19
53 Noch zu Beginn der deutschen Besatzung war Brünn eine mul- tinationale Stadt mit einer bedeutenden jüdischen Minderheit. Ein gewisses Zeugnis davon legt uns auch das Brünner Argot (selbstverständlich nicht seine spätere Form einer bestimm- ten „künstlichen Folklore“, hantec genannt, sondern seine Vorkriegsgestalt aus der Zeit vor der deutschen Okkupation), nämlich ein Gemisch aus Wörtern sowohl tschechischen als auch deutschen oder auch jüdischen Ursprungs ab (aus dem Hebräischen kommen beispielsweise haber, chabr, chakec, jóbl, kchajf, kchajlovat). Diese Brünner Multiethnizität hat eine lange Geschichte, während der das Miteinander der Tschechen und Deutschen auch konfliktgeladene Etappen durchlief, insbesondere danach, als die Stadt infolge der Eingemeindung ihrer Peripherien, die vormals als eigenständige Gemeinden fungierten, ganz deutlich zu Gunsten der tschechischen Ethnie geändert wurde, was grundlegende Folgen für das Behörden- und Schulwesen sowie für die Stadtverwaltung nach sich zog. Trotzdem würde ich sagen, dass es sich um eine völlig natür- liche Spannung handelte, die immer beim Aufeinandertreffen mehrerer Ethnien auf dem Gebiet eines Staates entsteht. Doch Jiří Kratochvil Unverdrängbares Trauma

Brünner Todesmarsches

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Errinerungswege

Citation preview

Page 1: Brünner Todesmarsches

53

Noch zu Beginn der deutschen Besatzung war Brünn eine mul-tinationale Stadt mit einer bedeutenden jüdischen Minderheit. Ein gewisses Zeugnis davon legt uns auch das Brünner Argot (selbstverständlich nicht seine spätere Form einer bestimm-ten „künstlichen Folklore“, hantec genannt, sondern seine Vorkriegsgestalt aus der Zeit vor der deutschen Okkupation), nämlich ein Gemisch aus Wörtern sowohl tschechischen als auch deutschen oder auch jüdischen Ursprungs ab (aus dem Hebräischen kommen beispielsweise haber, chabr, chakec, jóbl, kchajf, kchajlovat). Diese Brünner Multiethnizität hat eine lange Geschichte, während der das Miteinander der Tschechen und Deutschen auch konfl iktgeladene Etappen durchlief, insbesondere danach, als die Stadt infolge der Eingemeindung ihrer Peripherien, die vormals als eigenständige Gemeinden fungierten, ganz deutlich zu Gunsten der tschechischen Ethnie geändert wurde, was grundlegende Folgen für das Behörden- und Schulwesen sowie für die Stadtverwaltung nach sich zog. Trotzdem würde ich sagen, dass es sich um eine völlig natür-liche Spannung handelte, die immer beim Aufeinandertreff en mehrerer Ethnien auf dem Gebiet eines Staates entsteht. Doch

Jiří Kratochvil

Unverdrängbares Trauma

Page 2: Brünner Todesmarsches

54

das alles wurde mit einem Schlage ganz anders, nämlich als sich das benachbarte Deutschland in einen rassistischen Staat verwandelte, der auch die deutschen Minderheiten mit einem geradezu krankhaft en nationalen Hass ansteckte.

Der wesentliche Teil Brünner Deutschen hat dann die deutsche Besetzung nicht nur willkommen geheißen, son-dern regelrecht erwartet. Bereits nach dem Münchner Abkom-men haben sich Deutsche in Brünn mit „Heil März!“ gegrüßt, voller Erwartung auf die dann im März erfolgende Okkupa-tion. Das Deutsche Haus, damals auf dem heutigen Moravské náměstí stehend, wurde zum Zentrum der Vorbereitungen für die systematische Germanisierung Brünns. Die bisherige nationale Zusammensetzung der städtischen Bevölkerung fi ng ab November 1941 an, sich radikal zu verändern, als der erste jüdische „Transport ins Paradies“ Brünn verlassen hat. Und während die jüdischen Mitbürger nach der Konferenz im Ber-liner Vorort Wannsee, bei der die Machart der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ ganz genau abgesteckt wurde, nach und nach ins Ghett o in Theresienstadt und anschließend in die Vernichtungslager abgeschoben wurden, hat sich die deutsche Minderheit in Brünn fortlaufend vergrößert und sich zielgerichtet auf verschiedenartige Weise aufgebläht. So sind im März 1939 zahlreiche Polizei- und Armeeeinheiten der SS sowie Wehrmachtkräft e nach Brünn gekommen. Sie kamen hierher schritt weise auch mit ihren ganzen Familien und haben „arisiert“, d. h. zu Gunsten der arischen Rasse die Wohnungen jüdischer Bürger beschlagnahmt. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass jüdische Unternehmer in Brünn, im 19. Jahrhundert vor allem dank der jüdischen Fab-rikanten das Manchester Österreich-Ungarns genannt, traditi-onell eine besondere Stellung genossen. Jüdische Familien, so zum Beispiel die Hällers, Redlichs, Auspitz ,́ Hechts und Löw-

Page 3: Brünner Todesmarsches

55

Beers, hatt en hier Fabriken und große Eigentümer besessen. Das alles fi el nun in die Hände der Angehörigen der SS und der Wehrmacht. Die Gestapo hatt e zum Beispiel die weltberühmte Villa Tugendhat schlagartig in Besitz genommen. Ein erhebli-cher Teil der Brünner Deutschen, eben diejenigen, die sich in dieser Situation ihres deutschen Ariertums bewusst wurden, hatt en die deutsche Nationalität angenommen und gegebe-nenfalls sogar ihre bisher tschechischen Namen eingedeutscht. Dadurch konnten sie sich auch an der Arisierung des jüdischen Eigentums beteiligen, sie tauschten ihre Wohnungen der Mit-telschicht gegen luxuriösere, arisierte Wohnstätt en. Und zwar besonders dann, wenn diese Brünner Deutschen das Angebot angenommen hatt en, den Polizeieinheiten der SS beizutreten, wo man sie dank ihrer Kenntnis des Brünner Milieus gern sah. Und nach und nach sind auch weitere Familien aus dem Reich nach Brünn gezogen, um das Vorhaben erfüllen zu hel-fen, dass Brünn nun, auch was seine Einwohner betriff t, den Status einer traditionellen, altehrwürdigen deutschen Stadt erlangt. Im Verlauf des Krieges hatt e dann die fast verzwei-felte Notwendigkeit jene Germanisierungspläne verdrängt, hier Familien aus ausgebombten deutschen Städten unterzub-ringen, da Brünn, wie auch das ganze Protektorat, bis 1944 von den Bombardements der Alliierten verschont blieb. Das heißt, bis die Aliierten nicht mehr hinnehmen konnten, dass sich die deutsche Rüstungsindustrie allmählich ausgerechnet auf dem besetzten Gebiet Böhmens und Mährens konzentrierte.

Die Lage der deutschen Bevölkerung in Brünn hatt e sich wieder gegen Ende des Krieges entschieden gewendet. Im April 1945 begann die Eroberung Brünns durch die Rote Armee bei ihrem Vorrücken in Richtung Prag und weiter bis nach Ber-lin. Und bereits am 26. April wird Brünn durch die 2. Ukrai-nische Front befreit, die deutsche Armee kann sich lediglich

Page 4: Brünner Todesmarsches

56

in den peripheren Ortsteilen Retschkowitz und Medlan „ein-kapseln“. Die deutsche Minderheit reagiert auf die neu entstan-dene Situation auf unterschiedliche Weise. Bereits vierzehn Tage vor dem 26. März hat man, bis auf die in Retschkowitz und Medlan „eingekapselten“ Einheiten, die Polizei- und Armeekräft e der SS und der Wehrmacht evakuiert. Sie räumen dabei nicht nur die Behördengebäude, so zum Beispiel auch das Gebäude der Juristischen Fakultät, in dem die Gestapo ihren Sitz hatt e, und weitere Polizeidienststellen in den Schwarzen Feldern und in der Adlergasse und selbstverständlich auch die Brünner Kasernen, sondern machen auch die arisierten Wohnungen frei. So verlässt sowohl der Volkssturm, jene mili-tante Einheit der zivilen deutschen Bevölkerung, als auch ein Teil Brünner Deutschen, die dem Volkssturm nicht angehört haben, Brünn in aller Eile. Dies geschieht auf Hitlers direkten Befehl zur Evakuierung, den sogenannten Nero-Befehl. Von den militanten Einheiten verbleiben in der Stadt quasi nur die fanatisierten Mitglieder der Hitlerjugend als Flaksoldaten oder verzweifelte Verteidiger Brünns. Und so zerstört noch am 26. April ein Hitlerjunge mit der Panzerfaust einen russischen Panzerwagen, dessen ausgebranntes Wrack bis Anfang Mai die Dominikanergasse blockiert. Doch in der Stadt sitzt immer noch ein beachtlicher Teil der Brünner Deutschen, die beim Volkssturm nicht mitgemacht hatt en. Denn während in Brünn jedes zweite Haus durch die Bombardements getroff en — ja, zwar getroff en, doch meistens nicht vernichtet — wird, liegen viele deutsche Städte bereits in Schutt und Asche. Die in Brünn ansässigen Deutschen geraten plötzlich regelrecht zwischen Skylla und Charybdis: Macht es Sinn, in den Vorhof der Hölle des Dritt en Reiches zu fl iehen oder hier auf die Ankunft der Roten Armee zu warten? Nicht nur aus der im Protektorat gezeigten Wochenschau, sondern auch aus den viel besser

Page 5: Brünner Todesmarsches

57

informierten deutschen Quellen wussten die Brünner Deut-schen von der Bestialität, mit der die deutsche Wehrmacht auf dem Gebiet der Sowjetunion wütete, so dass man von der Roten Armee letztlich nur die gleiche Brutalität gegenüber der deutschen Bevölkerung erwarten konnte. Außerdem waren sie von der Propaganda über die bolschewistische Barbarei voreingenommen. Und dazu tauchen langsam auch berechtigte Befürchtungen vor der Vergeltung durch ihre tschechischen Mitbürger auf. In Anbetracht eines eventuellen verhängnisvol-len Endes und mit dem Gedanken, dass sie ohnedies nirgen-dwohin fl üchten können, da ihre Heimat schon seit Genera-tionen hier, in Brünn, ist, entscheiden sich manche deutsche Familien für den Selbstmord. Und die Brünner Deutschen, die zu Beginn der Besatzung deutsche Nationalität angenommen haben, versuchen nun ethnisch wie auch ideell gewissermaßen „den Mantel nach dem Wind zu hängen“. Sie kehren zu ihren tschechischen Namen zurück und fl iehen aus den arisierten Luxuswohnungen in ihre alten Wohnstätt en. Dazu werden sie oft von den sogenannten revolutionären Gardisten gezwun-gen, die bereits Ende April 1945 in Brünn „Ordnung machen“, u. a. dadurch, dass sie Wohnungen und Häuser beschlagna-hmen, die zu Anfang der Besatzung von den Deutschen ari-siert wurden. Brünn gerät am Ende des Krieges in ein schwer vorstellbares Chaos. Wohl die denkbar ungünstigste Zeit für eine Schlichtung der Beziehungen zwischen den Tschechen und den Deutschen.

Am Anfang steht so etwas wie eine Kindheitsanekdote. Es war wahrscheinlich 1947, ich ging bereits in die 2. Klasse, als wir von unserer Frau Lehrerin die Aufgabe bekamen, die Mama zu fragen, wie ihr Mädchenname war. Aber als ich dann mit dieser Frage zu Hause anrückte, machte ich meine Mutt i ziemlich verlegen. Und ihre Verlegenheit war so off ensichtlich,

Page 6: Brünner Todesmarsches

58

dass ich dieses Bild noch jetzt vor Augen habe: Wir beide stehen in der Küche, und meine Mutt i schweigt, bis aus ihr der Name Nudlová herausbricht, denn sie hieß allen Ernstes Nudlová. Und das hat wiederum mich ins Stocken gebracht. Damals ist mir im Nu durch den Kopf geschossen, dass ihr mit so einem doofen Namen nichts anderes übrig blieb, als zu heiraten, um den Namen loszuwerden und auch, damit ich jetzt nicht Nudel heißen muss.

Viel später, als ich schon wusste, wie meine Mutt er vor der Ehe hieß, habe ich für mich ihre damalige Lüge dadurch erklärt, dass ich sie mit meiner Frage wohl überrollt haben musste und das dieser doofe Name, den sie erfand, nur ein Ausdruck ihres Unbehagens bezüglich meiner Frage gewesen war. Ihr echter Mädchenname war gar nicht so doof — er war eher bizarr, und ihr war klar (so habe ich es mir erklärt), dass ich genau dadurch Probleme in der Schule bekommen könnte. Sie hieß nämlich Žylová, denn ihr Vater war Pole und Ukrainer zugleich, mit einem sehr würdevollen polnisch-russisch-ukra-inischen Stammbaum. Ich erinnere mich, wie mein Opa vor mir hervorgehoben hatt e, durch die Moldau getauft zu sein. Sein Vater war Polizeikommissar auf dem Prager Loreto-Platz. Aber sein Opa war griechisch-katholischer Bischof, der den Beschluss gefasst hatt e, aus Galizien, jenem Schmelzkessel der Völker, nach Prag zu ziehen. Dieser ehrwürdige Stamm-baum konnte aber trotzdem nichts daran ändern, dass ein Ypsilon nach einem Zischlaut in der tschechischen Sprache eine äußerst bizarre Verbindung darstellt. Lange, viel zu lange Jahre habe ich mich mit dieser Erklärung zufriedengegeben, das heißt, zufriedengeben müssen. Und erst in den 1990er Jahren hat meine Mami den Mut gesammelt, das Ganze zu besprechen. Bis zu den Tagen war es für sie etwas, was sie nicht einmal aussprechen konnte. Die Eltern meiner Mutt er

Page 7: Brünner Todesmarsches

59

waren nämlich Ende Mai 1945 in der sogenannten „wilden Abschiebung“ aus Brünn vertrieben worden, so dass jede Frage, die, wenn auch nur vermitt elt das Thema ihrer Eltern betraf, in ihr eine paranoide Angst erweckte. Als ich sie zwei Jahre nach dem Krieg nach ihrem Mädchennamen fragte, vermutete sie hinter dieser Frage schnüff elnde Neugier mei-ner Frau Lehrerin. Die Vertreibung der Eltern war und blieb für meine Mutt er das größte Trauma ihres Lebens, so dass es schien, als ob alles Schlimme, was sie danach noch erleben musste, eine andauernde Widerspiegelung des Grundtraumas vom Kriegsende gewesen wäre. Ihr Mädchenname war zwar Žylová, doch ihre Mutt er war eine Sudetendeutsche, deren Mädchenname Hüblová war. Als sich Ende Mai 1945 die Ver-treibung zugetragen hatt e, waren wir gerade aus einem klei-nen Dorf, einem Dörfl ein bei Oslawan (aus Lukowan) zurüc-kgekehrt, wo mein Vater unterrichtet hatt e und wo wir so die Besatzung und den Krieg überdauert hatt en. Wir waren jedoch zu spät gekommen — die Wohnung der Eltern meiner Mut-ter an der Ecke der Eliška-Machová-Gasse zur Šmejkalgasse in Brünn-Sebrowitz war bereits verlassen oder es haben sich dort bereits neue Mieter einquartiert, die mein tatkräft iger Vater in der Uniform eines Offi ziers der tschechoslowakis-chen Armee der Wohnung verweisen musste. Und dann haben meine Eltern erfahren, was sich ereignet hatt e. Mir wurde allerdings gesagt, dass Opa und Oma im Krankenhaus seien. Und in der Tat hatt en sie dort einige Zeit zugebracht, nachdem mein Vater eingegriff en hatt e, so dass die Eltern meiner Mut-ter aus dem Sammellager in Pohrlitz zurückkehren durft en. Sie haben sich dabei Paratyphus geholt, den sie überlebten, ähnlich wie auch jenen „Todesmarsch“, doch sie sind auch als unbequeme Zeugen zurückgeholt worden. Von meiner Mutt i habe ich nie irgendwelche Einzelheiten über diesen Marsch

Page 8: Brünner Todesmarsches

60

gehört, obwohl ich keine Zweifel daran habe, dass sich ihre Eltern ihr anvertraut hatt en. Ich stelle es mir so vor, dass Opa und Oma sowie meine Mutt er irgendwohin vorgeladen worden sind, wo sie sich zu verpfl ichten hatt en, darüber, was sie wussten, zu schweigen. Und erst später, Mitt e der 1950er wurde ihnen die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit zuerkannt. Tatsache bleibt, dass der „Brünner Todesmarsch“ für mich nicht nur ein schlimmes Kapitel der Geschichte bei Kriegsende, sondern auch eine schlimme Wirklichkeit ist, die verhängnisvoll in das Leben meiner Großeltern, meiner Mutt i und de facto unserer ganzen Familie eingegriff en hat. Die Eltern meiner Mutt er durft en zwar zurück, aber auf allem, was wir danach weiter erlebten, lag bereits der Schatt en jener Tage Ende Mai und Anfang Juni, als meine Mutt i noch nicht ahnte, wie es enden würde.

Nach der Münchner Konferenz, bei der über den Anschluss weiter Teile der Tschechoslowakei an das Reich entschieden wurde, sind aus diesen Gebieten auch deutsche Antifaschisten emigriert. So auch einige der sudetendeutschen Sozialdemo-kraten; mit deren bedeutendem Vertreter Wenzel Jaksch hatt e Edvard Beneš im Exil eine Debatt e über die Nachkriegslösung in Europa geführt. Er erinnert sich daran in seinen Memoiren wie folgt:

Wir alle haben bei uns mit großen revolutionären Ände-rungen nicht nur sozialer Natur, sondern auch, was unseren Nationalitätenaspekt betriff t, zu rechnen: Eine Verbindung der sozialen mit der nationalen Revolution. Der nationale Radika-lismus steigert sich bei uns täglich wegen des grausamen und unvorstellbaren Terrors in den Konzentrationslagern, in denen wohl schon Hundertt ausende unserer Leute schmachten und zu Zehntausenden verenden. Das ganze Protektorat ist ohne-dies eine einzige Folterkammer, deren Grausamkeiten nicht zu

Page 9: Brünner Todesmarsches

61

schildern sind. Bei uns erwächst daraus ein bedrohlicher Drang nach Rache, und das Wenigste, was alle verlangen, ist nicht nur eine große revolutionäre Vergeltung am Ende des Krieges, bei der viele vorhaben, alle unsere Deutschen aus Böhmen und aus Mähren mit Gewalt und ohne jeden Unterschied oder Ausnahmen loszuwerden, sondern auch eine für uns defi nitive Trennung von den Deutschen, nämlich deren Transfer ins Reich — kurzum: Endlich mal Schluss! Ich aber glaube nicht, dass es zu blutigen Extremen kommt. Ich kenne unser Volk und weiß, dass es nicht so blutrünstig ist…

Hier muss man betonen, dass der Hass auf deutsche Mitbürger in Brünn leider mehr als berechtigt gewesen ist. Bereits nach München, wo über die Abspaltung der Sudeten entschieden wurde, als die tschechischen Vertriebenen aus diesem Raum verzweifelt nach einem Obdach suchten und manche dabei bis nach Brünn kamen, zu ihren Verwandten oder Bekannten, bereits damals konnte man erkennen, dass sich ein gewisser Anteil Brünner Deutscher darüber freut und das Geschehen mit dem Gefühl einer nicht gerechtfertigten Genugtuung betrachtet. Und diese Gruppe Brünner Deutscher, deren ideologisches Zentrum das Deutsche Haus war, diese gut informierten Brünner Deutschen, wussten nicht nur von der Märzbesatzung im Voraus Bescheid, vor Ungeduld wollten sie die Okkupation möglichst beschleunigen, einen Putsch organisieren, was ihnen nicht gelungen ist — sie bekamen nämlich noch keine sofortige Hilfe aus dem Reich. Die Nati-onalsozialisten haben unsere deutsche Minderheit benutzt, ihre Initiative jedoch korrigiert, sie haben ganz klar zwischen den Reichsdeutschen und den Deutschen aus dem tschechis-chen Raum, als den ethnisch „unreinen“, unterschieden. Und sie mussten somit nolens volens bis zum 15. März warten, aber dann entlud sich ihre Begeisterung auf explosive Weise.

Page 10: Brünner Todesmarsches

62

Das Handeln dieses Teils der Brünner Deutschen, in denen nun ihr Patriotismus für das Großreich vehement entfl ammte, was sich auch in ihrer verachtenden Haltung gegenüber ihren tschechischen Mitbürgern im Alltag manifestierte, hatt e bes-timmt keinesfalls Sympathien auf der tschechischen Seite wecken können. Und als am 17. März 1939 Hitler in Brünn angekommen war und seine Rede an die Brünner Deutschen hielt, erhob sich sofort ein ganzer mächtiger Wald von zum Hitlergruß ausgestreckten Armen, und deutsche Frauen sol-len angeblich regelrecht vor Ekstase über Hitlers Stimme in Ohnmacht gefallen sein. Und gleich zu Anfang brannte sich die Besatzung durch den Tod Jan Opletals und durch die Prager Demonstration ein, auf die am 17. November die Hinrichtung der Studenten folgte. Danach hatt e man die Hochschulen auch in Brünn geschlossen. Und die Tatsache, dass Jan Opletal aus Mähren kam (freilich nicht nur deswegen), verwandelte diese Prager Ereignisse auch in Brünn in einen quälenden Schmerz und eine unfassbare Verzweifl ung. Auch Brünn erlebte dann seine apokalyptischen Gräuel, als das Studentenheim Kau-nitz-Kolleg zu einer Hinrichtungsstätt e gemacht wurde, in der direkt unter dem Sgraffi to des heiligen Wenzels, unter dem Schrift zug aus dem Sankt-Wenzels-Choral: „… lass uns nicht zugrunde gehen, auch nicht unsere Nachkommen…“ gemordet wurde. Das war eine arrogante und schreckliche Verhöhnung dessen, was uns in der Geschichte unserer Nation heilig war, diese arrogante Verhöhnung kam noch auf eine andere Weise zum Ausdruck — im sogenannten „Ehrenschild mit Herzog-Wenzel-Adler“, einer Auszeichnung der Besatzungsmacht. Und die Brünner Gestapo-Dienststelle, in der tagtäglich Todesur-teile gefällt wurden, lag unweit dieser Hinrichtungsstätt e, im Gebäude der beschlagnahmten Juristischen Fakultät. Für einen Teil der Brünner Deutschen waren die Hinrichtungen

Page 11: Brünner Todesmarsches

63

im Kaunitz-Kolleg ein gern gesehenes Spektakel geworden. Es gab keinen Zweifel: Der monströse Nationalhass hatt e hier bis zum Ende der Besatzungstage seine schaurige Nahrung gefunden. Noch am 16. April 1945 hatt e man im Kaunitz-Kolleg munter hingerichtet und das Morden nahm auch nach der Befreiung Brünns kein Ende. In den Vororten Retschkowitz und Medlan hatt e die dort „eingekapselte“ SS-Division auch nach dem 26. April weiter diejenigen der dortigen tschechis-chen Einwohner hingerichtet, die jeglichen Widerstandes verdächtig waren.

Die Terrorwelle nach dem Mord an Heydrich hatt e auch Brünn erfasst, auch hier hatt e man die Intelligenz liqui-diert. Und der Schrecken nach der Zerstörung der Dörfer Liditz und Lezaky fand auch in Mähren sein gespenstisches Echo, und das sogar direkt vor dem Ende des Krieges durch die Liquidation der Dörfer Ploština und Javoritsch, wobei die Einwohner von Ploština bei lebendigem Leibe verbrannt worden waren.

Es waren die ungemein komplizierten Beziehungen zwis-chen zwei Völkern, die im Verlauf der ganzen langen, vielleicht sogar fünfh undertjährigen, gemeinsamen Geschichte zwis-chen der Verfl echtung tschechischer und deutscher Familien zu gemeinsamen Banden und verwandtschaft licher Verbun-denheit sowie meistens sehr guten nachbarschaft lichen Kon-takten einerseits und dem völkischen Hass, der eben oft erst von der nationalsozialistischen Ideologie eingefl ößt wurde, andererseits schwankten. Diese Ideologie hat es geschaff t, in der menschlichen Psyche ihre Nekrophilie sowie all das wachzurütt eln, was sonst nur dem Reich des „Todestriebes“ vorbehalten bleiben sollte. Auch das muss hier gesagt wer-den: Am Anfang stand der nationalsozialistische Hass, von dem sich auch ein erheblicher Teil der Brünner Deutschen

Page 12: Brünner Todesmarsches

64

anstecken ließ. Und diese Geschichte hatt e man am Ende des Krieges erst einmal durch eine kollektive Abrechnung abgeschlossen, auch wenn man damals meinte, es sei schon für immer. Die Brünner Rede Edvard Beneš´ vom 12. Mai 1945 besiegelte „die absolute Notwendigkeit des Transfers aller Deutschen ins Reich“. Dies hatt e zur Folge, dass es aus der Initiative des Brünner revolutionären Nationalausschusses und der Mitt arbeiter der Brünner Waff enfabrik heraus noch vor der offi ziellen und internationalen Einwilligung mit der Abschiebung gemäß dem Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 bereits im Mai zu einer gewaltsamen Vertrei-bung gekommen war. Und obwohl es sich um eine Tat handelte, die zum damaligen Zeitpunkt noch den Gesetzen widersprach (denen sie übrigens wegen ihrer gewaltt ätigen Ausführung auch nach Potsdamer Abkommen widersprochen hat), blieb sie rückwirkend ohne jegliche Sühne. Die Zeitweilige National-versammlung hatt e nämlich am 8. Mai 1946 rückwirkend das Gesetz über die Straff reiheit der „im Kampf für die Freiheit“ zwischen März 1939 und dem 28. Oktober 1945 ausgeübten Taten verabschiedet, so dass der „Brünner Todesmarsch“ nicht nur ungestraft blieb, sondern in gewisser Weise sogar abgeseg-net wurde. Der deutsche „Todestrieb“ fand hier seinen, wie wir heute mit Sicherheit wissen, tschechischen Gegenpol, der sich in mehreren Ausschreitungen im ganzen Lande off enbarte. Leider auch in Brünn.

Arisch-jüdische Ehen hatt e man im fortgeschritt enen Stadium „der Endlösung der Judenfrage“ für unzulässig er-klärt, sie wurden per Gesetz als „Rassenschande“ verfolgt. Bis dahin hatt e man sie mit Ach und Krach noch toleriert, und die Eheschließung mit einem Arier konnte einen Juden sogar noch vor der Verschleppung in ein Konzentrationslager rett en. Und deswegen konnte man vielleicht mit einer entsprechenden

Page 13: Brünner Todesmarsches

65

Konstellation auf der tschechischen Seite rechnen, nämlich, dass die Oma, eine Sudetendeutsche, eine Frau Hübel, vor der Abschiebung, egal wie dramatisch diese war, ihre Ehe mit dem polnischen Ukrainer namens Žyla schützen würde. Aber es war alles viel komplizierter: Mein Opa, dieser Pole und Ukrainer mit u. a. auch russischen Vorfahren, hatt e während der Okku-pation die deutsche Nationalität angenommen. Gut möglich, so erkläre ich es mir, dass er nicht sicher war, ob ihn seine arische Ehegatt in vor einem Konzentrationslager schützen kann — für das Reich waren doch die Polen, Ukrainer und Russen erklärte Feinde, und die Schutzfunktion einer Ehe galt vielleicht nur für Arier und nicht für Arierinnen oder was weiß der Teufel. Doch der hauptsächliche und mit größter Wahrscheinlichkeit auch der einzig wahre Grund hierfür war das Seraphische Liebeswerk der Kapuziner. Das waren inter-nationale Heime für verlassene Kinder, die seit 1889 von den Kapuzinern in der Schweiz, in Deutschland und Österreich, aber auch bei uns, errichtet wurden. Der Bruder meines Opas, Pater Stanislav Žyla, ein Guardian des Kapuzinerordens, hatt e sich der Einrichtung solcher Liebeswerke in Brünn-Kumrowitz, in der Gemeine Rabenseifen im Schönberger Land sowie an anderen Orten in Mähren angenommen. Die Besatzer über-wachten penibel die Erziehung deutscher und tschechischer Jugend im Protektorat, so dass sie es auch aufs Liebeswerk abgesehen hatt en, umso mehr, da es von einem katholtischen Orden errichtet worden war. Um die Heime besser schützen zu können, hatt en auf Wunsch des Guardians Žyla alle Žylas, meine Mutt i nicht ausgenommen, deutsche Nationalität ange-nommen, damit die mährischen Heime dadurch formell in den Händen einer deutschen Familie sind. Die Žylas, das ist ein echt entzückender Name für eine deutsche Familie! („Das seraphische Liebeswerk des Kapuzinerordens“ in Mähren wäre

Page 14: Brünner Todesmarsches

66

eine eigenständige Studie wert. Die Gebäude dieser ehema-ligen Heime für verlassene Kinder haben, soweit ich weiß, den Krieg wie auch das kommunistische Totalitarismus-Regime überdauert.)

Die deutsche Nationalität war zum Kriegsende ein ziemlich erschwerender Umstand, auch wenn die Žylas sie ausgerechnet deswegen angenommen haben, damit sie das „Seraphische Liebeswerk“ vor nazistischer Überwachung schützen können. (Bis heute leben in Israel Juden, denen das Liebeswerk im Protektorat das Leben gerett et hatt e). Von der Oma wurde meine Mutt i als Tschechin großgezogen und mein Opa, daran erinnere ich mich, verabscheute nachgerade animalisch alles Nationalsozialistische. Und es gab noch ein Problem, ja sogar eine recht prekäre Schwierigkeit: Das Haus, in dem die Eltern meiner Mutt i zur Miete wohnten, eine schöne Villa mit klei-nem Garten an der Ecke Eliška-Machová- zur Šmejkalgasse, gehörte nämlich deutschen Eigentümern. Wenn ich mich recht erinnere, waren es wohl zwei Schwestern, deutsche Brünnerin-nen, deren Tschechisch allerdings sehr dürft ig war. Wenn wir manchmal im Krieg vom Lande, wo wir damals lebten, zu den Eltern meiner Mutt er zu Besuch kamen, hatt en mich die zwei Deutschen zum Mitt ags- oder Abendessen zu sich gerufen. „Komm hea, Georg“, dieser Satz ist mir in meinem Gedächtnis für immer hängen geblieben. Ich war damals vier Jahre alt, ein frühreifes Lehrerkind, so dass ich glaube, ich hätt e schon bemerkt, wenn dort Hakenkreuze oder Portraits ihres Führers mit dem Oberlippenbärtchen gehangen hätt en. Damit will ich sagen, dass sie keine Nationalsozialistinnen waren. Oder doch? Weiß der Teufel, wie es war! Und da fällt mir ein, dass diejenigen, die in der trüben Frühe des 31. Mai 1945 noch im Morgengrauen die Teilnehmer des „Todesmar-sches“ sich versammeln ließen, eigentlich diese deutschen

Page 15: Brünner Todesmarsches

67

Schwestern, diese Hauseigentümerinnen, abholen wollten und unterwegs womöglich nur so nebenbei deren Mieter aus dem ersten Stock, die Eltern meiner Mutt i, hinzugenommen haben. Es ging vermutlich auch darum, das Haus freizumachen, es „in tschechische Hände zu übernehmen“.

Wäre mein Vater nicht rechtzeitig erschienen und hätt e er nicht eingegriff en, so hätt e es kein gutes Ende genommen. Ich habe jedenfalls gehört, dass dies nicht der einzige Fall war, dass die Teilnehmer aus dem Marsch zurück durft en. In einigen wenigen Fällen habe man die Irrtümer angeblich wiedergutgemacht. Auch wenn mir das eher unwahrscheinlich erscheint, da man dadurch lauter unerwünschte Zeugen des Marsches zurückgeholt hätt e. Aber ich will nicht schon wieder den Teufel herbeirufen müssen, der diesmal über allem stand, was sich damals ereignete.

Dieser Vorfall vom Kriegsende hatt e einen unheilvol-len Einfl uss auf unser familiäres Los ausgeübt. Es war ein unverdrängbares Trauma. Die Eltern meiner Mutt er durft en zwar zurückkehren, den Fehler hatt e man quasi behoben, aber sowohl ihnen als auch meiner Mutt i wurde die tschechoslowa-kische Staatsbürgerschaft erst 1955 zuerkannt. Man hatt e uns einer gewissen Kategorie der Bürger zugeordnet, nämlich jener der Unerwünschten, die man nur unter Aufsicht duldete. Die Eltern meiner Mutt er haben die „wilde Abschiebung“ überlebt, aber die gesamte Familie konnte, bildhaft gesprochen, nicht mehr aufh ören, den immer weiter fortzusetzen, was vielleicht auch ausschlaggebend dafür war, dass sich mein Vater lieber für die Emigration entschied.

Das Haus an der Ecke der Eliška-Machová- zur Šmejkal-gasse wurde dem Staat als sogenanntes ehemaliges deutsches Eigentum zugeschlagen. (Heute ist dort eine Schule. Den Eltern meiner Mutt i hatt e man damals als Ersatz eine Mietwohnung

Page 16: Brünner Todesmarsches

68

in der Stadtmitt e angeboten.) Und von alledem, was sich dort vor siebenundsechzig Jahren abgespielt hat, ist nicht einmal der Schatt en der alten Zeiten übrig geblieben, und die Namen jener deutschen Schwestern sind im Schlund des Vergessens verschwunden. In meinem Gedächtnis blieb einzig und allein ihr „Komm hea, Georg“.

Die ethnische Reinheit, von der Heydrich womöglich schon zwei Tage nach seiner Ankunft im Protektorat geträumt haben mag („Die defi nitive Schlusslinie gilt — dieser Raum wird deutsch und der Tscheche hat hier nichts zu suchen“, sagte er bereits in seiner Einführungsrede zu seinen Leuten), hatt e sich paradoxerweise erst in dem zur Wirklichkeit gewordenen Traum seines Widersachers, Präsident Edvard Beneš, durch-setzen können, welcher gleich nach dem Krieg die tschechis-chen Länder von der deutschen Minderheit „säubern“ ließ. Sogar den Juden, die es schaff ten, aus den KZs zurückzu-kehren, wurden, wieder mal in Bildern gesprochen, die gelben Sterne abgenommen und sogleich weiße Bänder angebracht — zur Abschiebung nur aus dem Grunde bestimmt, dass ihre Mutt ersprache Deutsch war. Auch in Brünn hatt e man deut-sche Hochschulen aufgelöst und sorgfältig alles eliminiert, was irgendwie mit deutscher Ethnie zusammenhing. Dafür musste Beneš (und mit Beneš auch unser ganzes Volk) in Form unserer Orientierung nach dem Osten zahlen: Es war seine „Verbindung der sozialen mit der nationalen Revolution“, die man umgehend nach Kriegsende umgesetzt hatt e, indem man revolutionäre Nationalausschüsse errichtete, welche bereits territoriale Organe der revolutionären Macht waren.

Man muss dennoch zugeben, dass auch viele klügere und weitsichtigere Politiker, als Beneš es war, mit dem Nachkrieg-sausgleich der Tschechen und Deutschen, mit ihrem Miteinan-der, welches während der Besatzung wahrlich apokalyptische

Page 17: Brünner Todesmarsches

69

Züge angenommen hatt e, ein ziemlich großes Problem auf den Tisch bekommen hätt en. Die Nachkriegsphobie vor allem Germanischen brachte verschiedenste Absurditäten mit sich: das Wort Němec (Deutscher) hatt e man jetzt klein zu schrei-ben, selbst in Beethovens Ode an die Freude sahen wir eine „teutonische Geste“. Doch genau diese Phobie traf mit ihren erniedrigenden amtlichen Maßnahmen gerade die wenigen Deutschen, die bleiben durft en — die nachgewiesenen Anti-faschisten. (Nur in Klammern füge ich hinzu, dass manche Nazis ganz bequem weiter leben konnten — als Mitarbeiter der tschechoslowakischen Stasi StB und des KGB, so auch vermutlich selbst der Chef der Brünner Gestapo, SS-Sturm-bannführer Wilhelm Nölle.)

Mein bester Freund auf dem Gymnasium war, und das ist sicher interessant, Jiří Winkler, der 1968 emigrierte. Ich habe ihn erst in den 1990ern, bei meiner ersten Autorenlesung in Wien, wieder getroff en. Er erzählte mir, dass er erst 1968 von seinen Eltern erfuhr, dass er ein Deutscher sei. Er begann intensiv Deutsch zu lernen, und noch in demselben Jahr ging er in sein „ursprüngliches Heimatland“, um dann am Ende nach Österreich auszuweichen.

Meine Mutt i war eine zweisprachige Tschechin, Deutsch war allerdings bei uns zu Hause ein Tabu. Und wenn meine Oma, ganz selten, meine Mutt i auf Deutsch angesprochen hatt e, rief es in mir regelrechte Abscheu hervor — ich habe sie nicht gemocht, habe sie „kleiner Hitler“ genannt. Die antigermanische Phobie leistete auch bei mir ihr Bestes: Ich war ein unwissender Schwachkopf, der erst in den 1990ern von seiner Herkunft erfuhr, um dann gleich einer anderen Phobie anheimzufallen, und zwar dem Angstgefühl, mit dem mich meine Mutt i angesteckt hatt e. Als 1998 die Europäis-che Kulturzeitschrift Sudetenland ohne meine Zustimmung

Page 18: Brünner Todesmarsches

70

eine Übersetzung meiner Heideggerschen Erzählung (Pastýř bytí — Der Hirte des Seins) druckte, erschrak ich und habe es mir untersagt, weiter in dieser Zeitschrift zu publizieren.

Den Dorn des völkischen Hasses, der sich nach dem Krieg in der kollektiven Schuldzuweisung off enbarte, haben wir off -ensichtlich aus der nationalsozialistischen völkischen Hassle-hre übernommen, um ihn im Handumdrehen geschickt mani-pulierend in einen Dorn des Klassenhasses zu verwandeln, der genauso kollektiv und vernichtend war. Es gibt eine direkte Verbindungslinie zwischen deutschen KZs und unseren Arbeitslagern, in denen auch das arrogante deutsche „Arbeit macht frei“ in seiner tschechischen Entsprechung galt. (Und wieder füge ich nur in Klammern hinzu, dass dies zugleich eine Verbindungslinie mit dem Gulag ist. Da hat sich das Deutsche mit dem Russischen in den totalitären Praktiken meisterhaft „verbrüdert“.)

Ich würde sagen, dass die Brünner „wilde Abschiebung“, die-ses gespenstische Gesicht der späteren offi ziellen Abschiebung, ein prophetisches Bild davon war, was uns nach dem Krieg erwartete. Der deutsche „Todestrieb“ hatt e sein Pendant im tschechischen „instinkt smrti“ gefunden, so dass Hass für Hass, dieser Staff ellauf des Hasses, der auch viele Unschul-dige mitriss, den Weg in unsere Nachkriegsgeschichte als sie dominierender Gedanke nahm. Und dafür büßen wir bis heute.

Page 19: Brünner Todesmarsches