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Brief an Barack Obama

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Brief an Barack Obama, Die unbezähmbare Schönheit der Welt, von Édouard Glissant und Patrick Chamoiseau, Verlag Das Wunderhorn, 2011.

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Titel der Originlausgaben:L’Intraitable beauté du monde. Adresse à Barack Obama© 2009 Galaade Éditions, ParisQuand les murs tombent. L’Identité nationale hors-la-loi?© 2007 Galaade Éditions, Paris

Lektorat: Laure Clément

© 2011 Verlag Das Wunderhorn GmbHRohrbacher Straße 18, 69115 Heidelbergwww.wunderhorn.deAlle Rechte vorbehaltenSatz: Cyan, HeidelbergDruck: NINO Druck, Neustadt/WeinstraßeISBN 978-3-88423-378-8

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Brief an Barack Obama

Die unbezähmbare Schönheit der Welt

Wenn die Mauern fallen

Aus dem Französischen übersetzt und mit einer Vorbemerkung von Beate Thill

Wunderhorn

Patrick Chamoiseau

Édouard Glissant

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Vorbemerkung

Der Begriff des »Imaginären« und die Zeit

Das Imaginäre gehört zu den Konzepten, die im französischspra-chigen Raum häufig verwendet werden, doch aufgrund eines wach-senden Abstands zu dessen intellektuellen Diskursen in Deutschland wenig geläufig sind.

In den beiden Texten von Édouard Glissant und Patrick Cha-moiseau steht der Terminus häufig im Plural, um die Unterschied-lichkeit und Vielfalt der einzelnen »Imaginären« zu unterstreichen. In der Übersetzung habe ich stets den Singular gewählt und als deutsche Entsprechung manchmal »Vorstellungswelt« dazugesetzt.

Doch woher leitet dieser Begriff sich her und wie wandelt er sich im Laufe der Zeit im Gebrauch bei Glissant?

Zunächst die »existenzialistische« Definition von Sartre: »Die Imagination ist die große ›irrealisierende‹ Kraft des Bewußtseins, und das Imaginäre ist ihre Entsprechung im Denken«.1

In seinem ersten Essay Soleil de la conscience schreibt Édouard Glissant: »Jeder Mensch kommt zuerst über seine eigene Welt zu einem Bewußtsein von der Welt. Es wird in dem Maße universell sein (um es gleich weit zu fassen), wie die eigene besonders ist; in dem Maße großzügig und gemeingültig, wie er gelernt hat, allein zu sein, und umgekehrt.«2 Hier ist das Imaginäre noch stark mit der Wahrnehmung und dem ästhetischen Streben des Dichters

1 Jean-Paul Sartre: L’imaginaire. Paris (NRF) 1948, p. 272 »Tout être vient à la conscience du monde par son monde d’abord;

d’autant universel (pour parler large) qu’il est particulier; d’autant généreux et commun qu’il a su devenir seul, et inversement.« Édouard Glissant: Soleil de la conscience. Paris, 1956, réedition (Gallimard) 1997, p. 54

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verbunden. Eine weitere Äußerung Glissants zum Imaginären stammt aus einem Interview von 2005:

»Etwas auffassen, sich eine Vorstellung machen und dabei sehen, wie sie sich auf verschiedenste Weise auswirkt, auf den Körper, auf die Existenz und ihre Dauer, auf die Vielfalt der Augenblicke, die Momente, wenn wir ein wundervolles Gleichgewicht empfinden, und die anderen, wenn wir in einem Malstrom versinken.«3

Nicht nur in diesen Worten erinnert das Imaginäre an den »An-deren Zustand« bei Robert Musil, wo ebenfalls die Erfahrung einer Harmonie der Welt mit dem eigenen Dasein in einem Moment überhöht wird. 4

»Alles, was auf der Welt geschieht, hallt heute unmittelbar hier nach.« Im Rahmen der Mondialität stellt nach Glissant jeder Mensch »poetologische« Betrachtungen an, wenn er sich auf die Welt bezieht. Nur »Bewußtsein« als Bezeichnung dafür zu wählen, wie in den linken politischen Diskursen, wäre zu kurz gegriffen, da es sich zu stark auf das Verstandesmäßige bezieht und emotionale Anteile vernachlässigt. Entsprechend steht in »Die Mauern müssen fallen« eine neue Definition des Imaginären:

»Die wahre Vielheit findet sich heute nur im Imaginären, das heißt, in der Art, sich zu denken, die Welt zu denken, sich selbst in der Welt zu denken, seine Lebensgrundsätze zu ordnen und seine Heimat zu wählen.«5 Noch etwas zur Zeit, in der diese beiden Tex-ten entstanden sind: Der Anlaß für die »Mauern müssen fallen« war die zunehmend nationalistische Identitätspolitik der Regie-rung Sarkozy, die in der Gründung eines »Identitäts-Ministeriums«6 gipfelte. Die Analyse und der Aufruf wurden als direkte Reaktion darauf im September 2007 verfaßt, Auszüge in der Tageszeitung der Kommunistischen Partei, L’Humanité, vom 4. September ab-

3 Interview mit der frz. Zeitschrift Les périphériques vous parlent, No 15, 2005 4 Im ersten und vor allem dem zweiten Band des Romans »Der Mann ohne Ei-

genschaften«.5 Édouard Glissant/Patrick Chamoiseau: Brief an Barack Obama, S. 516 Ministère de l’Immigration, de l’Intégration, de l’Identité nationale et du

Développement solidaire - Ministerium für Immigration, Integration, nationale Identität und solidarische Entwicklung; es wurde am 13. November 2010 wieder abgeschafft. Anm. d. Ü.

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gedruckt, der gesamte Text erschien im gleichen Monat im Verlag Galaade.

»Die unbezähmbare Schönheit der Welt - Brief an Barack Ob-ama« entstand gleich nach der Wahl Obamas zum amerikanischen Präsidenten im November 2008 und erschien bei Galaade im Ja-nuar 2009.

Erstaunlich ist die Weitsicht in der Analyse, die geradezu pro-phetische Vorhersage des arabischen Frühlings und des im dop-pelten Sinne ungeheuren Aufstiegs der Tea-Party in den USA.

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Brief an Barack Obama Die unbezähmbare Schönheit der Welt

Aus den Abgründen

Es ist ein Raunen seit Jahrhunderten. Es ist der Gesang der Weiten des Ozeans.

Klingende Muscheln scharren an Schädeln, an Knochen, an grünbezogene Eisenkugeln, am Grund des Atlantiks. In diesem Abgrund liegen Friedhöfe von Sklavenschiffen, mit vielen ihrer Matrosen. Die Beutegier, die verletzten Grenzen, die gehißten und gefallenen Flaggen, von der westlichen Welt. Und die hier den dich-ten Teppich mustern, sind die Söhne Afrikas, mit denen man Han-del trieb, sie stehen auf keiner Ladungsliste, keiner kennt ihre Zahl.

Ohne Zweifel gab es vor und nach diesem Sklavenhandel zahl-lose andere offene Abgründe auf dieser Welt, in allen Breiten und sie galten für viele Völker. Aber diese verschleppten Afrikaner haben die Trennwände der Erde eingerissen. Sie haben mit ihrem sprit-zenden Blut die Räume Amerikas eröffnet. Sie sind in die Macht der USA eingegangen, als eine Grundfeste und zugleich als ein Mangel. Wie eine Macht und ein Mangel, wie etwas Kostbares und Zerbrechliches. Sie sind in uns, sie sind in Ihnen, Mr Obama.

Diese Afrikaner sind auch überall in die Umgebung eingegangen, in die sich kreuzenden Geschichten Lateinamerikas, von Brasilien bis zur Karibik, sowie in das Denken der Archipele, das heute das Denken der Kontinente auflockert. Die Kontinente sind von sich überzeugt und von einer einzigen Wahrheit, sie stoßen vor wie ein Pfeil. Die Archipele sind zerbrechlich, aber dafür auf die vielfältigen Wahrheiten der heutigen Welt eingestimmt. So wurde der Ozean des Sklavenhandels zu einem dunklen Kontinent, und die Karibik, wo die Sklavenplantagen wuchsen, zu seinem archipelischen Schweif.

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Was von diesen ehemals Verschleppten übrig ist, das Sediment des Schlunds, sind die alten Welten, die aneinander zerrieben wurden, bis sie in der Realität eine neue Region der Welt entstehen ließen. Eine Welt hatte Afrika niedergewalzt. Afrikaner schwän-gerten die ferngelegenen Welten. Dies zeigt uns die All-Welt auf, macht sie uns verständlich, die in allen angelegt und für alle gül-tig ist, als eine vielfältige Totalität, die aus dem Raunen des Schlunds hervorgeht. Inzwischen hat das Raunen jedoch die Mee-restiefen verlassen, und durch Sie, Mr Obama, blicken wir fasziniert auf eine Nation, die alle Menschen auf der Erde heute als die mächtigste kennen, die Vereinigten Staaten von Amerika. Es ist eine Realität, die wie ein Schatten neben viel Bitternis und Köst-lichkeit allenthalben wuchs, und sie kam für uns ebenfalls aus dem Abgrund des Atlantiks zutage.

Unsere erste Beobachtung ist, daß jeder auf der Welt in gleicher Weise über Barack Obama dachte: Er werde einen grundlegenden Wandel für das Leben in den USA bringen, die Orientierung der Außenpolitik (den Krieg im Irak beenden – auch in Afghanistan?) und damit das Ansehen dieses Landes in der Welt spürbar verän-dern; er riskiert einen Mordanschlag; er werde die Lebensbedin-gungen der Schwarzen und der anderen Minderheiten in den USA verbessern, zur Annäherung der Rassen, ethnischen Gruppen und Stammesgemeinschaften beitragen, den Status der Armen in seinem Land anheben und die Wirtschafts- und Finanzkrise wirksam bekämpfen. Hierbei handelt es sich um die am häufigsten geäußer-ten, offenkundigsten Gemeinplätze, die Tag für Tag und Nacht für Nacht wiederholt wurden, wie Mantras und Glaubenssätze.

Diese Einschätzungen, die vor und während seiner Wahl zum amerikanischen Präsidenten kursierten, besitzen nach wie vor Überzeugungskraft, auch wenn die Ausübung des Amtes sie viel-leicht abnutzen wird. Dies verliert jedoch an Bedeutung vor der Tatsache, daß Barack Obama das an Wunder grenzende und doch so lebendige Ergebnis eines Prozesses ist, von dem die verschiedenen öffentlichen Meinungen und das Bewußtsein der Welt bisher kaum Notiz genommen hatten: von der Kreolisierung der modernen Ge-sellschaften, die sich dem traditionellen Drang nach ethnischer,

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rassischer, religiöser und staatlicher Ausschließlichkeit der Gruppen entgegenrichtet, wie wir sie auf der Welt kennen. Dieses Phänomen ist so bedeutend, daß wir uns zu einem Offenen Brief an Barack Obama veranlaßt und verpflichtet sahen, denn wir denken, daß er wirklich den Schrei der Welt, die Stimme der Völker und ihren freudigen oder traurigen Gesang vernommen hat.

Kreolisierung: Das aus dem Abgrund zutage gekommene Sedi-ment, hat alles verändert, die Rassenmischungen, die zufälligen Verbindungen, die Reinheitsneurosen, die Peitsche und ihr Gegen-stück, das Buschmesser, in einer unaufhaltsamen, unvorhersehba-ren Umwälzung. Das Undenkbare als fortzeugendes Prinzip. Die All-Welt als Traum. Das Sediment entstand aus entfesselter Gewalt in ihrem Exzeß, und doch ist aus ihm eine wertvolle Erfahrung geworden. Eine Höhe des Denkens, die immer möglich ist. Ein Schauen in Abgründe, die einen schwindlig machen. Die Über-schreitung alldessen.

Und alle Begegnungen der Welt gründen auf diesem Sediment: Ihre Mutter und Ihr Vater haben ihre unwahrscheinliche Verbin-dung als Möglichkeit gelebt im Mosaik von Hawaii und danach Ihre weitere Kindheit in Indonesien, Ihre Irrfahrt über mehrere Kontinente war ebenfalls nicht zu erwarten.

In Berührung und Austausch haben die Welten Räume hervor-gebracht, in denen wir zu leben lernen müssen. Sie bilden sich mühelos aus dem wogenden Aneinanderscharren verborgener Muscheln, für immer schweigender Muschelhörner und alter Schä-del. Mit diesem Erguß aus seinen Tiefen hat der Ozean einen Schwung unbewohnter Archipele ausgeworfen, die sich heimlich schon unserem Imaginären anboten. Diese Archipele gewannen überall in der Umgebung an Realität hinzu. Nun sind Sie gekom-men, ein Sohn des Abgrunds. Mit Ihnen erhebt sich eine grenzen-lose Hoffnung für die Amerikaner wie die vielen Bewohner der All-Welt, in ihren Verschiedenheiten und Finsternissen, denn sie alle werden zu Entdeckern dieser neuen Archipele.

Barack Obama hatte als Politiker zuvor verschiedentlich kandidiert, das zeugte nicht etwa von dem Versuch der Schwarzen, nach der

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Macht zu greifen oder heimlich die Macht der Weißen von unten aufzurollen, es war auch nicht ein Bündel aus mehreren einander widersprechenden und nie erreichten Absichten, sondern dieses Vorgehen lieferte den Beweis und die Illustration für das Denken der Vielheit. Es ist ein Denken, das nicht banal das Unterschiedli-che auf der Welt benennt, sondern vielmehr eine neue Stärke, die aus der Einsicht erwächst, daß man nicht aufhört, Schwarzer zu sein, nur weil man sich darum bemüht, gleichzeitig weiß, rot, gelb oder bunt zu sein und so fort. Die Politik der Vielheit ist auch eine Poetik. Diese Poetik war es, die den Präsidentschaftswahlkampf von Barack Obama auszeichnete: der höchste Grad der Wertschät-zung der verschiedenen Gemeinschaften füreinander. Es überrascht nicht, daß dies in den USA passierte, nicht weil dieses Land unge-heuer mächtig ist, sondern weil es in sich ungeheuer widersprüchlich ist. Der Konsens einer Vielheit, der nicht zur Schau gestellt, und manchmal als unmöglich und tragisch erlebt wird, ist dennoch einer der größten Fortschritte unserer Zeit, da er die Begegnung der Verschiedenheiten erlaubt und verstärkt, was den Rassisten auf allen Seiten so großen Schrecken einjagt. Beide Impulse, der Be-gegnung und des Rassismus, wirken in diesem Land.

Es ist auch keineswegs erstaunlich, daß dieser Prozeß von einem Schwarzen eingeleitet wurde (von einem Mischling mit weißem Anteil, aber nach den hiesigen Kriterien ergibt ein winziger Tropfen schwarzen Bluts unfehlbar einen Schwarzen), da die Gemeinschaf-ten der Schwarzen in den meisten Ländern Nord- und Südamerikas, in denen sie als Verschleppte, Unterdrückte, Ausgebeutete lebten, sich nicht nur (wie in Brasilien und der Karibik) auf Rassenmi-schungen einließen, sondern auch auf eine Kreolisierung, deren Kraft, die Rassenschranken zu überschreiten, stets unvorhersehbar, unvorhersagbar und unwiderstehlich war. In den USA ist diese unabwendbare Kreolisierung den Rassenmischungen vorausgegan-gen, vor allem, weil die Versklavung der Schwarzen in Mentalität und Empfinden viel stärker und nachhaltiger eingedrungen war, als in jedem anderen Land. Eine Mischung der Rassen wurde so schlicht unvorstellbar, zumal der Haß auf Mischungen vielleicht der hervorstechende Zug der in die neue Welt transplantierten protestantischen Puritaner war: Einer wie Barack Obama war nicht

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zu erwarten, in einem Land, in dem jede Idee der Begegnung, der Teilhabe, der Mischung, von einem großen Teil der weißen wie der schwarzen Bevölkerung heftig abgelehnt wurde.

Sein Sieg, durchaus ein Sieg der Schwarzen, ist jedoch nicht hauptsächlich ihr Sieg, denn in ihm wurde die Geschichte der Ver-einigten Staaten durch die Vereinigten Staaten selbst überschritten. Die ambivalente, unverrückbar scheinende Überzeugung, die seit der Gründung auf diesem Land lag, wurde offenbart und über-wunden, und zwar nicht nur von einem unterdrückten Teil der Nation, sondern von der gesamten Nation gemeinsam.

Und nicht nur für die Nordamerikaner hat sich diese unwahrschein-liche Hoffnung gezeigt, sondern für alle Neger des Planeten, wel-cher Rasse sie auch angehören. Söhne des Abgrunds auch sie, Söhne der vereinzelten Abgründe am Boden aller Ozeane, Söhne aller zerstörten Länder, deren Bevölkerungen Wunden tragen, die man als ontologisch bezeichnen kann, und die ihnen bei lebendigem Leib in ihre Anwesenheit und ihr Überleben eingebrannt wurden. Sie warten auf Sie. Sie alle lieben und verehren Sie, Mr Obama, aber sie sehen in Ihnen leider eine lebende Revanche für die Tra-gödie der Schwarzen und für die anderen endlosen Apokalypsen und Heimsuchungen der Völker. Doch Revanchen reichen nicht sehr weit, sie bringen nichts von der Vergangenheit zurück, die einzige lebenszugewandte Revanche ist das Überwinden der Mauern, die Freiheit des Geistes.

Eine Muschel, ein Muschelhorn, berühren hier einen Schädel, dort bewegt sich das Sediment, eine Luftblase wird frei, sie steigt vom Grund des Ozeans auf, um sich mit ihrer Ladung hohen Dun-kels ruhig dem Licht darzubieten. Ohne Gebrüll, ohne Klage, ohne Haß.

Ob eine ontologische Wunde in der ganz konkreten Sklaverei entstanden ist oder in endlosen Heimsuchungen, falls die Verletzung in Starre und Bitterkeit bewahrt wird, macht dies das Raunen der Abgründe unhörbar und den düsteren Text des Sediments unlesbar, selbst wenn das Beben der Welt sie bewegt.

Die aus dem Verlies des Meeresschlunds aufgestiegene Luftbla-se zerspringt an der Oberfläche der Erde, wie Sauerstoff, dem nichts

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von der Luftnot entging, wie Weite, die erfährt, was Tiefe ohne Raum ist.

Es ist bezeichnend, daß ein Sohn des Abgrunds mit Realismus, Gnade und Poetik zu einem hohen Amt in den Nationen der Men-schen gelangt und in der Lage ist, den Lauf der All-Welt zu beein-flussen.

Mag es auch anders erscheinen, niemanden hat Barack Obamas Hervortreten überrascht: in der Unvorhersehbarkeit der Kreolisie-rung hat das Staunen bereits Kenntnis. Doch wir müssen an den Zeitpunkt zurückgehen, als der Prozeß der Kreolisierung in Beob-achtung, Beschreibung und Theorie erfaßt wurde, Ende der 1980er Jahre. Die Synthese heterogener kultureller Elemente ging blitz-schlagartig vor sich, dies konnte damals aufgezeigt werden, (wie bei den kreolischen Sprachen Syntax, Lexik und Sprechweisen aus einander völlig fremden Quellen kommen), die Resultanten dieser Synthese waren unerwartet und unvorhersehbar, ohne daß eines ihrer Elemente zugunsten eines anderen verschwand oder verfälscht wurde, aber es blieb auch keines intakt. Dies will nicht heißen, daß die US-amerikanische Bevölkerung, vielleicht mit Ausnahme des tiefen Südens, kreolisch wäre, wie die Bewohner der Karibik. Aber es bedeutet beispielsweise, daß der Jazz aus diesen Phänomenen der Kreolisierung hervorgegangen ist, auf afrikanischer Grundlage und mit westlichen Instrumenten, weshalb er sogleich für alle etwas bedeutete. Geht man jedoch davon aus, daß die Rassenmischung eine der wichtigsten Formen der Kreolisierung ist, so ist nochmals festzustellen, daß die US-amerikanische Bevölkerung sich bis heu-te wenig vermischt hat, vergleicht man sie etwa mit den Bewohnern der Karibik oder Brasiliens. Die beiden ursprünglichen Identitäts-gruppen, weiß und schwarz, blieben getrennt, wie zwei separate Einheiten, die sich einander nicht nähern durften. Die anderen ethnischen oder nationalen Gruppen leben übrigens in einem Ne-beneinander (was man mit Mulitkulturalismus bezeichnet hat), weitgehend ohne sich zu vermischen.

Die Unterdrückung der Schwarzen in den USA war von so gro-ßer Brutalität, so großer Grausamkeit, daß es kaum anders sein konnte. Außerdem schreckten die Weißen wegen ihres protestanti-

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schen Puritanismus vor der Rassenmischung zurück. Aber trotz dieses Fehlens einer allgemeinen oder auffälligen Mischung der Rassen, spürte jeder eine starke Tendenz zur Kreolisierung in der amerikanischen Gesellschaft, eine Tendenz zur Mischung der Kul-turen und zu einer Diversifizierung der Formen der Kulturlebens (d.h., daß die Mischung viel weiter gehen würde als der Multikul-turalismus), folglich auch eine Tendenz zur Annäherung der ver-schiedenen ethnischen Gruppen, auf einem nach und nach unüber-sehbar werdenden Feld verschiedener Mischungsformen und Mischungsgrade. Darin lag nicht nur eine Möglichkeit, es war höchst wahrscheinlich, daß sich die amerikanische Gesellschaft in diese Richtung entwickeln würde. Doch ist dies nicht nur eine Angele-genheit der Biologie oder der einfachen Mischung von Kulturen, die Kreolisierung ist das Undenkbare, wenn die Imaginären, die Vor-stellungswelten, miteinander in Beziehung treten.

Sie alle, die Neger der Welt, die leiden und von Ihnen eine letzte Heilung erwarten, machen sich Illusionen. Diese Erwartung ist ein Teil ihrer Schwäche. Der Rassismus, den sie auf diese Weise zu besiegen glauben, gehorcht leider keiner Logik, er widersetzt sich häufig den offenkundigen Tatsachen, ihn erreicht kein konkreter Beweis des Gegenteils, den Sie in so eleganter Weise verkörpern würden.

Nelson Mandela ist beispielsweise einer der am meisten bewun-derten Männer unseres Planeten, sein symbolisches Publikum ist unüberschaubar groß, und doch hat er den Rassismen der Rassisten dieser Welt nichts anhaben können, die nicht nur höchst virulent, sondern auch besonders heuchlerisch und hinterhältig sind. Und was die international strahlenden Sonnen betrifft, die schwarz sind oder als Südländer gelten, die Filmstars, Idole der Musik, Größen der Politik, Minister und Staatssekretäre, Lenker von Weltorgani-sationen, Götter des Sports, sie werden von den größten Rassisten bewundert wie von allen anderen, ohne daß sich an ihrem kranken Geist etwas ändert (man könnte es die Logik oder das Syndrom der Gladiatoren und Söldner nennen, die verehrt und verachtet werden). Ein Schwarzer im höchsten Amt (ein riesiges Symbol) wird nicht wie mit Zauberei etwas an den konkreten Lebensbedingungen der

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Schwarzen in den USA oder auf der Welt ändern, und ebensowenig an den konkreten Verhältnissen der Menschen, die unter der Fuch-tel kapitalistischer Wirtschaften und westlicher Standards leben müssen. Mandelas und Ihr Symbol steht dennoch aufgerichtet und ist von höchster Bedeutung, nicht, weil es die Dinge direkt verändern könnte, sondern weil sich an ihm mit hoher Intensität alles aufzei-gen läßt, was es noch an Krankhaftem und Unerträglichem in den Beziehungen der Menschen gab und heute immer noch gibt, jedes-mal, wenn sie sich zu Kollektiven zusammentun.

Politisch waren die USA hinter der Realität ihrer Gesellschaft zu-rückgeblieben, weil die Weißen traditionell die Kontrolle in der Hand behielten. Die Schwarzen kamen nicht ins Spiel, oder höch-stens ganz langsam und auf lokaler Ebene als Bürgermeister und in den verschiedenen Institutionen der Bundesstaaten. Die weißen Eliten hatten ihre Vorherrschaft festigen können, indem sie sich in politischen Dynastien und mächtigen Familien organisierten. Ob-ama entgeht dieser Dichotomie, er ist nicht ganz und gar ein Schwarzer der USA, ein African-American. Sein Vater ist kein Nachkomme von Sklaven aus Texas oder Georgia, sondern Afrika-ner. Obama stammt also direkt aus der Weltgegend, an die viele African-Americans sich zurück träumen oder wünschen. Dennoch, oder umso besser, kennt er den Abgrund. Als das Phänomen Obama in der Politik der USA auftauchte, waren die meisten Schwarzen nicht klar auf seiner Seite. Sie fanden ihn möglicherweise »nicht schwarz genug«. Ebenso sprachen sich die meisten Weißen »nicht für ihn« aus, weil er für sie völlig schwarz war. Daß Obama diese Hindernisse und Unmöglichkeiten überwinden konnte, bedeutet, daß das politische Leben in Amerika ganz allmählich endlich die Realität der sozialen und ethnischen Zusammensetzung der eigenen Nation einzuholen beginnt, die sich in raschem Umbruch befindet. Trotz der »Kill Obama«-Rufe, die bereits zu hören sind. Nach einem Stück des Wegs verschwand Mr Obama, der Kandidat für ein Se-natorenamt, und Barack Obama wurde geboren. Mit ihm ist die Vielheit in das politische Bewußtsein des Landes eingetreten, nach-dem sie zuvor schon die Besiedelung, die soziale Zusammensetzung und alle Kämpfe geprägt hatte.