert werden. Die Großstädte im Ruhrgebiet verloren zwischen 1976 und 1983 mehr als 19%, Bremen 17,1% und Hannover 12,2% ihrer Arbeitsplätze im sekundären Sektor (Häußermann/Siebel 1986: 81). Zwar verloren die Großstädte München, Stuttgart und Nürnberg-Erlangen im gleichen Zeitraum ebenfalls Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe, aber nicht in gleichem Ausmaß -und da die Zahl der Beschäftigten im tertiären Sektor deutlich zulegte, konnten in diesen Agglomerationen Verluste industrieller Arbeitsplätze durch neue Dienstleistungstätigkeiten kompensiert werden (Friedrichs 1986: 124). In den Agglomerationen Bremen, Hannover, Ruhr und Rhein ging die Zahl der Beschäftigten insgesamt um bis zu 2,5% zurück, während sie im gleichen Zeitraum in den Verdichtungsräumen Rhein/Main, Rhein/Neckar, Karlsruhe, Stuttgart, Nürnberg und München um bis zu 6% anstieg (Häußermann/Siebel 1986: 73). Die Perspektiven der großen Städte hatten sich differenziert bzw. polarisiert (Häußermann/Siebel 1986: 79): In solche, die weiterhin wuchsen, indem sie einen Zugewinn an Arbeitsplätzen und damit auch an Einwohnern realisieren konnten und solche, die schrumpften, da der Verlust an Arbeitsplätzen nicht kompensiert werden konnte und auch zu rückläufigen Einwohnerzahlen führte.

    Dieses Gefälle zwischen den Großstädten in der Bundesrepublik folgte -wie in fast allen westeuropäischen Ländern - einem „Süd-Nord-Gefälle", wonach sich die Arbeitsplatz- und Einwohnerverluste in den „nördlichen", die Arbeitsplatz- und Einwohnergewinne in den „südlichen" Agglomerationen konzentrierten (siehe die Beiträge in Friedrichs/Häußermann/Siebel 1986a).5 Eine geographisch ungleiche Verteilung des Bevölkerungs- und Arbeitsplatzverlustes wurde für US-amerikanische Städte bereits Mitte der 1970er Jahre diagnostiziert: Die Großstädte, die durch längere Phasen des „Null- oder Negativwachstums" geprägt waren, lagen überwiegend im Norden oder Nordosten der USA (Rust 1975: 8).

    Die These des „Süd-Nord-Gefalles" war umstritten. Obgleich alle Analysen erhebliche Unterschiede zwischen den Städten herausarbeiteten, hing es von den gewählten räumlichen Bezugsgrößen und den Indikatoren ab, ob ein mehr oder weniger deutliches „Süd-Nord-Gefälle" konstatiert werden konnte (Friedrichs/Häußermann/Siebel 1986b: 3).

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