20
65 Interaktion Fahrbahn-Reifen- Bremse Heinrich Huinink, Heiner Volk und Manfred Becke 5.1 Einleitung – 66 5.2 Kraftübertragung Reifen – Fahrbahn – 66 5.2.1 Gummireibung – 66 5.2.2 Wechselwirkung Reifen-Fahrbahn – 68 5.2.3 Aufbau Reifenkräfte – 70 5.3 Interaktion Reifen-Bremse – 72 5.3.1 Reifenmodelle – 73 5.3.2 Dynamische Umfangskraft-Schlupf-Charakteristik des Reifens beim Bremsen – 74 5.3.3 Umfangskräfte beim ABS-Bremsen – 75 5.3.4 Kombinierte Umfangs- und Seitenkraft, Bremsen bei Seitenkraftbedarf – 76 5.4 Integration des Reifens in das Gesamtsystem Fahrzeug – 78 5.4.1 Produktoptimierung Reifen – ABS-Regelung am Beispiel Winterreifen – 79 5.4.2 Bremsspuren in der Unfallrekonstruktion – 80 5.5 Ausblick – 83 Literatur – 83 5 B. Breuer, K. H. Bill (Hrsg.), Bremsenhandbuch, ATZ/MTZ-Fachbuch, DOI 10.1007/978-3-8348-2225-3_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

Bremsenhandbuch || Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Bremsenhandbuch || Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

65

InteraktionFahrbahn-Reifen-BremseHeinrich Huinink, Heiner Volk und Manfred Becke

5.1 Einleitung – 66

5.2 Kraftübertragung Reifen – Fahrbahn – 665.2.1 Gummireibung – 665.2.2 Wechselwirkung Reifen-Fahrbahn – 685.2.3 Aufbau Reifenkräfte – 70

5.3 Interaktion Reifen-Bremse – 725.3.1 Reifenmodelle – 735.3.2 Dynamische Umfangskraft-Schlupf-Charakteristik des Reifens beim

Bremsen – 745.3.3 Umfangskräfte beim ABS-Bremsen – 755.3.4 Kombinierte Umfangs- und Seitenkraft, Bremsen bei

Seitenkraftbedarf – 76

5.4 Integration des Reifens in das Gesamtsystem Fahrzeug – 785.4.1 Produktoptimierung Reifen – ABS-Regelung am Beispiel

Winterreifen – 795.4.2 Bremsspuren in der Unfallrekonstruktion – 80

5.5 Ausblick – 83

Literatur – 83

5

B. Breuer, K. H. Bill (Hrsg.), Bremsenhandbuch, ATZ/MTZ-Fachbuch, DOI 10.1007/978-3-8348-2225-3_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

Page 2: Bremsenhandbuch || Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

66

5.1 Einleitung

Bei dem Thema »Interaktion Fahrbahn-Reifen-Brem-se« steht das Kraftschluss- und Übertragungsverhal-ten des Reifens in Abstimmung mit dem Bremssystem im Vordergrund. Im System Fahrzeug/Straße nimmt der Reifen eine hervorragende Rolle ein: Als Binde-glied zwischen Fahrbahn und Fahrzeug überträgt er alle Kräfte und Momente, sein Kraftschluss- und Übertragungsverhalten geht deutlich in Fahrverhal-ten, Komfort und Sicherheit des Gesamtfahrzeugs ein. Beim pneumatischen Reifen ist das unter Überdruck eingeschlossene Gas oder Gasgemisch das tragende Element, nur ein Anteil von etwa 10–15  % der Rad-last wird direkt durch die Reifenstruktur getragen. Die Reifenhülle bestimmt nach Form, konstruktiver Auslegung und Materialeinsatz weitgehend die Ge-brauchseigenschaften des Reifens. Die Entwicklung von Pkw- und Lkw-Reifen wird entscheidend durch die sich ständig ändernden und zunehmenden Anfor-derungen an die Kraftfahrzeuge beeinflusst.

Die Gebrauchseigenschaften (. Abb. 5.1) beschrei-ben für den Verbraucher die einzelnen Eigenschaften der Reifen und sind immer in Verbindung mit Fahr-zeug, Straße und Fahrer zu sehen. Zur Ermittlung der Gebrauchseigenschaften werden Versuche durch-geführt, die sowohl nach subjektiven als auch nach objektiven Kriterien bewertet werden.

5.2 KraftübertragungReifen–Fahrbahn

Das Kraftschlussverhalten des Reifens ist ein zentrales Thema für den Reifenentwickler. Einflussgrößen auf das Kraftschlussverhalten sind vor allem die konstruk-tive und materialtechnische Reifenauslegung sowie Reifenzustand, Fahrbahnart und Fahrbahnzustand, Betriebsbedingungen und Betriebsfehler. Der Reifen muss nicht nur bei den unterschiedlichsten Fahrbahn-belägen, sondern auch bei allen Witterungsbedingun-gen und Geschwindigkeiten des Fahrzeugs die Kraft-übertragung (s. .  Abb.  5.2) zur Straße sicherstellen. Ziel der Entwickler ist die Koordination von Reifen, Bremse, Antrieb und Lenkung, um eine optimale Fahrzeugregelung und -sicherheit zu erreichen.

5.2.1 Gummireibung

Das Kraftschlussverhalten von Reifen kann im We-sentlichen auf das Verhalten der Reibpartner Gum-mi – Fahrbahnoberfläche zurückgeführt werden. Der Kraftschlussbeiwert von Gummi ist keine Konstante.

Er hängt von der Reibpaarung Laufflächenmischung und Straßenoberfläche, dem Kontaktdruck, der Schlupf- oder Gleitgeschwindigkeit sowie der Tempe-ratur ab (. Abb. 5.3).

Das viskoelastische Materialverhalten von Gum-mi bestimmt die übertragbaren Reibungskräfte. Das dynamische Verhalten des viskoelastischen Werk-stoffs Gummi beschreibt ein komplexer Modul, der aus Speichermodul und Verlustmodul besteht mit E∗ = E′ + iE″.

Der Verlustmodul E″ bzw. der Verlustbeiwert tan δ als das Verhältnis von Verlustmodul zu Speichermodul ist ein Maß für die dissipierte Energie, für die Hysterese bei dynamischer Verformung. Die Deformationsfre-quenzen ergeben sich aus Gleitgeschwindigkeit und den Längenskalen der Rauigkeit des Reibpartners. Im Be-reich kleiner Gleitgeschwindigkeiten werden die über-tragbaren Kräfte deutlich durch die Adhäsionsreibung mitbestimmt (s. . Abb. 5.4 und 5.5) [1, 2, 3].

Der Verlustbeiwert tan δ hängt insbesondere von der Temperatur und der Deformationsfrequenz ab, er korreliert bei entsprechender Temperatur-Frequenz-Zuordnung mit dem erreichbaren Kraftschluss und den Rollverlusten. Der Reifenentwickler kann damit Reifenmischungen gezielt auf spezielle Betriebsbedin-gungen hin auslegen. Im Verlauf des Verlustfaktors über der Temperatur für eine Prüffrequenz von 10 Hz (.  Abb.  5.5) lassen sich nach dem Temperatur-Fre-quenz-Äquivalenzprinzip (WLF—Transformation) verschiedene Temperaturbereiche bestimmten typi-schen Reifeneigenschaften zuordnen.

Physikalisch unterscheiden sich die in . Abb. 5.5 gekennzeichneten Bereiche der tan δ -Kurve: Die Be-reiche 1 und 2 sind relevant für das Bremsen auf nas-ser Fahrbahn, Bereich 1 vor allem für den Quasi-Haft-bereich mit sehr kleinen Gleitgeschwindigkeiten im vorderen Bereich der Bodenaufstandsfläche, Bereich 2 für die höheren Gleitgeschwindigkeiten im hinteren Teil der Aufstandsfläche oder beim Blockierbremsen. Bereich 3 ist relevant für den Rollwiderstand mit der zyklischen Gummideformation beim Rollen.

Dem Bereich 1 kann physikalisch eine adhäsions-unterstützte nanoskalige Hysteresereibung, Bereich 2 eine mesoskalige Hysteresereibung und Bereich 3 eine impulsförmige Gummideformation zugeordnet wer-den. Anschaulich: Je kleiner die Rauigkeitsskala im Kontakt Reifen-Straße wird, desto höher ist die zuge-ordnete Frequenz. Grundsätzlich können also Gum-mimischungen – bis zu einem beträchtlichen Grade auf bestimmte, im Wesentlichen durch Frequenz und Temperatur charakterisierte Betriebszustände, ent-koppelt optimiert werden. Das ist eine wesentliche Voraussetzung für eine wirkungsvolle Integration des Reifens in Fahrdynamiksysteme.

Kapitel 5 • Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

5

Page 3: Bremsenhandbuch || Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

67

. Abb. 5.1 Übersicht über Bewertungskriterien von Pkw-Reifen

Fahrkomfort Lenkverhalten Fahrstabilität

Federungskomfort … im 0°-Bereich GeradeausstabilitätGeräuschkomfort … im Proportionalbereich KurvenstabilitätLaufruhe … im Grenzbereich Bremsen in Kurven

Lenkpräzision

Kraftschluss Haltbarkeit

Traktion Strukturelle Dauerhaltbarkeit LebenserwartungBremsweg Hochgeschwindigkeitstüchtigkeit RollwiderstandRundenzeiten Platzdruck RunderneuerungsfähigkeitAquaplaning Durchschlagsfestigkeit Vorbeifahrgeräusch

Fahrkomfort Lenkverhalten Fahrstabilität

Federungskomfort … im 0°-Bereich, kleine Lenkw. GeradeausstabilitätGeräuschkomfort … im Proportionalbereich KurvenstabilitätLaufruhe … im Grenzbereich Bremsen in Kurven

Lenkpräzision

Kraftschluss Haltbarkeit Wirtschaftlichkeit/Umwelt

Traktion Strukturelle Dauerhaltbarkeit LebenserwartungBremsweg Hochgeschwindigkeitstüchtigkeit RollwiderstandRundenzeiten Platzdruck RunderneuerungsfähigkeitAquaplaning Durchschlagsfestigkeit Vorbeifahrgeräusch

. Abb. 5.2 Kräfte und Momente am Fahrzeug

M

Fx

Fx

Fz

Fz

Fy

Fy

–Fx

Aufgaben des Reifens:Radlast tragenBremskraft übertragenAntriebskraft übertragenSeitenkraft übertragenDämpfen

FF

FF

z

x

x

y

5.2 •  Kraftübertragung Reifen – Fahrbahn5

. Abb. 5.3 Labormessung des Kraftschlussbeiwerts µ abhängig vom Kontaktdruck und der Gleitgeschwindigkeit auf Ko-rund-180 für eine typische Laufstreifenmischung

Kraftschlußbeiwert µ

0.01 0.05 0.1 0.5 1.0 2.0 3.5 4.53.5

1.80.5

1.5

2.3Kraftschlussbeiwert µ

Kontakt-

druck

[bar]

Gleitgeschwindigkeit [m/s]

Page 4: Bremsenhandbuch || Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

68

5.2.2 WechselwirkungReifen-Fahrbahn

Bei der Interaktion Gummi-Fahrbahn ist neben den viskoelastischen Eigenschaften des Elastomers der Reibpartner Straße naturgemäß von entscheidender Bedeutung für den erreichbaren Kraftschluss. Die Kenntnis der Wechselwirkung erlaubt eine Charakte-risierung von Fahrbahnen im Hinblick auf ihr Kraft-schlusspotenzial.

Traditionelle Fahrbahnkenngrößen in Bezug auf die Makro- und Mikrorauigkeit der Straßenoberfläche (z. B. mittlere Rautiefe, Profilkuppendichte, usw.) sind im . Abb. 5.6 dargestellt.

Die konventionellen und direkt zugänglichen Rauigkeitsparameter (zum Teil in Normen definiert) zeigen jedoch nur eine eingeschränkte Korrelation zum Reibbeiwert am Reifen beim ABS-nass Bremsen.

.  Abb. 5.5 Typischer Verlauf des Verlustfaktors tan δ über der Temperatur mit den relevanten Bereichen für Kraftschluss auf nasser Straße und Rollwiderstand für zwei Reifenmischungen (Proben aus Reifen, Messung bei 10 Hz mit konstanter Kraft)

Rollwiderstand

–60Temperatur [°C] bei 10 Hz

10 Hz

–70 –50 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 1100

0.10.20.30.40.50.60.70.80.9

1

Gummi v

Straße

105–107 Hz

Gummi v

Straße

3 5

3

10 –10 Hz~ 70° C 10–10 Hz

~ 40° C

2

3

2

2

–40 –30 –20 –10 0

~ 50° C

11

ABS-Kraftschluss, nassABS-

Blockieren

Ver

lust

beiw

ert t

anδ

Silikamischung

Rußmischung

Eine elegante und inzwischen bewährte Metho-de für die Beschreibung rauer Oberflächen bietet die fraktale Geometrie. Solche selbstaffinen Oberflächen besitzen eine spektrale Leistungsdichte der Form

S(f ) = K · f −β für Raumfrequenzen fmax > f > fmin

(5.1)

mit dem Exponenten β = 7 – 2D und dem Vorfaktor K = (3 − D)ξ 2

Nξ(1−β)P , wobei D die fraktale Di-

mension der Oberfläche, ξN die senkrechte und ξp die parallele Korrelationslänge darstellen [2]. Diese drei Oberflächendeskriptoren reichen zur Beschreibung der spektralen Leistungsdichte der Oberfläche aus. Am Einfachsten lassen sich die Oberflächendeskrip-toren über die Höhendifferenzkorrelation bestimmen, was exemplarisch für ein mit einem Laser ermitteltes Fahrbahnprofil in . Abb. 5.7 dargestellt ist.

. Abb. 5.4 Veranschaulichung des Adhäsions- und des Hystereseanteils der Gummi-Fahrbahnreibung

Elastomer

Festkörper

Adhäsion

Hysterese/Deformation

F F F= +H A

v

v

v

FxFz

FA

log v

FH

Kapitel 5 • Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

5

Page 5: Bremsenhandbuch || Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

69

. Abb. 5.6 Aussagekräftige Oberflächenkenngrößen [4]

LKiLKi

L

Reifen

Fahrbahn

Griffigkeitskenngrößen

Oberflächenkenngrößennach DIN

StatistischeKenngrößen derAmplitudendichtekurve

KenngrößenKontakttiefemodell nachEichhorn

Anteil der Kontaktlänge ander gesamten Profillänge

LL.

Ki

(Maß für eff. Berührflächezw. Reifen und Fahrbahn)

(Pedalgerät »Skid Resistance Tester«) bewertet überwiegend die Mikrorauigkeit.

(Blockierreibwert mit Stuttgarter Reibungs-messer) bewertet verstärkt die Makroraugkeit.

(Verteilung der Rauigkeit)

Anzahl der Profilkuppen pro mm Messstrecke

(Form und Größe der Rauigkeit)

mit RRR

R

p

m

q

t

= Profilkuppenhöhe= Profiltiefe= Quadratischer

Mittenrauwert= Rautiefe

z. B. Profiltraganteil PT

z. B. Kenngröße Beta b

z. B. Profilkuppendichte D

z. B. SRT

z. B. SRM

Beta =bR R R Rp m p q× × ×( )

R Rt q× 2

2

LKi

5.2 •  Kraftübertragung Reifen – Fahrbahn5

. Abb. 5.7 a Beispiel eines über ein Laserabtastgerät ermitteltes Oberflächenprofil einer Asphaltstraße; b daraus ermittelte Höhendifferenzkorrelation mit eingetragenen Deskriptoren [2]

3210

–1–2

0 20 40 60 80 100 120

x/min

ξ2 2= 1,4 mm

ξ = 4,2 mm

D = 2,35

λ/mm

1,3

Höh

endi

ffere

nzko

rrel

atio

n/m

m2

0,01 0,1 1 10 100

10

1

0,1

0,01

1E–3

1E–4

z/m

in

p

N

Page 6: Bremsenhandbuch || Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

70

Die Höhendifferenzkorrelation [2]

HDK ≡ < (z(x + λ) − z(x))2 > (5.2)

lässt sich alternativ zur Autokorrelationsfunktion des Rauigkeitsspektrums verwenden, deren Fouriertrans-formierte die spektrale Leistungsdichte darstellt. Ins-gesamt stellt die Höhendifferenzkorrelation der Na-delmessungen ein sehr gutes Maß für den Einfluss der Rauigkeit auf die absoluten Reibwerte dar, sie korres-pondiert mit der Topothesy (Vorfaktor der spektralen Leistungsdichte).

Der realisierbare Kraftschlussbeiwert korreliert für vergleichbare Reifenkonzepte recht gut mit der Fahrbahn-Topothesy (.  Abb.  5.8). Damit wird die Wechselwirkung Fahrbahn – Reifen also recht gut be-schrieben. Konzeptionelle Reifenunterschiede, etwa zwischen Winterreifen und Sommerreifen, führen naturgemäß infolge von Profil- und Mischungsein-flüssen zu unterschiedlichen Gradienten.

5.2.3 AufbauReifenkräfte

Bremskräfte/UmfangskräfteEin Kraftschluss beim Rollvorgang ist grundsätzlich nur mit einer Relativbewegung mit Umfangsschlupf zwischen Rad und Fahrbahn möglich. Für die optima-le Kraftübertragung zwischen Reifen und Fahrbahn ist entsprechend der Physik der Gummireibung ein bestimmter Gleitschlupf eine notwendige Bedingung. Der Umfangschlupf λ ist hier definiert als die auf die

Fahrgeschwindigkeit v bezogene Differenz zwischen der Fahrgeschwindigkeit v und der Radumfangsge-schwindigkeit vU.

Die Radumfangsgeschwindigkeit ergibt sich mit der Kreisfrequenz ω des Rades und dem dynamischen Reifenhalbmesser rdynzu

vU = rdyn · ω (5.3)

Der dynamische Reifenhalbmesser ist der wirksame Abrollradius des Rades. Er wird indirekt aus der pro Umdrehung zurückgelegten Strecke ermittelt. Der hier zugrunde gelegte Begriff rdyn bezeichnet den dy-namischen Halbmesser am frei rollenden Rad ohne Horizontalkräfte.

Damit ergibt sich die Schlupfdefinition:

λ =�v

v=

ω · rdyn − v

v (5.4)

Beim Antriebsschlupf wird der Schlupf auch auf vU bezogen, um Werte über 100 % zu vermeiden, damit ergeben sich jedoch für gleiche Schlupfgeschwindig-keiten unterschiedliche Schlupfwerte. Im Bereich klei-ner Schlupfwerte ist der Unterschied gering.

Der Reifenschlupf setzt sich aus zwei Komponen-ten zusammen, dem Gleitschlupf und dem Formän-derungs- oder Deformationsschlupf. Der Formände-rungsschlupf resultiert aus der unter Umfangslast um-laufenden, translatorischen Deformation im Latsch-bereich, er bestimmt den linearen Anfangsbereich der µ-Schlupfkurve (.  Abb. 5.9) und nimmt mit zuneh-

. Abb. 5.8 Fahrbahn-Topothesy und Kraftschluss [2]

1,0

0,8

0,6

0,4

0,2

1.2.3.4.5.

Beton 1Beton 2Asphalt 1Asphalt 2Beton 3

Reifen

Sommer-HR

Winter-SR

Winterreifen

Sommerreifen

Fahrbahnrauglatt

Fahrbahn-Topothesy: · 10 /mmaus spektraler Leistungsdichte

der Fahrbahnrauigkeit)

k 6

Kra

ftsch

luss

beiw

ert

[–]

µ

0 2 4 6 8 10 12 14

12

3

4

5

Kapitel 5 • Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

5

Page 7: Bremsenhandbuch || Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

71

menden Schlupfwerten ab, bei 100  % Bremsschlupf liegt reines Gleiten vor. In . Abb. 5.9 sind die Schub- und Kraftschlussverhältnisse idealisiert dargestellt. Bei messtechnischer Ermittlung der Kraftschlusskur-ven erhält man nur ein integrales Ergebnis. Mithilfe der FEM-Analyse können die komplexen Vorgänge in der Aufstandsfläche als Basis für eine gezielte Weiter-

entwicklung örtlich aufgelöst dargestellt werden [5] (. Abb. 5.10).

Mit Erhöhen des Bremsschlupfes bilden sich zu-nehmende Gleitbereiche in der Aufstandsfläche aus (.  Abb.  5.10). Vom Auslauf ausgehend, vergrößert sich mit zunehmendem Schub die Gleitzone in Rich-tung Einlauf. Kurz vor dem Erreichen des Schlupf-maximums befindet sich fast die gesamte Kontaktzone

.  Abb.  5.9 Umfangsschubverteilung im Latsch und Kraftschlussbeanspruchung bei Bremsschlupf; I = freies Rollen, II = Bremsschub, III = überlagert (idealisiert)

0 20 40 60 80 100

1.2

0

0.2

0.4

0.6

0.8

1

Kra

ftsch

l uss

beiw

ert

[–]

µ

Schlupf [%]

trocken= 100 km/h, = 4 kNFz

trocken= 50 km/h, = 4 kNv

v

v

v

v

F

F

F

F

z

trocken= 50 km/h ,= 2 kNz

nass= 50 km/h ,= 4 kNz

Eis (–0,5 °C)= 50 km/h ,=4 kNz

v

Umfangsschub

I

II

III

.  Abb. 5.10 Haft- und Gleitzonen in der Bodenaufstandsfläche eines Reifens beim Bremsen bei unterschiedlichem Rad-schlupf aus FEM Berechnungen (links: Einlauf, rechts: Auslauf )

0

0.2

0.4

0.6

0.8

1

1.2

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20

MESSUNG

Haftbereiche Gleitbereiche

0

0.2

0.4

0.6

0.8

1

1.2

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20

Schlupf [%]

Haftbereiche GleitbereicheHaftbereiche Gleitbereiche

Kra

ftsch

luss

beiw

ertµ

FEM-Berechnungstationär rollendmit zunehmendemBremsmomentbei Coulomb’scherReibung

5.2 •  Kraftübertragung Reifen – Fahrbahn5

Page 8: Bremsenhandbuch || Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

72

im Gleitzustand. Der im vorderen Teil der Bodenauf-standsfläche als Haftbereich gekennzeichnete Teil charakterisiert einen Bereich, in dem nur sehr klei-ne Gleitgeschwindigkeiten auftreten also makrosko-pisch quasi Haften vorliegt. Bemerkenswert ist, dass die Reifen beim Bremsen mit blockierten Rädern die gesamte kinetische Energie verzehren müssen, beim ABS-Bremsen hingegen wird der größte Anteil von der Bremsanlage übernommen.

Der Reifenentwickler gestaltet die µ-Schlupfcha-rakteristik vor allem durch Laufflächenmischung und -profil. Die konstruktive Auslegung des »Torus« Rei-fen muss in der Abplattung eine möglichst gleichmä-ßige Schub- und Druckverteilung vor allem auch bei den dynamischen Bremsbedingungen ermöglichen.

Schräglauf;KräfteundMomenteFür die Fahrdynamik von Kraftfahrzeugen sind Grö-ße und Charakteristik der zu übertragenden Seiten-führungskräfte von entscheidender Wichtigkeit. Mit zunehmendem Schräglaufwinkel des Reifens wird die Seitenkraft radlastabhängig bis zu einem Maximal-wert im Bereich zwischen 5 und 15 Schräglaufwinkel aufgebaut (. Abb. 5.11). Durch die Latschverformung in der Kontaktzone zwischen Reifen und Fahrbahn entsteht ein Rückstellmoment.

Das Rückstellmoment versucht, das Rad und da-mit auch das Lenkrad wieder in die Ausgangsstellung

zurückzudrehen. Es erreicht ein Maximum, wenn die Schräglaufkennlinie beginnt, den linearen Anstieg deutlich zu verlassen, und kann bei weiter zunehmen-dem Schräglaufwinkel negativ werden. Zusätzlich dar-gestellt ist der Sturzeinfluss des Rades. So erhöht ein negativer Sturz die Seitenkraft bei Kurvenfahrt, ver-mindert aber gleichzeitig das Rückstellmoment. Ein positiver Sturz wirkt umgekehrt. Eine kompakte Dar-stellung der Reifenkräfte ermöglicht das so genannte Gough-Diagramm (.  Abb.  5.12) für die Parameter Seitenkraft, Rückstellmoment, Reifennachlauf, Rad-last und Schräglaufwinkel. Der Nachlauf ist definiert als der Abstand des Angriffspunkts der resultierenden Seitenkraft im Latsch zur Reifenmitte.

5.3 InteraktionReifen-Bremse

Das Verstehen von Reifeneigenschaften ist sehr wich-tig für die Entwicklung von Fahrwerk, Lenkung und Bremsen. Der Reifen bietet den Fahrdynamiksyste-men die Basis; sein Kraftschlusspotenzial ist ein An-gebot, dass insbesondere die Bremssysteme intelligent ausreizen sollten (. Abb. 5.13).

Um den Reifen schon im Entwurfsstadium in die Fahrzeugentwicklung einzubeziehen, müssen Rei-fenmodelle verfügbar sein, die Reifeneigenschaften darstellbar und vorhersagbar machen. In der Fahr-

. Abb. 5.11 Seitenkraft und Rückstellmoment über Schräglaufwinkel für einen typischen Pkw-Reifen bei unterschiedlichen Radlasten

6000

5000

4000

3000

2000

1000

0

150

125

100

75

50

25

0

–25 0 5 10 15 20

Fz = 6 kN

Fz = 6 kN

Fz = 4 kN

Fz = 4 kN

Fz = 2 kN

Fz = 2 kN

ohne SturzSturz – 4°Sturz + 4°

Rüc

kste

llmom

ent [

Nm

]S

eite

nkra

ft[N

]

Schräglaufwinkel [°]α

Formschlupf

Gleitschlupf

α α

v v

kleinerSchräglaufwinkel

großerSchräglaufwinkel

Kapitel 5 • Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

5

Page 9: Bremsenhandbuch || Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

73

dynamiksimulation werden verschiedene dynamische Reifenmodelle zur Beschreibung des Reifenverhaltens verwendet. Modelle, die vom Reifenaufbau der Rei-fenphysik ausgehen, sind dabei sehr komplex. Ein-fachste Modelle basieren auf der mathematischen Be-schreibung gemessener Reifeneigenschaften.

5.3.1 Reifenmodelle

Reifenmodelle dienen dazu, Reifeneigenschaften qua-litativ oder quantitativ darzustellen und vorherzusa-

gen. Sie können je nach Anforderung unterschied-liche Komplexität besitzen, beginnend bei einfachen mathematischen bis hin zu detaillierten dynamischen FEM-Modellen. Die zur Berechnung notwendigen Reifenparameter können über spezielle Messungen oder Berechnungen aus komplexeren Reifenmodellen (zum Beispiel FEM) bestimmt werden. Entsprechende Modelle sind in der Lage, unebene Straßen zu über-fahren und die entstehenden Kräfte an die Achse und damit an ein angekoppeltes Fahrzeugmodell weiterzu-geben. Der Bodenkontakt kann zum Beispiel über so

. Abb. 5.12 Gough-Diagramm für einen typischen Pkw-Reifen

Rückstellmoment [Nm]

Reifennachlauf [mm]S

eite

nkra

ft[N

]

6000

5000

4000

3000

2000

1000

00 20 40 60 80 100 120

Radlast = 6 kN

5 10 15 20

25

30

35

40

Schräglaufwinkel = 1°

2

v = 80 km/h

4

6°8°

10°

. Abb. 5.13 Interaktion Fahrbahn/Reifen/Bremse [6]

ReifenmodelleABS (trocken/nass)/

Blockieren

StraßenoberflächeBeschreibung Textur

Fraktales Kontakt-Modell

Viskoelastisches FriktionsmodellGummireibung

Reifeneigenschaften= ( , , , Schlupf)µ µ υv p

Synergiepotential

Interaktives SystemReifen – Bremse

Bremssystem(Auslegung, Regelung ...)

WechselwirkungReifen – Fahrzeug

(Simulation)

5.3 •  Interaktion Reifen-Bremse5

Page 10: Bremsenhandbuch || Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

74

genannte Bürsten abgetastet werden, die entstehenden Kontaktkräfte werden berechnet.

Das Swift-Reifenmodell (.  Abb.  5.14) wurde in einem europäischen Konsortium von Fahrzeugher-stellern und Lieferanten erarbeitet. Durch die Stan-dardisierung kann europaweit mit austauschbaren Parametersätzen gearbeitet werden.

5.3.2 DynamischeUmfangskraft-Schlupf-CharakteristikdesReifensbeimBremsen

Alle bisher betrachteten Kräfte und Momente gelten für den stationär rollenden Reifen. Bei transienten Änderungen der Betriebsbedingungen des Reifens wie Brems- oder Antriebskraft, Schräglaufwinkel, Last, Sturz und Felgenquerverschiebung relativ zum Latsch ist eine bestimmte Laufstrecke erforderlich, bis sich der neue stationäre Zustand eingestellt hat. Der Reifen baut die Reaktionskräfte über eine be-stimmte Abrollstrecke auf, deren Länge im Wesent-lichen von den Betriebszuständen und den Reifen-parametern Masse, Dämpfung und Reibung im Latsch abhängt. Die entsprechende Kenngröße ist die Relaxations- oder Einlauflänge; sie ist definiert als die Abrollstrecke, bei der die Kraft F = F0 · (1 – 1/e) er-reicht. Für Pkw-Reifen liegen zum Beispiel für den

Seitenkraftaufbau typische Einlauflängen zwischen 0.2 und 0.7m.

Grundsätzlich gibt es Einlauflängen für alle Kraft-richtungen; bei periodischen Änderungen der Be-triebsbedingungen ergibt sich ein Phasengang. Dazu kommt die dynamische Antwort des schwingungsfä-higen Systems im Zeitbereich.

Die in . Abb. 5.15 dargestellten Ergebnisse zeigen das mit einem komplexen Reifenmodell berechne-te Verhalten eines Reifens auf stufenweise Erhöhung des Bremsmomentes bei zwei Fahrgeschwindigkeiten. Durch diese stufenweise Veränderung des Bremsmo-mentes werden die in-plane Moden des Reifens (in Radebene) angeregt. Frequenz und Dämpfung die-ser Torsionsschwingungen werden bestimmt durch die Steifigkeiten und Dämpfung des Reifens und die Trägheitsmomente von Reifen, Felge und Brems-scheibe, an angetriebenen Achsen kommt noch ein Anteil aus dem Antriebsstrang hinzu. Daraus ergibt sich eine charakteristische Antwort des Reifens mit Überschwingern in der Umfangskraft abhängig von der Zeit. Die Dämpfung des Systems wird mit abneh-mender Fahrgeschwindigkeit deutlich geringer.

Zu dem hier behandelten Einlaufverhalten kommt überlagernd die Abhängigkeit des verfügbaren Kraft-schlusses von den fahrdynamischen Bedingungen beim Bremsen. Eine gute Abstimmung von Fahrwerk,

. Abb. 5.14 Swift-Reifenmodell (Short Wavelength Intermediate Frequency Tire Model) [7]

ω

x

y

z Felge

SeitenwandSteifigkeit / Dämpfung

Schlupfmodell

Rest-Steifigkeit

Kapitel 5 • Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

5

Page 11: Bremsenhandbuch || Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

75

Bremse und Reifen aufeinander ist wichtig für kurze Bremswege.

Beispiel: Auslegung der Reifen unter Beachtung der dynamischen Radlastverlagerung, so dass• an der Vorderachse mit zunehmender Last die

Aufstandsfläche bei gleichmäßiger Pressung überproportional wächst (kleinere Pressung be-deutet einen höheren Kraftschlussbeiwert),

• an der Hinterachse mit abnehmender Last die Seitenführung möglichst hoch bleibt und

• die Umfangskraft-Schlupf-Kurve optimal regel-bar ist, dabei sind besonders die Lage des Kraft-schlussmaximums, die Breite des Maximums und der Abfall der Kurve nach dem Maximum zu berücksichtigen.

5.3.3 UmfangskräftebeimABS-Bremsen

Blockierende Räder übertragen keine Seitenführungs-kräfte; blockieren beide Räder einer Achse verliert das Fahrzeug die Lenkfähigkeit. Antiblockiersysteme er-lauben Vollbremsungen ohne blockierende Räder. Im Rahmen physikalischer Grenzen verbessert die ABS-Regelung die Fahreigenschaften Fahrstabilität (Schleudern) und Lenkbarkeit (Ausweichen) durch das Verhindern von blockierenden Rädern. Dabei er-fassen die elektronisch geregelten Bremssysteme die Drehzahlen aller vier Räder und stellen durch indivi-duelle Regelung des Radbremsdruckes die optimalen Schlupfverhältnisse ein.

In . Abb. 5.16 ist eine typische ABS-Bremsung aus v = 100 km/h auf trockenem Asphalt dargestellt. Um-fangskraft, Radlast und Radgeschwindigkeit an einem

. Abb. 5.15 Dynamische Bremskraft bei stufenweise erhöhtem Bremsmoment (berechnet mit FTire)

8000

7000

6000

5000

4000

3000

2000

1000

01,00 1,20 1,40 1,60 1,80 2,00 2,20 2,40

Bre

msk

raft

[N]

v = 25 km/h

Zeit [s]

v = 100 km/h8000

7000

6000

5000

4000

3000

2000

1000

0

Bre

msk

raft

[N]

25 km/h

Bremsschlupf [%]

–10,00 –5,00 0,00 5,00 10,00 15,00 20,00

100 km/h

5.3 •  Interaktion Reifen-Bremse5

. Abb. 5.16 Bremskraft, Radlast und Radgeschwindigkeit an einem Rad der Vorderachse während einer ABS-Bremsung

Bremskraft

Radlast

Radgeschwindigkeit

Rad

last

, Bre

msk

raft

, Rad

ges

chw

ind

igke

it

Zeit

Page 12: Bremsenhandbuch || Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

76

Rad der Vorderachse wurden während der Bremsung mit einem Messrad aufgezeichnet.

Die Bremsverzögerung des Fahrzeuges führt zur Radlastverlagerung von der Hinterachse auf die Vor-derachse abhängig von Schwerpunkthöhe und Rad-stand des Fahrzeuges. Die Trägheitskräfte in Verbin-dung mit Reifen- und Aufbaufederung und -dämp-fung führen zu Nickschwingungen des Fahrzeuges und erzwingen Radlastschwankungen mit entspre-chenden Schwankungen der übertragbaren Brems-kraft. Im Verlauf der Abbremsung in .  Abb. 5.16 ist die Nickschwingung des Fahrzeuges an der Radlast-schwankung zu erkennen. Diese Radlastschwankun-gen führen zu Störungen des Raddrehzahlsignals, das der ABS-Regler zur Einhaltung des optimalen Schlupfbereiches überwacht. Gerät ein Rad in zu kleine Drehgeschwindigkeiten im Vergleich zur Fahr-zeuggeschwindigkeit und droht damit zu blockieren, wird der Bremsdruck reduziert, um den Reifen wieder in seinen optimalen Arbeitsbereich nahe dem Maxi-mum der Umfangskraft-Schlupf-Kurve zu bringen.

Die Umfangskräfte/Bremskräfte, die ein Reifen im Verlauf einer ABS-Bremsung zur Verzögerung eines Fahrzeuges aufbringen kann, werden also von• der Radlastverlagerung beeinflusst durch Fahr-

zeuggeometrie und -gewicht,• der Radlastschwankung beeinflusst durch das

Fahrwerk und Dämpfung und• der Anregung durch den Druckaufbau bzw.

Druckabbau im Bremssystem bestimmt.

Bei der Auslegung des Reifens müssen die Umfangs-kraft-Schlupf-Charakteristik durch eine geeignete Form und das Schwingungsverhalten durch die rich-tige Wahl von Steifigkeit und Dämpfung optimiert werden.

Einen kurzen Bremsweg erhält man durch optimal aufeinander abgestimmte Komponenten bei Betrach-tung des Gesamtsystems Fahrzeug. So muss der Reifen ein Kraftschlusspotenzial liefern, das eine hohe Verzö-gerung ermöglicht. Gleichzeitig muss das ABS dieses Kraftschlusspotenzial optimal ausnutzen können und das Fahrzeug in seinem Schwingungsverhalten dafür sorgen, dass das Rad möglichst ruhig läuft und somit der Reifen sein Potenzial zur Geltung bringen kann.

Das Potenzial des Gesamtsystems ergibt sich aus der Feinabstimmung der Komponenten aufeinander.

Ab November 2012 ist der Verkauf von Reifen mit einem Label in der EU mit der Verordnung Nr. 1222/2009 [8] vorgeschrieben (. Abb. 5.17). Das Label dient zur Steigerung der Sicherheit sowie der wirt-schaftlichen und ökologischen Effizienz im Straßen-

verkehr. Klassifiziert werden die Reifeneigenschaften Rollwiderstand, Nassgriff und Geräusch.

Der Nassgriff wird durch den Vergleich mit einem vorgegebenen Referenzreifen auf nasser Straße ermittelt. Gemessen wird der Nasshaftungskennwert G, der die Nasshaftung relativ zum Referenzreifen be-schreibt.

Bei der Optimierung des Nassgriffs gibt es einen Zielkonflikt zum Rollwiderstand. Die Herausforde-rung an die Reifenentwicklung besteht darin, einen rollwiderstandsoptimierten Reifen auf sehr hohem Nassgriffniveau zu entwickeln.

5.3.4 KombinierteUmfangs-undSeitenkraft,BremsenbeiSeitenkraftbedarf

Mit der Forderung nach Lenkfähigkeit und Fahrsta-bilität eines Fahrzeuges beim Bremsen kommt dem Kraftschlussverhalten des Reifens unter kombinier-ter Längs- und Querbelastung im System Fahrbahn-Reifen-Bremse eine besondere Bedeutung zu. In .  Abb.  5.18 sind die Zusammenhänge zwischen den

. Abb. 5.17 EU Label für Pkw-Reifen

Kapitel 5 • Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

5

Page 13: Bremsenhandbuch || Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

77

Geschwindigkeitskomponenten aus Umfangs- und Querschlupf dargestellt.

Es gilt bei kombinierter Beanspruchung für den Schlupf:

Umfangsschlupf λ =rdyn · ω − v · cos α

v (5.5)

Querschlupf λq =v · sin α

v= sin α (5.6)

Resultierender Schlupf λres =√

λ2 + λ2q

(5.7)

Der Reifen kann sein maximales Kraftschlusspoten-zial jeweils nur in einer Richtung anbieten. Bei kom-binierter Beanspruchung teilt sich die Gesamtkraft in die Komponenten Umfangskraft und Seitenführungs-kraft auf (. Abb. 5.19).

Vereinfachend kann das Kraftschlussverhalten mit dem Kamm’schen Kreis beschrieben werden (.  Abb.  5.20). Unter dieser Voraussetzung lässt sich idealisiert mit dem Weber’schen Reibungskuchen eine relativ einfache räumliche Darstellung des Rei-fenkennfeldes für die horizontale Kraftübertragung (Fx/Fy) generieren (. Abb. 5.21). Dabei wird isotropes Reibungsverhalten vorausgesetzt.

Fres =√

F 2x + F 2

y (5.8)

Mit zunehmendem Bremsschlupf geht der Seitenkraft-beiwert stark zurück (. Abb. 5.22). Bereits bei einem Bremsschlupf von 20 % fällt zum Beispiel die Seiten-kraft bei 5° Schräglaufwinkel um circa 50  % gegen-über dem frei rollenden Rad ab. Die Veränderungen der Seitenkraftkennlinie unter Bremskraft hat einen starken Einfluss auf die Lenkbarkeit und Stabilität des Fahrzeuges während einer Bremsung. Der Lenkrad-

. Abb. 5.18 Geschwindigkeits- und Schlupfverhältnisse am rollenden Rad unter kombinierter Horizontalbeanspruchung. vλx = Schlupfgeschwindigkeit in Umfangsrichtung, vλy = Schlupfgeschwindigkeit in Querrichtung, vλres = resultierende Schlupf-geschwindigkeit

V Vx = · cos α

Vr

u

dyn

=·ω

β

VVλy

V x

Vλres

V Vy = · sin αα

. Abb. 5.19 Zusammenwirken von Umfangs- und Seitenkräften/Kraftschlussellipse [9]

α1

α1

λ1

λ1

α2

α2

λ2

λ2

α3

α3

λ3

λ3

λ3

α4

α4

λ4

λ4

λ

α = 0

λ = 0

λ = 0

αFx–Fx

–Fx

FyFy

5.3 •  Interaktion Reifen-Bremse5

Page 14: Bremsenhandbuch || Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

78

. Abb. 5.21 »Reibungskuchen« nach Prof. Weber als eine allgemeine Darstellung für die resultierenden Führungs-kräfte am Reifen (FU = Fx = Umfangskraft, FS = Fy = Seitenkraft, Fres = resultierende Horizontalkraft, λres = resultierender Schlupf, α = Schräglaufwinkel, α1 = beliebiger Schräglauf-winkel ≠ 0, λ = Längsschlupf, λ1 = beliebiger Längsschlupf ≠ 0, λ = Winkel der Richtung der Reibkraft im Kamm’schen Kreis) [9]

F FU res= ·cos β

λ

λ

sin α1sin α

sin α

Fres·cosβ

F FS res= ·sin β

Fres

Fres

λres

λres

Fres·sinβ

Fres res( ),λ β

Fres res( ),λ β

λ1

winkelbedarf steigt mit zunehmendem Schlupf, da der Seitenkraftbeiwert an der Vorderachse sinkt. Es wer-den größere Lenkradwinkel zur Einleitung eines Aus-weichmanövers notwendig. Besonderes Augenmerk ist aber auf die Verhältnisse an der Hinterachse eines Fahrzeuges zu lenken, da das Niveau der Schräglauf-steifigkeit die Giereigenfrequenz und Gierdämpfung entscheidend bestimmt. Fällt die Schräglaufsteifigkeit an der Hinterachse zu stark ab, so wird die Grenze der Gierstabilität erreicht und das Fahrzeug schleudert, wenn zum Beispiel ein Ausweichmanöver während einer Bremsung notwendig ist.

Im .  Abb.  5.23 zeigt sich der Einfluss unter-schiedlicher Laufstreifenmischungskonzepte auf das Querbeschleunigungsniveau eines Fahrzeuges beim Bremsen im Kreis. Die mit Silica gefüllte Laufstreifen-mischung hat auf nasser Fahrbahn ein höheres Kraft-schlussniveau als rußgefüllte Laufstreifenmischungen.

5.4 IntegrationdesReifensindasGesamtsystemFahrzeug

Die Weiterentwicklung des Reifens als integrale Komponente von Fahrdynamiksystemen bietet neue Potentiale für Synergien. Das gilt grundsätzlich für alle Komponenten.

Die Entwicklung singulärer Produkte in funk-tionalen System-Netzwerken führt sowohl zu ver-besserter Systemqualität und -funktionalität, als auch zu verbesserten Produkten als echte systembezogene Komponenten.

Der beste Weg zu besseren und erweiterten Funk-tionalitäten ist die vernetzte Entwicklung im Dialog der Entwickler und der Komponenten. Die Anwen-dungsparameter der Komponenten werden interaktiv im System definiert und nicht für das singuläre Pro-dukt. Die technologische Entwicklung bei sicherheits-relevanten Systemen steht im Vordergrund; der Reifen ist dabei von hervorragender Bedeutung.

Beim so genannten 30-Meter-Auto [10] hat die Continental AG durch konsequente Vernetzung und Optimierung der relevanten Fahrzeugfunktionen an einem Technologieträger die Grenzen für eine kom-promisslose Verkürzung (20  %) des Anhalteweges dargestellt. Speziell konnte der Bremsweg eines Se-rienkraftfahrzeugs aus 100 km/h Ausgangsgeschwin-digkeit durch die Verknüpfung der unterschiedlichen Fahrzeugkomponenten und deren konsequenter Ab-stimmung aufeinander von 38 m auf 30 m reduziert werden. Diese Leistungssteigerung wurde vor allem durch die vollständige funktionale Vernetzung der Komponenten Reifen, Bremse und Regelalgorithmen,

. Abb. 5.20 Zusammenhang zwischen Kraft- und Schlupfkomponenten; Kamm’scher Kreis

Fy

FS

Fres

sin α

β λ

λres

FU Fx

Kapitel 5 • Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

5

Page 15: Bremsenhandbuch || Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

79

Luftfeder/Dämpfer, Chassis, Fahrzeugumfeldsensorik und Reifensensoren erreicht. Die Beiträge der Einzel-komponenten sind dabei deutlich unterschiedlich. Während der Reifen sowie das Bremssystem mit Re-gelung den Hauptanteil beitragen ist der Anteil durch zusätzliche Sensorik eher klein. Besonders wichtig dabei war die Abstimmung der Regelalgorithmen mit den Reifen.

Die Vorteile einer integralen Entwicklung von unterschiedlichen Fahrzeugkomponenten werden am Beispiel einer Produktoptimierung ABS – Winterrei-fen aufgezeigt.

Im Weiteren wird die Bedeutung der Bremsspur – die durch die Wechselwirkung Reifen – Fahrbahn und dem dynamischen Verhalten des Gesamtsystems Fahrzeugs bestimmt wird – in der Unfallrekonstruk-tion erläutert.

5.4.1 ProduktoptimierungReifen–ABS-RegelungamBeispielWinterreifen

Eine konsequente Abstimmung zwischen der Cha-rakteristik von Winterreifen und dem ABS-Regler er-möglicht eine deutliche Verbesserung des Bremsens auf Schnee ohne die Einschränkung anderer Eigen-schaften.

Die detaillierte Kenntnis der Fahrzeugregelal-gorithmen in Verbindung mit dem Know-how zur Kraftschlussphysik des Reifens ermöglicht es, beide Komponenten gezielt aufeinander abzustimmen. Der Reifenentwickler kann durch die Wahl von Lauf-flächenmischung und Profildesign gezielt Einfluss auf die Form der µ-Schlupf-Kurve nehmen. Die µ-Schlupfcharakteristik beeinflusst entscheidend das Regelverhalten.

Speziell für Winterreifen ergeben sich Ansätze, den Zielkonflikt zwischen dem Bremsen auf trockener und schneebedeckter Fahrbahn auf höherem Niveau zu lösen [11].

Im .  Abb.  5.24 ist der Verlauf des Kraftschluss-beiwertes µ für Längs- und Seitenkräfte (bei einem Schräglaufwinkel von 1°) über dem Bremsschlupf des Reifens bei unterschiedlichen Fahrbahnzuständen

. Abb. 5.22 Umfangs- und Seitenkraftbeiwerte bei kombiniertem Schlupf über dem Bremsschlupf

1,25

1,00

0,75

0,50

0,25

0

Bremsschlupf [%]

Rei

fenk

rafts

chlu

ssbe

iwer

te fü

r,

[N]

FF

xy

FFFFF

x

x

x

y

y

ααααα

= 0°= 5°= 10°= 5°= 10°

50403020100

5.4 •  Integration des Reifens in das Gesamtsystem Fahrzeug5

. Abb. 5.23 ABS-Bremsung entlang dem Kamm`schen Kreis

10

8

6

4

2

00 2 4 6 8 10

Bremsverzögerung [m/s ]2

Que

rbes

chle

unig

ung

[m/s

]2

SilicaRuß

Page 16: Bremsenhandbuch || Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

80

dargestellt. Auf trockenen und nassen Oberflächen zeigt sich der typische Abfall der Bremskraft nach dem Maximum im Bereich von 10 % Schlupf. Eis zeigt ein konstantes Verhalten auf sehr niedrigem Niveau, wohingegen auf Schnee ein nahezu kontinuierliches Ansteigen beobachtet wird.

Standard-Regelalgorithmen regeln auf das Maxi-mum dieser Kurven für trockene und nasse Oberflä-chen hin und begrenzen den maximal auftretenden Schlupf, um ein ausreichendes Potential an Seitenfüh-rung zu gewährleisten. Ein etwaiges Bremspotential auf Schnee bei höheren Schlupfwerten bleibt daher völlig ungenutzt.

Die Kenntnis der Charakteristik der µ-Schlupf-kurven ermöglicht eine detaillierte Anpassung der ABS-Regelstrategie an deren Form. Der zunehmend breitere Einsatz von Fahrdynamikregelsystemen wie zum Beispiel ESP stellt die notwendige Sensorik zur Erkennung des Seitenführungsbedarfs (Lenkwin-kel-/Querbeschleunigungssensor) zur Verfügung. Dadurch kann im Fall des Geradeausbremsens ein ABS-Hochschlupfregler dargestellt werden, der bei Seitenkraftbedarf automatisch auf den Standardregler zurückgeschaltet wird.

Der adaptive Hochschlupfregler gibt den erwei-terten Schlupfbereich dann frei, wenn die Beobach-tung der Räder ergibt, dass der Gradient des µ-Wertes über den üblichen Regelbereich hinaus positiv bleibt. Das ist speziell auf Schnee der Fall. Nach dem Regel-

. Abb. 5.24 µ-Schlupf Verlauf von Winterreifen bei unterschiedlichen Fahrbahnzuständen [11]

Winterreifen TS790 H Regelbereich fürStandard-ABS

Hoch SchlupfABS-Regelung

längslängs Schneequer (trocken)quer (Schnee)

Schlupf

12 % 25 % 50 %

μquer bei Schräg-laufwinkel α = 1°

Bremspotentialauf Schnee

μμ

längs

quer

Kraftschluss-beiwert

nass

Schnee

trocken

1,0

0,5

0,3

0,1

μμμμ

konzept können die Vorderräder auf einen beliebigen Punkt der µ-Schlupfkurve geregelt werden. Die erziel-bare Bremswegverkürzung liegt auf Schnee für Win-terreifen im Mittel bei 10 %.

5.4.2 BremsspureninderUnfallrekonstruktion

Bevor die überwiegende Anzahl von Pkw nicht mit einem Anti-Blockier-System ausgerüstet war, spiel-ten Blockierspuren, die von Pkw bei Notbremsungen auf der Straße hinterlassen wurden, in der Unfallre-konstruktion eine herausragende Rolle. Blockierspu-ren werden von stillstehenden (blockierten) Rädern hinterlassen und unterscheiden sich deutlich von Bremsspuren, die unter hohem Umfangsschlupf Spu-ren zeichnen. Dabei muss unterschieden werden, ob der Spurbeginn durch die Vorderräder oder durch die Hinterräder gezeichnet wurde, insbesondere bei kur-zen Blockierspuren. Bei einem Beginn der Blockier-spur von den Hinterrädern wird eine zu große Brems-strecke berücksichtigt, wenn man davon ausgeht, dass in der Regel die Blockierspuren von den Vorderrädern eines Pkw stammen. Dieses führt zu einer zu hohen Annäherungsgeschwindigkeit des Fahrzeugs.

Nachdem nunmehr die Mehrzahl der sich im Ver-kehr befindlichen Fahrzeuge mittlerweile mit einem Anti-Blockier-System ausgerüstet ist, ist eine Bestim-

Kapitel 5 • Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

5

Page 17: Bremsenhandbuch || Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

81

mung der Geschwindigkeit von Pkw mithilfe von Blo-ckierspuren bzw. Bremsspuren in der Unfallrekonst-ruktion heutzutage eher eine Ausnahme.

Die Annäherungsgeschwindigkeit eines Pkw lässt sich bei Nicht-Vorhandensein von Bremsspuren, z. B. von ABS-Regelspuren, s. . Abb. 5.25, die auch nur sehr selten gefunden werden, nur über die Berechnung der Kollisionsgeschwindigkeit und über zeit/wegmäßige Betrachtungen ermitteln, indem von einer Spontanre-aktion auf eine Signalposition des zweiten Verkehrs-teilnehmers ausgegangen wird [12].

Bei Motorrädern haben wir noch die Situation wie vor 30 Jahren bei Pkw. Sie sind in der Regel nicht mit einem Anti-Blockier-System ausgerüstet. Daher finden sich auch heute noch bei Unfällen häufig Blo-ckierspuren auf der Fahrbahn, die von Motorrädern vor der Kollision durch Einsatz der Bremsanlage hin-terlassen werden.

Beim Motorrad besteht die Besonderheit, dass der Fahrer, mit wenigen Ausnahmen, getrennt die Vorder-radbremse über einen Handbremshebel und die Hin-terradbremse durch einen Fußhebel bedienen muss, vgl. 7 Kap. 10.1.

Anders als beim Pkw ist es für die Stabilität des Krades wünschenswert, dass nicht zuerst das Vorder-rad zum Blockieren kommt, sondern allenfalls das Hinterrad, weil die Stabilität des Zweirades durch

Kreiselkräfte am Vorderrad aufrecht gehalten wird, die nur bei sich drehendem Rad vorhanden sind. Je-des Kind kann mit einem Fahrrad mit Rücktritt auf glatter Fahrbahn das Fahrrad mit blockiertem Hinter-rad über lange Strecken stabil abbremsen. Der Ver-such, gleiches mit dem Vorderrad zu realisieren, führt zum sofortigen Sturz. Diese Erfahrung machen Mo-torradfahrer in gleicher Weise. Daher wird auch bei modernen Motorrädern die Vorderradbremse nach Möglichkeit so eingesetzt, dass ein Blockierzustand nicht erreicht wird. Aufgrund der sehr hohen Schwer-punktlage im Verhältnis zu einem kleinen Radstand (Abstand Vorderachse-Hinterachse) kommt es bei einem Motorrad zu einer sehr starken Achslastver-lagerung beim Bremsen, die auch dazu führen kann, dass das Hinterrad vom Boden abhebt.

Sind Pkw-Blockierspuren vorhanden, so ist die Höhe der Verzögerung maßgeblich davon abhängig, wie der Gleitbeiwert zwischen Reifen und Fahrbahn ist und in welchem Umfang auch die in der Regel häu-fig nicht blockierten Hinterräder zur Bremswirkung beigetragen haben, weil keine besonderen Anforde-rungen an den Fahrer gestellt werden, außer möglichst schnell eine möglichst hohe Fußkraft aufzubringen. Aus einer Vielzahl von Vollbremsungen mit Pkw lässt sich ein relativ enger Bereich festlegen, in dem Voll-bremsverzögerungen z.  B. auf trockener Straße für

. Abb. 5.25 ABS-Spurzeichnung auf neuem Asphalt (5er BMW aus ca. 50 km/h)

5.4 •  Integration des Reifens in das Gesamtsystem Fahrzeug5

. Abb. 5.26 Verzögerungsverlauf Pkw, mittlere Verzögerung: 7,9 m/s2

2,50

–2,5–5

–7,5–10

23 23,5 24 24,5 25 25,5 26 26,5

Vollbremsung PKWa–längs

a[m

/s]2

Zeit [s]

Page 18: Bremsenhandbuch || Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

82

einen normalen Pkw zu berücksichtigen sind. In der Regel werden auf trockener Asphaltdecke Verzöge-rungen zwischen 7 und 8 m/s2 als mittlere Verzöge-rung erreicht, s. .  Abb.  5.26. Pkw mit extremer Be-reifung und besserer Bremsanlage können auch Werte von 9 oder gar 10 m/s2 auf einer normalen Asphalt-decke erreichen.

Wird eine Blockierspur eines Motorrades gefun-den, so muss zunächst einmal geklärt werden, ob es sich bei dieser Spur um eine Spur vom Vorderrad oder vom Hinterrad handelt. Eine beispielsweise 20 m lan-ge Blockierspur kann zweifelsfrei nur dem Hinterrad zugeordnet werden, da eine derartig lange Blockier-phase mit dem Vorderrad in der Regel nicht mög-lich ist. Das Krad wäre schon sehr viel früher zum Sturz gekommen. In vielen Unfallgeschehen finden

. Abb. 5.28 Spurenvergleich Krad

5,3 cm 4,0 cm

A B

A

BA: nur Hinterra d gebremstB: Vo rder- und Hinterra d gebremst

sich aber Blockierspurabschnitte, die eindeutig einem Vorderrad zugeordnet werden können. Nicht selten kommt das Motorrad noch vor der Kollision zum Sturz und rutscht häufig über lange Strecken auf der Seite. Es lassen sich nun maximale Bremsverzögerun-gen in Abhängigkeit vom Motorradtyp bei alleinigem Einsatz der Vorderradbremse, der Hinterradbremse und bei Kombination der Bremsanlagen angeben.

Wie man sich aufgrund der Radlastverteilung leicht vorstellen kann, wird die geringste Verzögerung in der Regel bei alleinigem Einsatz der Hinterrad-bremse erzeugt, s. . Abb. 5.27.

Besteht die Möglichkeit, an der Unfallstelle Ver-gleichsbremsungen vorzunehmen, kann beispielswei-se aus der Breite der hinterlassenen Hinterradspur auf die Höhe der Verzögerung geschlossen werden [13]. Je

. Abb. 5.27 Verzögerungsverlauf Krad

a–längs

a[m

/s]

2

Zeit [s]

2

0

–2

–4

–628 28, 5 29 29, 5 30 30, 5 31 31, 5 32 32,5 33

Hinterradblockierbremsung Krad

Kapitel 5 • Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

5

Page 19: Bremsenhandbuch || Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

83

schmaler diese Spur ist, desto höher die Gesamtverzö-gerung, die sich durch eine höhere Radlastverlagerung und damit Entlastung des Hinterrades ausdrückt. Je geringer die Hinterradlast, desto schmaler die Spur.

Abbildung  5.28 zeigt die sich verändernde Spur-breite bei unterschiedlicher Verzögerung. Auch hier gilt, dass eine Verallgemeinerung nicht möglich ist. Welche mittlere und maximale Bremsverzögerung mit einem Motorrad erreicht werden kann und vor allem, wie schnell diese Bremsverzögerung aufgebaut werden kann, hängt weniger vom Motorrad als vom Motor-radfahrer ab [14, 15, 16]. Umfangreiche Tests mit einem Motorradclub haben ergeben, dass Motorradfahrer mit großer Erfahrung sowohl schneller eine hohe Verzögerung erreichen als auch ein höheres Niveau. Ein nicht erfahrener Motorradfahrer benötigt eine extrem lange Bremsschwellphase, da er sich sehr lang-sam an sein Limit herantastet. Aber auch bei einem erfahrenen Normalfahrer ist ein stetiger Anstieg der Verzögerung zu erkennen, da er zunehmend das Vor-derrad stärker abbremst, s. . Abb. 5.29. Umfangreiche Bremsverzögerungsversuche aus Ausgangsgeschwin-digkeiten zwischen 30 und 70  km/h haben mittlere Vollbremsverzögerungen zwischen 4,3 und 5,1 m/s2 an der Untergrenze und zwischen 6,9 und 7,9 m/s2 an der Obergrenze erbracht. Dabei ist zu beachten, dass es sich hierbei nicht um die maximal auftretende Ver-zögerung handelt. Die unter Umständen sehr lange Bremsschwellphase und ein stetig ansteigendes Verzö-gerungsniveau führen zu den genannten Ergebnissen. Bei einer Vermeidbarkeitsbetrachtung sollte nicht mit der maximal erreichbaren Bremsverzögerung eines Motorrades gerechnet werden, da dann stets ein Sturz des Motorrades in Kauf genommen würde.

5.5 Ausblick

In der Interaktion Fahrbahn – Reifen – Bremse liegt noch ungenutztes Potenzial. Diese Interaktion muss schon im Entwurfsstadium in den ersten virtuellen

Ansätzen Basis für die Gestaltung von Straßenbelä-gen, Reifen und Regelsystemen sein. Die Reifenin-dustrie wird diesen Weg in engen Entwicklungspart-nerschaften oder mit erweiterten Produktportfolios weiter gehen.

Die Bremse der Zukunft wird nicht einfach nur mit jedem Reifen klarkommen: Mit zunehmendem Verständnis der komplexen Interaktion Fahrbahn – Reifen – Bremse werden weitere Fortschritte in der Bremswegverkürzung auf unterschiedlichen Oberflä-chen erreicht.

Der Reifen der Zukunft wird über die allgemeine Verbesserung seiner Gebrauchseigenschaften hinaus erweiterte Funktionen anbieten: Als Datenträger und Datengeber wird der intelligente Reifen wichtige In-formationen für Fahrdynamiksysteme verfügbar ma-chen.

Die Fahrbahn der Zukunft wird im Rahmen wirt-schaftlich vertretbarer Ansätze durch gezielt gestaltete Oberflächen ihren Teil zur weiteren Bremswegverkür-zung beitragen.

Literatur

1. Braess, H.H., Seiffert, U. (Hrsg.): Vieweg Handbuch Kraftfahrzeugtechnik, 6. Aufl. Vieweg + Teubner Verlag, Wiesbaden (2011)

2. Heinrich, G., Schramm, J., Müller, A., Klüppel, M., Kendzi-orra, N., Kelbch, S.: Zum Einfluss der Straßenoberflächen auf das Bremsverhalten von Pkw-Reifen beim ABS-nass und ABS-trocken Bremsvorgang, 4. Darmstädter Reifen-kolloquium. Fortschritt-Berichte VDI Reihe 12 Nr. 511, Düsseldorf VDI-Verlag (2002)

3. Kummer, H.W., Meyer W.E.: J. Mater. 1, 667 (1966)4. Fischlein, H., Gnadler, R., Unrau, H.J.: Der Einfluss der

Fahrbahnoberflächenstruktur auf das Kraftschlussver-halten von Pkw-Reifen bei trockener und nasser Fahr-bahn, ATZ Automobiltechnische Zeitschrift (10/2001)

5. Thiele, K., Höfer, P., Kaliske, M.: Vorhersage von Reifen-kennlinien mit FEM Simulation, Fachtagung Reifen Fahr-bahn, VDI-Berichte 1632 (2001)

. Abb. 5.29 Vollbremsung Krad

20,25 20,75 21,25 21,75 22,25 22,75

Zeit [s]

2,5

0

–2, 5

–5

–7, 5

–10

a-längsa

[m/s

]2

6,2 m/s2

SpurzeichnungsbeginnHinterrad

t = 22,600 [s]

Literatur5

Page 20: Bremsenhandbuch || Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

84

6. Huinink, H., Schröder, C.: Dynamische Interaktion Brem-se – Reifen – Straße, XVIII. Internationales µ-Symposium Bremsen-Fachtagung, Fortschritt-Berichte VDI Reihe 12 Nr. 373, Düsseldorf VDI-Verlag (1999)

7. Maurice, J.P., Pacejka, H.B.: Relaxations Length Behavi-our of Tyres, Vehicle System Dynamics Supplement 27 Swers & Zeitlinger (1997)

8. Amtsblatt der Europäischen Union, VERORDNUNG Nr. 1222/2009 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES über die Kennzeichnung von Reifen in Bezug auf die Kraftstoffeffizienz und andere wesentliche Parame-ter vom 25. November (2009)

9. Weber, R.: Reifenführungskräfte bei schnellen Änderun-gen von Schräglauf und Schlupf, Habilitationsschrift, Fakultät Maschinenbau, Universität Karlsruhe (1981)

10. Huinink, H., Rieth, P.: Mehr Verkehrssicherheit durch Global Chassis Control, System Partners 2001, Sonder-ausgabe von ATZ und MTZ, 22–25

11. Wies, B., Lauer, P., Mundl, R.: Kraftschluss-Verbesserung durch Synergien aus Winterreifen-Entwicklung und ABS-Regelsystemen, Fachtagung Reifen Fahrwerk Fahr-bahn, VDI-Berichte 1632 (2001)

12. Becke, M.: Geschwindigkeitsermittlung vor Bremsbe-ginn, VRR VerkehrsRechtReport 1/2005, ZAP-Verlag

13. Golder, U.: Der Vollbremsvorgang eines Motorrades, VRR VerkehrsRechtReport 4/2005, ZAP-Verlag

14. Hugemann, W., Lange, F.: Neue Untersuchungen zum Bremsverhalten von Motorradfahrern. Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik 31, 62–68. Vieweg Verlag (1993)

15. Schmedding, K., Weber, M.: Verzögerungswerte von Zweirädern. In: Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik 28, 320–322 (1990). Vieweg Verlag

16. Weber, M., Hugemann, W.: Die Geschwindigkeitsrück-rechnung bei Motorradbremsungen. Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik 28, 260–263; 290–292 (1990). Vieweg Verlag

17. Ammon, D., Gipser, M., Rauh, J., Wimmer, J.: Effiziente Simulation der Gesamtsystemdynamik Reifen-Achse-Fahrbahn, Fachtagung Reifen Fahrwerk Fahrbahn, VDI-Berichte Nr. 1224 (1995)

18. Bachmann, Th.: Literaturrecherche zum Reibwert zwischen Reifen und Fahrbahn, Fortschritt-Berichte VDI Reihe 12. Verkehrstechnik/Fahrzeugtechnik Nr. 286, VDI Verlag

19. Clark, S.K.: Mechanics of pneumatic tires, U.S. Depart-ment of Transportation National Traffic Safety, Administ-ration Washington, D.C. DOT HS 805 952, August (1981)

20. Eichhorn, U.: Reibwert zwischen Reifen und Fahrbahn – Einfluss und Erkennung, Dissertation TH Darmstadt, Fachgebiet Fahrzeugtechnik Fortschritt-Berichte VDI Reihe 12 Nr. 222, Düsseldorf VDI-Verlag (1994)

21. Fach, M.: Lokale Effekte der Reibung zwischen Pkw-Reifen und Fahrbahn. Dissertation TU Darmstadt, 1999, Fortschritt-Berichte VDI Reihe 12 Nr. 411, Düsseldorf VDI-Verlag (2000)

22. Klüppel, M., Heinrich, G.: Rubber friction on self-affine roadtracks. Rubber Chem. Technol. 73, 578 (2000)

23. Mitschke, M.: Dynamik der Kraftfahrzeuge, Antrieb und Bremsung, Band A, 3. neubearbeitete Auflage. Springer Verlag, Berlin (1995)

24. Persson, B.N.J.: Sliding Friction: Physical Principals and Applications. Springer Verlag, Heidelberg (1997)

25. Pacejka, H.B., Besselink, I.J.M.: Magic Formula Tyre Mo-del with Transient Properties, Swets & Zeitlinger B.V., pp. 234–249. Lisse, The Netherlands (1997)

26. Reimpell, J.: Fahrwerktechnik, Reifen und Räder, Vogel Verlag (1982)

27. Strothjohann, Th., Breuer, B., Dollinger, F., Köbe, A., Pren-ninger, M.: Potentiale der Oberflächenwellentechno-logie für den Darmstädter Reifensensor. 3. Darmstädter Reifenkolloquium. Fortschritt-Berichte VDI Reihe 12 Nr. 437, Düsseldorf VDI-Verlag (2000)

28. Wang, Y.Q., Gnadler, R., Schieschke, R.: Einlaufverhalten von Automobilreifen, ATZ Automobiltechnische Zeit-schrift 96 (1994)

29. Ziebart, W.: Global chassis control – Mehr Sicherheit und Komfort durch Systemvernetzung, Fachtagung Reifen Fahrwerk Fahrbahn, VDI-Berichte 1632 (2001)

30. Zegelaar, P.W.A.: The dynamic response of tires to brake torque variations and road unevennesses, Dissertation-DelftUniversity (1998)

Kapitel 5 • Interaktion Fahrbahn-Reifen-Bremse

5