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Wolfgang Herles (Hg.) Bücher die Geschichte machten

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Wolfgang Herles (Hg.)

Bücherdie Geschichte machten

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Impressum

cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House

Umwelthinweis:Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.

1. Auflage 2007© 2007 cbj, MünchenAlle Rechte vorbehalten

Lektorat: Gerd RumlerBildredaktion: Annette Mayer, Tanja NergerUmschlaggestaltung: Init.büro für gestaltung, BielefeldUmschlagfotos: siehe Bildnachweis S. 318AR · Herstellung: WMLayout und Gestaltung: Keysselitz Deutschland GmbH, MünchenKoordination und Abwicklung: interConcept Medienagentur, MünchenDruck und Bindung: Polygraf Print, Presov

ISBN 978-3-570-13362-0Printed in the Slovak Republic

www.cbj-verlag.de

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Herausgegeben von Wolfgang Herles

Mit Texten von Klaus-Rüdiger Mai

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Vorwort von Wolfgang Herles 7

Das Altertum: Gemeißelt, geritzt, geschrieben. Von der Tontafel zum Buch 10

um 2350 v. Chr. Das Totenbuch der Ägypter. Die Wissenschaft vom Leben nach dem Sterben 14

ca. 8. Jh. v. Chr. Homer, Die Ilias. Die ersten Helden 18

6./5. Jh. v. Chr. Konfuzius, Die Gespräche. Der erste Philosoph 24

um 325 v. Chr. Euklid, Die Elemente. Das Buch, aus dem die Welt entsteht 30

ca. 3./2. Jh. v. Chr. Das Alte Testament. Das Buch der Bücher 34

ca. 2. Jh. Das Neue Testament. Die Schrift der Hoffnung 42

413 – 426 Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat. Reiche ohne Gerechtigkeit sind große Räuberbanden 50

Das Mittelalter: Ein Kloster ohne Bücher ist wie eine Burg ohne Waffen 56

650 – 656 Der Koran. Die letzte Offenbarung Gottes 60

11./12. Jh. Die Niederschrift von der Smaragdenen Felswand. Die Überlieferung des Zen-Buddhismus 68

um 1200 Das Nibelungenlied. Die deutsche Ilias 74

1294 – 1328 Meister Eckhart, »Deutsche Predigten«. Riskantes Ringen um die Wahrheit 80

Die Neuzeit: Das Buch erobert die Welt 86

1516 Thomas Morus, Utopia. Das Paradies des Mittelmaßes 90

1522/1534 Martin Luther, Biblia/das ist/die gantze Heilige Schrift Deutsch. Das deutsche Volksbuch 96

1543 Nikolaus Kopernikus, Von den Umdrehungen der Himmelskörper. Ein Zeitalter zerbricht 102

1568 Paracelsus, Das sehr wunderbare Werk. Die Erfindung der Naturheilkunde 108

1595 Gerardus Mercator, Atlas oder Kosmografische Überlegungen über das Gefüge der Welt. Die Erfindung der Erde 114

Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

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1595/1597 William Shakespeare, Die Tragödie von Romeo und Julia. Die Erfindung der Liebe 118

1628 William Harvey, Anatomische Abhandlung über die Bewegung des Herzens und des Blutes bei Tieren. Die Erfindung der Medizin 124

1637 René Descartes, Abhandlung über die Methode. Ich denke, also bin ich! 128

1632 Galileo Galilei, Dialog über die beiden Weltsysteme. Die Erfindung der Naturwissenschaft 134

1651 Thomas Hobbes, Der Leviathan. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf 142

1684 Gottfried Wilhelm Leibniz, Neue Methode für das Große und das Kleine. Das Alphabet der menschlichen Gedanken 150

1687 Isaac Newton, Die mathematischen Grundlagen der Naturlehre. Von Zeit zu Zeit muss Gott seine Uhr aufziehen 154

1719 Daniel Defoe, Robinson Crusoe. Die Selbstverständlichkeit des Schiffbruchs 158

1726 Jonathan Swift, Gullivers Reisen. Alle wahrhaft Gläubigen öffnen die Eier am passenden Ende 162

1762 Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag. Zurück zur Natur 168

1776 Adam Smith, Eine Untersuchung über Natur und Ursache des Wohlstandes der Nationen. Wohlstand für alle? 174

1781 Friedrich Schiller, Die Räuber. In Tyrannos 178

1781 Immanuel Kant, Die Kritik der reinen Vernunft. Die Entdeckung des Erkennens 186

1806/1830 Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Lebens-Dichtung 194

Die Moderne: Das Buch als Medium des Lebens 204

1804 Napoleon Bonaparte, Code Civil. Das Gesetz der Freiheit 208

1807 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes. Das Verschwinden des Menschen 212

1818 Mary Shelley, Frankenstein. Das Geheimnis des Lebens 220

1848 Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei. Kampfanleitung für das Paradies 226

1859 Charles Darwin, Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Die Entdeckung der Menschen 232

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1865 Wilhelm Busch, Max und Moritz. Ach, was muss man oft von bösen Buben hören oder lesen! 236

1883 – 1885 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Unbehagen an der Welt 240

1900 Sigmund Freud, Die Traumdeutung. Engel besitzen keine Geschichte 248

um 1900 Die Protokolle der Weisen von Zion. Das Buch, das tötet 252

1905/1916 Albert Einstein, Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie. Was ist Licht? 256

1902 – 1908 Ernest Rutherford, Zusammenstöße von Alpha-Teilchen mit leichten Atomen. Neue Vorstellungen vom Atommodell 262

1927 Hermann Hesse, Der Steppenwolf. Nur für Verrückte, die verrückt danach sind zu leben 266

1945 Astrid Lindgren, Pippi Langstrumpf. Lerne, Macht nicht zu missbrauchen 274

1947 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Marxismus ohne Arbeiterklasse 278

1948/1953 Alfred Kinsey, Die Kinsey-Reporte. Die geheime Sexualität der Amerikaner 284

1953 James Watson und Francis Crick, Die Struktur der DNA. Der Code des Lebens 288

1954/1955 J.R.R. Tolkien, Der Herr der Ringe. Tödliches Gift der Macht 292

1966 Mao Zedong, Worte des Vorsitzenden Mao. Ein schlagendes Buch 298

1996 Samuel Huntington, Kampf der Kulturen. Ratlose Ratgeber 304

1997 J. K. Rowling, Harry Potter und der Stein der Weisen. Erzählte Sehnsucht 310

Register 314

Bildnachweis 318

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Vorwort

Umberto Ecos Roman Der Name der Rose wurde millionenfachgelesen und erfolgreich verfilmt. Aber Geschichte gemachthat er nicht. Vom Verkaufserfolg eines Buches lässt sich nichtauf seine Wirkung schließen. Geschichte gemacht haben dieBibel und der Koran, ebenfalls Bücher mit höchster Auflage.Aber auch andere, fast vergessene Werke haben die Welt ver-ändert. Bemerkenswert ist Der Name der Rose in diesem Zu-sammenhang aus einem anderen Grund. Der Roman erzähltdavon, wie gefährlich ein Buch sein kann. In einem mittelalterlichen Kloster kommen Mönche ums Le-ben. Der Detektiv, auch er ein Mönch, findet heraus, weshalb:Sie haben ein vergiftetes Buch gelesen, eine verschollen ge-glaubte Schrift des antiken Philosophen Aristoteles. Weshalbist dieses Buch so gefährlich? Weshalb müssen seine Lesersterben? Es handelt vom Humor.Humor ist eine seltsame Macht. Sie kommt allein aus der Spra-che. Sie benötigt kein Gesetz, kein Geld, keine Waffengewalt.Dennoch ist Humor eine Kraft, die gegen die unvermeidlichenLasten des Lebens, gegen Ungerechtigkeit wie gegen eigeneMängel hilft. Denn Lachen erleichtert und befreit.Deshalb hat das geheimnisvolle Buch des Aristoteles Macht.Es kann geistige Fesseln lösen, es kann die strenge Klosterge-meinschaft sprengen. Ein religiöser Fundamentalist erkenntdiese Gefahr und bringt die Leser des Buchs um. Am Endegehen Buch und Kloster in Flammen auf.

Leser sind gefährlich Bücher können verboten und verbrannt werden. Die es tun,wissen, weshalb sie Angst vor Büchern haben. Grundlos wer-den Bücher nicht verboten. Doch es ist sinnlos. Denn wasbrennt, ist nur Druckerschwärze und Papier. Das, worauf esankommt, die Gedanken, die sind frei. Man kann ihre Verbrei-tung behindern, aber sie nicht zerstören. »Was einmal ge-dacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden«,sagt Möbius in Dürrenmatts Theaterstück Die Physiker. Das giltfür die Atomspaltung und für alle anderen Gedanken, die dieWelt verändern. Bücher sind nur ihr Medium.Am Ende sind es ohnehin nicht die Gedanken, die Tod undSchrecken verbreiten, sondern Menschen, die sie verfälschen,sie missbrauchen oder auch nur allzu wörtlich nehmen. Nichtder Koran tötet, sondern Terroristen, die ihn auslegen und in-terpretieren. Nicht Bücher töten, sondern Leser. Manchmal auch Autoren. Ihre Bücher mögen harmlos und le-bensklug klingen. Die Mao-Bibel erklärt nicht, weshalb Mao ei-ner der größten Schlächter seines Jahrhunderts sein konnte.Gelegentlich wäre es besser gewesen, ein Buch wäre tatsäch-

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Vorwort

lich gelesen und verstanden worden. Adolf Hitler beschriebseinen mörderischen Rassenwahn, bevor er Reichskanzlerwerden konnte. Mein Kampf war das Drehbuch seiner Mord-lust. Es wurde millionenfach gekauft – nur nicht ernst genom-men. Es war nicht Mein Kampf, das Geschichte machte. Des-halb kommt es in dieser Sammlung nicht vor.Kürzlich erschien ein Roman der fabelhaften amerikanischenAutorin A. M. Homes mit dem großspurigen, aber witzigenTitel: Dieses Buch wird Ihr Leben retten. Es ist die Geschichteeines reichen Mannes, der mit aller Konsequenz darauf ach-tet, alles richtig zu machen. Er hat einen Fitnesstrainer undeine Ernährungsberaterin. Dann landet er aber doch mit Herzbeschwerden im Krankenhaus. Er ändert sein Leben, in-dem er alle Ratschläge verwirft und einfach lebt, nach Lustund Laune. Hunderte von Büchern wollen nichts anderes, als ihren LesernVorschriften machen. Sie handeln vom gesunden Leben, vomrichtigen Leben, vom moralischen Leben. Sie wollen die Leserverändern. Die wenigsten dieser Ratgeber machen zwar Ge-schichte, aber die Grundidee ist schon richtig: Wer die Weltverändern will, muss zuerst die Menschen verändern.

Ein LeseabenteuerSelbst die größten Eroberer haben schnell alles verloren,wenn sie nur dazu fähig waren, zu zerstören, aber nicht auchin der Lage, geistige Werte zu stiften. Napoleon war ebennicht nur ein größenwahnsinniger Imperator, sondern er leg-te mit dem Code Civil eine der Grundlagen des modernen Staa-tes. Zweifellos ein Buch, das Geschichte machte.Die 50 Werke, von denen dieses Buch handelt, sind nicht die Bücher, die Geschichte machten. Wer wollte sich so eineAuswahl anmaßen? Es sind auch nicht Bücher, die zwingendund komplett im Regal gebildeter Leute stehen müssten. Dasgilt für einige. Bei anderen genügt es zu wissen, dass es siegibt, wovon sie erzählen, welche Erkenntnisse oder Ideen sieenthalten, wie sie wirkten. Dieser Band bietet Orientierung,nach der Wissensdurstige suchen, weil das Internet zwar alles bietet, nur keine Antwort auf die Frage, wie Wichtigesvom Unwichtigen zu trennen sei. Jeder aufmerksame Leserkennt Bücher, die hier fehlen, obwohl sie doch auch Geschich-te gemacht haben. Und umgekehrt: Es ist nicht verboten, J. K. Rowlings Harry Potter, Johann Wolfgang von GoethesFaust oder Samuel Huntingtons Kampf der Kulturen nicht fürgeschichtsmächtig genug zu halten. Unumstrittenheit war beider Auswahl kein Kriterium. Das Buch soll anregen zum lust-vollen Streit darüber, was mehr oder weniger wichtig sei.Dieses Buch ist kein Pensum, das von A bis Z zu bewältigenwäre. Der Leser mag nach Lust und Laune springen, vor und

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zurück. Ein Abenteuer ist die Lektüre allemal, eine Reise durchdie Galaxien der Fantasie, durch alle Kontinente des Wissens. Selbst Bücher, die Geschichte machten, enthalten selten ewiggültige Wahrheiten. Manchmal bewegten sie gerade wegenihrer Irrtümer die Menschen. Alles Wissen ist vorläufig; esbesteht aus Annahmen, die widerlegt werden können. Dasging Newton so, den Einstein widerlegte, und so wird es ein-mal Einstein ergehen.

Am Anfang ist immer das WortDieses Buch erzählt im Grunde die Geschichte des Denkens.Jeder Leser wird seinen eigenen Zugang finden. Ohnehin sinddie Bücher dieser Auswahl nicht miteinander vergleichbar. Siesind chronologisch geordnet. Man hätte das auch anders ma-chen können. Vielleicht so: Erstens religiöse Schriften, dieBasis der Weltreligionen. Zweitens bahnbrechende naturwis-senschaftliche Werke. Ihre Verfasser entschlüsselten die Na-tur, das, was sie im Innersten zusammenhält, sei es die Physikdes Universums – Kopernikus, Einstein – sei es die Natur desMenschen, seines Körpers – Watson und Crick – und seinerSeele – Freud. Drittens theoretische Gedankengebäude,Grundlagen gesellschaftlichen Handelns – Kant, Rousseau,Marx, Smith. Und schließlich, viertens: Werke der Dichtkunst,große Epen – Homer –, Romane – Defoe –, Stücke – Schiller,Goethe, Shakespeare –, die wesentliche Einsichten über dasZusammenleben von Menschen vermitteln. Die Wirkung eines Buchs ist nicht objektiv messbar. GoethesDie Leiden des jungen Werther löste eine Selbstmordwelle aus.Aber hat nicht doch eher der Faust Geschichte gemacht? Schließlich gilt auch für Literatur die Erkenntnis aus derNatur, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Asieneinen Hurrikan in Amerika auslösen kann. Auch hinter den ge-waltigsten Büchern der Weltgeschichte stehen Vorbilder undVorläufer, Imaginationen und Ideen, Mythen und Legendenunbekannter Herkunft. Gültig ist nur der erste Satz der Bibel:Am Anfang war das Wort. Aber welches und wessen Wortjeweils am Anfang geschichtlicher Umwälzungen steht, daswissen wir selten.Die Wirkung eines Buchs ist auch nicht immer die, die sich seinAutor wünscht. Sie kann sogar ins Gegenteil verkehrt werden.Der Philosoph Hegel wäre vor Schreck gestorben, hätte er er-fahren, dass sein Werk einmal dazu dienen würde, die schreck-lichsten Ideologien des 20. Jahrhunderts zu rechtfertigen,vom Nationalsozialismus bis zum Stalinismus. Bücher sind wie Menschen. Einmal auf der Welt, verselbststän-digen sie sich. Manchmal machen sie sogar Geschichte.

Wolfgang Herles

Vorwort

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Selbst als später die Jäger und Sammler zu Bau-ern und Viehhaltern geworden waren, ersteStädte entstanden und nun Priester auf die Ein-haltung der Ordnung der Welt achteten, indemsie den Göttern dienten, wurden die Geschichtenund Vorstellungen, die religiösen Riten und Ze-remonien von jeder neuen Generation auswen-dig gelernt. Das Gedächtnis wurde zum Ort, der

das Wissen über das Leben und die Welt enthielt.Der Verlust dieses Gedächtnisses hätte den Todbedeutet. Es gab dem Leben seine Struktur, in-dem es dem Menschen verriet, woher er kam,wohin er ging und was er zu tun hatte. Das setz-te sich bis in den praktischen Alltag hinein fort,indem es zum Beispiel den lebenswichtigen Ter-min für die jährliche Aussaat verwahrt hatte.Doch allmählich begann man, wichtige Informa-tionen als Bilder, aus denen einmal die Schrift

n den Lagerfeuern der ersten Menschenwurden Geschichten erzählt, die von

den Göttern handelten und von den Ahnen.Nicht nur, dass die Ahnen zwischen ihren Nach-kommen und den Göttern vermittelten, sie be-wohnten bereits jetzt das Land, in das manselbst nach dem Tod eingehen würde. Spätes-tens zu diesem Zeitpunkt ginge es darum, Re-

chenschaft abzulegen. Der Zauberer, der Scha-mane, konnte sich in einen Zustand versetzen,in dem er seinen Körper verließ und in das Landder Ahnen reiste. Dort erhielt er Rat und Bei-stand, wenn es beispielsweise darum ging, dieFährten der Tiere zu finden, von denen die Jä-ger und Sammler lebten. Die Geschichten unddas Wissen über die Ahnen, die Götter und dieWelt wurden mündlich von Generation zu Gene-ration weitergegeben.

Das Altertum:Gemeißelt, geritzt, geschrieben. Von der Tontafel zum Buch

Das Altertum

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entstehen sollte, festzuhalten. Denn in einerWelt, in der zunehmend kriegerische Auseinan-dersetzungen und Machtkämpfe stattfanden,war ein Gedächtnis, das auf der Kontinuität vonPersonen beruhte, bedroht. Auf einer Tontafel,die sich in der Bibliothek des bücherliebendenund kriegerischen Herrschers Assurbanipal, derim 7. Jahrhundert v. Chr. lebte, fand, heißt es:»Der, der die Tiefe sah, die Grundfeste des Lan-des, / der das Verborgene kannte, der, dem allesbewusst – / … vertraut sind ihm die Göttersitzeallesamt. / Allumfassende Weisheit erwarb er injeglichen Dingen. / Er sah das Geheime unddeckte auf das Verhüllte / er brachte Kunde vonder Zeit vor der Flut.« Mit der Flut war die Sint-flut gemeint, die den Menschen im VorderenOrient als Zeitenscheide zwischen ihrer Zeit undder fernen Vergangenheit galt. Die älteste, uns überlieferte Geschichte derMenschheit ist das Gilgamesch-Epos. In ihm wirddie Geschichte des Helden Gilgamesch erzählt,der aus Trauer über den Verlust seines GefährtenEnkidu von den Göttern die Unsterblichkeit er-trotzen will. Er ist der erste Mensch, der uns ausder grauen Vorzeit entgegentritt, und sein tiefs-tes Problem besteht in der Erfahrung der eige-nen Endlichkeit, in dem großen Schmerz dar-über, dass er einmal nicht mehr sein wird.

Mit der Erfindung der Schrift tritt neben das Ge-dächtnis, das durch mündliche Überlieferung,durch Erzählen und Hörensagen am Leben er-halten wird, ein technisches Gedächtnis. Nunmuss man sich nicht mehr alles merken, sondernman kann es notieren und somit dauerhaft ver-fügbar machen. Diese Verfügbarkeit stand an-fangs dem Wesen des Religiösen, des Wissensum die Götter, das immer auch Geheimnis ist,entgegen. Deshalb wurde die Schrift zunächstnur dazu benutzt, Handelsverträge zu notieren,Bestellungen festzuhalten, Abrechnungen zutätigen und schließlich Gesetze aufzuschreiben. Doch bald schon wollten sich die Könige mit ih-ren Taten verewigen. Nun begann man das Wis-sen, das man hatte, zu notieren. Zunächst be-nutzte man Tontäfelchen, in die man etwas ein-ritzte, später kam in Ägypten der Papyrus auf.Tontäfelchen und Papyrus wurden zu den Mate-rialien, auf die man schrieb. Papyrus besaß denNachteil, dass er nicht sehr haltbar war. So sinddie Papyri, die im alten Griechenland beschrie-ben worden waren, durch die hohe Luftfeuchtig-keit zerstört worden. Nur die ägyptischen Papy-ri blieben erhalten, weil das Klima Nordafrikastrockener ist. Vom 7. Jahrhundert v. Chr. an wur-de Papyrus zu einem ägyptischen Exportschla-ger. Die Griechen führten ihn in großen Mengen

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Feldzügen stets bei sich, und mit der Ilias in derHand soll der knapp 33-Jährige auch in Babylongestorben sein. Von nun an gehörten die Wissenschaften, dieLehranstalten (Akademien) und die Bibliothe-ken als geistige Zentren der zivilisierten Weltuntrennbar zusammen. Die berühmteste Biblio-thek des Altertums schuf der König Ptolomäus I.286 v. Chr. in Alexandria und machte damit diein Nordägypten liegende Stadt, die den NamenAlexanders des Großen führte, für ein halbesJahrtausend zum geistigen Mittelpunkt. Ptolo-mäus I. war besessen von dem Gedanken, dasgesamte Schrifttum der Zeit in seiner Bibliothekzu versammeln. Diese Bibliothek wurde mit ei-ner Hochschule, dem Museion (Haus der Musen)verbunden. Sein Nachfolger, auch ein Ptolo-mäus, mit Zweitnamen Philadelphos, hatte dieLeidenschaft für die Bibliothek von seinem Vor-gänger geerbt und so heftig empfunden, dass ernur Originale sammeln wollte. Führte ein Rei-sender, der mit dem Schiff nach Alexandriakam, eine Handschrift bei sich, so wurde diesekonfisziert, kopiert und ihm die Kopie ausge-händigt. Das Original wanderte in die Bibliothekin die Abteilung »Von den Schiffen«. Schreibschulen, in denen Texte notiert und ko-piert wurden, existierten bereits seit dem Auf-

ein. Der Umschlagplatz für Papyrus war der OrtByblios. Daraus entstand das Wort Bibel undschließlich unser deutsches Wort Buch, aberauch der Begriff Bibliothek. Doch bis zum Buch im heutigen Sinn war es nochein weiter Weg. Die Papyri wurden als Schriftrol-len gelagert. Mit der rechten Hand wurde derPapyrus ab- und mit der linken Hand aufgerollt.Der längste Papyrus, der erhalten blieb, ist derPapyrus Harris mit 46 m aus dem 12. Jahrhun-dert v. Chr., der die Chroniken der ägyptischenHerrscher enthält. Nicht weniger beeindruckendist der Greenfield-Papyrus mit 42 m, der einTotenbuch darstellt. Mit der Entstehung der Wissenschaft und derPhilosophie im alten Griechenland gewann diePapyrusrolle als Speichermedium von Wissenund Dichtung eine immense Bedeutung. Diese»Bücher« gelangten in die Privatsammlungen.So besaß der große Philosoph Platon, der imHain von Akademos eine Schule, die erste Aka-demie, gründete, eine der besten und berühm-testen Sammlungen des 4. Jahrhunderts. Pei-sistratos schuf in Athen um 540 v. Chr. die ersteöffentliche Bibliothek. Er war es auch, der denSchreiber Onomakritos beauftragte, HomersEpen aufzuschreiben. Eine Ausgabe der Ilias vonHomer führte Alexander der Große bei seinen

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kommen der Schrift im 3. Jahrtausend v. Chr.Das Volk konnte weder lesen noch schreiben,und auch in der Oberschicht hielt sich dieKenntnis der Schrift noch in Grenzen, wurdeaber dadurch ausgeglichen, dass reiche Famili-en Schreibsklaven besaßen, also Sklaven, diedes Lesens und Schreibens kundig waren. Den-noch setzte sich in Griechenland und später inRom immer mehr die Kenntnis des Lesens undSchreibens und die Leidenschaft, Bücher zusammeln, als Ausdruck der Kultur und als Sta-tussymbol durch. In Rom spottete man über somanchen reichen Büchersammler, der selbstnicht lesen konnte. Nicht nur in Alexandria,auch in anderen griechischen Städten wurdenöffentliche Bibliotheken gegründet. Die wohlbedeutendste in Pergamon. Um die uner-wünschte Konkurrenz auf der Jagd nach denHandschriften auszuschalten, verbot Philadel-phos die Ausfuhr von Papyrus nach Pergamon.Doch der fürstliche Bücherliebhaber von Perga-mon wusste sich zu helfen. Er bevorzugte künf-tig als Schreibmaterial Tierhäute, die den Na-men seiner Stadt erhielten, nämlich Pergament.Als alternatives Speichermaterial zum Papyrussetzte sich das Pergament, das aus der Haut vonKühen, Schafen und Ziegen gewonnen wurde,rasant durch. Das Pergament hatte zwei wichti-

ge Vorteile gegenüber dem Papyrus, erstens wares haltbarer und zweitens konnte man diePergamentlagen übereinander legen, falten undam Falz zusammenbinden. So entstanden dieersten Codices, aus denen das Buch hervorging. Leider erlitt die Bibliothek von Alexandria zweiSchicksalsschläge. Bei der Eroberung der Stadtdurch die Römer im Jahr 47 v. Chr. brannte dieBibliothek. Nur ein Teil der ungefähr 700 000Schriftrollen konnte gerettet werden. Als manim Jahr 391 n. Chr. den Tempel in eine christli-che Kirche umwandelte, wurde die Sammlung indie ganze Welt zerstreut. Dieser Verlust an Bü-chern, an Wissen konnte bis heute nicht ersetztwerden. Ein Teil des Gedächtnisses der Mensch-heit wurde ausgelöscht. Die Schriftrolle und der Codex hatten als Vorstu-fe des Buches ihren Siegeszug in der zivilisiertenWelt angetreten. Sie wurden zum wesentlichenSpeichermedium für die geistige, wissenschaft-liche, aber auch wirtschaftliche und juristischeWelt des beginnenden Europas. Das Buch wurdezum Gedächtnis und zum Diskussionsforum, undes wurde zum Mittelpunkt von drei Religionen,die man auch Buchreligionen nennt, weil inihrem Zentrum ein Buch steht: Judentum, Chris-tentum und Islam. Das erste Buch überhauptaber war das Totenbuch der Ägypter.

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Das Mittelalter Die Neuzeit Die Moderne

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Das Altertum

ie Geschichte des ersten Buches beginntvor 5000 Jahren mit der Hochkultur der

Ägypter: Uralte Pyramiden gewaltigen Ausma-ßes inmitten der Wüste, Tempelanlagen wieStädte so groß an den Ufern des Nils, rätselhaf-te Schriftzeichen und geheimnisvolle Mumienzeugen von der ersten Großmacht der Weltge-schichte. Ihre Priester standen mit den Götternin Kontakt und beherrschten Magie und Alche-mie. Sie sollen sogar das geheime Wissen vomewigen Leben besessen haben. Auf Särgen undin Grabkammern, auf Tonscherben und auf Pa-pyrus, auf Leder und an Tempelwänden verewig-ten sie dieses Wissen und codierten es zugleich,denn niemand konnte die rätselhaften Zeichenlesen. Zahllose Forscher zerbrachen sich denKopf über die Bedeutung dieser verschwiegenenBoten einer fernen Zeit. Einige glaubten sogar,dass die Priester von Hermopolis das Wissen ih-res Gottes Thot notierten, der schließlich alsGott der Weisheit galt, oft mit einem Schreibge-

Die Wissenschaft vom Lebennach dem Sterben

Das Totenbuch derÄgypter(um 2350 v. Chr.)

Das erste Buch der Geschichte, das sich einer großen Be-liebtheit erfreute, war ein Reiseführer. Alle wollten dasBuch besitzen, doch nicht jeder konnte sich das Werk leis-ten. Dabei war es für jeden Ägypter eigentlich unentbehr-lich, denn niemand begab sich gern auf diese Reise, ob-wohl sie jeder eines Tages antreten musste. Der Reisefüh-rer war bestimmt für das Leben des Menschen nach demTode, für seinen Weg ins Jenseits und in die Ewigkeit, fürseine Wanderung in das Land, in dem sich nichts ändertund in dem er sich auf Dauer zurechtfinden musste.

Der Totentempel der Hatschepsut in Theben: Hier ruht die Pharaonin, unterderen Herrschaft Ägypten eine Blütezeit erlebte.

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Das Totenbuch der Ägypter

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rät dargestellt wurde, die heilige Schrift (so diewörtliche Bedeutung des Wortes Hieroglyphen)den Menschen gab und große Zauberkraft be-saß. Weil Thot der Helfer der Toten war, besaß erden Schlüssel zum ewigen Leben.

Die Schrift galt als Medium, mit dem man mitden Göttern sprechen konnte. Andere Forscherhofften durch die Entzifferung der Hieroglyphenden Ort zu finden, an dem der sagenhafte Schatzder Pharaonen versteckt liegen sollte. Wie großmusste das Geheimnis sein, wenn es so perfektgeschützt war? Und genau das war es, das Jean-François Champollion trieb, die Hieroglyphen zuentziffern, nämlich die Unlösbarkeit der Aufga-be. Er besaß ein großes Talent für alte Sprachenund beherrschte unter anderem Persisch, Sans-krit, Latein, Griechisch. Als er wie durch eineLaune des Zufalls den koptischen Priester Chef-titchi traf, hatte er endlich den Lehrer gefunden,der ihm das Koptische beibrachte. Koptisch wardie Sprache der sehr alten christlich-ägypti-schen Kirche. Aber sie war noch mehr, wie Cham-pollion so kühn wie richtig vermutete, sie hattesich aus dem Altägyptischen, aus der Spracheder Pharaonen entwickelt. So wurde das Kopti-sche für ihn zum Schlüssel der Hieroglyphen.

»Herausgehen am Tage«Als Champollion 1822 in der Sammlung ägypti-scher Altertümer in Turin auf die illustrierteHandschrift eines sehr alten Textes stieß, bestä-tigte sich seine Theorie der Entzifferung. Der deutsche Gelehrte Karl Richard Lepsius gabden Text des Papyrus’ unter dem Titel »Das Tod-tenbuch der alten Aegypter« 1842 heraus. Dochder korrekte Titel des Iufanch hieß: »Buch vomHerausgehen am Tage«. Erstaunlicherweise fan-den sich nun immer mehr Abschriften des Buchesin unterschiedlicher Überlieferung: als Papyrus,als Grabinschrift, in einem Sarg, auf Tonscher-ben und schließlich entdeckte man seine Verse

auch auf der berühmten goldenen Totenmaskedes legendären Pharaonen Tutanchamun. Das Totenbuch ist eine Sammlung von 165 Sprü-chen in Versform, die zur Zeit der 18. Dynastie(1500-1300 v. Chr.) als Buch zusammengestelltworden waren. Das Alter der Sprüche ist wesent-lich höher, denn mit ihnen wurden bereits zuvorschon Särge beschriftet. Doch nun schrieb mandie Sprüche auf Papyrus und gab sie dem Totenals Rolle mit in den Sarg. Jeder, der über diefinanziellen Mittel verfügte, ließ sich in einerSchreibstube ein Totenbuch anfertigen. Die altägyptische Vorstellung vom Leben undvom Sterben unterschied sich von unserer

grundlegend. Zwei tief greifende Erfahrungenmachten die Menschen dieser Kultur immer wie-der aufs Neue, die Erfahrung der Endlichkeit unddie Erfahrung der Dauer. Zu allen Zeiten und inallen Kulturen hat den Menschen nichts so sehrbeschäftigt wie die Tatsache, dass er sterbenmuss und sein Leben endet.

Was bedeuten die Hierogly-phen? – Die Größe der Auf-gabe war Triebfeder für Jean-François Champollion.

Der Stein von Rosette war der Schlüsselzur Entzifferung der Hieroglyphen:Hier steht derselbe Text in Koptisch, Griechisch und in Hiero-glyphen.

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Das Mittelalter Die Neuzeit Die Moderne

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Das Altertum

Da der Mensch ein Gedächtnis besitzt, gibt es fürihn ein Gestern, und wenn es ein Gestern gibt,dann gibt es auch ein Morgen. Wer sich zu erin-nern vermag, ist auch in der Lage vorauszuden-ken. Dass er aber eines Tages nicht mehr da seinsollte, das konnte er sich nicht vorstellen. Sowie es diese Welt gibt, in die er gekommen ist,muss es also eine Welt geben, in die er anschlie-ßend geht. Dieser andere Ort trägt verschiede-ne Namen: Unterwelt, Jenseits. Später wurdenauch zwei Orte daraus: Paradies und Hölle.

Das Leben als KreislaufWenn aber nun das Leben auf Erden nur kurz ist,muss die andere Zeit, in die der Mensch eingeht,nämlich die Ewigkeit, also die Zeit ohne Ende inder anderen Welt sein, mit einem Wort: derMensch geht aus der kurzen Zeit auf Erden in dieEwigkeit des Jenseits über. Die alten Ägypter er-lebten diese Dauer bereits im irdischen Lebendurch die ewige Wiederkehr des Gleichen, durchdie Regelmäßigkeit des jährlichen Nilhochwas-sers, das fruchtbares Schwemmland zurückließ.Nach der Überschwemmung spross neues Leben.Tag und Nacht wechselten, wie Zeiten der Tro-ckenheit und Zeiten des Regens einander ablös-ten. Deshalb glaubten die alten Ägypter, dassdas Leben in einem großen Kreislauf stattfin-det, in einem ewigen Vergehen und Werden. Dieser Kreislauf entspricht dem Lauf der Sonne.Jeder Tag zerfällt in die Reise der Sonne durchdie Unterwelt und über den Himmel. Dabei musssie beschützt werden vor der Schlange Aphopis,die es darauf abgesehen hat, die Sonne zu ver-schlingen. Wenn ihr das gelingen würde, hörtender Wechsel von Tag und Nacht auf, Finsterniswürde sich auf die Erde senken und die Men-schen würden im großen Chaos umkommen. Da dieser Kreislauf sich auch in Geburt und Todverwirklicht, kommt nach dem Tod wieder dieGeburt. Deshalb versuchten die Ägypter, denLeib des Toten zu erhalten, in dem sie ihn zurMumie machten, die man mit einer Puppe ver-gleichen kann, aus der sich wieder ein Schmet-terling entwickelt. Denn die schöpferische Kraftdes Menschen, die sich im Tod von seinem Kör-per löst, will sich in der Unterwelt wieder mitdem Körper vereinen, sich in ihm erneuern. Auf

Das Totenbuch ist ein Wegweiser für den Verstorbe-nen in der Unterwelt. Es enthält in SpruchformRitualtexte, Beschwörungs- und Zauberformeln,Göttergesänge und Selbstrechtfertigungen. So fin-den wir in ihnen z.B. die Riten, die während der Ein-balsamierung durchzuführen sind. Nach der 70 Tage dauernden Einbalsamierung be-ginnt für den Verstorbenen die Jenseitsreise. Wichti-ge Station dieser Reise ist das Totengericht, das überdie Qualität des Lebens in der Ewigkeit entscheidet.Der Verstorbene muss viele Verhöre bestehen, in de-nen er mittels der Sprüche versichert, dass er keineder 42 Todsünden begangen hat. Neben den Recht-fertigungssprüchen gibt es die Götterhymnen, indenen er sich den Göttern gleichstellt, und Zauber-sprüche, um sich gegen Gefahren zu schützen. Nuraus diesen Sprüchen erfährt er Hilfe und Beistand.Die Sprüche wurden in Hieroglyphen geschrieben,und die Hieroglyphen in Kolumnen angeordnet. Siewurden zum Teil reich illustriert. Beim Herstellen derTotenbücher wurde bei allen Sprüchen ein Freiraumgelassen, in den man am Tag des Todes den Namendes Verstorbenen eintrug. Die Totenbücher wurdenüber 2000 Jahre lang in Ägypten benutzt.

Inhalt

Im Alten Ägypten begleiteten die Priester den Übergang vom Leben ins Jen-seits: Auf dem Papyrus aus der Zeit um 1300 v. Chr. bringt ein Priester dasTotenopfer dar.

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Das Totenbuch der Ägypter

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seinem Weg in die Unterwelt trifft der Jenseits-reisende schreckliche Gestalten, die jedem Hor-rorfilm Ehre machen würden. Da wären zu-nächst die Wächter der sieben Höllenpforten,die so sprechende Namen tragen wie »Der mitumgedrehten Gesicht« oder »Der von Würmernlebt«. Auf den Unterweltsstraßen lauern Dämo-nen, die nur danach trachten, die Köpfe der Rei-senden abzuschlagen und ihre Herzen aus derpochenden Brust zu reißen. Es sind Ungeheuer,die jede Vorstellung überschreiten. Aber selbstwenn er ihnen entronnen ist, hat er noch kei-neswegs sicheres Gebiet erreicht. Denn nunbraucht er Hilfe und bittet mittels eines wir-kungsvollen Spruchs einen Gott: »Knüpf mir dasVordertau / um aus ihm zu kommen, (aus) die-sem schlimmen Land, / in welchem die Sterneumgestürzt auf ihre Gesichter fallen / und nicht

mehr wissen, wie sie sich (wieder) erheben sol-len.« Andere Sprüche bewahren den Reisendendavor, zum Kopffüßler zu werden und seinen ei-genen Kot zu fressen, weil alles verkehrt herumgeht in der verkehrten Welt. Deshalb nimmt der Tote das Buch mit den Zau-bersprüchen, den Riten und Handlungsanleitun-gen, den Beschwörungs- und Zaubermitteln mitins Jenseits, um dadurch erprobte Hilfsmittelzur Abwehr und Rettung zu besitzen. Wenn mandie Sprüche des Totenbuches liest, entdecktman, dass die Priester der alten Ägypter in derTat das Geheimnis des ewigen Lebens kannten,nämlich des Lebens in der Ewigkeit, sie hattenes genau, ja fast wissenschaftlich untersuchtund für jede Gefahr und für jede Bewährung gabes hilfreiche Sprüche, die als verlässlich und wir-kungsvoll galten.

Ganz Theben war zur Feier des Luxorfestes auf denBeinen. Dabei wurde der Gott Amun-Re, der Son-nengott, einen Prozessionsweg entlang geführt,wobei er wie in jedem Jahr an den vorbestimmtenStellen orakeln würde. Das Orakel wurde nichtmündlich abgegeben, sondern aus der Bewegung,die der Gott beim feierlichen Umzug durch die Stra-ßen Thebens vollführte, gelesen. Die Priester tru-gen das steinerne Bild des Gottes. Das Bild bewegtesich auf den Schultern der Träger und gab diesen sodie »Anweisungen«, in welche Richtung sie sich mitdem Gott bewegen sollten. Doch diesmal geschahdas Unvorstellbare: An allen Stellen, an denenAmun immer orakelt hatte, schwieg er hartnäckig.Verwunderung machte sich breit, die schließlichwich, als der Gott deutlich anzeigte, dass er zum Pa-last der Hatschepsut wollte. Die Prinzessin Hatschepsut war wohl 20 Jahre altund herrschte als Regentin für ihren minderjährigenStiefsohn Thutmosis. Doch nun erschien Amun-Rehöchstpersönlich vor ihrem Palast. Die junge Regen-tin kam heraus und Amun-Re führte sie in das Hei-ligtum, um sie zu krönen. War es wirklich göttlicherWille oder verdankte sie dieses Orakel ihren guten

Kontakten zu den Priestern und Würdenträgern desReiches? Einerlei, vor ihren Untertanen bekam siedie präzise Order des Gottes Amun-Re: Er beauftragtHatschepsut damit, Ordnung im Land einzuführenund für den Aufschwung zu sorgen. Nach der Zeit der Wirren und der Fremdherrschaftdurch die Seevölker beginnt mit ihr die wirtschaftli-che und innenpolitische Konsolidierung des NeuenReiches. Das Reich blühte auf. Insgesamt herrschtesie 20 Jahre und hielt durch den kühnen und uner-hörten Streich, sich zum Pharao zu krönen, ihrenStiefsohn Thutmosis III. von der Macht fern. Nachlängerer Zeit wurde Thutmosis im Jahr 1438 v. Chr.doch Regent. Starb Hatschepsut mit 37 Jahren eines natürlichenTodes oder wurde sie ermordet, damit endlich derWeg für Thutmosis frei war? Thutmosis tat zumindestalles, um die Erinnerung an die Pharaonin auszulö-schen. Er ließ Inschriften und Abbildungen zerstö-ren. Ihr Name wurde aus den Königslisten gelöscht.Doch durch ihre kluge Politik blühte Ägypten auf,wurde das alltägliche Leben friedvoll. In der glückli-chen Zeit Hatschepsuts erfolgte die endgültige Zu-sammenstellung der Totenbücher.

Das Geheimnis einer Pharaonin

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Das Mittelalter Die Neuzeit Die Moderne

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Das Altertum

lamiert bis auf die Knochen stand die pro-fessionelle Altertumswissenschaft 1873

da, all die Archäologen und Historiker mit denklingenden Professorentiteln, als der Privat-mann Heinrich Schliemann Troja ausgegrabenund den sagenhaften Schatz des König Priamosgefunden hatte. Sie hatten den Millionär für ei-nen Spinner und Hobbyarchäologen gehalten.Das war ihnen um so leichter gefallen, als sie sichin ihrer »wissenschaftlichen Welt« darauf geei-nigt hatten, dass Homers Ilias als reine Dichtungkeine historische Wahrheit enthielte. Damit hat-ten sie allerdings die Natur großer Dichtung, dieniemals nur reine Erfindung ist, völlig verkannt. Und nun bewies dieser Privatmann, dass die Pro-fessoren im Irrtum waren, denn nur mit HomersIlias in der Hand, an deren Wahrheitsgehalt erallerdings glaubte, spürte er Troja auf. Von die-ser Schlappe hatte man sich noch nicht erholt,als Schliemann eine viel größere Entdeckunggelang: In Mykene ließ er hinter dem Löwentor

Die ersten Helden

Homer: Die Ilias(ca. 8. Jh. v. Chr.)

Die Geschichte des Helden Achilleus und des Trojani-schen Krieges war der Megaseller der griechischen Anti-ke. An den Fürstenhöfen riss man sich um Homer, denDichter der Ilias. Bald schon wurde die Geschichte umLiebe und Krieg, um Heldentum und Verrat aufgeschrie-ben und immer wieder kopiert. Die Begeisterung für die-se spannende Geschichte aus der großen Vergangenheitbrachte die Griechen dazu, sie schließlich zum Schul-stoff zu machen. Jedes griechische Kind kannte die Ili-as. Kinder spielten die Abenteuer nach, Dichter fandenin der Ilias den Stoff und die Themen für ihre Werke. DieRömer fanden in Homers Epos sogar den sagenhaftenGründer ihrer Stadt, den Trojaner Aeneas.

Von Mykene aus zog der griechische Heerführer Agamemnon nach Troja: Dievon Heinrich Schliemann entdeckten Königsgräber in Mykene.

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Homer: Die Ilias

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graben und stieß auf fünf Steine mit sehr altenVerzierungen. Unter den Steinen befand sichaber kein Felsen, sondern erstaunlicherweiseErde. Schliemann ließ höchst gespannt die Erdeausheben und legte fünf Schächte frei. AmGrund dieser Schächte wurde er von 15 Skelet-ten, von Gold, von Silber, von Bronze und vonElfenbein in großen Mengen überrascht. Hein-rich Schliemann hatte die berühmten Schacht-gräber von Mykene entdeckt. Und das alles nurmit Homers Ilias in der Hand.Dieses Buch liebte er wie nichts und niemandenauf der Welt. Der achtjährige Knabe hatte bereitsin Ludwig Jerrers »Weltgeschichte für Kinder«ein gemaltes Bild mit den brennenden Stadt-mauern von Troja gesehen. Empört rief er aus,dass die starken Mauern niemals hätten nieder-brennen können. Den Entschluss, Troja auszu-graben, fasste der Junge in diesem Moment, undder gestandene Mann führte ihn 40 Jahre späteraus. Dazwischen lagen Jahre, in denen er seitseinem 14. Geburtstag in verschiedenen Berufenarbeitete, bis er so reich war, dass er, im Altervon 45 Jahren, Sprachen und Geschichte in Parisstudieren konnte. Nun fühlte er sich gerüstet,das Abenteuer seines Lebens zu beginnen. Diegroße Liebe, Homers Ilias, enttäuschte ihnnicht, sie führte ihn sicher wie ein Kompass.

Ein Epos als SchulbuchMit der Ilias beginnt auch die europäische Lite-ratur. Im 8. Jahrhundert v. Chr. von dem Rhap-soden Homer an den griechischen Fürstenhöfenunter großem Beifall vorgetragen, wurde siewenig später bereits aufgeschrieben und fandnun eine rege mündliche und schriftliche Ver-breitung. In den folgenden Jahrhunderten be-nutzten die Griechen die Dichtung sogar alsSchulbuch, denn in der Ilias begegneten sie ih-rer Geschichte und ihrem Glauben. Und weil die Ilias die Dichtung war, in der sichalle Griechen der verschiedenen Stämme undStädte finden konnten, stiftete sie das Gefühleiner größeren Einheit, die über Stadt- undStammesgrenzen hinweg bestand. In Alexandria versuchten versierte Philologendie verschiedenen, zum Teil abweichenden Fas-sungen, die von der Dichtung kursierten, wieder

auf einen Text zurückzuführen, auf den UrtextHomers. Ob ihnen das gelang, lässt sich nichtentscheiden, aber sie schufen zumindest eineverbindliche Fassung der homerischen Dich-tung, die für uns die Ilias darstellt. Im Zentrum der ungefähr 15 500 Versen steht dergriechische Held Achilleus: »Göttin, besinge dietödliche Wut des Peliden Achilleus«. Mit diesemHexameter beginnt die Geschichte um Liebe,Kampf, Krieg, Intrige und Heldenmut des Fürs-ten Achilleus inmitten des Trojanischen Krieges. Reich wurde Troja, weil die Stadt strategischgünstig lag und die Durchfahrt zum SchwarzenMeer kontrollierte. Die Trojaner konnten Ein-

fluss auf den Handel nehmen und auch Schutz-gelder festlegen. Zwischen den Griechen undden Trojanern kam es zum Streit, so dass die ver-einigte Streitmacht der griechischen FürstenTroja belagerte. Nach zehn Jahren Krieg gelanges den Griechen, Troja zu vernichten. Homer erzählt ungefähr 50 Tage und doch ver-mag er, in diesem kleinen Ausschnitt den gan-zen Krieg, die 3650 Tage Belagerung und Kampffacettenreich zu schildern. Dass daraus einehochspannende Geschichte wird, glückt durchden Kunstgriff, die Abenteuer in der rasendenWut des Achilleus zu konzentrieren. Wir haben heute die Dimension dieses Begriffsetwas vergessen. Das Althochdeutsche »wuot«leitet sich aus dem Indogermanischen uot herund bedeutet schließlich ein durch Götter oderdurch Dämonen verursachter Zustand heftigerErregung, eines Außersichseins. Es stellt mehrals Verärgerung dar, es bedeutet nicht nur einepersönliche Kränkung, sondern es ist Schicksal.Der Mensch kann sich nicht einfach beruhigen.Die Wut legt sich erst, wenn der Grund ausge-räumt wurde, der zur Raserei führte, mag derHeld auch darüber zugrunde gehen. Es wäre seinSchicksal, denn seine Wut wurde von den Göt-tern angestachelt.

»Göttin, besinge die tödliche Wut desPeliden Achilleus.« – Mit diesen Wor-ten beginnt das berühmteste Epos derWeltliteratur.

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Das Mittelalter Die Neuzeit Die Moderne

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Das Altertum

eigenen Verderbens. Dieses Motiv ist über 5000Jahre alt. Es findet sich bereits in den Helden-liedern der indogermanischen Stämme, derStämme, die nach Griechenland und Mitteleuro-pa einwanderten. Diese Stämme besaßen an-fangs eine gemeinsame Sprache. Als sie sich inverschiedenen Gebieten niederließen, entwi-ckelten sich über einen langen Zeitraum die Ein-zelsprachen: die gemeinsame Sprache nenntman Indogermanisch (aber auch Indoeuropä-isch oder Indoarisch). Man findet diese Wut beidem Helden Achilleus, aber auch bei dem ger-manischen Helden Hildebrand, der beleidigtund in Wut versetzt, gegen seinen eigenen Sohnkämpfen muss, bis in die Figur des Hagens imNibelungenlied, im Grunde seit der Ilias in allenalten Heldenliedern bis ins 12. Jahrhundert hi-nein. Die Wut fordert die Existenz des ganzenMenschen.

Achilleus nun, der bedeutende Held und besteKämpfer im Lager der Griechen, muss sich demgemeinsamen Heerführer Agamemnon unter-stellen. Beide geraten über eine Frau, die Aga-memnon fordert und Achilleus dem Heerführerüberlassen muss, in Streit. Achilleus fühlt sichdoppelt gedemütigt, zum einen wird ihm dieseFrau genommen, zum anderen darf er sich nichtwehren: Er hat sich dem gemeinsamen Feldher-ren Agamemnon unterzuordnen. Das erträgtAchilleus nicht. Seine Wut ist so maßlos, dass erdas Lager der Griechen verlässt. »Wahrlich alsfeige und nichtswürdig müsste man mich dochbezeichnen, / wenn ich tatsächlich in allem dirnachgäbe, was du auch forderst; / anderenmagst du es zumuten, doch erdreiste dich janicht, / mir Befehle zu geben!« Es ist diese Wut aus verletzter Ehre, die den Hel-den handeln lässt, und sei es um den Preis des

Die Ilias ist das griechische Heldenepos, das vomKrieg der Griechen gegen Troja erzählt. Der Nameder Dichtung leitet sich von Illion her, dem zweitenNamen der Stadt Troja. Sie ist in 24 Gesängen un-terteilt, die insgesamt 15 500 Verse enthalten. DasVersmaß ist der griechische Hexameter. Im Mittelpunkt der Dichtung steht der Held Achil-leus, der mit dem Anführer des griechischen Hee-res Agamemnon in den Streit gerät und sich ausdem Kampfgeschehen zurückzieht. Erst der Todseines Freundes Patroklos, der im Zweikampf demTrojaner Hektor unterliegt, bringt Achilleus dazu,zum Heer zurückzukehren, um sich zu rächen.Achilleus tötet Hektor. In einer Parallelhandlung wird vom Kampf der Göt-tin Athene gegen den Gott Ares berichtet. WährendAthene die Griechen unterstützt, steht Ares aufSeiten der Trojaner. Schuld am Ausbruch des Troja-nischen Krieges waren die Götter. Die Göttin derZwietracht Eris warf einen goldenen Apfel mit derAufschrift »Für die Schönste« in die Götterver-sammlung. Sogleich stritten sich Hera, Athene undAphrodite um den Apfel. Der trojanische Königs-

sohn Paris wurde zum Schiedsrichter bestellt. DieGöttinnen versuchten, ihn zu bestechen. Hera ver-sprach ihm Macht, Athene Kriegsruhm und Aphro-dite die Liebe der schönsten sterblichen Frau derWelt. Der Jüngling entschied sich für Aphrodite.Die löste ihr Versprechen ein und half ihm, die Fraudes griechischen Königs Menelaos zu entführen.Diese Beleidigung konnten die Griechen nicht ta-tenlos hinnehmen. Hatte Paris den TrojanischenKrieg auch ausgelöst, drückte er sich konsequentvor einer Teilnahme am Kampf.Die Dichtung spielt in der Zeit des 12. und 13. Jahr-hunderts vor Christus. Im gewissen Sinn findet dieIlias in der Odyssee ihre Fortsetzung, der Geschich-te der Heimkehr des Helden Odysseus. Die Odysseesoll 20 Jahre jünger als die Ilias sein und mancheForscher meinen deshalb, sie stamme nicht von Ho-mer. Da aber die Argumente derer, die von zwei ver-schiedenen Verfassern ausgehen, nicht zwingendersind, als die Argumente derer, die Homer für denVerfasser beider Epen halten, gibt es keinen Grund,an der schon von den alten Griechen überliefertenVerfasserschaft des Homers zu zweifeln.

Inhalt

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Homer: Die Ilias

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Wut über HektorDer Rückzug des Achilleus vom Kampf bringt dieGriechen in arge Bedrängnis und es scheint,dass der trojanische Held Hektor über sie trium-phieren wird. Doch als Patroklos, der besteFreund des Achilleus, in Achilleus’ Rüstung imZweikampf gegen Hektor antritt und von demTrojaner erschlagen wird, richtet sich die Wutdes Achilleus nun gegen Hektor. Diese Wut istgrößer als die Kränkung, so dass er zu den Grie-chen zurückkehrt in die Schlacht, denn nun willer Rache haben für den Tod seines FreundesPatroklos. Im Zweikampf tötet er Hektor. Dochdamit ist diese brennende Wut im Herzen, dasRasen des Schmerzes über den Tod des Freun-des, immer noch nicht besänftigt. Er schleiftdie Leiche Hektors, an seinen Streitwagen ge-bunden, um das Grab des Patroklos. Er wütetund kann nicht aufhören, bis ein alter gebro-chener Mann vor ihm steht. Es ist Priamos, derKönig von Troja und Vater des kühnen Hektors.Die Gefahr nicht achtend, schleicht er ins Lagerder Griechen, um Achilleus um die Herausgabeder Leiche seines Sohnes zu bitten. Was sei

wichtiger, als seinen Sohn ehrenvoll zu bestat-ten? Achilleus hält inne, die Wut fällt plötzlichvon ihm. Er übergibt dem trauernden Vater denLeichnam des Sohnes. In der Stadt Troja richtetPriamos die Beerdigung des Sohnes aus und ver-kündet dem Volk: »Seitens der Griechen / fürch-tet keinerlei tückischen Anschlag! Achilleusversprach mir (….) er werde / nicht vor demzwölften Tage die Feindseligkeiten eröffnen.«Und Achilleus hält Wort. Die große Geschichteseiner Wut klingt aus mit dem Vers: »Derart be-statten sie den rossezähmenden Hektor.«. Da-mit ist die große Wut des griechischen Helden,die den Spannungsbogen für die Dichtung stelltund das Leitmotiv bildet, erloschen, ja imwahrsten Sinn des Wortes begraben. In einer Parallelhandlung werden die Auseinan-dersetzungen unter den Göttern, die aktiv inden Krieg eingreifen, erzählt. Das ist um so ver-ständlicher, wenn man bedenkt, dass der Kriegaus einem eitlen Zwist der Götter entstand. Fürdie Griechen bedeuteten die Handlungen derGötter das immer drohende Chaos. In ihren un-gezügelten Leidenschaften, in ihrer Eitelkeit,

Entspannung in einer Kampfpause: Die beiden Kriegshelden Achilleus und Ajax beim Brettspiel.

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Das Mittelalter Die Neuzeit Die Moderne

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Das Altertum

ihrem Verlangen ähnelten sie den Menschen all-zu sehr. Das Chaos der Götter erlebten die Men-schen als unbegreifliches Schicksal.

Helden der BronzezeitDer Dichter Homer erzählte im 8. Jahrhundertv. Chr. mit seinen Geschichten von einer Welt,die gut 400 Jahre früher existierte, die Welt dermykenischen Kultur. Aus dieser Zeit stammendie Schachtgräber, die Schliemann ausgrub.Diese Kultur zeichnete sich dadurch aus, dassum Königspaläste eine Stadt entstand und dieBewohner der Stadt und des Umlandes von demKönig wirtschaftlich abhängig waren, weil dieWirtschaft vom Königspalast aus gesteuert wur-de. Um 1200 v. Chr. wanderten vom Norden dieStämme der Dorer, der Ioner und der Achäer ein.Sie setzen sich in den alten Zentren fest undvermischten sich mit der früheren Bevölkerung.Dieser Prozess dauerte gut 300 Jahre. Diese dreiJahrhunderte werden auch als die dunklenJahrhunderte bezeichnet, weil man über sienichts weiß, außer, dass sich in ihnen der Über-gang von der Bronzezeit zur Eisenzeit vollzog.Im 8. Jahrhundert kam dieser Prozess zum Ab-schluss und die griechischen Städte erlebteneinen großen wirtschaftlichen Aufschwung. Dieneuen Fürsten empfanden sich immer mehr ineiner alten Tradition und führten ihre Herkunftauf Halbgötter, eben auf die Helden der Bronze-zeit zurück. Deshalb hatten sie ein großes Inte-resse an den alten Geschichten. Aus diesenalten Geschichten ließen sie den Mythos ihrerHerkunft erdichten. Über Jahrhunderte hinweg hatten Rhapsodendiese alten Lieder weitergegeben. So wie maneine Bäcker- oder Töpferlehre absolvieren konn-te, war es auch möglich, den Beruf des Rhapso-den zu erlernen. Feste Wendungen, normierteCharakterisierungen von bekannten Figurenund der Reim sorgten dafür, dass sich die Texteleichter einprägten. Aus diesem alten Sagengut schuf Homer die Ili-as und die Odyssee. Dass diese Dichtung im Ge-gensatz zu vielen anderen, die es zu dieser Zeitmit Sicherheit gab, überliefert wurde, liegt anihrer Schönheit und ihrer Kraft, an der atembe-raubenden Spannung, die Homer wie in einem

Der erste und größte europäische Dichter ist auchder geheimnisvollste. So wenig wussten schon dieGriechen über ihn, dass immer wieder die Speku-lationen aufkommen, ob Homer wirklich der Ver-fasser der Ilias und der Odyssee sei (die soge-nannte »Homerische Frage«), ja ob er überhauptgelebt habe. Es gilt als wahrscheinlich, dass Ho-mer im 8. Jahrhundert v. Chr. in der griechischenStadt Smyrna am Fluss Meles geboren wurde, wes-halb auch angenommen wird, dass er ursprüng-lich Melesigenes (»der am Meles Geborene«) ge-heißen habe. Der Name Homer würde auf dieBlindheit hinweisen, denn er wurde auch der»blinde Sänger« genannt. Die Vorstellung derBlindheit leiteten einige Gelehrte aus einigenVersen der Odyssee her, in der ein blinder Sängerauftritt, in dem sie ein Selbstporträt des Dichtersvermuten. Allen »neuen« und »sensationellen«Entdeckungen zur »homerischen Frage«, vor al-lem in Fernsehdokumentationen, sollte man mitäußerstem Misstrauen begegnen – es lässt sichkaum historisches Material denken, das wirklichNeues in dieser Frage bringen würde.

Homer (griech. Homeros)

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Homer: Die Ilias

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Thriller entwickelt. Achilleus ist es, der von An-fang an unser Interesse weckt. Mit der Ilias be-ginnt nicht nur die europäische Literatur, son-dern sie hat zu allen Zeiten neue Kunstwerke an-geregt, ohne Ilias kein Hildebrandslied, kein Ni-belungenlied, kein »Troilus und Cressida« vonShakespeare, kein Faust von Goethe, kein Film

»Troja« und ohne Odyssee kein »Star Treck«.Heinrich Schliemann hatte schließlich eineGriechin geheiratet, die ihn bei seinen Ausgra-bungen unterstützte. Ihre Tochter erhielt denNamen der Gemahlin des Hektors, Andromache,und den Sohn benannten sie nach dem grie-chischen Helden Agamemnon.

Der berühmte Kunsthistoriker und Schriftsteller,der Preuße Johann Joachim Winckelmann, sitzt ineinem Triester Wirtshaus an einem kleinen Tisch.Vor sich die Ilias des Homer auf Griechisch, dasBuch, das er neben der Odyssee am meisten liebt.Er fiebert und ist krank und wartet seit Tagenschon auf das Schiff, das ihn endlich nach Anconabringen soll. Von Ancona ist es nur noch ein Kat-zensprung in sein geliebtes Rom. Dort würde erschnell wieder zu Kräften kommen. Es klopft und der Koch des Wirtshauses, FrancescoArcangeli, der sich mit dem kranken Reisenden an-gefreundet hat, betritt das Zimmer. Nichts Beson-deres. Er wird ihm wohl etwas bringen. Bevor Win-ckelmann sich zu ihm umschauen kann, hat er ei-ne Schlinge um den Hals und Arcangeli sticht mitdem Messer wild auf den Gelehrten ein. Es ist derVormittag des 8. Juni 1768. Die Nachricht von dem Mord an Winckelmann er-schütterte das ganze gebildete Europa. Laut Poli-zeiprotokoll sagte Arcangeli aus, dass ein Buch aufWinckelmanns Schreibtisch, dessen Titel er nichtlesen konnte, ihn mit Wut und Argwohn erfüllte,so dass er der Ansicht war, einen Juden oder einenSpion vor sich zu haben. Das Buch, von dem Arcangeli sprach, war die grie-chische Ausgabe von Homers Ilias, das Buch, dasWinckelmann sein ganzes Leben begleitet hat.Goethe vergleicht den ermordeten Kunsthistori-ker mit Achilleus, weil er gleichsam in voller Schaf-fenskraft aus dem Leben gerissen wurde und soder Nachwelt jung in Erinnerung bleibt. Für diegroße Wirkung der Ilias, wie der gesamten grie-chischen Antike hat Winckelmann Bahnbrechen-des geleistet.

Das Mittelalter sah sich in der Nachfolge des Römi-schen Reiches. In der »Aeneas« hatte der römi-sche Dichter Vergil seine Version des TrojanischenKrieges und der Gründung Roms dargestellt. Ver-gils Auffassung nach sei Rom von dem Trojaner Ae-naes, der sich mit ein paar Gefährten aus Troja ret-ten konnte, gegründet wurden. Dementsprechendergriff Vergil für die Trojaner Partei. Die Gelehrten des Mittelalters und der frühen Neu-zeit verehrten Vergil. Mit dem Lob an Vergil ver-band sich der Tadel an Homer. Die römische Antikeverehrte man, während die griechische sträflichvernachlässigt wurde. Es war Winckelmann, derdurch seine kunsthistorischen und kunstphiloso-phischen Arbeiten zur griechischen Antike, durchseine Darstellung der Größe dieser Kunst das ge-bildete Europa, Lessing, Diderot, Herder, Goethe,Schiller für sie begeisterte. Winckelmanns Satzvon der »stillen Größe und edlen Einfalt« ließ dietonangebenden Denker der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die griechische Kunst als eineneue Natürlichkeit entdecken. Die Ideale der deutschen Klassik verdanken ihreEntstehung der ungeheuren Überzeugungskraft,die Winckelmann auszeichnete. Winckelmann wur-de zum Mittler zwischen Homer und der klassi-schen deutschen Literatur. In diesen Jahren schufJohann Heinrich Voß mit der deutschen Nachdich-tung der Ilias und der Odyssee die erste stilistischund dichterisch korrekte, vollständige Überset-zung der beiden Werke. Die Begeisterung fürHomer schlug damals so hohe Wellen, dass derAufklärer Lichtenberg spottete, dass man nichteinmal mehr »angenommen« schreiben könne,ohne dass »Agamemnon« gelesen würde.

Mord in Triest

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Das Mittelalter Die Neuzeit Die Moderne

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Das Altertum

eit dem Frühjahr 1899 nahmen die Über-fälle chinesischer Geheimbündler auf Ge-

schäfte, Güterzüge und Gleisanlagen europäi-scher Unternehmen zu, wurden immer mehr Chi-nesen, die zum Christentum übergetreten wa-ren, terrorisiert, getötet, bei lebendigem Leib inihren Häusern verbrannt. Nachdem die regieren-de Kaiserin sich auf die Seite der Aufständischengestellt hatte, beschützten die Regierungstrup-pen die ausländischen Botschafter nicht mehr.Am Nachmittag des 19. Juni forderte die chine-sische Regierung die europäischen Botschafterauf, binnen 24 Stunden Peking zu verlassen. Derdeutsche Gesandte Baron Klemens von Kettelerbenachrichtigte das Auswärtige Amt der Chine-sen, dass er am nächsten Morgen ins Amt käme,um über einen Begleitschutz für die Botschafterzu verhandeln, weil sie das Ultimatum anneh-men würden und deshalb quer durchs Land zumHafen von Hongkong müssten. Gegen 9 Uhrbrach Klemens von Ketteler, der einen Begleit-

Der erste Philosoph

Konfuzius: Die Gespräche(6./5. Jh. v. Chr.)

Wie Europa nicht zu denken ist, wenn es das Christentumnicht gegeben hätte, genauso wenig kann man sichChina vorstellen ohne das Wirken des Konfuzianismus.Hat der Kommunismus auch versucht, diese große Weltanschauung und Weltpraxis zu zerstören, so hat derKonfuzianismus China doch so nachhaltig geprägt, dass selbst die kommunistischen Machthaber von derkonfuzianischen Lebenshaltung zahlreicher Chinesenprofitierten.

Der große Philosoph Konfuzius prägte mit seinen Lehren und seinem Den-ken das Leben in weiten Teilen Asiens: Traditionelle Prozession in Vietnam.

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Konfuzius: Die Gespräche

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schutz ablehnte, auf. Er verließ sich auf seineImmunität als Botschafter. Kurz vor dem Aus-wärtigen Amt begegnete er einer Patrouille derRegierungstruppen. Ohne Vorwarnung schossihm ein Unteroffizier in den Kopf. Wurde bishernur von einem Aufstand der »Boxer« gespro-chen, hatte sich nun die regierende Kaiserin zuden »Boxern« bekannt und aus dem Boxerauf-stand wurde der Boxerkrieg. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts agierteneuropäische und japanische Firmen, denenweitreichende Rechte zugestanden wordenwaren, immer erfolgreicher. Dadurch brach diechinesische Wirtschaft, die allein auf der Land-wirtschaft beruhte, aber auch die 2000-jährigeKultur, deren Grundlage der Konfuzianismus bil-dete, zusammen. Der wirtschaftlichen Krise,dem grassierenden Hunger und dem wachsen-den Elend gesellte sich ein beispielloser Zusam-menbruch des Selbstwertgefühls, der Bräuche,Sitten und Werte bei, der sich in einem brutalenFremdenhass entlud. Nun gab es im alten China seit jeher Geheimbün-de, die sich der Vervollkommnung der körperli-chen und geistigen Kräfte widmeten und in Kri-senzeiten auch in die Politik eingriffen. Einerdieser Geheimbünde, der Yihequan (»Faust derEintracht und Gerechtigkeit«), sah die Ursachedes Zusammenbruchs darin, dass die chinesischeKultur von den Fremden erniedrigt und von denChinesen nicht mehr ernst genommen würde.Deshalb bekämpfte der Geheimbund alles Frem-de und Christliche durch Terror. Da seine Mitglie-der in den alten chinesischen Kampfkünstenausgebildet waren, nannten die Europäer sie Bo-xer. Der Aufstand wurde von den ausländischenTruppen niedergeschlagen und die Krise der tra-ditionellen Kultur verschärft.

»Ren«, die MenschenliebeDas Hauptwerk des Konfuzianismus heißt Lun-Yu, zu Deutsch »Gespräche«. In den Gesprächenerläutert der Meister Kong seine philosophisch-politische Lehre. Meister Kong oder chinesischKong-si, was jesuitische Missionare im 17. Jahr-hundert mit Konfuzius übersetzten, gilt als dererste Philosoph in der Geschichte Chinas, undgleichzeitig auch als der, der den nachhaltigs-

ten Einfluss ausgeübt hat. Allerdings entfaltetesich diese immense Wirkung erst nach seinemTod. Auch in Europa und in den USA spricht chi-nesisches Denken immer mehr Menschen an,weil es so anders, so weise, so menschlich wirkt.Dieser Eindruck täuscht keinesfalls, weil denMittelpunkt dieser Philosophie in der Tat »Ren«bildet, das in verschiedenen ZusammenhängenMensch, Menschlichkeit oder Menschenliebeheißen kann. Doch die westliche Rezeption deschinesischen Denkens ist von Missverständnis-sen begleitet. Denn es ist bei weitem nicht damitgetan, lediglich deutsche Entsprechungen fürchinesische Begriffe zu suchen.

Ganzheitliches DenkenDas chinesische Denken unterscheidet sich be-reits in seiner Grundstruktur von unserem. Wäh-rend wir die Dinge zerlegen und in kleine Einhei-ten gliedern, besteht der Grundzug des chinesi-schen Denkens darin, vom Menschen auszuge-hen. Ziel ist es, den richtigen Weg (Dao) im Le-ben zu finden, genau den Platz einzunehmen inden großen Zusammenhängen von Himmel undErde, von Oben und Unten, der einem zusteht,der den richtigen Platz und den richtigen Wegfür den Einzelnen bedeutet. Geheiligt ist dasGleichgewicht. Denn nur wenn sich Himmel undErde, Mensch und Natur, Gesellschaft und Indi-

viduum, Frau und Mann in der Balance befinden,das heißt am richtigen Platz, ist wahrhaftmenschliches Leben möglich. Man kann sich dasam Beispiel der Schrift verdeutlichen. Währendwir eine Buchstabenschrift benutzen, das heißteinzelne Buchstaben können verschiedene Wor-te bilden, besitzen die Chinesen eine Bild-schrift. Schriftzeichen stehen für Begriffe undTätigkeiten. Das Schriftzeichen für »Ren« be-steht aus »Mensch« und »zwei«, denn dieMenschlichkeit oder Menschenliebe zeigt sichim Verhalten und bedeutet: wie ein Mensch mitdem anderen umgeht. Missverständnisse erge-

Der Mensch steht im Mittelpunkt deschinesischen Denkens und soll »Dao«,den richtigen Weg im Leben, finden.

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Das Mittelalter Die Neuzeit Die Moderne

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Das Altertum

Fremdherrschaft. Die chinesische Kultur entwi-ckelte sich durch die natürlichen Grenzen desLandes weitgehend isoliert und der Konfuzia-nismus hat diese Isolation noch verstärkt. Ursprünglich herrschten die Könige über dasganze Land, das sie gegen Tribut an Verwandteverteilten. Diese gaben es weiter an Verwandte,auch wieder gegen Tribut. Schließlich wurde eszur Bebauung gegen Pacht Bauern überlassen.Der König stellte die höchste Autorität dar, weiler mit den beiden für die alten Chinesen ent-scheidenden Welten in Verbindung stand, mitder Welt der Ahnen und der Welt der Naturgeis-ter. Diese Kommunikation ging mehr und mehrüber auf die Schamanen und auf die Orakel-priester, die im Dienst des Königs standen. DiePriester, die immer einflussreicher wurden, ver-suchten durch Orakelfragen herauszufinden,wie man sich in konkreten Situationen richtig zuverhalten habe, während die Schamanen dieKunst der Magie beherrschten und verschiedeneZauber wie den Regenzauber anwandten. Die Chinesen fühlten sich von Geistern, von Ah-nen und Naturgottheiten umgeben. Der höchsteAhnengott Shangdi wurde verdrängt von demhöchsten Gott, dem Himmel: Tian. Denn die Kö-

ben sich immer dann, wenn versucht wird, ab-strakte europäische Worte zu übersetzen. Ähn-lich gefährlich ist es, wenn man für ein chinesi-sches Schriftzeichen, das häufig nicht nur einWort, sondern eine ganze Vorstellungswelt ent-hält, einen einzigen europäischen Begriff setzt;so bedeutet das Schriftzeichen »Ren« mehr alsdas Wort Mensch.

Form und InhaltSieht man von den Schwierigkeiten der Überset-zung ab, lauert die nächste Gefahr, etwas völligfalsch zu verstehen, in der unterschiedlichenGewichtung der Denkformen. Für uns ist eswichtig, dass ein Gedanke logisch ist, für die al-ten Chinesen war die Struktur, in der der Gedan-ke vorgestellt wurde, die Form des Gedankensmindestens genauso wichtig wie seine logischeSchlüssigkeit. Für sie stellen die Formen fast ei-ne größere Bedeutung dar als die Inhalte, wasin unserem Denken genau umgekehrt ist. Zähltfür uns das Ergebnis, kommt es für die alten Chi-nesen auf den Prozess an. Die geschichtliche Er-fahrung der Europäer besteht in der Wechsel-haftigkeit, in dem Aufsteigen und Zerfallen vonReichen, in der Ablösung von Herrschaft und

Ein Haus der Andacht und Besinnung im chinesischen Stil: Konfuzius-Tempel in der chinesischen Hauptstadt Peking.

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Konfuzius: Die Gespräche

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nige der neuen Dynastie, die Zhou, stellten sichselbst an die Stelle der Orakelpriester, deren Auf-gaben schließlich Verwaltungsbeamte übernah-men. Die Könige zogen das Ritual in einer verein-fachten Form an sich und wurden nun zu Söhnendes Himmels, das heißt zu Mittlern zwischen denMenschen und dem Himmel, der die Gesamtheitder Ordnung zu allen Zeiten repräsentierte. Dochdiese Ordnung zerfiel im 6. Jahrhundert v. Chr.augenscheinlich in Wirren und Kriegen. Der Adel,der vom König das Land bekam, verweigerte dem König den Tribut und herrschte eigenmäch-tig über sein Gebiet. Einige von ihnen nanntensich selbst Könige. Der König existierte zwarnoch als Himmelssohn, hatte aber nur noch sym-bolische Funktionen wie die Ausführung desHimmelskultes. Die Wirren kamen dadurch zu-

stande, dass die Herrscher über die Kleinreicheversuchten, einander zu unterwerfen.

Balance zwischen Himmel und ErdeIn diese Zeit wurde Kong-si hineingeboren. Ausniederem Adel stammend, diente er dem Herr-scher eines dieser Kleinreiche, nämlich dem desLandes Lu. In der Vernachlässigung der altenPflichten, in der Gleichgültigkeit gegenüber denalten Sitten und Werten sah Kong-si den Grundfür den Niedergang. Die Hierarchie als Voraus-setzung des Gleichgewichts war außer Kraft ge-setzt. Gleichzeitig entdeckte er den Menschenals Schlüssel für ein neues Gleichgewicht. Wiemuss der Mensch sich verhalten, dass Himmelund Erde wieder in die Balance kommen? DieseFrage trieb Kong-si an, um den sich bald schon

Das wohl auch im Westen berühmteste chinesischeBuch ist das »I Ging«, zu Deutsch »Buch der Wand-lungen«. Die Tatsache, dass es ein Orakelbuch ist,hat ebenso sehr zu seiner Berühmtheit beigetragenwie seine geheimnisvolle Beschaffenheit. Wie umeinen Ur-Text, der eine Weltformel enthält, habensich Texte wie wachsende Jahresringe über dieJahrhunderte angelagert. Den äußersten Ring bilden die Kommentare, be-sonders der »shi yi« (»Die zehn Flügel«), der vonKonfuzius mitverfasst worden sein soll. Die Vorstel-lung eines großen Zusammenhanges zwischenHimmel und Erde, zwischen Mensch und Kosmos er-wies sich als Naturvorstellung für den Konfuzianis-mus als brauchbar, ergänzte sie ihn doch perfekt.Denn die Natur wurde politisiert. Der Mensch konn-te nur im Einklang mit der Natur handeln. Verletzteer die großen Zusammenhänge, brachte er die Weltin Unordnung. Die Welt war nichts anderes als dasZusammenspiel der beiden unterschiedlichen Kräf-te, des Ying und des Yang. Dieses in steter Wechsel-wirkung sich befindende Duo wirkte als Prinzip inder gesamten Welt als das Helle (Yang) und als dasDunkle (Ying), als das Männliche und als das Weib-liche, als das Harte und als das Weiche, als der Him-

mel und als die Erde. Nur in der Spannung der bei-den Prinzipien existiert die Welt. Für die Konfuzianer stand im Mittelpunkt ihresDenkens, den rechten Weg (Dao) zu finden. Dazuwar es legitim, das Orakel nach »Wegempfehlun-gen« zu befragen. Denn außer, dass es die Weltfor-mel des Yin und des Yang enthielt, barg es ein Sys-tem, nachdem man konkrete Fragen beantwortenkonnte. Die Grundlage dafür bildeten 64 Scharfgar-benstengel, die kunst- und geheimnisvoll gewor-fen wurden. Mit einem komplizierten mathemati-schen Schlüssel konnte man nun einen Spruch ausdem Werk errechnen, der für diese Situation einesehr blumige Antwort gab. Auf die Frage beispiels-weise, ob man eine Reise antreten soll, konnte dieAntwort lauten: »Anmut hat Gelingen. Im Kleinenist es fördernd, etwas zu unternehmen.« Diese Ant-wort nun ließ sich so deuten, dass es genausofalsch wäre, eine lange Reise anzutreten, wie einekurze Reise zu unterlassen. Mit anderen Worten,dem Fragesteller wurde empfohlen, eine kurze Rei-se zu unternehmen. Natürlich sind auch andere In-terpretationen möglich, aber das ist ja das Wesenvon Orakeln, dass sie nicht direkt antworten, son-dern in mehrdeutigen Gleichnissen reden.

Die zehn Flügel des Wahrsagens

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Das Mittelalter Die Neuzeit Die Moderne

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Das Altertum

bleibt, passte den Qin nicht. Denn in der Konse-quenz bedeutete das, dass auch ein König abge-setzt werden kann, wenn er gegen diesesGleichgewicht verstößt und den falschen Wegwählt. Sie ließen deshalb 213 v. Chr. alle konfu-zianischen Bücher den Flammen übergeben. Derletzte Qin ließ sich Kaiser nennen.

Fähigkeit, nicht VerwandtschaftDiese Dynastie blieb nicht lange an der Macht,denn ein großes Reich wie China ließ sich nicht

eine Schule bilden sollte. Von Kong-si ist, wievon Sokrates, kein Text überliefert, den er selbstgeschrieben hat. Die Sammlung mit Aphorismenund Lehrbeispielen unter dem Namen »Gesprä-che« wurde von seinen Schülern zusammenge-tragen und immer wieder bearbeitet. Im Jahr 221 v. Chr. fegten die Qin-Herrscher dieZhou-Könige hinweg. Die konfuzianische Vor-stellung, dass die ethischen Werte vor der Machtkommen, dass die Balance zwischen Himmelund Erde durch richtiges Verhalten erhalten

»Lun-yu« – Die Gespräche des Konfuzius stellen ei-ne Sammlung von Aphorismen, Überlegungen undkleiner lehrreicher Geschichten, die gleichnishafteine Haltung ausdrücken, dar. Im Mittelpunkt derGespräche steht der Philosoph Konfuzius. Die ein-zelnen Passagen im Buch enthalten oft die Wen-dung: »Konfuzius sagt«. Die Äußerung des Konfu-zius darf nicht in Frage gestellt werden, man kannnur versuchen, sie in ihrer ganzen Weisheit zu ver-stehen. Die grundlegenden Weisheiten und Re-geln, wie der Mensch sich zu verhalten habe, wer-den in 20 Kapiteln und in 12 700 Schriftzeichendargelegt. Allerdings wurde die Endfassung erst imzweiten Jahrhundert als unveränderlich festge-legt, also fast 700 Jahre nach dem Tode des Meis-ters. Im Kreis seiner Schüler und seiner Schulewurden in den dazwischen liegenden Jahrhunder-ten immer wieder Textfassungen erstellt. Im Zen-trum der chinesischen Philosophie steht das Dao,das Nachdenken über den rechten Weg des Men-schen, der Gesellschaft, des Staates. Für Konfuziuswar die Welt ohne Dao (wu dao), sie hatte denrechten Weg verlassen und trudelte ins Chaos: Kin-der respektierten ihre Eltern nicht mehr, der Adelden König nicht und Lüge, Mord, Intrige und Ge-walt regierten nach dem Gesetz des Stärkeren. Sostellte sich für ihn die Frage, wie die Welt wieder inOrdnung zu bringen sei. Den Schlüssel dafür fander im menschlichen Verhalten. Wenn der Mensch sich richtig in der großen Ord-nung des Himmels und der Erde, was die Gesell-

schaft einschließt, benimmt, dann kommt auchdas Leben wieder in die Ordnung. Doch dazu müs-sen die Ansichten und die Begriffe, die er Namennennt, wieder in Ordnung gebracht werden. Soheißt es im Kapitel XIII: »(Der Schüler) Zi-Lusprach zu Konfuzius: »Wenn Euch der Herrscherdes Staates Wu die Regierung anvertraute – waswürdet ihr zuerst tun?« Der Meister antwortete:»Unbedingt die Namen richtig stellen.« Darauf Zi-Lu: »Damit würdet ihr beginnen? Das ist doch ab-wegig. Warum eine solche Richtigstellung der Na-men?« Der Meister entgegnete: »Wie ungebildetdu doch bist, Zi-Lu! Der Edle ist vorsichtig und zu-rückhaltend, wenn es um Dinge geht, die er nichtkennt. Stimmen die Namen und Begriffe nicht, soist die Sprache konfus. Ist die Sprache konfus, soentstehen Unordnung und Misserfolg, so geratenAnstand und gute Sitten in Verfall. Sind Anstandund gute Sitten in Frage gestellt, so gibt es keinegerechten Strafen mehr. Gibt es keine gerechtenStrafen mehr, so weiß das Volk nicht, was es tunund was es lassen soll. Darum muss der Edle die Be-griffe und Namen korrekt benutzen und auch rich-tig danach handeln können …« Um dieses richtigeHandeln ging es, das Konfuzius die Chinesen lehr-te und das sie in 2000 Jahren der Beschäftigungmit diesem Denken in eine eigene Welt der Um-gangsformen, der Normen des Benehmens, der Sit-te und der Etikette verwandelten. Grundlage dafürbildeten die fünf großen Tugenden: Weisheit, Gü-te, Treue, Ehrfurcht und Mut.

Inhalt

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Konfuzius: Die Gespräche

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nur mit Grausamkeit und kaiserlicher Willkür re-gieren. Die erste Amtshandlung des Gründersder Han-Dynastie, des Kaisers Gao-su, bestanddarin, am Grab des Konfuzius zu opfern und da-mit ihm zu huldigen. Nur zu gut hatte Gao-subegriffen, was für eine vorzügliche Herrschafts-ideologie der Konfuzianismus darstellen konn-te. Kong-si hatte gefordert, dass die Beamtennicht unter dem Aspekt der Blutsverwandt-schaft wie bisher, sondern nach ihrer Fähigkeitund nach ihren Kenntnissen einzustellen wären.So führten die Han die Beamtenprüfung ein. Ge-prüft wurde nun, ob ein Kandidat genügend be-wandert war in der Kenntnis des konfuziani-schen Systems, das Antwort auf alle Verhaltens-fragen bot. Durch die Bücherverbrennung unddie Wirren der Qin Zeit gab es nun drei Fassun-gen der »Gespräche«, von denen man nichtwusste, welche die authentische war. Der bisheute maßgebliche Text geht auf die Redaktionvon Zheng Xuan, der im zweiten Jahrhundertv. Chr. lebte, zurück. Von nun an wurde diesesBuch beständig kommentiert, so dass bis ins 19. Jahrhundert hinein kontinuierlich eine gro-ße Kommentarliteratur anwuchs. Die Gesprächewurden mit dem Buch Meng-zi, dem Buch Da-xue (Große Lehre) und dem Buch Zhong-yong(Buch vom Maß und Mitte) zu den klassischenBüchern des Konfuzianismus, zu den »Vier Bü-chern« (si shu). Um das Jahr Null herum setztedie offizielle Verehrung des Konfuzius ein undwurde sein System zu einem Kompendium desrichtigen Verhaltens, der Machtausübung unddie Grundlage für eine allumfassende Norm desUmganges miteinander. Die Einleitung »Konfu-zius sprach« bedeutete eine alles zum Schwei-gen bringende geistige Macht. Die Boxer, die hofften, China zurück in das kon-fuzianische Zeitalter zu geleiten, irrten. DerVersuch sechs Jahre später, also 1906, Konfuzi-us sogar zum Gott zu erheben, drückte nur nochden unaufhaltsamen Niedergang aus. Wenigspäter trat ein neuer »Kaiser« an und schuf eineneue Lehre für China, die ohne Konfuzius nichtdenkbar gewesen wäre, auch wenn sie sich offi-ziell gegen ihn wandte. Schließlich hatte derKonfuzianismus China erschaffen. Dieser neueKaiser hieß Mao Zedong.

So viele Legenden sich auch um sein Leben ran-ken, so wenig weiß man tatsächlich über denMann, der Kong-zi, also Meister Kong oder auchKong-fu-zi genannt wurde. Als Konfuzius wurde erin der ganzen Welt berühmt. Seine Lehre stand fürdas Wertesystem des Alten China. Geboren soll erum 551 v. Chr. im chinesischen Teilstaat Lu sein.Seine Eltern waren verarmte Adelige. Er schlug sichin verschiedenen Stellungen durch, als Aufseherder Getreidespeicher oder als Aufseher der öffent-lichen Weiden, bis er schließlich wegen seiner ho-hen Bildung als Lehrer tätig wurde. Schließlichwurde er so etwas wie ein Arbeitsminister, dannder oberste Justizbeamte von Lu. Aus Enttäu-schung, dem moralischen Verfall seiner Heimatnicht entgegenwirken zu können, nahm er seinenAbschied und ging auf eine lange Wanderschaft,um den Herrscher in China zu finden, der seineVorstellungen in Politik umsetzte. Die Suche blieberfolglos. Seine letzten Lebensjahre soll er in sei-ner Heimat zugebracht haben. Man vermutet, dasser im Jahr 479 v. Chr. starb.

Konfuzius

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Das Mittelalter Die Neuzeit Die Moderne

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Das Altertum

itten in der Weltwirtschaftskrise begannim März 1933 etwas ganz und gar Au-

ßergewöhnliches, dessen Resultat noch heutejeder New-York-Besucher bestaunen kann: derBau des Empire State Buildings. In nur einemJahr und 45 Tagen erbauten über 3000 Arbeiterdas damals höchste Gebäude der Welt. Die Stahl-träger, die in Pittsburgh gegossen wurden, ka-men per Schiff und Bahn innerhalb von achtStunden auf der Baustelle in New York an. Esheißt, sie waren noch warm, als man sie verbau-te. Die Errichtung des Empire State Buildings, dienach perfekter Planung erfolgte, war eine Meis-terleistung der Ingenieure. Im Innern des Ge-bäudes sorgte ein auf die Minute abgestimmterFahrplan dafür, dass die Loren eines senkrechtgestellten Schienensystems unermüdlich verti-kal verkehrten. Kein Transporter musste wartenund kein Arbeiter blieb unbeschäftigt. Man hattedas von Ford erfundene Fließbandsystem von derWaagerechten in die Senkrechte gebracht.

Das Buch, aus dem die Welt entsteht

Euklid: Die Elemente(um 325 v. Chr.)

Nach der Bibel sind Euklids »Die Elemente« das wohl am meisten gedruckte Buch in Europa und Amerika. Bis heute stellt das Buch einen Klassiker der Mathematikdar. Haben sich inzwischen auch, ausgehend von Euklid,andere Zweige der Geometrie entwickelt, stammen siedoch alle aus dem Stamm der Euklidischen Geometrie.

Der Bau eines Wolkenkratzers in New York: Ohne Euklids mathematische Entdeckungenwären die Berechnungen für einen solchen Hochhausbau nicht möglich.

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Euklid: Die Elemente

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Sowohl die Organisation, mehr aber noch dieBerechnung und Planung des Baus, seiner Lageund Statik waren vor allem einem alten grie-chischen Buch zu verdanken, das seit seiner Ent-stehung zu dem Buch der Mathematik und Geo-metrie wurde: »Die Elemente« des Euklid. Bis ins20. Jahrhundert hinein wurde das antike Werkzu dem Lehrbuch der Geometrie, vor allem inEngland und den USA, aus dem alle Ingenieureihr Grundlagenwissen erworben hatten.

Denkfabrik AlexandriaAls Ptolomäus I. in Alexandria die Hochschuleund die Bibliothek als das wissenschaftlicheZentrum der Antike gründete, lud er einen Ge-lehrten aus Athen ein, an dieser Stätte zu leh-ren. Euklid folgte der Einladung und beganndort mit seinen mathematischen, geometri-schen, musikwissenschaftlichen und optischenStudien. Einige seiner Werke gingen verloren,einige sind nur in Fragmenten überliefert, welt-berühmt machten ihn aber »Die Elemente«.

Bereits Hippokrates von Chios hatte um 435v. Chr. versucht, die Elemente zusammenzustel-len. Wörtlich bedeutet Geometrie Erdvermes-sung. Die Geometrie, die bei den Ägyptern nochden praktischen Erfordernissen der Landvermes-sung folgte, wurde bei den philosophierendenGriechen aber zu einer Wissenschaft der reinenWahrheit, die von den konkreten Gegenständenlosgelöst worden war. Sie stellten Abstraktionendar, so wie in der Natur beispielsweise kein reinerKreis oder kein reines Dreieck existiert. DieseAbstraktionen definierte Hippokrates und ver-suchte, sie miteinander ins Verhältnis zu setzen.Euklid nun baute auf Hippokrates auf und syste-matisierte das mathematische Wissen seinerZeit. Er schuf ein regelrechtes Grundlagenwerk,ein Kompendium dessen, was man über Mathe-matik wissen musste. Es beginnt mit der Defini-tion der einzelnen Elemente: »1. Ein Punkt ist,was keine Teile hat. 2. Eine Linie ist breitenloseLänge. 3. Die Enden einer Linie sind Punkte.«.

Euklids Werk fand Eingang in die arabische Ma-thematik und kam dann durch die Vermittlungder Araber im 12. Jahrhundert nach Europa zu-rück. Im Jahr 1482 erschien die erste gedruckteAusgabe in Venedig, ab 1543 entstand eine Viel-zahl von Volksausgaben in den europäischenSprachen. Bedeutende Mathematiker und Philo-

»Die Elemente« des Griechen Euklid bestehen aus 13Büchern und behandeln die Lehrsätze und Axiomeder Geometrie und Mathematik. In den Büchern lei-tete er die Eigenschaften der geometrischen Objekteund der natürlichen Zahlen aus Axiomen her. Axiomesind Bestimmungen, die keinerlei Begründungenoder Herleitungen bedürfen. Sie werden gesetzt. Seine Betrachtungen beginnt Euklid mit der Definiti-on des zu untersuchenden Gegenstandes. Dabei wirdjeder Satz in einer gleichbleibenden Form, in sechsSchritten entwickelt, die u.a. die Aufgabenstellung,die Konstruktion (den Aufbau), die Demonstration(die Durchführung) und die Konklusion (die Zusam-menführung) enthalten. Die Bücher I bis IV und VIbehandeln die Planimetrie (die ebene Geometrie:Punkte, Linien, Strecken und Flächen, sowie ihre Ver-hältnisse zueinander), das Buch V befasst sich mitder Verhältnislehre, die Bücher VII bis IX mit den na-türlichen ganzen Zahlen. Das Buch X betrachtet dieTheorie, der mit Zirkel und Lineal konstruierbarenGrößen, während schließlich sich die Bücher XI bisXIII mit der räumlichen Geometrie, mit der Geome-trie der Körper auseinandersetzen. In Euklids Kompendium begegnet man bereits denAnfängen der Zahlentheorie. Der Gelehrte beweist,dass es unendlich viele Primzahlen gibt. Im fünftenPostulat seiner Geometrie sagt Euklid, dass für jedebeliebige Gerade und für jeden beliebigen Punkt, dernicht auf dieser Gerade liegt, eine Gerade existiert,die durch diesen Punkt geht und die erste Geradenicht kreuzt. Dieses Postulat wird das Parallelen-axiom genannt und spielte eine wichtige Rolle für dieEntwicklung der Mathematik, die zu David Hilberts»Grundlagen der Geometrie« und zu Albert EinsteinsRelativitätstheorie führte.

Inhalt

»Ein Punkt ist, was keine Tei-le hat. Eine Linie ist breiten-lose Länge …«

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Wolfgang Herles

Bücher, die Geschichte machtenVon der Bibel bis zu Harry Potter

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 320 Seiten, 17,2 x 24,0 cmISBN: 978-3-570-13362-0

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Erscheinungstermin: November 2007

Wolfgang Herles präsentiert: Die einflussreichsten Bücher der Geschichte. Ein Buch ist manchmal mehr als eine gute Geschichte oder kluge Idee. Manchmal ist ein Werkso bahnbrechend, dass es tief und nachhaltig auf die Gesellschaft wirkt. Einige dieser Bücherverändern die Geschichte mit einem Paukenschlag, andere prägen still und leise die Welt. Wolfgang Herles stellt sie vor: Die größten Werke – und ihr Einfluss auf die Geschichte.Wie Heinrich Schliemann mit Homers »Ilias« Troja entdeckt, welche Bedeutung das »NeueTestament« für die Entstehung Europas hat, was Einstein mit dem Dalai Lama verbindet und wieTolkiens »Herr der Ringe« ein neues Genre etabliert. Die wichtigsten Bücher aus Kultur, Politikund Wissenschaft vom Altertum bis zur Moderne – eine aufregende Entdeckungsreise in diefaszinierende Welt der Bücher und ihrer großen Geschichte. • Ausführliches Register und Farbleitsystem für eine rasche Orientierung• Mit vielen historischen Abbildungen, Illustrationen und Fotos – durchgehend in Farbe