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DEUTSCHLAN D & E UROPA f Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg »…bis es ein freies Volk geworden…« 1848/49 Revolution Reihe für Politik, Geschichte, Geographie, Deutsch, Kunst Heft 35 · November 1997

bis es ein freies Volk geworden…« 1848/49 Revolution · 2006. 11. 30. · DEUTSCHLAN D & E UROPA f Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg »…bis es ein freies

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    Landeszentralefür politische BildungBaden-Württemberg

    »…bis es ein freies Volk geworden…«

    1848/49 Revolution

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  • Titelbild: Philipp Veit – Germania, 1848Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg

    Herausgeber:Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg,Direktor Siegfried Schiele

    Redaktion:Dr. Walter-Siegfried Kircher

    Anschrift der Redaktion:70184 Stuttgart, Stafflenbergstraße 38,Telefon (0711) 2371-381/-391, Telefax (0711) 2371-496

    Beirat:

    Robert Bosch Stiftung GmbH, Stuttgart,Günter Gerstberger

    Dr. Almut Satrapa-Schill

    Ministerium für Kultus und Sport,Klaus Happold, Ministerialrat

    Prof. Dr. Lothar Burchardt,Universität Konstanz

    Dietrich Rolbetzki,Oberstudienrat, Filderstadt

    Lothar Schaechterle,Studiendirektor, Stetten i. R.

    Landeszentrale für politische Bildung,Dr. Walter-Siegfried Kircher

    Deutschland&Europa erscheint zweimal im Jahr

    Jahresbezugspreis DM 12,–

    Satz:Vaihinger Satz + Druck GmbH71665 Vaihingen

    Druck:Reclam Graphischer Betrieb GmbH71254 Ditzingen

    Auflage: 17000

    Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion

    Mit finanzieller Unterstützung des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport, der Stiftung für Bildung und Behindertenför-derung und der Robert Bosch Stiftung.

    Inhalt

    Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1Geleitwort des Ministeriums für Kultus und Sport . . . 2Autorinnen und Autoren dieses Heftes . . . . . . . . . . . 2

    Einleitung: Europäische Dimensionen der . . . . . . . 3deutschen Revolution von 1848/49

    I. Polenbegeisterung in Deutschland 1848/49? . 61. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62. Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

    II. »Wo die Revolution ist, da ist des PolenVaterland.« Ein polnischer Oberbefehlshaberin Baden: Ludwig Mieroslawski . . . . . . . . . . . . 101. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102. Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

    III. Robert Blum: Ein Tod in Wien – Tod dernationalen deutschen Revolution? . . . . . . . . . 141. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142. Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

    IV. »Für eine europäische Republik«:Georg und Emma Herwegh 1848 . . . . . . . . . . 191. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192. Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

    V. »Den Drachen Revolution töten« – Prinz Wilhelmvon Preußen. Berlin – London – Karlsruhe: Ein Gegenrevolutionär unterwegs . . . . . . . . . 241. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242. Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

    VI. »Gleiche Rechte und Chancen!«Revolutionäre Frauen in Deutschland undFrankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302. Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

    VII. Revolutionäre in der Emigration: »Auswurf Europas« oder Kämpfer für Freiheit und Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362. Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

    VIII. Großbritannien und die deutsche Revolution 1848/49 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422. Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

    IX. Nachwirkungen der Revolution . . . . . . . . . . . . 441. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442. Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

    Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49AV-Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

    Hinweise

    Die Hefte werden nur in geringer Anzahl an die Schulenverteilt. Zusätzliche Exemplare können bei der Landes-zentrale für politische Bildung, RedaktionssekretariatDeutschland und Europa, Fax (0711) 23 71- 496, oderschriftlich (Umschlagseite ☞Bestellungen) nachgefordertwerden.

    D E U T S C H L A ND & EU R O PAHeft 35 · November 1997

    D E U T S C H L A ND & EU R O PA

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    Über dem Präsidentenpult in der Frankfurter Paulskirche hing als Hoheitszeichen für dieNationalversammlung ein über vier Meter hohes Transparent, die Germania, 1848 vonPhilipp Veit gemalt (siehe Titelbild). Die schwarz-rot-goldene Trikolore mag den Eindruckder rein innenpolitischen Ausrichtung der deutschen Revolution von 1848/49 erwecken.Doch diese isolierte Betrachtungsweise trügt. Weniger bekannt ist, daß der in der Paulskir-che rechts des monumentalen Germania-Gemäldes angebrachte Vierzeiler auf die interna-tionale Dimension der Freiheitsbewegungen hinweist, wie in den Kapiteln I und II des vor-liegenden Heftes erläutert wird. Auch der Untertitel »...bis es ein freies Volk geworden...«,ein kleiner Ausschnitt aus einer Rede Robert Blums in der Frankfurter Nationalversammlungim Juli 1848, muß im Gesamtzusammenhang gelesen und interpretiert werden, damit dereuropäische Wirkungszusammenhang deutlich wird (vgl. Einleitung: »Europäische Dimen-sionen der deutschen Revolution von 1848/49« und Kapitel III: »Ein Tod in Wien...«). Damit sind die Intentionen des vorliegenden Heftes angedeutet. Mit einer gezielten, vorwie-gend biographisch ausgerichteten Auswahl von Materialien sollen außer den südwestdeut-schen und nationalen auch die europäischen Aspekte der Revolution von 1848/49 zurSprache kommen. Für die Freiheit und Einheit sich einsetzende Menschen werden in denMittelpunkt gerückt. Aber auch ein Gegenrevolutionär in Gestalt des »Kartätschenprinzen«(des späteren Kaisers Wilhelm I.) wird vorgestellt (Kapitel V). Gustav Heinemann rief alsBundespräsident dazu auf, »in der Geschichte unseres Volkes nach jenen Kräften zu spüren... , die dafür gelebt und gekämpft haben, damit das deutsche Volk politisch mündig undmoralisch verantwortlich sein Leben und seine Ordnung selbst gestalten kann ...«. Dazugehören auch »revolutionäre Frauen«, die mit ihren Wünschen, Hoffnungen und Enttäu-schungen zu Wort kommen (Kapitel IV und VI). Grenzüberschreitungen und wechselndeSchauplätze (Südwestdeutschland, Berlin, Wien, London, USA/Kapitel VII) betonen immerwieder die europäischen und internationalen Aspekte der Geschehnisse. Die Gefahr eineseuropäischen Krieges wird am Beispiel der Haltung Großbritanniens diskutiert (Kapitel VIII).Abschließend beleuchtet Kapitel IX anhand der Jubiläumsfeiern 1873 bis 1948 die Wir-kungsgeschichte der Revolution.In der vorliegenden Zeitschriftenreihe war bereits Heft 2/1984 der Revolution von 1848/49gewidmet. Landeskundliche und nationale Schwerpunkte (»Baden und Mitteldeutschland«)standen im Vordergrund (das Heft ist vergriffen). Die Reihe »Die deutsche Frage im Unter-richt« erfuhr mit 1989/1990 eine programmatische Erweiterung in Richtung »Deutschlandund Europa«, ohne daß gegebene landespolitische und landesgeschichtliche Bezüge, wiedieses Heft veranschaulicht, wegfielen. Möge es angesichts der 1997-1999 stattfindendenzahlreichen lokalen, regionalen und nationalen Veranstaltungen und Feiern und auch überdiesen Zeitraum hinaus daran erinnern, daß die Revolution »Teil eines gemeinsameneuropäischen Erbes« ist (Wolfram Siemann, Einleitung).

    Siegfried Schiele

    Direktor der Landeszentrale für politische BildungBaden-Württemberg

    Ernst Jung 75 Jahre

    Der frühere Projektleiter dieser Zeitschrift, Professor Ernst Jung, wurde im September 1997fünfundsiebzig Jahre alt. Herausgeber und Beirat gratulieren ihm herzlich. Bis zu seinemAusscheiden 1994 setzte sich Ernst Jung als maßgeblicher Mitinitiator dieser Reihe uner-müdlich für sie ein. Wir wünschen Ernst Jung weiterhin gute Gesundheit und Schaffens-kraft.

    Siegfried Schiele

    VorwortdesHerausgebers

  • 2

    Die Revolution von 1849/49 kennzeichnet eine bedeutende Station deutscher Geschich-te auf dem schwierigen und langwierigen Weg zu nationaler Selbstbestimmung, zu Ein-heit und Freiheit, politischer Partizipation und zum Entwurf einer demokratischen Ver-fassung, gegründet auf der Garantie der Menschenrechte, auf Rechtsgleichheit undsozialer Gerechtigkeit. Im Zusammenhang der Ereignisse jener Zeit zwischen Restaura-tion einerseits und der Begründung der preußischen Hegemonie andererseits werden –wie in einem Fokus – die vielfältigen Probleme sichtbar, die sich mit der Verwirklichungder Idee eines modernen, freiheitlich-rechtsstaatlichen Gemeinwesens verbanden.Anzusprechen sind übergreifend Fragen der nationalen Einheit – zum Beispiel anknüp-fend an Plessners Thematisierung Deutschlands als »verspätete Nation« und dem sichdaraus letztlich bis zur Wiedervereinigung ergebenden »deutschen Sonderweg in dieModerne« – ebenso, wie grundlegende Probleme der Struktur demokratisch-rechtsstaat-licher Verfassungen oder Forderungen nach größerer sozialer Gerechtigkeit.Gesamteuropäische Dimensionen politischer und gesellschaftlicher Ideen und Ziel-setzungen, die diese Revolution charakterisierten, gewinnen – das Heft verweist darauf –vor dem Hintergrund des aktuellen europäischen Integrationsprozesses neue, interes-sante Perspektiven.Im Unterricht an der Schule eröffnen sich bei der Behandlung der damaligen Ereignissein besonderer Weise didaktische Möglichkeiten, die Geschichte Deutschlands im 19.Jahrhundert durch die Anbindung an lokale und regionale Bezüge unmittelbar, anschau-lich und interessant zu vermitteln: Waren es doch auch gerade die konstitutionell verfaß-ten süddeutschen Staaten mit ihren ständischen Volksvertretungen und liberalen Tradi-tionen, die im Verlauf der Revolution von 1848 eine zentrale Rolle beanspruchten. Namenwie Struve, Hecker, Blum oder Herwegh gehören heutzutage zur Grundausstattung nichtnur landesgeschichtlicher Allgemeinbildung.Das Heft trägt durch die facettenreiche, vielschichtige Präsentation der Revolutionser-eignisse von 1848/49 sicherlich dazu bei, Schülerinnen und Schülern – ausgehend vomunmittelbaren Geschehen im engeren Heimatraum – fortwirkende geschichtliche Zusam-menhänge zu verdeutlichen und ihnen – in nationalstaatlicher wie gesamteuropäischerDimension – die historischen, geistigen und politischen Wurzeln von Rechtsstaatlichkeit,Freiheit und Demokratie in Deutschland bewußt zu machen.

    Klaus HappoldMinisterialrat

    Dr. Christine Bütterlin, OStR, Rastatt (VII. Revolutionäre in der Emigration: »Auswurf Europas« oder Kämpfer für Freiheit und Recht?)Dr. Herbert Kraume, OStR, Freiburg (IV.«Für eine europäische Republik«: Georg und Emma Herwegh 1848 /IX. Nachwirkungen der Revolution)Karin Merz, AdL, Karlsruhe (VI. »Gleiche Rechte und Chancen«: Revolutionäre Frauen in Deutschland und Frankreich)Dr. Leonhard Müller, Präs. i.R., Karlsruhe(VIII. Großbritannien und die deutsche Revolution 1848/49)Roland Obenland, StD, Rastatt (III. Robert Blum: Ein Tod in Wien – Tod der nationalen deutschen Revolution?)Dr. Christof Rieber, StR, Mengen(Federführung / I. Polenbegeisterung in Deutschland 1848/49 / II. »Wo die Revolution ist, da ist desPolen Vaterland.«.../ V. »Den Drachen Revolution töten« - Prinz Wilhelm von Preußen...)Prof. Dr. Wolfram Siemann, Universität München, Institut für Neuere Geschichte(Einleitung: Europäische Dimensionen der deutschen Revolution von 1848/49)Elena Wallis, GLehrerin, Rastatt (VII. Revolutionäre in der Emigration: »Auswurf Europas« oder Kämpfer für Freiheit und Recht?)Maria Würfel, GProf, Schwäbisch Gmünd(V. »Den Drachen Revolution töten« - Prinz Wilhelm von Preußen. Berlin-London-Karlsruhe: EinGegenrevolutionär unterwegs)

    Leiter des Projekts »Deutschland und Europa : Dr. Walter-Siegfried Kircher

    Mitarbeiter der Werkstattseminare »1848/49 Revolution«vom 1. - 2. März 1996 in Neckartenzlingenvom 11. - 12. Oktober 1996 in Rastattvom 21. - 22. Februar 1997 in Rastattdie oben genannten Autorinnen und Autoren,außerdem: Günter Buchwald, Freiburg (WS I in Neckartenzlingen)und Dr. Annette Reiter, Marburg (WS II in Rastatt)

    Geleitwort des Ministeriumsfür Kultus, Jugendund Sport

    Autorinnen undAutoren diesesHeftes:

    D E U T S C H L A ND & EU R O PA

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    »…bis es ein freies Volk geworden…«

    1848/1849 RevolutionI. Europäische Dimensionen

    der deutschen Revolutionvon 1848/49

    »... daß Deutschland nicht eher Geltung in dem Bundeeuropäischer Völker gewinnen könne, als bis es ein frei-es Volk geworden« – diese Vision beschwor der Abge-ordnete der Demokraten Robert Blum am 22. Juli 1848 inder Frankfurter Nationalversammlung. Und er fügte hinzu:»Der Gedanke der Befreiung und Erlösung der Völker [...],der Gedanke der neuen Französischen Revolution sollund wird ebenfalls Propaganda machen in der ganzenWelt, und ich hoffe, er wird sie ausdehnen über Moskauhinaus und das Licht der Freiheit auch in jene Länder tra-gen, die jetzt noch schlummern in der tiefsten Knecht-schaft [...]. Das Ziel einer Verbrüderung des freigeworde-nen oder freiwerdenden Westens, das ist es, dem ichmeine Stimme leihe«.Diese Vision leiht auch dem vorliegenden Heft den Titel.Sie trägt utopische Züge und ist gefärbt durch religiöseAnspielungen. Sie zeigt, wie anziehend und befremdlichzugleich das historische Erbe dieser ersten deutschenRevolution ist: Sie bietet Anknüpfungspunkte, die außer-ordentlich modern und zeitgemäß klingen: ein freies Volkin einer parlamentarischen Demokratie, orientiert an denVerfassungskonzepten Westeuropas, friedlich mit denbenachbarten Nationen zusammenlebend. Doch zugleichklingt eine Bedenkenlosigkeit an, die Revolution voranzu-treiben und mit einem großen europäischen, bis nachMoskau reichenden Krieg zu verknüpfen, um das alte Sy-stem der östlichen Vormächte – Rußland, Österreich undPreußen – zu brechen. Blum schrieb an seine Frau Jenny:»Hoffentlich bricht der Krieg in einigen Tagen aus. [...]Hoffentlich wird Friedrich Wilhelm IV. das Schicksal Lud-wigs XVI. haben.« Hier offenbart das damals gefeierte na-tionale Prinzip seine gewalttätige Seite, deren Spreng-kraft den damaligen Zeitgenossen noch nicht bewußtwar, welche nach den Erfahrungen dieses Jahrhundertsaber keine unbefangene Identifikation mehr mit den Wor-ten Blums erlaubt. Nähe und Distanz: dazu verpflichtetder Umgang mit dem Erbe, das sich nicht einfach in kon-krete Anweisungen für den heutigen politischen Alltagummünzen läßt, das aber doch aus der historischen Er-fahrung heraus langfristig wirkendes Orientierungswissenvermitteln kann.Die Worte Blums dokumentieren zugleich, daß bereits dentieferblickenden Beobachtern von 1848 jener europäischeWirkungszusammenhang bewußt war, in dessen Dyna-mik, Ausbruch, Verlauf, Scheitern und langfristige Folgenauch die deutsche Revolution eingebettet war. DiesesHeft schenkt jener europäischen Dimension besondereAufmerksamkeit – zu Recht; auch die neueste historischeForschung betont, wie wichtig gerade die – lange ver-nachlässigten – europäischen Perspektiven in diesem

    Zeitalter der entstehenden Nationalstaaten waren. Mit derEinigung des europäischen Kontinents seit 1989 greifenHistorikerinnen und Forscher aus Ost und West diese al-ten Fäden des Zusammenhangs verstärkt wieder auf.Es sind insgesamt acht Aspekte, welche den Ereignissenvon 1848 europäische Dimensionen zu verleihen imstandewaren. In einem knappen Überblick soll deshalb vorab skizziert werden, was das Thema Die deutsche Revolu-tion von 1848/49 und Europa alles umfaßt. Es werden die strukturellen Gemeinsamkeiten herausgestellt, welchemehrere europäische Staaten zugleich tangierten und dortrevolutionäre Kräfte begünstigten oder freisetzten.

    Die sozialökonomische KriseAls erste Gemeinsamkeit ist die sozialökonomische Kri-se vorindustrieller, handwerklicher Berufe zu nennen;sie beruhte auf der vormärzlichen Übervölkerung ganzerRegionen und begünstigte die beginnende Proletarisie-rung der Großstädte sowie weiter Teile des flachen Lan-des. Europäisch daran war der endgültige Zusammen-bruch der alten Ständeordnung, die zugleich Rechts-, Le-bens- und Sozialordnung war. Pauperismus, Industriali-sierung, Marktorientierung von Berufen und Klassen so-wie die langanhaltende Krise des Handwerks sind dieneuen Begriffe, die den tiefgreifenden Wandel der beidenvorrevolutionären Jahrzehnte fassen. Wo diese Problemein der Bewegung von 1848/49 gipfelten, äußerte sichdiese der Art nach weniger als Akt politischer Befreiung,mehr hingegen als gesellschaftliche Krise, und man kannnoch verstärken: Diese Krise orientierte sich vorwiegendnach rückwärts – als Abwehr gegenüber dem Neuen –,äußerte sich in Maschinenstürmen, Judenverfolgungenoder Forderungen nach Zunftschutz des Handwerks vorder Konkurrenz des Kapitals. Die Bewegung von 1848/49war ihrem Wesen nach zwiespältig: Abwehrkrise undEmanzipationskampf. Das Erbe verweist nicht allein aufunsere Gegenwart, sondern zugleich zurück auf den Nie-dergang einer uns fremdgewordenen vormodernen Welt.

    HungerkrisenEine zweite europäische Dimension wird faßbar in denMißernten – eine Folge der sich über Europa ausbreiten-den Kartoffelfäule – und in den nachfolgenden Hunger-und Teuerungskrisen der Jahre 1845 und 1846, gipfelnd1847. Auch die Reaktionen im Vorfeld der Revolutionnahmen europäische Dimensionen an. Sie äußerten sicheinesteils in regional zerstreuten, stoßweise sich ausbrei-tenden Hungertumulten, andernteils in einer vehementansteigenden Auswanderungswelle in der zweiten Hälf-te der 1840er Jahre, die ja den Namen der »hungryforties« erhalten haben. Hier existierte bereits lebhafterKontakt nach Übersee, bevor das politische Exil von 1849ihn verstärkte. Am schlimmsten war die Not vor der Re-volution in Irland, aber Hungersnöte in deutschen Regio-nen – nicht zuletzt in Schlesien – hatten große öffentlicheResonanz gefunden.

  • Internationale KonjunkturkriseDie neuere Forschung zur Wirtschaftsgeschichte hat einedritte Dimension stärker bewußt gemacht, nämlich diebeginnende internationale Verflechtung der Handels-und Geldströme. Besonders Hans-Ulrich Wehler in sei-ner Gesellschaftsgeschichte hat für die Jahre zwischen1845 und 1848 eine – wenn auch abgeschnittene – inter-nationale Konjunkturkrise nachgewiesen, welche dieüberkommenen Hungerkrise noch überlagerte und imApril 1848 zu einer Streikwelle in mehreren deutschenStädten führte. Viele einzelne zusammengetragene Datenbestätigen einen tiefgreifenden Vorgang, der bereits Fried-rich Engels im Rückblick zu dem – gewiß überspitzten –Urteil veranlaßte, »daß die Welthandelskrise von 1847 dieeigentliche Mutter der Februar- und Märzrevolutionen«gewesen sei.

    Kampf um Recht und VerfassungEine vierte europäische Dimension liegt in der System-verwandtheit konstitutioneller Forderungen. Dazu exi-stierten mehrere Anhaltspunkte: in der französischenCharte constitutionnelle von 1814, die Vorbild für alle ein-zelstaatlichen Verfassungen im vormärzlichen Deutsch-land wurde, ja sogar in der Deutschen Bundesakte von1815, die in ihrem berühmten Artikel 13 verhieß: »In allenBundesstaaten wird eine landständische Verfassungstattfinden«. Sprengkraft erhielt dieses Prinzip durch dieunerfüllten bürgerlichen Forderungen nach hinreichenderpolitischer Beteiligung in den Staaten der monarchisch-legitimistischen Restauration seit 1815. Überall ent-wickelten sich innere politische Kämpfe zum Kampf umeine neue Ordnung auf der Basis einer geschriebenenVerfassungsurkunde. Der revolutionäre Kampf äußertesich auf diese Weise europaweit als Kampf um Recht undVerfassung – um Bürgerrechte und Konstitution. Das warbereits in der Julirevolution von 1830 so, noch stärker ge-schah das aber in der Anlaufphase der Revolution von1848, die ihren Ausgangsimpuls ja nicht aus Frankreich,sondern aus der Schweiz und aus Italien erhielt. Stetsging es um Revision oder Erlaß einer neuen Verfassung:Nach dem Sonderbundskrieg im November 1847 konsti-tuierte sich die ehedem staatenbündlerische Schweiz alsBundesstaat mit fester Zentralgewalt und einer Bundes-hauptstadt in Bern. Die Revolution errang am 16. Februar1848 einen weiteren Sieg in Palermo, als König Ferdinand II.von Neapel-Sizilien eine Verfassung erließ. Der Zusam-menbruch der Julimonarchie in Frankreich entzündetesich am 22. Februar 1848 an Demonstrationen für dieWahlreform und veranlaßte einen Systemwechsel hin zur Republik. Im Zentrum der in Deutschland umlaufen-den sogenannten »Märzforderungen« standen verfas-sungspolitische Forderungen: Grundrechte, besondersPresse- und Versammlungsfreiheit, Geschworenenge-richte, Volksbewaffnung – was immer Unterschiedlichesman auch darunter verstand – und Wahlen zu einem na-tionalen Parlament.

    Die Krise des internationalen Systems von 1815Eine fünfte europäische Dimension liegt im Charakter dertraditionellen internationalen Politik, gestützt auf völker-rechtliche Verträge und Beziehungen. Den zeitgenössi-schen Politikern, voran Metternich, war sogleich klar, daß

    im Frühjahr 1848 zugleich das auf dem Wiener Kongreßbegründete internationale System auf dem Spiel stand.Hier handelte es sich um die Politik zwischen europäi-schen Staaten, und als ein solcher zählte auch der Deut-sche Bund, der 1815 als völkerrechtliches Subjekt ausder Taufe gehoben worden war. 1848 stand er zur Dispo-sition; schließlich übertrug er der revolutionären Proviso-rischen Zentralgewalt in Frankfurt alle Kompetenzen. DieInitiative dazu war von der Frankfurter Nationalversamm-lung ausgegangen. Ihre eigentliche Bestimmung war, eineReichsverfassung für ganz Deutschland zu entwerfen. Mitihrer ersten großen Tat griff die Nationalversammlung weitdarüber hinaus, indem sie eine nationale Regierung etab-lierte. Das war ein revolutionärer Akt. Am 28. Juni 1848begründete die Nationalversammlung eine Reichsregie-rung, bestehend aus einem Reichsverweser, einem Mini-sterpräsidenten und Reichsministern für das Äußere, In-nere, die Finanzen, Justiz, den Handel und Krieg. Damitbürdete sich die Nationalversammlung in mehrfacherHinsicht eine Hypothek auf. Sie bemühte sich gegenüberdem Ausland um völkerrechtliche Anerkennung. MitFrankreich tauschte man lediglich offiziöse Vertreter aus;dort erkannte man die neue Zentralgewalt nicht an. Dieenglische Königin Victoria und ihr deutscher PrinzgemahlAlbert hegten anfangs Sympathien für das Einigungs-werk. Diese verkehrten sich jedoch beim englischen Ka-binett ins Gegenteil, als sich die Zentralgewalt, getragenvon einer Woge der Begeisterung in der Öffentlichkeit, inden Krieg um Schleswig-Holstein einschaltete. Als einzi-ge Großmacht erkannten die Vereinigten Staaten dieReichsgewalt sofort an. Unter den kleineren Staaten folg-ten Schweden, die Niederlande, Belgien, Sardinien, Nea-pel, Griechenland und die Schweiz. In der Gesamtbewer-tung ist sich die Forschung heute einig, daß die Revoluti-on und auch das Einigungswerk nicht an einem apriori-schen Widerstand der europäischen Mächte gegen diedeutsche Einheit gescheitert seien. Wie die Rede RobertBlums bereits erkennen ließ, stieß die Revolution von1848/49 an den Rand eines möglichen großen europä-ischen Kriegs, welcher den Durchbruch des Nationalitä-tenprinzips hätte entfesseln und eine spätere Entwick-lung im 19. Jahrhundert hätte vorwegnehmen können.Die europäischen Mächte, voran England und Rußland,hatten dem entgegen gewirkt. Im Zentrum dieses Kon-flikts stand der Streit um Schleswig.

    Die Politik der europäischen VerfolgungEine repressive Variante dieser internationalen Politik wardie konzertierte Aktion der Gegenrevolution. Hier beteilig-ten sich Österreich, Rußland, seit 1850 in polizeilicher Ko-operation auch Frankreich und Belgien. Diese Politik dereuropäischen Verfolgung – und der Niederringung der eu-ropäischen Revolution – stiftete eine sechste Dimension,welche ihrem europäischen Charakter entsprach: daseuropäische Exil. Die Schweiz und das Elsaß dientenvorübergehend dem Schutz, London entwickelte sichzum zentralen Durchgangsort, die USA zum eigentlichenFluchtort. England und die Vereinigten Staaten bildetenim Vergleich zu den anderen zufluchtgewährenden Staa-ten einen Sonderfall, da sie völlige Einwanderungs- undNiederlassungsfreiheit gewährten, also praktisch ein An-recht auf Asyl. Den Revolutionsflüchtlingen von 1849

    4

  • wurde im Gegensatz zu ihren Vorgängern der 1830er Jah-re das politische Asyl auf Dauer in den westeuropäischenStaaten des Kontinents – anders als in England – weitge-hend verweigert. Allerdings erhielten die Flüchtlinge inEngland keine finanzielle Unterstützung. Fanden sie keinAuskommen, waren sie gezwungen, in die USA weiterzu-ziehen. Frankreich und die Schweiz verweigerten in derRegel dauerhaftes Asyl, finanzierten aber die Auswande-rung der Revolutionsflüchtlinge.

    Der europäische Charakter des NationalismusEine siebte Dimension hängt mit dem europäischen Cha-rakter des Nationalismus zusammen. Für viele Nationa-litäten bildete sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun-derts der Mythos der »unerlösten« Nation; dazu waren inerster Linie die Griechen, Italiener, die Ungarn, die Polen,darüber hinaus auch die Tschechen und nach dem Wortlaut mancher oppositioneller Propaganda auch dieDeutschen zu rechnen. Die Wurzeln dieses Nationalismuslagen in der Französischen Revolution von 1789, welchedas Vorbild für nationale Symbole, Farben und Fahnenstiftete. Im Vormärz entwickelte sich unter dem Systemder Restauration der weitere Mythos des »Völkerfrüh-lings«. In den 1820er Jahren äußerte er sich europaweit inder Bewegung des Philhellenismus, in den 1830er Jahrennach dem gescheiterten Warschauer Aufstand vom No-vember 1830 in der gemeineuropäischen Welle der Po-lenfreundschaft.Diese vormärzliche Utopie zerbrach an der 1848 nunplötzlich sichtbaren Möglichkeit, die Nationalität in dieStaatsnation zu überführen. Hans Rothfels hat einmaltreffend die Nationalitäten des 19. Jahrhunderts als »eineArt Nationsanwärter« bezeichnet: als ethnische Minder-heiten, die nach mehr Eigenständigkeit strebten und ihrepolitische Einheit noch suchten. Einschneidend zeigtesich das am Beispiel der deutschen Polenfreundschaft.Am 20. März 1848 waren unter dem Druck Berliner Revo-lutionäre die polnischen politischen Gefangenen auspreußischer Haft freigelassen worden. Ihr Wortführer, derOffizier Ludwig von Mieroslawski, stellte sich an die Spit-ze eines polnischen Unabhängigkeitskampfes in Posenund warb dort für eine nationalpolnische Armee mit derParole: »Laßt uns dem zaristischen Rußland im Bunde mitdem befreiten Deutschland entgegentreten«. Noch imFrankfurter Vorparlament befürworteten die versammel-ten Landtagsabgeordneten mit überwältigender Mehrheitdie Wiederherstellung Polens als Staat. Selbst daspreußische Märzministerium hatte die »nationale Reorga-nisation« Polens verheißen. Anfang Mai 1848 verleugne-ten preußische Truppen das ursprüngliche Versprechenund intervenierten in Posen. Preußische Soldaten zwan-gen die polnischen Streitkräfte zur Kapitulation und hat-ten die erste Probe im Kampf gegen Revolutionäre be-standen. Seit dem 4. Juni 1848 trennte eine Demarkati-onslinie die Provinz Posen. Die Paulskirche hat sie da-nach bestätigt. Den wortgleichen Antrag des Vorparla-ments, Polen als Staat wiederherzustellen, lehnte sie nunmit Mehrheit ab.Es gilt auf das Prinzipielle zu achten: Immer wenn es dar-um ging, über die Zugehörigkeit von Territorien zu ent-scheiden und Grenzen zu ziehen, enthüllte der moderneNationalismus seine zerstörerische, kriegsträchtige

    Sprengkraft. Es kennzeichnete die Nationalitätenkonflikteder nachfolgenden Zeit, daß jede Seite sich im Rechtfühlte und versuchte, die gesamte Nation zu mobilisieren:die Fraktion der Eiderdänen in der dänischen Ständever-sammlung, die deutsche Bevölkerung Schleswigs, diesich auf uraltes historisches Recht berief. Revolution undKrieg verbanden sich auf gefährliche Weise. Gerade dieDemokraten, die sonst das Selbstbestimmungsrecht derNationalitäten und das friedliche Miteinander der Natio-nen beschworen – eben den »Völkerfrühling« -, erkanntenin dem Krieg um Schleswig einen erneuten gewaltigenImpuls für den Fortgang der Revolution. Sie hofften aufeinen großen europäischen Befreiungskampf gegen dasZarenreich als die dominierende Macht im noch nichtvollends erschütterten System der »Reaktion«.Das Interessante an dem Vorgang ist, daß sich auch dieZeitgenossen dieser Entzauberung der Utopie vom Völ-kerfrühling bewußt wurden. Dieter Langewiesche nenntes den Weg vom Traum des Völkerfrühlings zum Alptraumder Nationalitäten und macht hierfür auf ein hervorragen-des Zeugnis aus der Hand des Peter Frank-Döfering, ei-nes Wiener Studenten aus Czernowitz, aufmerksam.Frank-Döfering registrierte die Begeisterung eines Kom-militonen über den Sieg des Generals Graf Radetzky überdie Italiener und schrieb dazu in sein Tagebuch:»Damit ist also die Gefahr aus dem Süden für unser Kaiserreichvorläufig gebannt, allein es bleibt ein seltsames Gefühl in denHerzen zurück, denn erinnert man sich an die Monate zuvor, soweiß ich von Verbrüderungen und Schwüren der ewig währendenFreundschaft. Solche Ewigkeit hatte allerdings ein kurzes Lebengehabt. Jetzt kehrt sich aber alles ins Gegenteil. Es scheint, alsob diese Szenen, welche ich selbst geschaut, ganz im Pulver-rauch des Schlachtfeldes aufgegangen wären. Ist es nicht oft so,liebes Väterchen, daß die Freiheit des einen die Unfreiheit des an-dern bewirken kann, so ist die Sache in Italien ebenso der Italie-ner Freiheit, aber auch die Bedrohung unseres deutschen Tirols.Es ist also schier zum Verzweifeln an solchen Fragen der Politikund der Philosophie. Was letztere wohlmeinend konstrurierte,kann die rauhe Politik ganz greulich verunstalten.«

    »Von der Einheit der Nation zur Zwietracht der Nationa-litäten« – auf diese Formel ließe sich das Dilemma brin-gen. Es gab aber auch Gegenpole, und auf diese ist zuachten, um nicht ein Schwarz-Weiß-Gemälde zu produ-zieren, wie es der historischen Realität nicht entspricht.Der Prager Historiker und Exponent böhmischer Autono-mie, Franz Palacky, schrieb am 17. April 1848, die kleinenNationen besäßen in dem »Völkerverein« der Donaumon-archie ihren natürlichen Schutz: »Wahrlich, existierte derösterreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müß-te im Interesse Europas, im Interesse der Humanitätselbst sich beeilen, ihn zu schaffen.« Es zeigt die ganzeParadoxie der Situation: Nichtdeutsche Nationalitäten,die später den Bestand der Habsburgermonarchiesprengten, erwiesen sich 1848 noch als deren Stütze,nicht nur die Tschechen und Slowaken, auch die Kroaten;aus ihnen rekrutierten sich die Truppen, welche die Wie-ner Oktoberrevolution im Herbst 1848 erfolgreich nieder-zuschlagen halfen. Der europäische, übernationale Cha-rakter Österreichs wurde gewissermaßen als Präfigurati-on eines Völkerbundes begriffen. Nichtdeutsche Minder-heiten waren bestrebt, sich von dem ursprünglichenStaatsverband, dem Deutschen Bund, loszusagen, umihre nationale Eigenständigkeit bewahren zu können.

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  • Wenn auch die Woge der nationalen Leidenschaftenhochging in der Frankfurter Nationalversammlung, fandman doch zu einem vorbildlichen zukunftsweisenden Be-schluß in der Nationalitätenfrage im Innern. Der auf denVerfassungsstaat bezogene Nationalismus von 1848/49bot den Schutz nationaler Minderheiten bei Achtung ihrerheimischen Sprachen und Religiosität. Das hatte dieReichsverfassung von 1849 als Grundrecht in ihrem Para-graphen 188 zugesichert. Ähnlich gelang der Ausgleichim Entwurf, den der Verfassungsausschuß des WienerReichstages für den Vielvölkerstaat der Habsburgermon-archie vorlegte. Beide Verfassungen traten in dieser Formnicht ins Leben, wiesen aber doch den Weg eines friedli-chen Miteinanders verschiedener Nationalitäten in einemgeeinten Staat. Im revolutionären Kampf offenbarte sichdie Verbundenheit des ursprünglichen Völkerfrühlingsnoch einmal im Sommer 1849 in der badischen Revoluti-on, als sich im Großherzogtum und in der Pfalz Revolu-tionäre aus vielen Nationalitäten zum gemeinsamen Ab-wehrkampf zusammenfanden.

    Der »pazifistische Internationalismus«Eine letzte – achte – europäische Dimension ist erst injüngster Zeit richtig wahrgenommen worden. Es ist der»pazifistische Internationalismus« (Dieter Langewiesche).Im September 1848 fand in Brüssel ein erster internatio-naler Friedenskongreß statt, im August 1849 tagte man in Paris und ein Jahr später in der Paulskirche. Die Kongresse forderten die Staaten auf, abzurüsten, die ste-henden Heere abzuschaffen, auf Interventionen zu ver-zichten und keine Kriege dritter Mächte zu finanzieren.Die in diesem Heft angebotene Auswahl an »Bausteinen«kann nicht alle europäischen Aspekte der deutschen Re-volution von 1848/49 berücksichtigen, aber sie bringtdoch wichtige in Quellen und Kommentar zur Sprache.Sie stellen handelnde Menschen in den Mittelpunkt: Lud-wig Mieroslawski, Robert Blum, Georg und Emma Her-wegh, Louise Otto, namenlose Frauen und Exilanten, denPrinzen Wilhelm von Preußen und viele andere. Sie spie-geln etwas von der Dynamik der Revolutionäre und ihrerWidersacher wider; sie dokumentieren die hochfliegen-den Hoffnungen und Visionen, aber auch die harte Rea-lität der politischen und militärischen Gewalten. Der »Völ-kerfrühling« und die Methoden der alten Gewalten, dieSprengkraft der Habsburgermonarchie, ihrer Generäleund Nationalitäten, die Utopie der »Volksbewaffnung«durch Milizen, die Forderung nach rechtlicher und politi-scher Mündigkeit der Frauen in Frankreich wie inDeutschland, das Fortwirken der Revolution – ungeachtetihres gewaltsamen Endes – in der demokratischen Tradi-tion der Vereinigten Staaten, die schwierige Balancepoli-tik einer Reichseinigung, welche das Völkerrecht zu ach-ten bestrebt war – alle diese Mosaiksteine fügen sich zu-sammen zu einem Kaleidoskop, das einlädt, die Revoluti-on in ihrer Komplexität zu betrachten und etwas mehr vondem zu verstehen, was sie heute ist: Sie ist Teil eines ge-meinsamen europäischen Erbes, dessen sich in diesenTagen unsere europäischen Nachbarn in Dänemark, Po-len, Tschechien, Ungarn, Österreich, der Schweiz, Frank-reich und England – je auf ihre Weise – gleichfalls erin-nern.

    Wolfram Siemann

    I. Polenbegeisterungin Deutschland 1848/49?

    1. Erläuterungen

    Deutsche und Polen gerieten 1848 wegen der Zukunft Po-sens, einer preußischen Provinz mit überwiegend polni-scher Bevölkerung, in einen sich zunehmend verschärfen-den Konflikt. Auf beiden Seiten loderte der Nationalismusheftig auf und bewog die Mehrzahl der deutschen Parla-mentarier dazu, ihr Versprechen, ein national unabhängi-ges Polen zu schaffen, zu brechen. Die internationalisti-sche Polenbegeisterung – im März noch von beiden Sei-ten in der Tradition des Völkerfrühlings beschworen – wicheiner Ernüchterung. Dies kam in Preußen den konservati-ven Kräften zupaß.Die Ausgestaltung der Paulskirche im Frühjahr 1848 solltedie Macht des zu schaffenden einigen Deutschlands sym-bolisch ausdrücken. Hinter dem Präsidentenplatz hing vorrotem Samtvorhang der schwarze deutsche Doppeladlermit roten Zungen auf goldenem Grund. Darüber war alsBekrönung das 1848 von Philipp Veit innerhalb wenigerTage neu geschaffene, mehr als vier Meter hohe Monu-mentalgemälde angebracht, auf dem Germania darge-stellt war, die Allegorie des zu schaffenden geeintenDeutschlands (vgl. Abbildung Titelseite). Mit Doppeladlerals Brustschild und Eichenkranz im Haar sollte sie zu-gleich Macht, Kampfbereitschaft und nationale Ehre ver-körpern. Das Schwert in ihrer Rechten ist von Lorbeer um-wunden. Zu ihren Füßen liegen zersprengte Fesseln, einHinweis darauf, daß die neue Freiheit durch die Revolutionerkämpft worden ist. Das Morgenrot erleuchtet den Hin-tergrund und symbolisiert den von Nationalgefühl getra-genen Neubeginn.Im März 1848 hielten deutsche und polnische Revolu-tionäre die Verwirklichung des deutschen Nationalstaats

    (linker Vierzeiler) noch für vereinbar mit dem Gedan-ken des Völkerfrühlings bzw. Internationalismus (rechter Vierzeiler) und damit der Schaffung eines polni-schen Nationalstaats . Vorparlament und Nationalver-sammlung in Frankfurt bekannten sich zu beiden Zielen

    , . Im Sommer 1848 dagegen, nachdem diedeutsche Minderheit in Posen ihre Zugehörigkeit zuDeutschland gefordert hatte und im April und Mai 1848 einpolnischer Aufstand von Preußen militärisch unterdrücktworden war , beschloß die Mehrheit der National-versammlung, die Mandate der im Mai 1848 in Posen ge-wählten Abgeordneten anzuerkennen und Posen, abgese-hen von dem kleinen für polnische Autonomie vorgesehe-nen Bezirk im Raum Gnesen, als Bestandteil Deutsch-lands zu akzeptieren . Damit sanktionierte sie die Tei-lung Posens.Der März 1848 steht noch im Zeichen des vormärzlichenVölkerfrühlings . Der König von Preußen muß am 20.März die eben aus dem Moabiter Gefängnis befreiten pol-nischen Patrioten vom Balkon des Berliner Stadtschlos-ses aus begrüßen . Sie waren wegen des Aufstandesvon 1846 zu langen Haftstrafen verurteilt und wurden nunim Triumphzug durch Berlin geführt. Ihr Anführer LudwigMieroslawski (vgl. II.) beschwor voller Pathos die Solida-

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  • rität des deutschen und polnischen Volkes gegen die Für-sten und einen revolutionären Krieg gegen Rußland zurBefreiung Russisch-Polens . Die Konservativen wa-ren über die Verbrüderung Berliner Revolutionäre mit denPolen empört . Indessen ließ das Vorparlament dieentscheidende Frage, wie Deutschlands Grenzen gegenü-ber Polen zu ziehen sind, offen, obwohl es Polens Rechtauf einen eigenen Nationalstaat anerkannte . SeitApril 1848 wurde auf deutscher Seite immer nach-haltiger gefordert, immer größere Teile Posens abzutren-nen und zu Deutschland zu schlagen. Auch wurde immerdeutlicher: keine der europäischen Großmächte mochteeinen Krieg gegen Rußland zur Befreiung von Russisch-Polen unterstützen . Rußland sah im Erhalt dieserpolnischen Gebiete ein nationales Anliegen.Die Polendebatte der Deutschen Nationalversammlungvom 24. bis 27. Juli 1848 zeigt, daß nur noch eineMinderheit internationalistisch für die Rechte der Polenauf einen eigenen Staat eintrat, während die Mehrheit Po-sen für den deutschen Nationalstaat beanspruchte. Jor-dans Rede wurde kontroversaufgenommen und erregte er-hebliches Aufsehen. Die Mehr-heit der Abgeordneten emp-fand sie als patriotisch und zu-gleich pragmatisch. Die Linkendagegen sahen in ihr opportu-nistischen Verrat am Gedan-ken des Völkerfrühlings. Indemsie die Aufteilung Posens aner-kannte, setzte sich die Mehr-heit der Nationalversammlungin offenen Widerspruch zumBeschluß des Vorparlamentsüber Polen und koope-rierte mit der preußischen Re-gierung. Kein führender Polewollte sich fortan an der Ver-waltung des für eine polnischeAutonomie übrig gelassenenFürstentums Gnesen beteili-gen.Die gemäßigte bzw. äußersteLinke (Robert Blum bzw. Ar-nold Ruge) war in der Paulskirche mit ihrem Eintreten füreinen polnischen Nationalstaat eine kleine Minderheit.Ruge verlangte in der Polendebatte einen europäischenKongreß, um Polen wiederherzustellen. Er trat auch sonstkonsequent für die Rechte der Nachbarvölker ein, was ihnzur Zielscheibe der politischen Karikatur machte.

    Überlegungen zu den Materialien:

    1) In welchem Verhältnis stehen internationalistische Be-kundungen der Völkerfreundschaft , , ,

    zur tatsächlichen historischen Entwicklung? ,,

    2) Warum fand ein Revolutionskrieg gegen Rußland nichtstatt? , , ,

    2. Materialien

    1848/49 waren in der Paulskirche hoch über demPräsidentenplatz zu beiden Seiten des monumentalenGermania-Gemäldes von Philipp Veit (vgl. Titelbild) gutlesbar zwei Vierzeiler angebracht:

    Linke Seite: »DES VATERLAND’S GRÖSSEDES VATERLAND’S GLÜCK,O SCHAFFT SIE, O BRINGT SIEDEM VOLKE ZURÜCK!«

    Rechte Seite: »O WALLE HIN, DU OPFERBRAND,HIN ÜBER LAND UND MEER!UND SCHLING EIN EINZIG LIEBESBANDUM ALLE VÖLKER HER!«

    Historisches Museum Frankfurt a. M.

    Triumphmarsch der Polen vor dem Berliner Königlichen Schloß nach ihrer Befreiung, 20. März 1848

    »O nehmt uns auf, ihr Völker des Westens in Eu-ren Bund!« – Ludwig Mieroslawski: Ansprache andas Berliner Volk nach seiner Befreiung aus demGefängnis, 20. März 1848:

    Plötzlich hielten die Wagen der befreiten Polen,Mieroslawski erhob sich und sprach, die schwarz-rot-gol-dene Fahne schwingend, die begeisterten Worte1: »Nichtdu, edles deutsches Volk, hast meinem unglücklichen Vaterlande Fesseln geschmiedet; deine Fürsten haben esgetan; sie haben mit der Teilung Polens ewige Schmachauf sich geladen.

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    1 Nach dem Bericht von A. Wolff in seiner »Berliner Revolutionschronik«sprach Mieroslawski französisch, Wolff zitiert aus der Rede den Satz:»Das polnische Banner wird nun in Eintracht neben dem deutschenwehen.«

    Museum Narodowe, Poznań/Posen

  • Und wie es jüngst noch für Euch und uns als Verbrechengalt, nach des Vaterlandes Freiheit zu ringen, und wie sieuns darob, draußen im Kerker, in eiserne Bande schlugen,so warst du es, hochherziges Volk, dessen Blut in diesenTagen der Befreiung auch für unsere Freiheit floß. Wir dan-ken Euch! Eure Freiheit ist unsere Freiheit, und unsereFreiheit ist die Eure! Herr sein oder Sklave sein, eins wiedas andere läuft gegen die heiligen Gesetze der Natur. Nurfreie Menschen, nur freie Völker können sich achten. Onehmet uns auf, ihr Völker des Westens in Euren Bund,dessen Kreis sich von Stunde zu Stunde mit Riesenschrit-ten erweitert! Freie Völker, wollt ihr gewiß nur freie Gliederder großen Einigung. Freie Völker nur sollen sitzen am hei-ligen Bundes-Nachtmahl vor dem blutigen Morgen der of-fenen Feldschlacht gegen die Barbarenhorden im Osten.Bewahrt, Brüder, die teuern mit tausend Leichen undnoch offenen, blutenden Wunden erkauften Güter derHeimat! O helft sie uns in der eigenen Heimat erobern! Ohelft, daß zwischen den drei schwarzen Adlern2, die unse-re Eingeweide zerfleischen, die unser Herzblut versprit-zen, der weiße Adler unserer Freiheit sich erhebe!3 Jadeutsches Volk, wenn du willst, dann ist Polen noch nichtverloren4, und wir, Polens Jünglinge, Männer und Greise,wir werden nach unsern Kräften streiten und bluten fürdie höchsten Güter! Schaut auf die in Eurer Mitte gefalle-nen Opfer, denkt an Euern Sieg! – Aller Segen ist von derVölkerknechtung gewichen; fortan gib uns wieder den ei-genen Herd, laß den Sonnenschein deiner Gnade hernie-derfallen auf ein einiges, freies, polnisches Vaterland!«

    Flugschrift »Die Öffnung des Polen-Kerkers in den blutigen Tagenin Berlin«, 1848, zit. nach Deutsche und Polen, S. 173f. HaraldBoldt Verlag, Boppard am Rhein

    Otto von Bismarck, März 1848:

    Die Befreiung der wegen Landesverrats verurteilten Polenist eine der Errungenschaften des Berliner Märzkampfes[...] Die Berliner haben die Polen mit ihrem Blut befreit [...]Ich hätte es erklärlich gefunden, wenn der erste Auf-schwung deutscher Kraft und Einheit sich damit Luft ge-macht hätte, Frankreich das Elsaß abzufordern und diedeutsche Fahne auf den Dom zu Straßburg zu pflanzen.

    Manuskript zur Polenbegeisterung, zit. nach: Deutsches Histori-sches Museum: Bismarck – Preussen, Deutschland und Europa.Nicolai, Berlin 1990, S. 160

    Auf Antrag von Gustav Struve aus Mannheim be-schließt das Vorparlament in Frankfurt am 31.März 1848 fast einhellig,

    »daß es die heilige Pflicht des deutschen Volkes sei, Polenwiederherzustellen, indem die Teilung Polens als einschreiendes Unrecht erklärt werde«.

    Verhandlungen des deutschen Parlaments, 1. Lieferung 1848, S. 31–35, zit. n. Deutsche und Polen in der Revolution von1848/49. Dokumente aus deutschen und polnischen Archiven,hrsg. für das Bundesarchiv von Hans Booms, Boldt Verlag, Bop-pard am Rhein, S. 233

    Infotext: Die preußische Provinz Posen vor 1848:

    1815 war das rund 29000 km2 große Großherzogtum Po-sen an Preußen gefallen. 1848 war es als Kornkammereine wirtschaftlich rückständige, landwirtschaftlich undhandwerklich geprägte Provinz. 1848 lebten von den 1,35Millionen Einwohnern drei Viertel auf dem Lande. GrößteStadt war Posen mit 44000 Einwohnern. In der ganzenProvinz gab es etwa 60% Polen (Katholiken), 34% Deut-sche (meist Protestanten) und 6% Juden, die überwie-gend in der Stadt lebten. Die Deutschen hatten regionaleine relative Mehrheit in den vier westlichen Kreisen desPosener und in den vier nördlichen des Bromberger Re-gierungsbezirks. Die zentralen und an der Ostgrenze gele-genen Kreise dagegen bewohnten wenige Deutsche. DieDeutschen stellten rund 40% der Stadtbevölkerung. Wirt-schaftlich waren die Deutschen, die in den nichtagrari-schen Berufen dominierten, in der Regel besser gestelltals die Polen. Unter deutschen Bauern gab es kaum Be-sitzlose, die meisten waren reiche oder mittlere Bauern.Der polnische Novemberaufstand von 1830 gegen Ruß-land erfaßte Posen nicht. Dennoch betrieb Preußen fortaneine antipolnische Unterdrückungspolitik. Unter FriedrichWilhelm IV. (seit 1840) wurde sie gemildert. Den für 1846geplanten Aufstand verhinderte Preußen durch Verhaftun-gen und Verhängung des Kriegszustandes. Die Unzufrie-denheit der Polen verschärfte sich durch Verurteilungenvon Aufständischen, Zensur und Auflösung von Klubs undKasinos. Hinzu kam die Mißernte von 1846, die vor derErntezeit des Jahres 1847 Hungerrevolten verursachte,bei denen sich nationale Probleme mit sozialen Spannun-gen mischten.

    Nach Krzystof Makowski: Das Großherzogtum Posen im Revoluti-onsjahr 1848. In: Rudolf Jaworski/Robert Luft (Hrsg.): 1848/49 –Revolutionen in Ostmitteleuropa. Oldenbourg, München 1996, S. 149–172

    Infotext: Posen in der Revolution 1848:

    Während die Polen im März 1848 auf volle nationaleSelbständigkeit drangen und darin von Frankreich, aberauch vom neuen preußischen Außenminister unterstütztwurden, betrieb der preußische König am 18. März 1848die »Einverleibung« der nicht zum Deutschen Bundgehörenden Provinzen Preußens, und damit auch vonWestpreußen und Posen, in den künftigen deutschen Bun-desstaat. Der Formelkompromiß von der »National-Reor-ganisation«, den König Friedrich Wilhelm IV. Am 24. Märzgenehmigte, überdeckte vorläufig die Gegensätze. Polni-sche Patrioten wie Mieroslawski (Kapitel II) verstanden dar-unter die Bildung eines unabhängigen Großherzogtums»unter dem bloßen Schutze Preußens«. In vielen Gegendenhandelte die polnische Bevölkerung spontan, entfernte diepreußischen Adler, verjagte Landräte, übernahm die Kas-sen, bildete militärische Einheiten und organisierte die ein-berufenen Bewohner in einer Nationalgarde. Um Freiwilligezu gewinnen, erklärte das Nationalkomitee (d. h. die natio-nale Vertretung der Polen in Posen) am 24. März die Auf-hebung aller Standesunterschiede und versprach, dienoch bestehenden Lasten der Bauern zu vermindern. An-fang April änderte sich die politische Lage in Berlin. Der

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    2 Die Wappentiere der drei Teilungsmächte Polens (Rußland, Österreichund Preußen)

    3 Das Wappentier Polens4 Zitat aus der polnischen Nationalhymne

  • König und seine Berater setzten sich mit ihrem Gegenkurszur polenfreundlichen Haltung der Regierung durch. Am14. April wurde die Teilung der Provinz angekündigt, weildie deutschen Einwohner es aus »nationalen« Gründenverlangt hatten. Die zugesagte nationale Reorganisationbeschränkte sich nun auf den »polnischen« Anteil der Pro-vinz, der in der Folgezeit immer wieder verkleinert wurde,indem er immer weiter nach Osten verschoben wurde, bisam Ende nur noch für wenige Landkreise im Raum GnesenAutonomie für die Polen versprochen wurde.Der König von Preußen suchte die Entwicklung wiederzurückzudrehen, indem er – ohne Wissen seiner Minister –den Truppen befahl, die polnischen Heerlager aufzulösenund die alte Ordnung wiederherzustellen. Je unwahr-scheinlicher ein Krieg Preußens gegen Rußland wurde,desto stärker traten die nationalen Spannungen zwischenPolen und Deutschen hervor.Da die Polen auf ihre nationale Unabhängigkeit und aufihren Plan, von Posen aus Russisch-Polen militärisch an-zugreifen, nicht verzichten wollten, kam es zu bewaffnetenKonflikten. Die aufständischen Truppen unter Mieroslaws-ki umfaßten 9000 Mann und waren fast nur mit Sensen be-waffnet . Sie hatten gegen die preußische Über-macht keine Chance und mußten nach wenigen Gefech-ten am 9. Mai 1848 kapitulieren. Das Nationalkomitee hat-te sich schon am 30. April aufgelöst.Die Deutschen in Posen traten im März noch für Verbrü-derung mit den Polen ein. Der von Deutschen majorisiertePosener Stadtrat plädierte sogar für eine Ausgliederungdes Großherzogtums aus der preußischen Monarchie. Alsdie Polen jedoch keine Deutschen in ihr Nationalkomiteeaufnahmen, entzweiten sich die beiden Bevölkerungs-gruppen am 27. März endgültig. Vielerorts gründeten dieDeutschen eigene nationale Komitees, vor allem in denGebieten, in denen sie in der Überzahl waren. Anfang Aprilkam es vielfach zu blutigen Zusammenstößen mit den Po-len. Nur einige wenige Deutsche traten den polnischenEinheiten bei, weit mehr Deutsche unterstützten diepreußischen Truppen in sogenannten Freischaren.

    Nach Krzystof Makowski, Großherzogtum Posen, S. 149–172;Heinz Boberach: Die Posener Frage in der deutschen und preußi-schen Politik 1848–1849. In: Deutsche und Polen in der Revoluti-on von 1848/49, S. 17–57

    »Nie und nimmermehr, bei Gott, werde ich den De-gen gegen Rußland ziehen.«

    Friedrich Wilhelm IV. am 23. März 1848 gegenüber Heinrich vonGagern, der ihn aufgefordert hatte, Polen zu befreien

    Auszüge aus der Debatte der Deutschen National-versammlung in Frankfurt über die Provinz Posen24./25. Juli 1848(Die Mandate der im Mai 1848 in der preußischen Provinz Posengewählten Abgeordneten wurden in der Deutschen Nationalver-sammlung am Ende der Debatte mehrheitlich anerkannt, obwohldie Polen die Wahl boykottiert hatten, indem sie nur einen einzi-gen polnischen Abgeordneten nach Frankfurt wählten. Mit 342:31Stimmen billigte die Nationalversammlung die Teilung Posens).

    Arnold Ruge (Donnersberg): [...] Die Polen sind das Ele-ment der Freiheit, das in das Slawenthum geworfen wur-de. [...] im Namen der Humanität und der Gerechtigkeitverlange ich, daß Polen wieder hergestellt werde und daßwir das Vorparlament nicht Lügen strafen, welches erklärthat, die Theilung Polens sei ein schmachvolles Unrecht.Die Wiederherstellung Polens müssen wir anbahnen. [...]An der Ehre Deutschlands ist es, daß Deutschland dieFreiheit nach Osten propagiere und nicht an der Grenzevon Rußland und Polen damit stehen bleibe. An unsererEhre ist es, daß wir aufhören, Unterdrücker zu sein, daßwir Freunde aller befreiten Völker werden, daß wir die Ita-liener befreien und ihre Freunde werden und daß wir diePolen befreien und ihre Freunde werden. [...]Wilhelm Jordan (Deutscher Hof): [...] Soll eine halbe Milli-on Deutscher unter deutscher Regierung, unter deutschenBeamten leben und zum großen deutschen Vaterlandegehören, oder sollen sie sich in der secundären Rolle na-turalisirter Ausländer in die Unterthänigkeit einer anderenNationalität, die nicht soviel humanen Inhalt hat, als dasDeutschthum, begeben und hinausgestoßen werden indie Fremde? – Wer die letztere Frage mit ja beantwortet;wer da sagt, wir sollen diese deutschen Bewohner Posensden Polen hingeben und unter polnische Regierung stel-len, den halte ich mindestens für einen unbewußten Volks-verräther. (Bravo!) [...]Polen bloß deßwegen herstellen zu wollen, weil sein Unter-gang uns mit gerechter Trauer erfüllt, das nenne ich eine

    schwachsinnige Sentimenta-lität. (Bravo von der Rechten,Zischen von der Linken) [...]Unser Recht ist kein anderesals das Recht des Stärkeren,das Recht der Eroberung. [...](Jordan wechselte später zurrechten Fraktion Landsberg)

    Stenographischer Bericht überdie Verhandlungen der deut-schen constituirenden Ver-sammlung zu Frankfurt am Main,Bd. 2, S. 1184 ff., 1200

    Gefecht zwischen pol-nischen bewaffneten Forma-tionen und preußischem Mi-litär bei Rogalin, 8. Mai 1848

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    Dietz Verlag Bildarchiv, Berlin

  • 1. Erläuterungen

    Warum entfachte Ludwig Mieroslawski in seinem Lebennicht nur in Polen mehrere Aufstände, sondern nahmauch an anderen Aufständen anderswo in Europa teil? Inwelcher Weise war das Gelingen einer europäischen Re-volution Voraussetzung für die Schaffung eines unabhän-gigen polnischen Nationalstaates?

    Der Oberbefehlshaber des badischen Aufstandes von1849 konnte kein Deutsch. Seine Ansprachen, Flugblätterund Befehle mußten vom Französischen ins Deutscheübersetzt werden , . Französisch war seineMuttersprache. Dennoch fühlte sich Ludwig Mieroslawskistets als Pole. Indessen hielt er sich nur wenige Jahre sei-nes Lebens in Polen auf. Die meiste Zeit verbrachte er inFrankreich. Von dort aus brach er viele Male auf, um dort-hin zu eilen, wohin ihn gerade Revolutionäre gerufen hat-ten, nicht nur nach Polen, sondern einmal nach Badenund zweimal nach Italien . Zweimal saß er in preußi-scher Haft. Das erste Mal befreiten ihn Berliner Revolu-tionäre, die von der Utopie des »Völkerfrühlings« begei-stert waren (s. o. I: ), das zweite Mal bewirkte die In-tervention der französischen Revolutionsregierung dieFreilassung. Seine natürlich französisch vorgetrageneRede, die er am 20. März 1848 vor Berliner Revolu-tionären und mitbefreiten polnischen Patrioten gehaltenhat, ist nicht im genauen Wortlaut überliefert (s.o. Kap. I:

    ). Wie seine Aufrufe während des badischen Aufstan-des im Juni 1849 , war sie pathosgeladen.Während des Triumphzuges durch die Straßen Berlins am 20. März 1848 schien es so, als könnte er – die siegrei-chen Berliner Revolutionäre im Rücken – dem König von Preußen ein freies, unabhängiges Polen abtrotzen(s.o. Kap. I).

    Ludwig Mieroslawski baute auf die Revolution nach derDevise, daß Polens Sache die Sache der Revolution ist,weil Polen nur durch Revolution, d.h. durch den Sturz derMacht des preußischen monarchischen Militarismus unddes despotischen Zarismus seine nationale Unabhängig-keit erlangen konnte. Um dieses Ziel zu erreichen, dem erEnde März 1848 sehr nahegekommen zu sein schien,schloß er sich Erhebungen von entschiedenen Republi-kanern und radikalen Demokraten in Deutschland undItalien an und hoffte dabei auf ein internationalesZusammenwirken der republikanischen Kräfte gegen dieGegenrevolution.

    Angesichts der Übermacht der Gegenrevolution im Früh-jahr 1849 erschienen die Hoffnungen der Republikanerauf ein Wiedererstarken der europäischen Revolution imNachhinein als Wunschdenken. Dennoch haben solcheHoffnungen viele, die im Badischen Aufstand gekämpfthaben, beflügelt. Mieroslawski dagegen wußte von vorn-herein, daß er 1849 in Baden auf verlorenem Postenkämpfte. Er machte dafür Unterlassungen der für seinDenken zu gemäßigten demokratischen Politiker verant-wortlich . Wegen der Fremdherrschaft von Russen,Preußen und Österreichern in seiner polnischen Heimatsah er sich allerdings offenbar dazu verpflichtet, jedeauch noch so kleine Chance für die Sache der europäi-schen Revolution zu nutzen.

    Das Einheits- und Freiheitsstreben der Deutschen unter-schied sich im 19. Jahrhundert von dem der Polen:Deutschland hatte zwar wie Polen noch keine nationaleEinheit erreicht, war aber doch frei von Fremdherrschaft.Auf diesem Hintergrund ist es zu verstehen, daß inDeutschland anders als in Polen der Wille zum bewaffne-ten Aufstand durch die Niederlage der Revolution von1848/1849 entscheidend geschwächt wurde.

    Überlegungen zu den Materialien:

    1) Warum wird ein Pole militärischer Oberbefehlshaber inBaden? ,

    2) Mit welchen Argumenten sucht Mieroslawski aktiveUnterstützung für den Badischen Aufstand zu gewin-nen?

    3) Wie wirkt Mieroslawski (in der Mitte mit gezogenemHut) im Vergleich zu den anderen Personen? ,

    . Woran sind die Mitglieder der Mannheimer Volks-wehr als Freischärler zu erkennen?

    4) Welche Motive dürfte Mieroslawski für seine Appellekurz vor Zerstörung der Murgfront bei Rastatt gehabthaben? , . Wie dürften die Badener auf denAufruf reagiert haben?

    5) Wie wendet sich Mieroslawski an seine Truppen? Wel-che Probleme hat er dabei? , , ,

    6) Warum wird Mieroslawski in Deutschland eher ge-gensätzlich, in Polen dagegen einhellig positiv beur-teilt? , , , M 9M 8M 5M 1

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    II. »Wo die Revolution ist, da ist des Polen Vaterland.«Ein polnischer Oberbefehlshaber 1849 in Baden:

    Ludwig Mieroslawski

  • 2. Materialien

    Kampf für die Befreiung Europas: AleksanderZurkowski, im Badischen Aufstand Hauptmann undAdjutant Mieroslawskis:

    Wo die Revolution ist, da ist des Polen Vaterland.Diese Revolution ist nicht nur badisch, sie ist nicht nurdeutsch, sondern auch europäisch ... Sie ist weder dieTochter, noch die Erbin, noch die Beschützerin des Frank-furter Reichstages, sondern seine Antithese ... Es sind ein-fach zwei Gegensätze.Alle unsere Gedanken hatten sich auf den Punkt konzen-triert, die Preußen zu schlagen. Wir hatten nicht nur einealte Rechnung miteinander abzumachen, sondern erblick-ten in ihnen die Vasallen von Rußland, die bis an den Rheinvorgeschobenen Posten des Zaren. Bei dem ersten Zu-sammentreffen stößt Mieroslawski auf denselben [preußi-schen] General Hirschfeld, den er das Jahr vorher bei Wre-schen im Großherzogtum Posen geschlagen hat.Hier galt es den Kampf nicht nur für die gemeinschaftli-che Sache, sondern auch gegen den gemeinschaftlichenFeind; denn Deutschlands Unterdrücker sind auch dieUnterdrücker Polens: sie unterjochen das eine durch dasandere. Überdies haben die Polen die ungeheuere Sym-pathie Deutschlands für ihre Sache im Jahre 1830/31noch nicht vergessen. Noch vor kaum einem Jahr hat dasVorparlament aus freiem Antrieb die WiederherstellungPolens beschlossen.

    Aleksander Zurkowski, 1849, zit. nach Krapp, Mieroslawski, in:ZGO 123 (1975), hrsg. von der Kommission für geschichtliche Lan-deskunde in Baden-Württemberg. Kohlhammer, Stuttgart, S. 228

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    Mieroslawskiin Mannheimzusammen mitZivilkommissarTrützschler zuPferd vor derangetretenenMannheimerVolkswehr,Juni 1849.

    Mannheim,Städt.

    Reiss-Museum

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    Aufruf MieroslawskisM 2

    »Soldaten! Wehrmänner!« Hans Blum: Die deutsche Revo-lution 1848–49. Florenz und Leipzig 1898, FaksimilebeilageAus: Franz X. Vollmer, Der Traum von der Freiheit. 1983, S. 357, Abb. 302; © Theiss Verlag, Stuttgart

  • Porträt: Ludwig Mieroslawski

    Wehrgeschichtliches Museum Rastatt

    Biographie

    Ludwig Mieroslawski (1814–1878) wurde als Sohn einesemigrierten polnischen Offiziers und einer Französin in Ne-mours/Frankreich geboren und lebte seit 1820 in Polen.Bereits 1830 nahm er als 16jähriger Fähnrich an der polni-schen Erhebung gegen Rußland teil und emigrierte 1831nach Frankreich. Die gut einmonatige Reise durchDeutschland mit anderen polnischen Soldaten und Offizie-ren entwickelte sich zum Triumphzug. (1842 wurde Miero-slawski zum Mitglied der Zentralbehörde der polnischenEmigranten in Paris gewählt.) Nach dem durch Verrat ge-scheiterten Aufstandsversuch im zu Preußen gehörendenPosen von 1846 wurde er als dessen Organisator in Berlinzum Tod verurteilt, jedoch zu lebenslänglicher Gefängnis-strafe begnadigt, durch die Märzrevolution 1848 aber vonBerliner Demokraten aus dem Gefängnis Berlin-Moabit be-freit und begeistert gefeiert. In Posen bildete er daraufhineine polnische Freischar und begann sofort einen Aufstandzu organisieren (vgl. I: ). Trotz zweier siegreicher Ge-fechte scheiterte der Aufstand. Mieroslawski geriet im Mai1848 erneut in preußische Haft, wurde aber auf Interventi-on des revolutionären Frankreichs am 27. Juli 1848 begna-digt und nach Frankreich ausgewiesen. Von Paris aus rei-ste er Anfang 1849 nach Sizilien. Dort übernahm er den mi-litärischen Oberbefehl über die Aufständischen. Er bliebaber ohne Erfolg und zog sich im Kampf eine Verwundungzu. Um sie auszuheilen, kehrte er am 24. Mai 1849 nachParis zurück. Bereits am 9. Juni 1849 übernahm er in Ba-den den militärischen Oberbefehl und wurde zum direkten

    Gegenspieler des Prinzen Wilhelm von Preußen (vgl. V.).Nach dem Zusammenbruch der Murgfront bei Rastatt leg-te er am 1. Juli 1849 den Oberbefehl nieder. Danach lebteer zunächst drei Monate in der Schweiz, dann in Paris alsPrivatlehrer. 1861 erhielt er von Guiseppe Garibaldi denBefehl über die internationale Legion in Italien, 1861–1862war er Kommandeur der polnischen Militärschule in Ge-nua. 1863 wurde er im polnischen Aufstand gegen Rußlandzum Diktator berufen, mußte aber über Krakau fliehen undkehrte nach Paris zurück. In den letzten Lebensjahren blieber ohne Einfluß. Er starb verarmt. Mieroslawski, der dieAufstände, an denen er teilgenommen hatte, nach ihrerNiederwerfung stets in einer Veröffentlichung analysierte,galt als ein Anhänger des permanenten Aufstandes undtrotz seiner Niederlagen als »polnischer Napoleon«.

    Autorentext nach: Deutsches Historisches Museum: Bismarck –Preussen, Deutschland und Europa. Nicolai, Berlin 1990, S. 184:Nr. 3b/79; Meyers Konversations-Lexikon Bd. 11, Leipzig 1890, 4. Aufl.; Deutsche und Polen, S. 669f.; Krapp, Mieroslawski, S. 227–241

    Militärpolitische Entscheidungen im Frühjahr1849

    Am badisch-pfälzischen Aufstand beteiligten sich unge-fähr 200 Polen in der sogenannten polnisch-deutschenLegion. Noch von Paris aus forderte Mieroslawski eineAusweitung der Erhebung auf Württemberg. Sein Plan ei-nes militärischen Vorstoßes nach Württemberg setztesich allerdings nicht durch. In seinen nachträglichen Auf-zeichnungen rügte Mieroslawski diese Unterlassung derbadischen Revolutionsregierung, denn nach seiner Mei-nung bedeutete Zögern den Tod der Revolution. An Stel-le dessen wurde seinerzeit ein militärischer Vorstoß nachHessen Richtung Frankfurt unternommen, der jedochscheiterte. Außerdem war die Auffassung verbreitet,Württemberg könne die Revolution selbsttätig gegen sei-nen energischen König durchsetzen.

    Autorentext nach: Krapp, Mieroslawski, S. 235f.

    Kämpfe auf verlorenem Posten

    Ludwig Mieroslawski urteilt nachträglich:

    Ich kam, um für die badische Revolution eine heroischeLeichenfeier zu leiten; einer in ihrem politischen Prologverderbten Revolution kann man durch strategische Maß-nahmen nicht mehr aufhelfen.

    Zit. n. Michael Kunze: Der Freiheit eine Gasse. Traum und Lebeneines deutschen Revolutionärs. Kindler, München 1990, S. 696

    Bevollmächtigter bei der Neckararmee, HeinrichHoff, an die provisorische Regierung Badens, Lagebei der Neckararmee, Heidelberg, 8. Juni 1849:

    [...]Wie es heißt, soll Morgen oder Übermorgen Mieroslaws-ki ankommen. Ich glaube, daß wenn dies auch der Fall ist,man doch zuerst noch Sigel das Kommando überlassenmuß, denn M(ieroslawski), der ohnehin kein Deutsch kannund zwar ein ausgezeichneter Theoretiker aber weniger

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  • Praktiker ist, würde wenigstens 14 Tage brauchen umsich zu orientieren; es wird daher am besten sein, wenn erzuerst sich längere Zeit einstudiert. [...]

    Künftig abgedruckt in: Alfred Georg Frei/Kurt Hochstuhl: Wegbe-reiter der Demokratie. Die badische Revolution 1848/49. DerTraum von der Freiheit, Braun, Karlsruhe 1997

    Urteil eines modernen Historikers

    [...] Gegen diese Streitmacht von zwei preußischen Ar-meekorps unter dem Prinzen von Preußen [...] und einemBundeskorps, bestehend aus Hessen, Nassauern, Bay-ern, Württembergern und Mecklenburgern, mit zusam-men mehr als 50 000 Mann konnte Mieroslawski nichtmehr als etwa 10 000 Mann badischer Truppen und etwa15 000 Mann Volkswehren und Freischärler aufbieten.Seine Armee war nicht nur zahlenmäßig und in der Ausrü-stung unterlegen, auch ihre Disziplin war mangelhaft.Gleich in der Rede, mit der er am 10. Juni in Heidelbergvor seine Offiziere trat, appellierte Mieroslawski daran,»die schlechte Disziplin« zu bekämpfen. Er selbst hatspäter für seine Niederlage auch die Unentschlossenheitder Revolutionsregierung verantwortlich gemacht, der eineigentliches politisches Programm und der Wille gefehlthabe, die Insurrektion zur Revolution zu machen: »imGrunde wußten weder die Bürger noch die Soldaten, fürwas sie kämpfen sollten«. Daß er selbst nicht Deutsch,die Führer seiner Einheiten meist nur schlecht Franzö-

    sisch sprachen, vergrößerte seine Schwierigkeiten eben-so wie die Gerüchte, die seine Gegner über seine angeb-lich maßlosen finanziellen Forderungen verbreiteten.

    Heinz Boberach, 1991, in: Deutsche und Polen, S. 55

    Gerichtsurteil gegen Mieroslawski:

    In Untersuchungssachen gegen Ludwig Mieroslawski ausPolen wegen Hochverrats wird auf gepflogene Untersu-chung [...] zu Recht erkannt, Ludwig Mieroslawski [...] seider Teilnahme an dem im Jahre 1849 in Baden ausgebro-chenen hochverräterischen Aufruhr für schuldig zu er-klären und deswegen zu lebenslänglicher Zuchthausstra-fe, sowie zum samtverbindlich mit den übrigen Teilneh-mern an dem Aufruhr zu leistenden Ersatze des durchden Aufstand dem Staate gestifteten Schadens und zurTragung der Kosten der Untersuchung und seiner Strafer-stehung zu verurteilen.1

    Mitteilung des Hofgerichts des Mittelrhein-Kreises an dieGeneral-Staatskasse in Karlsruhe, Bruchsal, 24. Mai1851

    1 Nach einer sehr beschränkten Amnestie von 1852 wurde 1862 allen we-gen Beteiligung an der Revolution Verurteilten Straffreiheit gewährt, wassich nur für die Emigranten auswirkte, da die Strafen entweder vorherverbüßt oder die Gefangenen entlassen worden waren. Mieroslawski istnicht mehr nach Deutschland zurückgekehrt.(Deutsche und Polen, S. 648)

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    Aufruf des Obergenerals Ludwig Mieroslawski

    Aus: F.X. Vollmer: Der Traum von der Freiheit. © Theiss, Stuttgart 1983, Abb. 350, S. 410

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  • III. Ein Tod in Wien – Tod dernationalen deutschenRevolution?

    1. Erläuterungen

    Der Weg Robert Blums, des modernen, volkstümlichenFührers der gemäßigten politischen Linken im FrankfurterPaulskirchenparlament, zur Unterstützung der WienerOktoberrevolution wird in Ausschnitten nachgezeichnet.Seine Hinrichtung in Wien am 9. November 1848 machtevielen Deutschen schlagartig klar, daß die Gegenrevoluti-on mit unnachgiebiger Entschlossenheit von der Regie-rung Schwarzenberg betrieben wurde, wohl aus Grün-den, die mit der Situation im Vielvölkerstaat Österreichund dessen traditionellen Machtinteressen in Deutsch-land und Europa zusammenhingen.

    Die Freiheitsbewegung der Frankfurter Paulskirchenver-sammlung und in den meisten Einzelstaaten mußte er-kennen, daß ihre nationale und freiheitliche »redende«Revolution erneut von den »alten Mächten« abgelehntwurde.Robert Blum wurde durch seinen Tod zur Symbolfigur fürden Umbruch der Revolution zwischen Herbst 1848 undFrühjahr 1849. Wie dachte und redete er? Warum wurdeer verurteilt? (Vgl. , , , )Blum war unter den vielen Akademikern im Paulskir-chenparlament nach Herkunft, Werdegang und Vorbil-dung als »Mann des Volkes« eine große Ausnahme.Bereits vor 1848 war der Autodidakt ein in ganz Deutsch-land bekannter Führer der liberalen Opposition. Er glaub-te zu wissen, daß jedes Abweichen vom gesetzlichenWeg zur Herbeiführung von Fortschritt, jede putschisti-sche Aktion Unglück über alle Beteiligten bringt. Von ge-waltsamen Aktionen eines Hecker und Struve distanzier-te er sich deshalb entschieden.Im Briefwechsel mit seiner Frau Jenny lernt man sei-ne wirklichen Gedanken und Gefühle kennen. Er gibt preis,welche geheimen Wunschbilder vom Gang der Entwick-lung ihn erfüllen. Die Dinge verlaufen anders als erwartet,stürmische und kriegerische Zeiten kommen, den Preußenund deren König wünscht er ein schlimmes Schicksal, dieFranzösische Revolution wiederholt sich, die Republiksteht vor der Tür – oder die Russen kommen.Weil er vom Gang der Revolution enttäuscht war, konnteer sich weniger als die meisten anderen Parlamentariereine friedliche Entwicklung vorstellen und hielt, durch-drungen vom Gedanken der Befreiung und Erlösung derVölker vom Joch der »Dynastien« und von der Vorstellungeiner Verbrüderung des freiheitlichen Westeuropa (s. ), Gewalt gegen unaufgeklärte Fürsten in Ausnah-mesituationen für unvermeidlich.Aus Wut und Resignation trug er sich mit dem Gedanken,die Politik an den Nagel zu hängen und in die Idylle zuflüchten. Im September war er offenbar zu dem Entschlußgekommen, daß er im Frankfurter Parlament mit seinempolitischen Latein am Ende war. Sein Weggang nach Wien– er wurde auf eigenen Wunsch als Deputierter nach Wiengeschickt – war zunächst ein »Weg-von«, eine Flucht.

    Kaum in Wien angekommen, wurde daraus jedoch ein»Hin-zu«, ein Eintauchen in alte Idealvorstellungen vomWerden und Gedeihen einer echten Volksbewegung. DemPessimisten Blum folgte wieder der »Enthusiast«, der sichmitreißen ließ, der wohl auch unbedachte Reden hielt undden Bitten örtlicher Stellen nicht widerstehen konnte, sichmehr oder weniger symbolisch als Ehrenmitglied im »Corps d’ élite« an Kampfhandlungen zu beteiligen. Werso den »Puls der Zeit« fühlte, der durfte wieder schwung-voll als politischer Repräsentant wirken.Dies wurde ihm zum Verhängnis: Er wurde, obwohl er mitder Immunität eines Parlamentariers ausgestattet war,wie andere Führer des Wiener Aufstands verurteilt und er-schossen ( , ), nahm auf eindrucksvolle Weisebrieflich Abschied von seiner Familie ( ) und ertrug ei-nen Tag vor seinem 41. Geburtstag seine Lebenskata-strophe würdig und gefaßt. Sein Tod erschütterte in allenTeilen Deutschlands die Massen ( , , ), of-fenbarte den Grad ihrer Politisierung und verschärfte dieSpannungen innerhalb der Freiheitsbewegung inDeutschland wie zwischen der Freiheitsbewegung insge-samt und den Kräften der Gegenrevolution.Gedrungen und knollennasig wie Sokrates, grobschläch-tig, versehen mit Revoluzzerbart, ausdrucksstarker Red-ner im Parlament wie vor den Massen, war es Blum weni-ger als anderen prominenten Abgeordneten möglich, sichvor Anfeindungen zu schützen.In der Karikatur wird er von seinen politischen Geg-nern als Demagoge und Feigling diffamiert: Er hat Waffenund Heckerhut bereits weggeworfen und seine parlamen-tarische Immunität durch eine Parlamentsschärpe her-vorgehoben, um ungeschoren davonzukommen und inBerlin sein zerstörerisches Werk gegen die preußischeMonarchie fortzusetzen.Gegenfigur zu Blum ist Schwarzenberg ( , ),der eiskalte Rechner. Er kämpft gegen die nationale Re-volution und für eine Rückkehr aller deutschen Staatenzum Deutschen Bund. Er hat folgende Hauptziele:Zentralistisches Großösterreich als deutsches wie eu-ropäisches Bedürfnis, Rückkehr aller Einzelstaaten zumDeutschen Bund unter österreichischer Vorherrschaft mitstarker Exekutivgewalt, der eine Volksvertretung als Fas-sade zugeordnet werden soll, in der neben Fürstenvertre-tern nur Abgeordnete sitzen, die den Fürsten genehmsind, Kooperation mit denjenigen Einzelstaaten, derenFürsten in der Lage sind, freiheitliche Bestrebungen nie-derzuhalten.Für das alte Österreich bedeuteten Blums republikani-sche Pläne, daß eine freiheitlich Reichsgewalt ohne maß-geblichen Einfluß der Fürsten hergestellt worden wäre,daß die nationale Reichseinigung unter Ausschluß nicht-deutscher Landesteile und Länder die gesamte Habsbur-germonarchie, die nur noch als lockere Personalunion zudenken gewesen wäre, zerschnitten hätte, weil dann diebundeszugehörigen und die bundesfremden GebietsteileÖsterreichs eine jeweils eigene Verfassung, Regierungund Verwaltung hätten bekommen müssen. Die Deut-schen innerhalb des Habsburgerreichs wären entschei-dend geschwächt, die Rivalität anderer Nationalitätenwäre verschärft worden, das »regulative Moment« dieserStruktur, die komplizierte Gemengelage der Völker ver-schiedener Nation, wäre gestört gewesen.

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  • Die nichtdeutschen Nationalitäten stützten als kleine Na-tionen mehrheitlich den übernationalen österreichischenKaiserstaat, im eigenen Interesse wie auch im InteresseEuropas und auch im »Interesse der Humanität«, wie diesder tschechische Historiker Palacky, der sich als »Böhmeslawischen Stammes« bezeichnet, formulierte (s. dazuauch ). Und Schwarzenberg als Deutschböhme undmit den Tschechen in Böhmen eng verbundene Personsah sich berechtigt, deren Eigenständigkeit im Gesamt-staat Österreich zu erhalten, zum Wohle aller Österrei-cher, auch der Deutschen, wie auch zum Wohle eines eu-ropäischen Machtverteilungskonzepts und gewiß auchzum Vorteil der Macht der altehrwürdigen »kaiserlichen«Habsburgermonarchie, deren jungen Monarchen, KaiserFranz Joseph, er in diese politische Welt im Spätherbst1848 hineinführte. Deshalb widersetzte er sich entschie-den der nationalen Reichsgründung und wollte mit derRevolution insgesamt brechen. Dafür hatte er in Öster-reich Rückhalt bei der Masse der Bevölkerung aller Natio-nalitäten außer der ungarischen. Die Donaumonarchiewurde damals noch nicht als unzeitgemäßer Vielvölker-staat, als »Völkerkerker« gesehen.Nach dem Tod von Blum und dem Sieg der Gegenrevolu-tion in Österreich wurde der Mehrheit in der Paulskirchenach und nach klar, daß nur noch mit Preußen eine Lö-sung der Deutschen Frage nach ihrem Selbstverständnismöglich war. Diese Rolle wollte und konnte Preußen nichtspielen. Es war weder bereit, auf eigene Rechte und aufunumschränkte Souveränität über die Armee zu verzich-ten; noch war es gewillt, wegen der Frage der nationalenEinheit Deutschlands sich mit Österreich und anderen eu-ropäischen Großmächten (z. B. Rußland) zu überwerfenund einen europäischen Krieg zu riskieren.Der Tod Robert Blums hatte weithin Illusionen vom dochnoch möglichen gesetzlichen Fortschritt zerstört. NeueVerhaltensweisen dem gewaltsamen politischen Gegnergegenüber kündigten sich an und gaben der Revolutionallmählich einen anderen, einen unversöhnlicheren Cha-rakter (s. auch ). Auf die Gegenrevolution in Wien imOktober 1848 folgte die radikale Revolution aus einigendeutschen Einzelstaaten. Dazu wurden neue Organisatio-nen (meist republikanische Volksvereine) aufgebaut, ummöglichst viele Deutsche für Konfrontation und für Ge-gengewalt zu gewinnen. Man durfte als Revolutionärnicht mehr »vor den Thronen« stehenbleiben und brauch-te ein »erzürntes Volk« (Gustav Struve), das zum Zurück-schlagen und zum Zuschlagen bereit war.

    Überlegungen zu den Materialien:

    1) Was zeichnet Blum als modernen nationalen, (west-)europäischen und volkstümlichen Politiker aus? Wel-ches sind die tieferen Gründe für seine Erschießung inWien? bis

    2) Wie könnte man die Vorstellungswelt des den Deutsch-böhmen, den Tschechen und anderen Nationalitätender Donaumonarchie verbundenen Fürsten Schwar-zenberg charakterisieren? Wie sind seine Pläne, wie istsein Verhalten angesichts der komplexen Verhältnisseim Vielvölkerstaat Österreich und dessen Stellung im europäischen Mächtesystem zu beurteilen? ,

    , ,

    2. Materialien

    Der Revolutionär Robert Blum und sein Tod in Wien

    Debatte zur Außenpolitik in der Frankfurter Na-tionalversammlung am 22. Juli 1848. Robert Blumäußert sich über völkerrechtliche Verhältnisse:

    Man sagt uns bei jeder Gelegenheit: die alte Zeit ist todt,die neue hat begonnen! Was war denn die alte Zeit ... inBeziehung auf die sogenannten völkerrechtlichen Ver-hältnisse? Sie war nichts Anderes als eine Reihe von Dy-nastenbündnissen ... die nur dazu dienten, entweder dergegenseitigen Herrschgier Schranken zu setzen, oder diegemeinsame Gewaltstellung zu erhalten und zu verstär-ken ... Diese Art von Bündnissen war es, die unser Vater-land eine undenkliche Zeit hindurch aufgehalten hat, einGroßes und Ganzes zu werden ... Sie war es, die dieFeindseligkeit der Stämme und die Spannungen der ein-zelnen Abtheilungen des Volkes hervorriefen, die soge-nannten Kirchthurminteressen in den Vordergrund scho-ben, um – die Blicke abzulenken von dem, was Noth that,von dem Bewußtsein, daß Deutschland nicht eher Gel-tung in dem Bunde europäischer Völker gewinnen könne,als bis es e i n f r e i e s Volk geworden. …(Der) Gedanke der Befreiung und Erlösung der Völker ...(der) Gedanke der neuen französischen Revolution sollund wird ebenfalls Propaganda machen in der ganzenWelt, und ich hoffe, er wird sie ausdehnen über Moskauhinaus, und das Licht der Freiheit auch in jene Länder tra-gen, die jetzt noch schlummern in der tiefsten Knecht-schaft. (Anhaltendes Bravo der Linken) …(Das) Ziel einer Verbrüderung des freigewordenen oderfreiwerdenden Westens, das ist es, dem ich meine Stim-me leihe. Mit der Erreichung dieses Ziels steht die Freiheitund der Friede in Europa gesichert, mit der Erreichungdieses Zieles steht die größte und intelligenteste Abthei-lung der europäischen Staatenfamilie in einer unbesieg-baren Vereinigung zusammen und kann mit Ruhe daraufhinblicken, wenn ein Despot ... (sie) ... verhöhnen oderdrohen wollte. ... Ich scheue den Spott nicht ... ich scheueihn nicht, weil ich weiß, daß ich einem Gedanken diene,auf dem die Zukunft, auf dem das Glück Europa’s beru-hen wird. (Anhaltender Beifall)

    Zit. in: Stenographischer Bericht ... Hrsg. v. F. Wigard. ZweiterBand. Leipzig 1848, S. 1108f.

    Urtheil

    ... Herr Robert Blum zu Köln in Rhein-Preußen gebürtig,40 Jahre alt, katholisch, verheiratet, Vater von 4 Kindern,Buchhändler zu Leipzig, welcher bei erhobenem Thatbe-stande durch sein Geständnis und durch Zeugen überwie-sen ist, am 23. Oktober ... in der Aula zu Wien durch Re-den in einer Versammlung zum Aufruhre aufgeregt, undam 26. Oktober ... an dem bewaffneten Aufruhr in Wien alsCommandant einer Compagnie des Elitecorps thätigenAntheil genommen zu haben ... soll nach Bestimmung derProclamation Sr. Durchlaucht des Feldmarschalls Fürstenzu Windischgrätz vom 20. und 23. Oktober ... mit demTode durch den Strang bestraft werden.So gesprochen in dem Standrechte ... Abends am 8. No-vember 1848.

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  • Vermerk: ist kundzumachen und in augenblicklicher Er-mangelung eines Freimannes mit Pulver und Blei durchErschießen zu vollziehen.

    Zit. nach: Siegfried Schmidt: Robert Blum. Vom Leipziger Libera-len zum Märtyrer der deutschen Demokratie. Verlag HermannBöhlaus Nachfolger. Weimar 1971, S. 253f. (Leicht vereinfacht)

    Robert Blum im Kreise seiner Familie

    (Bild unten)

    Robert Blum

    1807 geb. am 10. 11. in Köln als Sohn eines Faßbinders,muß das Gymnasium in der 6. Klasse verlassen, um zumLebensunterhalt der Familie beizutragen; Lehre als Gold-schmied und Gelbgießer; Aufenthalt in Berlin, wo er alsNichtstudent Vorlesungen an der Universität besucht.Ab 1831 Arbeit als Theatersekretär und Bibliothekar inLeipzig; Herausgeber eines Theaterlexikons, Redner aufkulturellen und politischen Veranstaltungen. Er verehrtbesonders Schiller, dessen Geburtstag am 10. 11. mitdem seinen zusammenfällt.Ab 1839 Tätigkeit in der liberalen Opposition; Bekannt-schaft mit Führern des Liberalismus in ganz Deutschland;bekannt auch als Mitbegründer der deutschkatholischenBewegung, verheiratet, vier Kinder.Schon vor 1848 als Führer der sächsischen Liberalen De-mokrat und Republikaner; Mitglied im Vorparlament undAbgeordneter der Nationalversammlung in der Paulskir-che; Sprecher der linken Fraktion »Deutscher Hof«, die füreinen parlamentarisch-demokratischen Liberalismus, fürVolkssouveränität und für das allgemeine Wahlrecht ein-tritt. Schaltet sich in seiner Eigenschaft als Abgeordneterim Oktober 1848 in die Wiener Revolution ein und wird am9. November auf Wunsch von Schwarzenberg und auf An-ordnung von Windischgrätz standrechtlich erschossen.

    Aus den Briefen Robert Blums an seine FrauJenny

    Liebe Jenny,... heute mittag wählen wir den Reichsverwe-ser (Vermoderer!), die Mehrheit wählt den Erzherz. Jo-hann, einige Halbe, etwa 25-30 Gagern, wir wählen denalten Itzstein und eine Anzahl wählt gar nicht, weil sie den»unverantwortlichen« Kerl nicht mitwählen mag... Hof-fentlich bricht der Krieg in einigen Tagen aus; ehePreußens Verrat nicht klar ist, kommen wir auch nichtzum Ende; deshalb habe ich nichts dagegen, wenn dieRussen auch bis nach Berlin kommen. Hoffentlich wird Fr.Wilh. IV das Schicksal Ludwigs XVI. haben. In Leipzigwächst ja die Republik ungeheuer... (29. 6. 48)Liebe Jenny, ...Uns geht es ziemlich schlecht, die Mehr-heit wird alle Tage frecher und unverschämter, steckt mitden Regierungen unter einer Decke, spielt in und mit derVersammlung Komödie und treibt ihren Verrat ziemlich of-fen; es ist ganz 1789. Ob die Menschen niemals an 1793denken?... (5. 7. 48)Liebe Jenny,... In der National-Vers. verfolgt aus Bosheit,vom Volke in die traurigste Stellung gebracht aus Dumm-heit, von den Demokraten angefeindet und geächtet ausUnverstand stehen wir isolierter als jemals und habenvor- wie rückwärts keine Hoffnung... Nie bin ich so le-bens- oder wirkungsmüde gewesen wie jetzt; wäre esnicht eine Schande, sich im Unglück von den Kampfge-nossen zu trennen, ich würde zusammenraffen, was ich...habe und entweder auswandern oder mir in irgendeinemfriedlichen Tale des südlichen Deutschlands eine Mühleoder dergl. kaufen und nie wieder in die Welt zurückkeh-ren... (4. 10. 48)Liebe Jenny,... Wien ist prächtig, herrlich, die liebenswür-digste Stadt, die ich je gesehen; dabei revolutionär inFleisch und Blut. Die Leute treiben die Revolution gemüt-lich, aber gründlich... Wenn Wien nicht siegt, so bleibtnach der Stimmung nur ein Schutt- und Leichenhaufen

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    Nach einer zeitgenössi-schen Lithographie von A. Hunger, LeipzigAus: Robert Blum 1848 • 1948. Ein Kämpfer für Einheitund Demokratie. Hrsg. v. Rat der Stadt Leipzig. Leipzig 1948, Tafel I

  • übrig, unter welchem (ich mich) mit freudigem Stolze be-graben lassen würde... (17. 10. 48)Liebe Jenny,... Ich habe am Samstag noch einen sehrheißen Tag erlebt, eine Streifkugel hat mich sogar unmit-telbar am Herzen getroffen, aber nur den Rock verletzt.Wien kapituliert eben... (30. 10. 48)Meine liebe Jenny! (Ich) werde unfreiwillig hier zurückge-halten, bin verhaftet. Denke Dir indessen nichts Schreck-liches, ich bin in Gesellschaft Fröbels und wir werdensehr gut behandelt... (6. 11. 48)

    Zit in: Ludwig Bergsträsser: Das Frankfurter Parlament in Briefenund Tagebüchern, Societäts-Druckerei, Abteilung Buchverlag,Frankfurt a. M. 1929, S. 380 ff.

    Wien, 9. November 1848.Mein teures, gutes, liebes Weib, lebe wohl, wohl für dieZeit, die man ewig nennt, die es aber nicht sein wird. Er-ziehe unsre – jetzt Deine Kinder zu edlen Menschen, dannwerden sie ihrem Vater nimmer Schande machen. Unserkleines Vermögen verkaufe mit Hilfe unserer Freunde.Gott und gute Menschen werden Euch ja helfen. Alles,was ich empfinde, rinnt in Tränen dahin, daher nochmals;lebwohl, teures Weib!Betrachte unsere Kinder als teures Vermächtnis, mit demDu wuchern mußt, und ehre so Deinen treuen Gatten.Leb wohl, leb wohl! Tausend, tausend, die letzten Küssevon Deinem Robert.

    Zit in: Schmidt, Robert Blum, S. 254; © Verlag Hermann BöhlausNachfolger, Weimar

    Robert Blums letzte Stunde

    »Aus jedem meiner Blutstropfen wird ein Märtyrer derFreiheit erstehen«

    Aus einem Tagebuch

    den 9. November.Ich erfuhr noch die näheren Umstände vom Tode RobertBlums... Heute Morgen 5 Uhr wurde ihm das Todesurtheilverkündet.

    Er sagte ruhig: es trifft mich nicht unerwartet. Der Geistli-che vom Schottenthore, zu dessen Sprengel das Gefäng-niß Robert Blums gehörte, kam, um ihm die Beichte ab-zunehmen. Blum sagte, daß er nicht beichte, und derGeistliche sagte: er habe das gewußt...Mit drei Jägern und einem Offizier wurde er nach der Bri-gittenau geführt. Als er nach dem Richtplatze ging, stander mehrmals still und holte tief Athem. Er bat, daß manihm die Augen nicht verbinde. Der Offizier erwiderte: die-sem könne nicht willfahren werden, es geschehe der Soldaten wegen, und Blum band sich selbst das Tuch umdie Augen.... Von drei Kugeln getroffen, sank Blum nieder.Die eine traf in die Stirne, die anderen in die Brust. Seinletztes Wort war: »aus jedem Blutstropfen von mir wirdein Freiheitsmärtyrer erstehen.« Und das Wort wird Wahr-heit werden... Wo wird das enden? Welchen entsetzlichenGräueln sehen wir entgegen!...Wo solche Dinge geschehen, da ist alles Wort verloren,das gesprochene und das geschriebene.Als ich das Josephinum verließ, kam eben ein Trupp Sol-daten..., die trugen eine Bahre… drinnen lag wieder einMann, den sie mit raschem Blei kalt gemacht. Wer magdas sein? Wessen Herz hat aufgehört zu schlagen? Ichkonnte die Soldaten nicht fragen, denn zitternden Her-zens wußte ich, sie würden antworten: N i x d e u t s c h.

    Berthold Auerbach: Tagebuch aus Wien, Von Latour bis auf Win-dischgrätz. Breslau 1849, S. 222-227

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    Am unteren Bildrandsteht: »Druck und Ver-lag v. Ed. Gust May in Frankfurt a. M.«Bild in: Erinnerungsstät-te für Freiheitsbewe-gungen in der deut-schen Geschichte, Rastatt, Katalog Nr. 535

  • Die Wiener Gegenrevolution

    Schwarzenberg und Windischgrätz

    Fürst Felix zu Schwarzenberg (1800-1852), einer dermächtigsten Aristokraten Böhmens. Die Fürstenfamilie,die eine übernationale, betont »böhmische« Haltung ein-nimmt, deren Mitglieder zweisprachig deutsch und tsche-chisch erzogen werden, besitzt etwa ein Dreizehntel derGesamtoberfläche des Königreichs Böhmen, Immobilienin Prag und Wien,auch Güter in Ungarn und bei Salzburg.Ab November 1848 Ministerpräsident und Außenministervon Gesamtösterreich.Fürst Alfred zu Windischgrätz (1787-1862), Oberbefehls-haber aller österreichischen Truppen, ebenfalls Deutsch-Böhme, ist sein Schwager und ihm eng verbunden, als ermit seiner aus Tschechen, Niederösterreichern und Kroa-ten (Banus Jellačić) bestehenden 70 000-Mann-Armee imOktober 1848 Wien einnimmt.

    Konkurrierende Nationalitäten im VielvölkerstaatÖsterreich

    Viele Tschechen in Böhmen und Mähren wünschennicht, daß sich die Deutschen in »Deutsch-Österreich«,Böhmen und Mähren einem deutschen Nationalstaat an-schließen. Viele Deutsche sind nicht dafür zu gewinnen,daß die Ungarn und die Tschechen sich zu einem unab-hängigen tschechischen oder ungarischen (National-)Staat zusammenschließen und die Deutschen in»Deutsch-Österreich« Teil eines deutschen National-staats werden. Viele Kroaten sind dagegen, daß Nordita-liener und Ungarn in die staatliche Unabhängigkeit ent-lassen werden.

    Text: R. Obenland

    Allerneuestes aus Wien

    Schwarzenberg über Europa und Deutschland

    Nicht in dem Zerreißen der (Habsburger-)Monarchie liegtdie Größe, nicht in ihrer Schwächung die KräftigungDeutschlands. Österreichs Fortbestand in staatlicher Ein-heit ist ein deutsches wie europäisches Bedürfnis. Vondieser Überzeugung durchdrungen, sehen wir der natürli-chen Entwicklung des noch nicht vollendeten Umgestal-tungsprozesses entgegen. (27. 11. 1848 vor dem öster-reichischen Reichstag)

    Zit. in: Hans Fenske (Hrsg.): Vormärz und Revolution. (FSGA, C,Bd. 4.), Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 21991,Seite 370 (Ausz.)

    Revolutionsende oder Revolutionswende

    Revolutionäre u