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Bundesgerichtsentscheid (BGE 141 V 281) vom 03.06.2015 - Konsequenzen für EFL? Dr. med. Frank Staudenmann FMH Physikalische Medizin & Rehabilitation Arbeitsorientierte Rehabilitation Leiter Standort Dättwil Rehaklinik Bellikon 5454 Bellikon Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie, Rehabilitationszentrum Valens 26.08.2016 1

Bundesgerichtsentscheid (BGE 141 V 281) vom 03.06.2015 ... · • Beweisproblematik (z.B. HWS-Distorsion ohne organisch begründete Funktionsausfälle) • Bestand und Umfang von

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Bundesgerichtsentscheid (BGE 141 V 281)

vom 03.06.2015 -

Konsequenzen für EFL?

Dr. med. Frank Staudenmann

FMH Physikalische Medizin & Rehabilitation

Arbeitsorientierte Rehabilitation

Leiter Standort Dättwil

Rehaklinik Bellikon

5454 Bellikon

Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie, Rehabilitationszentrum Valens

26.08.2016

1

Bundesgerichtsentscheid vom

03.06.2015 – Konsequenzen für die EFL?

• Ausgangslage vor dem 03.06.2015

• Warum Praxisänderung/neue Rechtssprechung?

• Der Bundesgerichtsentscheid

• Auswirkungen

– Für den somatischen Facharzt

– Für den psychiatrischen Gutachter

– Für den Juristen

– Auf die Versicherungsgerichte

• Mein Fazit

2 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Ausgangslage

Bundesgesetz über den allgemeinen Teil des

Sozialversicherungsrechts (ATSG), Art. 7:

• Für die Beurteilung des Vorliegens einer

Erwerbsunfähigkeit sind ausschliesslich die

Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung

zu berücksichtigen. Eine Erwerbsunfähigkeit

liegt zudem nur vor, wenn sie aus objektiver

Sicht nicht überwindbar ist.

3 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Ausgangslage

Überwindbarkeitskriterien (BGE 130 V 352):

(= sog. Förster-Kriterien)

• Psychische Komorbidität erheblicher Schwere, Ausprägung und Dauer

• Chronische körperliche Begleiterkrankungen

• Mehrjähriger, chronifizierter Krankheitsverlauf

• Sozialer Rückzug

• Primärer Krankheitsgewinn

• Scheitern einer konsequent durchgeführten amb./stat. Behandlung trotz kooperativer Haltung

4 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Beweggründe

Schwierigkeiten bei der Umsetzung

• Beweisproblematik (z.B. HWS-Distorsion ohne

organisch begründete Funktionsausfälle)

• Bestand und Umfang von versicherungsrechtlich

erheblichen funktionellen Ausfällen ungesichert

• Direkter Schluss von Diagnose auf AUF

(meistens durch die behandelnden Ärzte) gängig

• Unzureichende Berücksichtigung der

funktionellen Auswirkungen

5 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Beweggründe

Schwierigkeiten bei der Umsetzung

• Überwindbarkeit = Regel, AUF = Ausnahme

• Bei einschlägiger Diagnose in der Regel keine

Invalidität

• Überwindbarkeitsvermutung verhinderte häufig

eine umfassende Abklärung

– Konzentration des Augenmerks auf (ungünstige)

Faktoren, die den Ausnahmefall begründen

– Vernachlässigung der Ressourcen

6 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Beweggründe

Leitideen für neue Praxis

• Feststellung eines kausalen Zusammenhangs

zwischen Gesundheitsschädigung und

Funktionsstörung

– Aufzeigen eines klassifikatorisch vorausgesetzten

Schweregrades

– Begründung der Diagnose durch funktionserhebliche

Befunde

7 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Beweggründe

Leitideen für neue Praxis

• Einschätzung der AUF auf konsistentem

Nachweis einer gestörten Aktivität und

Partizipation im Hinblick auf die Anforderungen

des Arbeitslebens beruhend

8 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Der Bundesgerichtsentscheid

Beurteilungsraster nach neuen Grundsätzen

• Diagnose

– Auseinandersetzung mit klassifikatorischen

Diagnosevoraussetzungen

• Ausschlussgründe

– Aggravation/Simulation o.ä.?

– Beachte subtile Abgrenzung zur Präsentation von

Beschwerden und Einschränkungen im Hinblick auf

eine allfällige Leistungszusprache (9C_899/2014)

9 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Der Bundesgerichtsentscheid

Beurteilungsraster nach neuen Grundsätzen

• Funktioneller Schweregrad der Gesundheits-

schädigung (AUF im engeren Sinn)

– Ausprägung diagnosenrelevanter Befunde (Mini ICF-

Rating?)

– Behandlungs- oder Eingliederungserfolg oder –resis-

tenz, Komorbiditäten

– Persönlichkeit, persönliche Ressourcen

– Sozialer Kontext

10 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Der Bundesgerichtsentscheid

Beurteilungsraster nach neuen Grundsätzen

• Konsistenz (Gesichtspunkt des Verhaltens)

– Gleichmässige Einschränkung des Aktivitätsniveaus

– Behandlungs- und eingliederungsanamnestisch

ausgewiesener Leidensdruck

• Gesamtwürdigung

11 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Der Bundesgerichtsentscheid

Bedeutung der Indikatoren

• Hinweise, keine abhakbare Kriterien

• Funktion: Hilfe zum Füllen einer Beweislücke bei

Krankheiten, die dem direkten Beweis nicht

zugänglich sind (Hilfstatsachen)

• Liste der Indikatoren nicht abschliessend, offen

gegenüber überzeugenden Ergänzungen und

Neuerungen

12 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Auswirkungen

Für den somatischen Facharzt

• Kriteriengestützte Herleitung der Diagnosen,

insbesondere bei „schwierigen“ Diagnosen (z.B.

CRPS, zervikogener Kopfschmerz etc.)

• Stellungnahme zum Schweregrad der

Erkrankung

• Stellungnahme zu den funktionellen Auswirkun-

gen (ICF-Denken) mit Berücksichtigung der

Ergebnisse aus Eingliederungsversuchen

13 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Auswirkungen

Für den somatischen Facharzt

• Beschreibung der Ressourcen

• Konsistenzprüfung (inkl. Ausschlussgründe)

• Stellungnahme zur bisherigen Therapie und

noch bestehenden Therapiemöglichkeiten

(evidenzbasiert)

• Cave fachfremde Aussagen (z.B. zur

Persönlichkeit)

14 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Auswirkungen

Für den psychiatrischen Gutachter

• Ergebnisoffene Beurteilung und Verweis auf

Leitlinien

• Erarbeitung der Leitlinien 3.0 2016 der SGPP

• Weitgehend unveränderter Aufbau des

psychiatrischen GA, aber:

– Fokussierung auf das Wesentliche

– Formal und inhaltlich Anpassungen

– Umfangreicher Anhang

15 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Auswirkungen

Für den psychiatrischen Gutachter

Systematik der Begutachtung nach Leitlinien 3.0

• Diagnostik inkl. Komorbidität,

Persönlichkeit(sstörung)

• Schweregrad (Reha-/Therapieverlauf,

Symptombelastung, Ressourcen)

• Konsistenz, Validität, Plausibilität

• Prognose (mit/ohne Massnahmen)

16 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Auswirkungen

Für den psychiatrischen Gutachter

Systematik der Begutachtung nach Leitlinien 3.0

• Aktivität (ICF)

• Partizipation

17 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Auswirkungen

Für den psychiatrischen Gutachter

• Diskussion und versicherungsmedizinische

Würdigung

– Kriteriengeleitete Beurteilung von

Funktionseinschränkungen

– Beurteilung der arbeitsbezogenen Leistungsfähigkeit

– Dimensionen

– Stellungnahme zur „Überwindbarkeit“

der Beschwerden

18 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Auswirkungen

Aus dem Blickpunkt des Juristen

• Der Fokus wird weniger auf eine Diagnostik

gemäss allen Regeln der Kunst, sondern

vielmehr auf die Evaluation der funktionellen

Auswirkungen des Schmerzes gerichtet.

19 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Auswirkungen

Aus dem Blickpunkt des Juristen

• Eindruck 1: Man ist auf dem Weg, über die

Annahme zu stolpern, dass nicht-

invalidisierende somatoforme

Schmerzstörungen als nicht gesundheitliche

Beeinträchtigung zugeordnet werden.

20 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Auswirkungen

Aus dem Blickpunkt des Juristen

• Eindruck 2: Man versucht, die Analyse maximal

auf der Basis ausschliesslich rechtlicher

Faktoren zu standardisieren.

21 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Auswirkungen

Aus dem Blickpunkt des Juristen

• Eindruck 3: Der Dialog zwischen Arzt und

Juristen ist (noch) komplizierter geworden.

22 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Auswirkungen

Aus dem Blickpunkt des Juristen

• Überzeugung 1: Diese Gesetzgebung regelt das

Problem nicht. Am Ende der Analyse wird sie für

die Renten aufgeteilt und versteckt die ganze

Problematik der Rehabilitation.

23 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Auswirkungen

Aus dem Blickpunkt des Juristen

• Überzeugung 2: Die Gleichheit der

Behandlungen zwischen den Versicherten ist

nicht mehr gewährleistet.

24 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Auswirkungen

Aus der Sicht der Versicherungsgerichte

• Bis 2004 (BGE 130 V 396) nur formale

Überprüfung der medizinischen Unterlagen und

Gutachten auf Vollständigkeit, Schlüssigkeit und

Widerspruchsfreiheit. Keine inhaltliche Kontrolle

durch das Gericht erforderlich.

25 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Auswirkungen

Aus der Sicht der Versicherungsgerichte

• Mit dem Entscheid BGE V 396 am 05.10.2011 Paradigmenwechsel: Vermutung der Überwindbarkeit einer Schmerzstörung. Das Bundesgericht schrieb nun vor, welche Umstände und Gegebenheiten bei der Zumutbarkeitsbeurteilung heranzuziehen sind (Förster-Kriterien – starres Prüfungspro-gramm). Demzufolge oft Divergenzen in der Beurteilung der AUF durch med. Experten einerseits und Verwaltung/Gericht andererseits.

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Auswirkungen

Aus der Sicht der Versicherungsgerichte

• Mit dem neuen Grundsatzentscheid BGE 141 V

281 Einbringung eines ergebnisoffenen,

strukturierten Beweisverfahrens. Beurteilung der

AF neu mittels neu formulierter Standard-

Indikatoren zu Schweregrad und Konsistenz der

Beschwerden. Prüfungsprogramm somit

engmaschiger, aber weniger starr (die

Auswirkungen auf die Leistungsansprüche der

Versicherten sind derzeit offen).

27 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Auswirkungen

Aus der Sicht der Versicherungsgerichte

• Verwendung des Fragekatalogs des BV (IV-

Rundschreiben Nr. 339) für die Verwaltung

verbindlich, nicht aber für die Gerichte.

• Gemäss Bundesgericht soll der Fragenkatalog

den Fachärzten bei der neuen Begutachtung als

Leitlinie dienen (Urteil 8C_421/2015 E. 5.3)

28 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Auswirkungen

Aus der Sicht der Versicherungsgerichte

• Gerichtliches Prüfungsprogramm ausgeweitet: Fokus neben negativen, belastenden Umständen auch auf positive Lebensum-stände gerichtet (wirkt sich leistungsabweisend aus).

• 2 Black boxes: – Verlangte Feststellung der Ausprägung der

diagnosenrelevanten Befunde (schwer umsetzbar)

– Gesamtwürdigung der Indikatoren (keine Vorgaben seitens des Bundesgerichts, kantonale Gerichte)

29 Weiterbildungstag Rehabilitative Ergonomie 2016, Rehabilitationszentrum Valens

Mein Fazit

E F L

&

orthopädisches / rheumatologisches /

psychiatrisches Gutachten

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Mein Fazit

• Mehr Aufträge für EFL in Zukunft?

• Auswirkung des neuen BGE vom 03.06.2015 auf

die Renten völlig offen

• ICF = neue Brücke zur besseren Verständigung

zwischen Mediziner und Juristen

• Ressourcen-orientierte Betrachtungsweise öffnet

Türen in Richtung Rehabilitation (Integration vor

Rente)

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