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898 Dissertationen / Bücher Bautechnik 83 (2006), Heft 12 Naudascher, E.: Vom Dammbaulehr- ling zum Pionier der Industrialisierung Bulgariens. Erinnerungen aus meinem Leben. Karlsruhe: ENM-Verlag 2006. ISBN 3-00-017637-3. 104 S., DIN A5, zahlr. Abb., Br., 8,50 € Erinnerungsliteratur von Ingenieuren bildet eine wichtige Quelle der Technik- geschichte, weil sich in ihr die Gesell- schaftlichkeit des Subjekts an der Ge- schichtlichkeit der Artefakt- und Modell- welt sowie der Bildungsgeschichte auf konkrete und lebendige Weise spiegelt. Bekannte Beispiele hierfür sind die Le- benserinnerungen des Materialforschers und Maschinenbauers Carl von Bach (1847–1931) [1] und der großartigen Lehrer und Forscher der Technischen Mechanik August Föppl (1854–1924) [2] und Stepan P. Timoshenko (1878–1972) [3]. So sind Lebenserinne- rungen von Ingenieuren und Technik- wissenschaftlern eine eigene, dem erin- nernden Denken verpflichtete Gattung der Ingenieurliteratur, in welcher die Wahrnehmung des inneren Auges des Ingenieurs und dessen stilles Wissen literarische Gestalt annimmt. Professor Dr.-Ing. Eduard Nauda- scher, von 1968 bis 1994 Direktor des Instituts für Hydromechanik der Univer- sität Karlsruhe, zeichnet in vorliegender Veröffentlichung die Biographie seines Großonkels Konsul Eduard Naudascher (1872–1945) auf eindrucksvolle Weise nach, dessen umfangreiches und vielsei- tiges Ingenieurschaffen sich in der Indu- strialisierung Bulgariens vollendete. Auf der Basis der maschinenschriftlich do- kumentierten Erinnerungen von Konsul Eduard Naudascher formte sein Groß- neffe eine faszinierende Autobiographie – dem Leser und der Leserin unbekannte Facetten der Bautechnikgeschichte der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts erschließend. So hebt der Herausgeber verborgene Schätze der Bautechnikge- schichte ans Tageslicht, die für eine ver- tiefte Zusammenarbeit zwischen Bulga- rien und Deutschland produktiv genutzt werden könnten: Eine Übersetzung die- ser Lebenserinnerungen ins Bulgarische besorgte der Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Sofia, Stoyan Stantschev, die alsbald unter den Auspizien der Bul- garischen Akademie der Wissenschaften von Professor Naudascher herausgege- ben wird. Wer war nun Konsul Eduard Nauda- scher? Hier seien nur einige Stationen seines Lebensweges in wenigen Strichen skizziert: Seine erste Auslandsreise führte ihn Ende 1895 als Montageleiter der weltberühmten Brückenbauanstalt MAN Gustavsburg nach Bulgarien. Da- nach erhielt er Order, am Bau der Ana- tolien- und Bagdadbahn mitzuwirken. Wieder in Bulgarien verantwortete er für eine französische Firma unter abenteuer- lichen Bedingungen die termingerechte Fertigstellung von Stahlbrücken über den Iskar, die den wirtschaftlichen Grund- stein seiner späteren industriellen Tätig- keit in Bulgarien legte. In den Jahren nach 1900 fungierte Konsul Eduard Naudascher als Brückenbauunterneh- mer in Rumänien, Italien und Bulgarien. 1905 gelang es ihm, eine zwölfköpfige Kommission führender Ingenieure Bul- gariens von den Vorteilen der Stahlbeton- bauweise zu überzeugen. Noch bereitete die Beschaffung von Zement Schwierig- keiten. Diese beseitigte er 1912 mit Grün- dung der ersten Zementfabrik Bulgariens in Batanofzi bei Pernik im Rahmen sei- ner Kommanditgesellschaft „Granitoid“. Die Fa. Granitoid entwickelte sich nach dem I. Weltkrieg zum führenden Indu- strieunternehmen Bulgariens, das u. a. den Ausbau der Rila-Wasserkraftwerke betrieb. So wurde ihm Bulgarien zur zweiten Heimat. In Anerkennung seiner Verdienste um die technisch-wirtschaft- liche Entwicklung Bulgariens erhielt Naudascher zahlreiche Ehrungen. Die Wirren des Kreigsendes veran- laßten die Familie zu einer abenteuer- lichen Flucht aus Bulgarien im Herbst 1944. Naudascher verstarb am 18. Fe- bruar 1945 in Halberstadt. Naudascher arbeitete über vier Dezen- nien maßgebend für den industriellen Aufbau Bulgariens – darin, i. S. einer Weiterentwicklung der deutsch-bulgari- schen Zusammenarbeit erinnert zu ha- ben, liegt das schöne Verdienst des vor- liegenden Buches. Es kann daher un- eingeschränkt zur Lektüre empfohlen werden und zwar nicht nur für Inge- nieure, sondern all jenen, die substantiell an der Integration Südosteuropas in die Europäische Union arbeiten. Zu wün- schen ist, daß die vergnüglich und ver- ständlich formulierte Autobiographie einer humorvollen und tatkräftigen Per- sönlichkeit auch darüber hinaus weitere Leserkreise findet. Literatur [1] Bach, C. v.: Mein Lebensweg und meine Tätigkeit. Berlin: Springer 1926. [2] Föppl, A.: Lebenserinnerungen. Rück- blick auf meine Lehr- und Aufstiegsjahre. München: Oldenbourg 1925. [3] Timoshenko, St. P.: Erinnerungen. Stepan P. Timoshenko. Eine Autobiographie. Übers. a. d. Russ. u. hrsgn. v. Albert Duda. Berlin: Ernst & Sohn 2006. Karl-Eugen Kurrer, Berlin Bücher

Bücher: Vom Dammbaulehrling zum Pionier der Industrialisierung Bulgariens. Erinnerungen aus meinem Leben. By E. Naudascher

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Dissertationen / Bücher

Bautechnik 83 (2006), Heft 12

Naudascher, E.: Vom Dammbaulehr-ling zum Pionier der IndustrialisierungBulgariens. Erinnerungen aus meinemLeben. Karlsruhe: ENM-Verlag 2006.ISBN 3-00-017637-3. 104 S., DIN A5,zahlr. Abb., Br., 8,50 €

Erinnerungsliteratur von Ingenieurenbildet eine wichtige Quelle der Technik-geschichte, weil sich in ihr die Gesell-schaftlichkeit des Subjekts an der Ge-schichtlichkeit der Artefakt- und Modell-welt sowie der Bildungsgeschichte aufkonkrete und lebendige Weise spiegelt.Bekannte Beispiele hierfür sind die Le-benserinnerungen des Materialforschersund Maschinenbauers Carl von Bach(1847–1931) [1] und der großartigenLehrer und Forscher der TechnischenMechanik August Föppl (1854–1924)[2] und Stepan P. Timoshenko(1878–1972) [3]. So sind Lebenserinne-rungen von Ingenieuren und Technik-wissenschaftlern eine eigene, dem erin-nernden Denken verpflichtete Gattungder Ingenieurliteratur, in welcher dieWahrnehmung des inneren Auges desIngenieurs und dessen stilles Wissenliterarische Gestalt annimmt.

Professor Dr.-Ing. Eduard Nauda-scher, von 1968 bis 1994 Direktor desInstituts für Hydromechanik der Univer-sität Karlsruhe, zeichnet in vorliegenderVeröffentlichung die Biographie seinesGroßonkels Konsul Eduard Naudascher(1872–1945) auf eindrucksvolle Weisenach, dessen umfangreiches und vielsei-tiges Ingenieurschaffen sich in der Indu-strialisierung Bulgariens vollendete. Aufder Basis der maschinenschriftlich do-kumentierten Erinnerungen von KonsulEduard Naudascher formte sein Groß-neffe eine faszinierende Autobiographie –dem Leser und der Leserin unbekannteFacetten der Bautechnikgeschichte derersten Hälfte des vorigen Jahrhundertserschließend. So hebt der Herausgeberverborgene Schätze der Bautechnikge-schichte ans Tageslicht, die für eine ver-tiefte Zusammenarbeit zwischen Bulga-rien und Deutschland produktiv genutztwerden könnten: Eine Übersetzung die-ser Lebenserinnerungen ins Bulgarischebesorgte der Mitarbeiter der deutschenBotschaft in Sofia, Stoyan Stantschev,die alsbald unter den Auspizien der Bul-garischen Akademie der Wissenschaftenvon Professor Naudascher herausgege-ben wird.

Wer war nun Konsul Eduard Nauda-scher? Hier seien nur einige Stationenseines Lebensweges in wenigen Strichenskizziert: Seine erste Auslandsreiseführte ihn Ende 1895 als Montageleiter

der weltberühmten BrückenbauanstaltMAN Gustavsburg nach Bulgarien. Da-nach erhielt er Order, am Bau der Ana-tolien- und Bagdadbahn mitzuwirken.Wieder in Bulgarien verantwortete er füreine französische Firma unter abenteuer-lichen Bedingungen die termingerechteFertigstellung von Stahlbrücken über denIskar, die den wirtschaftlichen Grund-stein seiner späteren industriellen Tätig-keit in Bulgarien legte. In den Jahrennach 1900 fungierte Konsul EduardNaudascher als Brückenbauunterneh-mer in Rumänien, Italien und Bulgarien.1905 gelang es ihm, eine zwölfköpfigeKommission führender Ingenieure Bul-gariens von den Vorteilen der Stahlbeton-bauweise zu überzeugen. Noch bereitetedie Beschaffung von Zement Schwierig-keiten. Diese beseitigte er 1912 mit Grün-dung der ersten Zementfabrik Bulgariensin Batanofzi bei Pernik im Rahmen sei-ner Kommanditgesellschaft „Granitoid“.Die Fa. Granitoid entwickelte sich nachdem I. Weltkrieg zum führenden Indu-strieunternehmen Bulgariens, das u. a.den Ausbau der Rila-Wasserkraftwerkebetrieb. So wurde ihm Bulgarien zurzweiten Heimat. In Anerkennung seinerVerdienste um die technisch-wirtschaft-liche Entwicklung Bulgariens erhieltNaudascher zahlreiche Ehrungen.

Die Wirren des Kreigsendes veran-laßten die Familie zu einer abenteuer-lichen Flucht aus Bulgarien im Herbst1944. Naudascher verstarb am 18. Fe-bruar 1945 in Halberstadt.

Naudascher arbeitete über vier Dezen-nien maßgebend für den industriellenAufbau Bulgariens – darin, i. S. einerWeiterentwicklung der deutsch-bulgari-schen Zusammenarbeit erinnert zu ha-ben, liegt das schöne Verdienst des vor-liegenden Buches. Es kann daher un-eingeschränkt zur Lektüre empfohlenwerden und zwar nicht nur für Inge-nieure, sondern all jenen, die substantiellan der Integration Südosteuropas in dieEuropäische Union arbeiten. Zu wün-schen ist, daß die vergnüglich und ver-ständlich formulierte Autobiographieeiner humorvollen und tatkräftigen Per-sönlichkeit auch darüber hinaus weitereLeserkreise findet.

Literatur

[1] Bach, C. v.: Mein Lebensweg und meineTätigkeit. Berlin: Springer 1926.

[2] Föppl, A.: Lebenserinnerungen. Rück-blick auf meine Lehr- und Aufstiegsjahre.München: Oldenbourg 1925.

[3] Timoshenko, St. P.: Erinnerungen. StepanP. Timoshenko. Eine Autobiographie.Übers. a. d. Russ. u. hrsgn. v. Albert Duda.Berlin: Ernst & Sohn 2006.

Karl-Eugen Kurrer, Berlin

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