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Bundesverband N V - MPU · len, zum Europäischen heranreifen muss. Die auf dem ersten BNV-Kongress gezeigten Haltungen und Kenntnisse sind gut geeignet, auch in Europa lernen zu

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Bundesverband Niedergelassener Verkehrspsychologen

„Therapie und Begutachtung:

Brücken, Nahtstellen, Veränderungen in Praxis und Theorie“

Bericht vom 1. BNV-Kongress, Kassel, 17.-18.09.2004

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„Verkehrstherapie“ Schriftenreihe des Bundesverbandes Niedergelassener Verkehrspsychologen

Herausgegeben vom Bundesverband Niedergelassener Verkehrspsychologen Börnestr. 34 D-22089 Hamburg

verantwortlich i.S.d.P. Rüdiger Born Börnestr. 34 D-22089 Hamburg www.bnv.de [email protected]

CD-ROM: ISSN 1614-8258

- Die CD-ROM enthält ausschließlich dieses PDF - –

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9 „Verkehrstherapie“ – Die Schriftenreihe des Bundesverbandes Niedergelassener Verkehrspsychologen

11 Begeistert Nachdenklich Vergnügt – Rückblick der Kongressvorbereitungsgruppe

13 Rothenberger, Bernd: Begrüßung zum 1. BNV-Kongress

17 Sohn, Jörg-Michael: Die Lage der Verkehrspsychologie und die Stellung der freiberuflichen Verkehrspsychologen

25 Sohn, Jörg-Michael: Geschichte, Grundprinzipien und Perspektiven der BNV-Evaluation

36 Born, Rüdiger: Ergebnisse der BNV-Evaluation

52 Rothenberger, Bernd: Was macht die verkehrspsychologi-sche Therapie wirksam?

67 Hillmann, Frank-Roland: Fahrerlaubnisentziehung aus rechtlicher Sicht

77 Schmidt, Sandra: Die Rehabilitation auffälliger Kraftfahrer als gesellschaftliche Aufgabe - die Position Deutschlands in Europa

85 Rothenberger, Bernd: Auf dem Weg zu einer Core-battery in der verkehrspsychologischen Therapiepraxis

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110 Born, Ruth Sarah & Hansen, Axel: Cannabis- und Kokain-Konsumenten - Spezifika des verkehrspsychologischen (dia-gnostischen und therapeutischen) vs. suchtberatenden Be-gegnungskontextes

130 Hellwig, Hans-Joachim: Zur Validität eines Fragebogens für erfolgsrelevante Persönlichkeitsmerkmale in der Ver-kehrspsychotherapie

143 Schattschneider, Jürgen: MPU - eine Möglichkeit für eine Perspektive des Kunden

153 Müller, Anita: Der Gutachter hat immer Recht? Realität und Vision im fachlichen Austausch zwischen Verkehrsthe-rapeuten und Gutachtern

167 Nieder, Anita: Veränderung als zentrales Thema in Therapie und Begutachtung – Motivation zur Veränderung und Beurteilung des Veränderungsprozesses

180 Müller, Anita: Dissens und Konsens - Typische Konflikte um Gutachten nach einer Verkehrstherapie anhand konkre-ter Beispiele

190 Skulteti, Andreas: Biographisches Trauma = Deliktfahrt = Aktueller Denkfehler?

208 Voss, Karl-Friedrich: Leistungsdefizite alkoholauffälliger Kraftfahrer

214 Vollmerhaus, Rüdiger: Zum Aussagehorizont von Ethylglucuronid in den Haaren

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235 Meyer, Harald: Die Dokumentation der § 71 Maßnahme als Qualitätsmanagement-Element - Anspruch und Wirklich-keit

248 Klepzig, Peter: Zur Praxis der Verwendung von bereits vorliegenden Gutachten in der Fahreignungsuntersuchung

255 Müller, Wolfgang: Verkehrstherapeutische Einzelmaßnah-men und ihre gerichtliche Anerkennung bei der Sperrfrist-verkürzung

258 Opper, Karl-Heinz: Notwendigkeit für therapeutische Interventionen mit älteren Menschen anhand eines Fallbei-spiels

266 v. Mutzenbecher, Yvonne & Butzmann, Rosemarie: Ressourcenorientierte Therapie mit verkehrsauffälligen Kraftfahrern

ANHANG

A Voss, Karl-Friedrich: Auswertung der Teilnehmerbefragung

B Die Organisatoren des Kongresses

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„Verkehrstherapie“

Die Schriftenreihe des Bundesverbandes Niedergelassener Verkehrspsychologen

Im September 2004 fand sechs Jahre nach Gründung des BNV der erste Kongress unseres Bundesverbandes statt. Wir haben dies zum Anlass genommen, eine Schriftenreihe „Verkehrstherapie“ zu gründen, deren ersten Band der Ihnen hier vorliegende Kongressband bildet. In „Verkehrstherapie“ werden wir in unregelmäßigen Abständen Beiträge veröffentlichen, die für die Verkehrspsychologie insgesamt und speziell für ihren therapeutisch orientierten Zweig wichtig erscheinen.

Das Haupt-Medium von „Verkehrstherapie“ ist die CD-ROM. Wir liefern einige Exemplare an die Deutsche Bibliothek, so dass „Verkehrstherapie“ voll zitierfähig ist.

Daneben wollen wir zwei weitere Wege beschreiten, um die Verbreitung zu verbessern. Zum einen sollen möglichst viele Ausgaben auch über die BNV-Homepage im Internet abrufbar sein und zum zweiten gibt es eine gedruckte Ausgabe in kleinerer Auflage. Die Unterschiede zwischen den Informationen in diesen Medien werden wir so klein wie möglich halten.

Die Ihnen vorliegende erste Ausgabe von Verkehrstherapie erscheint in allen drei Formen. Von der maßgeblichen CD-ROM werden die anderen beiden Formen geringfügig abweichen:

Die Internetveröffentlichung auf www.bnv.de wird primär aus dem PDF bestehen, das auch der alleinige Inhalt der CD-ROM ist. Die Informationen sind also dieselben, und der Internetausgabe fehlt nur das Design und die Verpackung der CD-ROM.

Die gedruckte Veröffentlichung wird in schwarz-weiß sein, und sie wird eine ISBN haben. Die Seitenzahlen sollen denen der CD-ROM-Ausgabe entsprechen. Trotzdem bitten wir Sie, nur aus dem Original, d.h. nach der PDF-Datei auf der CD-Rom zu zitieren.

Nun bleibt mir als Herausgeber nur zweierlei: Einerseits Ihnen viel Bereicherung beim (Nach-)Lesen der Beiträge zu wünschen und

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andererseits allen zu danken, die es möglich gemacht haben, dass dieser Band entstanden ist: Dies betrifft vor allem die Referenten, die nicht nur mit einer Fülle von interessanten, praxisrelevanten und anspruchsvollen Referaten unseren ersten Kongress zu einem Erfolg gemacht haben, sondern die auch engagiert und zügig die Beiträge zur Verfügung gestellt und korrekturgelesen haben. Und der Dank geht an die Kongress-Vorbereitungsgruppe und den Vorstand des Verbandes, die mir als Herausgeber einerseits freie Hand bei der Gestaltung unserer ersten Publikation gelassen haben, andererseits aber auch durch eine Fülle von Anregungen und konstruktiver Kritik zu der jetzt vorliegenden Form beigetragen haben. Rüdiger Born Geschäftsführer des BNV und Herausgeber

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Begeistert Nachdenklich Vergnügt

- so könnte man die Stimmung vieler Kongress-Teilnehmer nach unserem ersten BNV-Kongress als Variation der Kongressabkürzung zusammenfassen. Wir haben als Kongress-Vorbereitungsgruppe lange gebangt, wie der erste Kongress des BNV gelingt. Stimmt der Ort? Gibt es genügend interessante Referate? Wie viele Anmeldungen gibt es? Stimmt die Kalkulation? Wie wird das Wetter?

Um mit dem ersten und dem letzten anzufangen: Der Ort war gut gewählt, das Schlosshotel Wilhelmshöhe bot einen perfekten Rahmen, und auch das Wetter spielte mit.

Genügend Anmeldungen gab es und auch die Kalkulation gab sogar noch den Kongressbericht in der vorliegenden Form her.

Bleibt die zentrale Frage: Gab es genügend wichtige, spannende, anregenden, provokante Referate? Diese Frage mag jeder für sich selbst beantworten, wenn er den vorliegenden Band studiert. Wir sind jedenfalls überzeugt, dass es gelungen ist, unter dem Kongress-motto eine Fülle von Beiträgen aus unterschiedlichen Bereichen, aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern und Organisationsformen und schließlich in unterschiedlicher Form zu versammeln.

Gerade als Vorbereitungsgruppe war es uns eine Freude, noch einmal alle Vorträge ansehen zu können - auf dem Kongress selbst hatten wir ja nur Gelegenheit, einen kleinen Ausschnitt selbst zu erleben. Gerade aber die jetzt vorliegenden Gesamtheit aller Beitrage erlaubt sehr unterschiedliche Blicke auf den Topos Fahreignung und Rehabilitation, therapeutische wie diagnostische, rechtliche wie politische. Ein besonderes Glück liegt darin, dass sämtliche Referenten es für lohnend hielten, Ihre Vorträge und Workshops schriftlich aufzubereiten und damit diesen Kongressbericht zu einem wirklich umfassenden Bild zu machen. Ihnen sei nicht nur für Ihre Bereitschaft zum Vortrag, sondern auch für die Nacharbeit herzlich gedankt.

Die Referate geben Einblick in eine professionelle Arbeit in allen Bereichen, und es zeigt sich auch, dass diese Professionalität keine Selbstbezüglichkeit ist. Ihre Ergebnisse lassen sich am Nutzen für die Verkehrssicherheit messen, Beteiligte aus ganz unterschiedlichen Berufsfeldern pflegen interdisziplinäre Kontakte, sind offen für

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Anregungen der anderen Seite, es gibt bei aller Konkurrenz vielfältige Kooperationen.

Es ist mittlerweile klar, dass das Interdisziplinäre zum Internationa-len, zum Europäischen heranreifen muss. Die auf dem ersten BNV-Kongress gezeigten Haltungen und Kenntnisse sind gut geeignet, auch in Europa lernen zu können, auf Bündnispartner zu setzten und sich durch das Unterschiedliche gegenseitig bereichern zu lassen.

Sie wissen: nach dem Kongress ist vor dem Kongress. Nach dem großen fachlichen und atmosphärischen Erfolg sitzen wir schon an der Planung für den nächsten Kongress in 2006 - aber erst einmal viel Vergnügen und Bereicherung beim Rückblick auf den Kongress 2004!

Die Kongressvorbereitungsgruppe Rüdiger Born Ruth Sarah Born Dr. Hans-Joachim Hellwig Dr. Bernd P. Rothenberger Jörg-Michael Sohn Dr. Karl-Friedrich Voss

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Dr. Bernd P. Rothenberger

Begrüßung zum 1. BNV-Kongress

Liebe Mitglieder und Freunde des BNV!

Einen wunderschönen guten Morgen und ein herzliches, kollegiales Willkommen zu unserem ersten BNV-Kongress in Kassel. Sie haben ein wirklich gutes Wetter und viel Sonne mitgebracht!

Ich grüße Sie und heiße Sie auch im Namen des Vorstands des BNV und der Kongressvorbereitungsgruppe des BNV hier in Kassel recht herzlich willkommen. Ich freue mich, dass Sie so zahlreich unserer Einladung zu unserem ersten verkehrspsychologischen Kongress gefolgt sind.

Für den ersten BNV-Kongress hat die Kongressvorbereitungsgruppe die jeder praktischen Verkehrspsychologie innewohnende konflikt-reiche, manchmal konkordante, oftmals aber auch diskordante Beziehungswirklichkeit von Therapie und Begutachtung zum Thema gemacht.

Unser Kongressthema beschreibt die professionelle Dynamik oder anders formuliert, weil es der jeder Verkehrspsychologie innewoh-nenden Dynamik angemessen erscheint, die professionelle Mobilität in den Arbeitsfeldern von Therapie einerseits und Begutachtung andererseits. Es lautet:

Brücken bauen, Nahtstellen nutzen, Veränderungen verwirklichen - in Theorie und Praxis.

Wie Sie unschwer entdecken können, haben wir es geschafft, mit den Anfangsbuchstaben der Substantive und der Verben des Kongress-themas "B-N-V" auch den Namen unseres Bundesverbandes BNV zu nennen.

Für den heutigen und den morgigen Tag werden Sie Gelegenheit haben, neben vielen vertrauten Referenten aus unseren eigenen Reihen auch eine Anzahl externer hochkarätiger Praktiker und Experten zu hören. Wir werden auf dem Kongress den neuesten Stand der Evaluation in der verkehrspsychologischen Therapie

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erfahren sowie vielfältige Anregungen aus der Praxis für die Praxis, die unseren Horizont erweitern werden.

Brücken bauen!

Dieses Ziel beschreibt schon für sich das zentrale verkehrspsycholo-gische Thema von Statik in der Mobilität, von Bewegen und Bewegt-Werden, von Überwindung von Hindernissen im Raum.

Georg Simmel hat vor fast 100 Jahren (1909) zum Thema Brücken geschrieben:

"Die Menschen, die zuerst den Weg zwischen zwei Orten anlegten, vollbrachten eine der größten menschlichen Leistungen. Der Wegbau ist. .. eine spezifische menschliche Leistung; auch das Tier überwindet ... einen Abstand, aber dessen Anfang und Ende bleiben unverbunden, es (das Tier) bewirkt nicht das Wunder des Weges: die Bewegung zu einem festen Gebilde gerinnen zu lassen."

Wie schön spricht er hier von einer menschlichen Leistung, einem Gebilde, das von der Bewegung ausgeht und in das die Bewegung eingeht. Und er fährt fort:

"Im Bau einer Brücke gewinnt diese Leistung ihren Höhepunkt. Die Hindernisse im Raum und den Widerstand im menschlichen Verbindungswillen überwindend, symbolisiert die Brücke die Ausbreitung unserer Willensphäre im Raum."

Daran will ich einen praktischen Gedanken anschließen für unseren Umgang miteinander und mit dem Thema unseres Kongresses.

Zu einem wirklich verkehrspsychologischen Wert wird die Leistung des Brücken-Bauens erst unter der folgenden Voraussetzung. Nämlich dann, wenn wir die Verbindung eines bislang Getrennten nicht nur fordern, sondern, wie das Kongressthema uns auffordert, auch die vorhandenen Nahtstellen und Schnittstellen nutzen, um das Trennende zu erkennen, und wenn es notwendig und sinnvoll erscheint, auch als Trennendes anzuerkennen, um es daraufhin mit einer Brücke und über eine Brücke hinweg verbinden zu können.

Brücken können bislang Getrenntes und früher Trennendes miteinander verbinden. Bedenken Sie, wie gerne wir in Gegensätzen und Unterschieden urteilen, wie oft wir in Differenz und Dissens denken und unsere Überzeugungen vortragen.

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Denken Sie dabei an die für unser Arbeitsgebiet der Verkehrspsycho-logie engagierten, teils überflüssigen und oftmals auch sinnlosen Sätze und Gegensätze, von denen wir uns in unserer Arbeit beherrschen lassen.

Denken Sie an die Welten zwischen Wort und Tat, wie sie z.B. in den folgenden Praxisfeldern konflikthaft, zumindest aber immer spannungsreich zum Ausdruck kommen:

- an die Differenz von Recht und Gesetz einerseits und Rechtswirk-lichkeit andererseits und an die damit zusammenhängenden Spannungen zwischen Recht und Psychologie,

- an die Unterschiede in den Arbeitsfeldern von Gutachtern und Förderern der Fahreignung oder auch nur

- an den Graben, der zwischen dem Anspruch besteht ein guter Autofahrer zu sein und der Realität auf unseren Straßen und Plätzen.

Nun, uns Alltagsmenschen faszinieren Gegensätze. Denker fühlen sich von Widersprüchen und Paradoxien angezogen. Intellektuelle reden gern in Polaritäten. Und wir psychologische Praktiker haben eine Vorliebe für Typologien, die uns die Forscher, ebenso engagiert, liebend gern ausreden würden.

Wenn wir heute und morgen in unserem eigenen Denken, in den Gesprächen untereinander, in den Beziehungen miteinander die Gegensätze und das Trennende gegen die Bewegung zwischen den Gegensätzen und dem Trennenden eintauschen und uns damit auf die Dynamik einlassen, die in der Bewegung der Gegensätze möglich erscheint, dann können wir vielleicht Bewegung sowohl in unser Denken wie in die Gegensätze selbst bringen. Das ist ein Thema, das ich aus Stuttgart und von einem der größten Denker der Moderne, von Georg Friedrich Wilhelm Hegel zu Ihnen hierher nach Kassel transportiere.

Brücken und Veränderungen von überall her, auf vielen Wegen und an vielen Orten. Und ein solches Brücken-Bauen und In-Bewegung-Bringen, eine solche Dynamik in den Gegensätzen hat sich auch hier ereignet und genau an diesem Ort eine politische und heute historisch abgeschlossene Entsprechung gefunden.

Hier in Kassel, in diesem Hotel, in dem wir uns heute und morgen zusammen finden werden, haben sich im Jahre 1972 auch Willy

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Brandt und Willi Stoph zu einem deutsch-deutschen Gespräch zusammengefunden. Sie haben deutsche Geschichte geschrieben, die, wie Sie wissen, im Jahre 1989 ihre Vollendung gefunden hat.

In diesem politischen, historischen und geistig bewegten Sinne, der auch der Geist unseres Kongresses sein soll und der die notwendige Dynamik in unsere Auseinandersetzungen bringen sowie die gute Kongressstimmung schaffen kann, wollen wir nun unseren Kongress beginnen.

Ich darf nun unseren Kollegen Jörg-Michael Sohn bitten, uns seinen Bericht zur Situation der Verkehrspsychologie und die Stellung des niedergelassenen Verkehrspsychologen vorzutragen.

Come on, Jörg-Michael!

Dipl.-Psych. Dr. Bernd P. Rothenberger Vorsitzender des BNV Spitalwaldweg 2 73733 Esslingen 0711-9325900 E-Mail: [email protected] http://www.bnv.de/

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Jörg-Michael Sohn

Die Lage der Verkehrspsychologie und die Stellung der freiberuflichen Verkehrspsychologen

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

Lassen Sie mich vorweg erklären, dass niemand für die folgenden Einschätzungen haftbar zu machen ist als ich selbst, es sind nicht die Positionen des BNV oder gar der Sektion Verkehrspsychologie, sondern der Versuch, eine sehr persönliche Sicht – die sicher durch zentrale Funktionen in beiden Organisationen geprägt ist, zu formulieren – ich verkörpere ja in gewisser Weise selbst das Kongressmotto, da ich in berufspolitischen Mehrfachfunktionen oft Brücke bin, manchmal aber auch Nahtstelle (und dort liegt der größte Druck und ist die Reißgefahr am größten ...).

Ich danke deshalb dem BNV, mir den Freiraum zu geben, nicht eine wohlabgewogene und im Gesamtverband abgestimmte, sondern eine eigene Sichtweise auf die Einbettung des Kongresses hier am Beginn darstellen zu können. Die folgenden Einschätzung ist also eher eine Integration verschiedener Eindrücke, Informationen, Gespräche, Kontakten aus unterschiedlichen Zusammenhängen.

Als ich mir das Thema des Eröffnungsvortrages angesehen habe, wurde mir etwas unheimlich: „Die Lage der Verkehrspsychologie und die Stellung der freiberuflichen Verkehrspsychologen.“ ... warum nicht gleich eine kurze Erläuterung zu der Entstehung des Universums, der Entwicklung der Menschheit unter der Berücksich-tigung der Philosophiegeschichte und einen Lösungsansatz für die drängendsten Menschheitsprobleme?

Ich könnte es mir natürlich einfach machen und sagen: „Die Lage der Verkehrspsychologie ist schlecht und die Stellung der Freiberufler ist gut - vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.“

Aber natürlich ist das ein bisschen vereinfacht - wenngleich nicht völlig falsch: In der Tat befindet sich die Verkehrspsychologie in einer schwierigen Situation und das in mehrfacher Hinsicht.

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Ich bekomme viele Anfragen der Art: „Ich möchte Verkehrspsycho-loge werden, wie sind das die Aussichten?“ Ich habe mir angewöhnt, ganz pragmatisch fünf Arbeitszusammenhänge zu unterscheiden, in denen Verkehrspsychologen in Deutschland arbeiten: Forschung, Wirtschaft/Industrie, Fahreignungsbegutachtung, Kurse mit Rechtsfolgen und Beratung/Therapie.

Zu der Forschung kann ich nur wenig sagen, nach meinem Eindruck ist der universitäre Bereich in diesem Arbeitsfeld bis auf Teilbereiche wenig entwickelt; Universität und Arbeitsmarkt gehören zwei unterschiedlichen Welten an - das ist nicht gut so, aber so scheint es zu sein. Man sehe sich die unterschiedlichen Teilnehmer auf diesem und universitär geprägten Kongressen an. Und für praxisbezogene Forschung, die früher hauptsächlich vom TÜV finanziert wurde, fehlt inzwischen das Geld. Durch unterentwickelte Forschung gehen aber auf Dauer die Chancen für neue Arbeitsfelder verloren. Kollegen, die in diesem Bereich arbeiten, schätzen es teilweise so ein, dass Deutschland eine früher weltweit führende Position verloren hat und international kaum noch eine Rolle spielt.

Im Bereich Industrie sehe ich momentan ebenfalls wenig sichtbare Entwicklung, Psychologen arbeiten hier in Teilbereichen, haben aber offenbar gegenüber den Ingenieuren einen schwierigen Stand. Dies ist gerade deshalb bedauerlich, weil zum einen Verkehr ein gesellschaftlich immer brisanteres Thema wird (Stichwort Toll-Collect, Bahnreform) und zum anderen, weil technische Lösungen in einem Bereich derartig hoher sozialer Interaktion nach meiner festen Überzeugung ohne sozialwissenschaftliches Know-How nicht funktionieren können - hier gäbe es für Verkehrspsychologen genug zu tun, es existieren aber kaum Arbeitsplätze dafür, die Arbeitsfelder sind sehr heterogen, es sind eher einzelnen Kollegen, die in unterschiedlichen Bereichen meist interdisziplinär arbeiten.

Dann gibt es den klassischen, unter Arbeitsplatz-Gesichtspunkten immer noch wichtigsten Bereich der Fahreignungsuntersuchung. Dieser ist momentan stark unter Druck. Dies liegt an verschiedenen Bedingungen: Zum einen gibt es eine massive Trägerkonkurrenz, immer neue Begutachtungsstellen immer neuer Träger schießen aus dem Boden, nach meinem letzten Informations-Stand gibt es inzwischen 18 anerkannte oder vor der Anerkennung stehende Träger und ca. 150 Begutachtungsstellen in Deutschland, in einigen

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Städten arbeiten 5 Träger parallel. Parallel dazu sinkt seit Jahren die Zahl der Begutachtungen, in den letzten 7 Jahren von über 150.000 auf gut 110.000 pro Jahr. Die Konsequenz ist klar: Der Kampf um die Kunden ist entbrannt, manchmal möchte man meinen, mit allen Mitteln. Es gibt inzwischen massive Kritik an Begutachtungsstellen von Begutachtungsstellen selbst, es werden Verfahrensweisen, Nicht-Einhalten von Formalia, die Art der Exploration etc bemängelt, teilweise bei der Akkreditierungs-Stelle BASt angezeigt, zum Teil wird inzwischen mit anonymen Briefen gearbeitet, der ökonomische Druck ist immens gestiegen. Dies scheint dazu zu führen, dass teilweise möglichst viele geschlossene Kreisläufe etabliert werden, d.h. es wird ein Geflecht von Beratungseinrichtungen, Tochtergesell-schaften, Kooperationspartnern, Zulieferern geschaffen, die dafür sorgen sollen, dass möglichst viele Kunden zur Stelle A statt zur Stelle B kommen. Es herrschen Marktbedingungen, inklusive der gegenseitigen Konkurrenz innerhalb von großen, früher einheitli-chen Organisationen, TÜV Süd und TÜV Nord machen sich im Stammgebiet gegenseitig Konkurrenz, Träger werden aufgekauft, zusammengeschlossen etc. Wohin diese Entwicklung führt, ist noch nicht absehbar; ich befürchte, dass durch diesen ungeregelten Markt das Vertrauen in die Unabhängigkeit, Neutralität und reinen Fachlichkeit der Begutachtungsstellen sowohl bei den Untersuchten, als auch den Straßenverkehrsämtern, als auch der Politik sinken wird. Verschärft wird dieser selbstmörderische Kampf noch dadurch, dass sowohl durch Ärzte, als auch durch die neue EU-Rechtssprechung zur Anerkennung von EU-Führerscheinen eine weitere Erosion der früher über viele Jahre stabilen Zahl von MPUs droht. Diese Entwicklung erfordert eigentlich die Etablierung einer firmenunabhängigen Steuerungsinstanz, die politische Initiativen im Interesse des Gesamt-Arbeitsgebietes, nicht nur einer einzelnen Firma startet - eine solche Organisation ist in der momentanen verbissenen Konkurrenz aber für mich nicht in Sicht, wenngleich es mit der Etablierung des Rundes Tisches der Verkehrspsychologie erste Ansätze dafür gibt. Von Arbeitsmarktseite her betrachtet ist dieser Markt aber nicht uninteressant, des gibt relativ viele Stellenan-gebote, Träger versuchen, erfahrene Kollegen einzukaufen, aber auch Einsteiger haben eine Chance.

Unübersichtlich ist für mich die Situation der klassischen Nachschu-lens, also der Gruppenmaßnahmen mit Rechtsfolgen. Hier existieren

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offenbar von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedliche Handhabungen in der Durchführung, Neuentwicklung, Anerken-nung und Empfehlung solcher Kurse. Dabei scheinen mir einige Tendenzen deutlich: Zum einen eine stärkere Tendenz, mit Kurslizenzen zu handeln und keine eigenen zu entwickeln, zum zweiten gibt es hartnäckige Versuche von Nichtpsychologen, in diesen gesetzlich den Diplom-Psychologen zugeschriebenen Bereich einzudringen (Stichwort Suchtberatungs-Stellen) und schließlich gibt es eine komplizierte Interessenlage der Träger von Begutachtungsstel-len: Wegen der Konkurrenz auch von NS-Anbietern ist bei einer solchen Empfehlung nicht mehr wie früher gewährleistet, dass der entsprechende Kraftfahrer bei der eigenen Tochtergesellschaft landet und zum anderen sind die Wartezeiten zum Teil für die Betroffenen unzumutbar lang, da Kurse nicht voll werden. Dies führt nach meinem Eindruck zumindest regional dazu, dass eher trägernahe Kurse ohne Rechtsfolgen empfohlen werden - diese sind erstens meist teurer und erfordern hinterher noch eine weitere MPU. Leider ist die Vermutung der sinkenden NS-Quote bisher nicht verifizierbar, da die BASt schon seit einiger Zeit keine Statistiken für diesen Bereich mehr im Internet veröffentlicht, ich habe noch einmal im recher-chiert, die meisten Suchergebnisse bei dem Stichworten „MPU“ und „Statistik“ beziehen sich auf Informationen, die ich selbst vor einiger Zeit ins Netz gestellt habe. Zu den offenbar geringeren Zuweisungen für die Kurse haben sicher auch die Erkenntnisse beigetragen, die Jakobshagen auf dem ICTTP-Kongress in Bern 1999 vortrug – demnach waren die Rückfallquoten nach diesen Kursen eher höher als niedriger gegenüber den positiv Begutachteten. Auseinanderset-zungen laufen offenbar auch in der Frage der Sinnhaftigkeit solcher Kurse mit Rechtsfolgen im Bereich von Drogen, hier sind Entwick-lungen sicher noch nicht abgeschlossen, zumal dieser Bereich langfristig weiter an Bedeutung zunehmen wird. Insgesamt ist die Perspektive dieses Arbeitsgebietes also schwer einzuschätzen.

Und schließlich gibt es den Bereich der Niedergelasse-nen/Freiberuflichen Verkehrspsychologen. Hier kann man die Entwicklung kurz so charakterisieren: Die Rahmenbedingungen sind schwieriger geworden, der Organisationsgrad besser. Inzwischen existiert mit dem BNV eine Organisation, die bundesweit Erfahrun-gen auswertet, Entwicklungstendenzen analysiert und versucht, Handlungsstrategien zu entwickeln und der es gelingt, auch

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Marktkonkurrenten vor Ort in gemeinsame Strategien einzubinden. Dass dies oft nur zäh gelingt und wir weniger schaffen, als wir uns vorgenommen haben und leisten sollten, ist allen Beteiligten klar, nur: wir haben eine solche Struktur, während es etwas Vergleichba-res bei den Begutachtungsstellen nicht gibt, diese sind erst dabei, nach langen Jahren von Quasimonopolen Kooperation in der Konkurrenz zu lernen. Insgesamt hat sich das Berufsbild eines spezialisierten Verkehrspsychologen auch bei Freiberuflern etabliert, es gibt ein recht gutes Netzwerk von Personen, die sich kennen (über den BNV hinaus), Erfahrungsaustausch pflegen und halboffizielle Standards entwickelt haben. Allerdings wird die Arbeit auch schwieriger: Einige Begutachtungsstellen empfehlen lieber Ärzte, Sozialarbeiter oder gar Fahrlehrer (mit denen sie teilweise Koopera-tionsverträge haben) als Berufskollegen mit amtlicher Anerkennung und therapeutischer Qualifikation bzw. verweisen an eigene Angebote und solche der Schwesterorganisationen. Damit landen in der Einzeltherapie zunehmend nur noch die komplizierten Fälle - was natürlich Erfolge schwieriger macht. Andererseits ist es im Gegensatz zu früher leichter, mit Untersuchungsstellen in einen konstruktiven Dialog zu kommen - eine zweite Untersuchungsstelle eines anderen Trägers vor Ort fördert enorm die Gesprächsbereit-schaft.

Aktuell hat das EuGH-Urteil zur Anerkennung ausländischer Fahrerlaubnisse gerade bei den Freiberuflern massive Befürchtungen ausgelöst und schließlich steht für viele Kollegen zurzeit die Frage der Mehrwertsteuerpflicht drohend im Raum. Insgesamt aber haben die Freiberufler offenbar weniger unter Umsatzrückgängen zu leiden als die Untersuchungsstellen - wobei die Entwicklung regional und auch von Praxis zu Praxis sehr unterschiedlich ist. Eine Reihe von Kollegen hat sich aus diesem Arbeitsbereich wieder zurückgezogen, da die Umsatzrückgänge so dramatisch waren, dass andere Arbeits-felder attraktiver wurden. Andere Kollegen dagegen bezeichnen ihre Situation als gut und stabil. Entscheidend für den Erfolg einer Praxis scheinen neben einer guten Arbeit vor allem vielfältige regionale Kontakte zu verschiedenen Ansprechpartnern zu sein. Inhaltlich dürfte für die Zukunft der Schwerpunkt Punktetäter bei der Arbeit weniger gefährdet sein, als die Zielgruppe Alkoholtäter, da für diese sehr viel mehr unterschiedliche Angebote existieren.

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Ich habe bei diesem Überblick ökonomische Gesichtspunkte bewusst als Schwerpunkt gestellt, da diese Themen zurzeit in den Diskussio-nen überwiegend und unser Arbeitsfeld auf eine ungute Art prägen, es gibt reale Existenzangst vieler Kollegen und sicher auch eine berechtigte Tendenz, systematisch über andere Arbeitsfelder nachzudenken.

Lassen Sie mich aber noch kurz zu dem Hinweis auf einige inhaltliche Fragen kommen, die spannend sind, zu denen dieser Kongress einiges beizutragen hat und deren erfolgreiche Beantwor-tung auf Dauer stärker zu dem Überleben unseres Fachbereiches beitragen werden als die atemlose Anpassung an kurzfristige Markttrends:

Ein Dauerthema ist die Kontroverse um die Alternative Absti-nenz/Kontrolliertes Trinken. Dies bezieht sich sowohl auf die Frage, ob dies eine Dichotomie ist oder ob es Zwischenstufen, Übergänge und temporäre Abarten gibt: Gibt es zum Beispiel so etwas wie eine stabile, aber quasi „freiwillige“ Abstinenz ohne Selbstdefinition als Alkoholiker? Was sind die Merkmale der beiden Verhaltensstrate-gien, wie diagnostiziere ich als Gutachter die Notwendigkeit und die Glaubhaftigkeit? Unter welchen Bedingungen wird ein Wechsel von der einen zur anderen Strategie innerhalb eine Therapie akzeptiert? Die BNV-Evaluation bietet zumindest Hinweise, dass es unter Rückfall-Gesichtspunkten nicht die für sich genommen bessere Strategie gibt. Aber auch die Sicht auf den Verlauf und die Dynamik von Ge- und Entwöhnungsprozessen scheint mir noch eher Thema persönlicher Glaubenssysteme als Ergebnis einer empirisch und theoretisch fundierten Fachdiskussion zu sein.

Das Problemfeld Drogen wird uns zunehmend mehr beschäftigen, von der Menge der Fälle sind die so genannten weichen Drogen dabei bedeutsamer: Gibt es hier analog zum Alkohol das realistische Ziel „kontrollierter Konsum“ auch für eine verhaltensändernde Maßnahme? Wie reagiert unser Arbeitsfeld auf immer neue Drogen-Arten und Abarten? Wie gehen wir diagnostisch und therapeutisch mit Mischformen verschiedener Mißbräuche/Abhängigkeiten um?

Auch bei den Punktetätern sind viele Fragen offen: In meiner Praxis erlebe ich, dass zunehmend Frauen auftauchen und deren Beratung und Behandlung andere Ansätze nötig machen. Gleiches gilt für

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Ausländer und deren Einbettung von Fehlverhalten in andere kulturelle Grundmuster.

Im therapeutischen Bereich beginnt eine Diskussion in Gang zu kommen um die Frage Methodenorientierung vs. Störungsorientie-rung: Wird es - zugespitzt und über unser Fachgebiet hinaus - eher Spezialisten für neurologisch fundierte Densensibilisierungs-Strategien egal für welche Störung geben oder den multimodalen Spezialisten für Depression? Ist der verhaltenstherapeutische Verkehrspsychologe eher Verhaltenstherapeut oder Verkehrspsycho-loge? Was wirkt durch wen beim wem?

Im Gutachtenbereich fürchte ich persönlich den Verlust der Dimension „Verstehen“ gegenüber dem Abhaken standardisierter Checklisten am Computer. Eine wirklich psychologische Diagnostik ist die Integration einer Fülle von abstrakten Informationen und sehr sinnlichen Eindrücken aus einer Begegnung zwischen zwei Menschen und nicht das Absichern einer Aktendiagnostik durch Detailfragen. Qualitäts-Sicherungs-Systeme funktionieren bei Industrieprodukten hervorragend, bei der Herstellung von Kunstwerken weniger - zu welcher Kategorie gehören Menschen eher?

Ein letztes Thema, das mir sehr am Herzen liegt: Welche Verände-rung unserer therapeutischen, aber auch diagnostischen Mittel brauchen wir in der Arbeit mit Ausländern? Deren Anteil hat in den letzten Jahren in beiden großen Arbeitsfeldern stark zugenommen und es scheint mir bisher zu wenig mutigen Austausch darüber zu geben, welche Probleme wir dabei erleben, welchen Erfahrungen wir sammeln, welche Misserfolge (und auch Erfolge) wir in Einzelfällen erzielt haben. Hier wünsche ich mir für den nächsten Kongress und die nächsten Jahre einen lebendigen Austausch.

Viele Themen, viele Fragen, viele Probleme - ganz kurz noch ein paar Stichworte zu Lösungsstrategien: Wir werden sicher differen-ziertere, am Kunden orientierte Angebote entwickeln müssen. Wir brauchen eine starke Interessenvertretung von Verkehrspsychologen und Psychologen allgemein - über die Vertretung von Partikular-Interessen hinaus. Wir haben mit dem Runden Tisch der Sektion zumindest einen Ansatz dafür, organisationsübergreifende Lösungs-strategien zu entwickeln. Wir benötigen eine personell breit angelegte und mit finanziellen Mitteln ausgestattete Lobbyarbeit auf

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der europäischen Ebene. Wir müssen Imagewerbung für unser Arbeitsgebiet, nicht nur Produktwerbung für die eigene Praxis betreiben. Wir brauchen ein Netz von Kooperationspartnern, auf die wir uns langfristig strategisch verlassen können.

Auch wenn ich an alle diese Aufgaben, Herausforderungen und Schwierigkeiten denken, glaube ich, das wir als Freiberufler in diesen tiefen Umbrüchen insgesamt besser weggekommen sind, als wir es bei der Gründung vor 6 Jahren befürchtet haben; der BNV hat eine wichtige Funktion bekommen und deutlich an politischer Stärke gewonnen, wir sollten nicht nur auf die Risiken sehen, sondern auch auf die möglichen und realisierten Chancen. Oder wie eine Kollegin, eine trockene Alkoholikerin angesichts von Problembergen immer schön knapp formulierte: „Alles Geschenke zum Üben.“

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Dipl.-Psych. Jörg-Michael Sohn Mitglied des BNV-Vorstands BNV-Geschäftsführer von 1998 bis 2004 Saarlandstr. 6 a 22303 Hamburg Tel.: 040 - 56 00 80 08 E-Mail: [email protected] www.vpp.de

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Jörg-Michael Sohn

Geschichte, Grundprinzipien und Perspektiven der BNV-Evaluation

Neben dem Kongressmotto "Brücken, Nahtstellen, Veränderungen" ist sicher die vom Bundesband Niedergelassener Verkehrspsycholo-gen durchgeführte Evaluation einzeltherapeutischer Maßnahme, im folgenden kurz BNV-Evaluation genannt, ein zentrales Thema dieses Kongresses, was sich daran zeigt, dass am Anfang zwei Vorträge mit unterschiedlichem Fokus zu diesem Thema stehen. Die konkreten Ergebnisse unserer Evaluation und erste Schlussfolgerungen daraus wird Ihnen im Anschluss Herr Born vorstellen, meine Aufgabe ist es, Ihnen zu helfen, diese Evaluation und die Einzelergebnisse einzuord-nen.

Hintergrund der von uns durchgeführten Untersuchung ist eine schon länger andauernde Entwicklung im Bereich verkehrspsycholo-gischer Maßnahmen. Wie die meisten von Ihnen wissen, liegen die historischen Wurzeln des Arbeitsgebietes "Verkehrspsychologie" im Bereich der Diagnostik der Fahreignung, Stichwort "Medizinisch-Psychologische Untersuchung" (MPU). Mit Beginn der 70er Jahre (des vorigen Jahrhunderts ...) begann Prof. Winkler, die ersten verhaltensändernden Maßnahme für Kraftfahrer ("Gruppengesprä-che") zu entwickeln. Dies führte dann zu einer Reihe verschiedener standardisierter Gruppenprogramme für alkoholauffällige Kraftfah-rer, die in den 80er Jahren in einem aufwendigen Verfahren evaluiert (Winkler etc. 1988) und in das System des Fahrerlaubnisrechtes eingebunden wurden. Aufgrund des Nachweises der pauschalen Wirksamkeit dieser Maßnahmen entschloss sich der Gesetzgeber, die Möglichkeit zu eröffnen, trotz in einer MPU festgestellten Eig-nungsmängeln die Fahrerlaubnis wiederzuerteilen. Voraussetzung ist, dass der als ungeeignete beurteilte Kraftfahrer die Empfehlung bekommt, einen solchen evaluierten Kurs zu besuchen und eine Teilnahmebescheinigung vorlegt. Damit haben diese Kurse Rechtsfolgen, die darauf beruhen, dass davon ausgegangen wird, dass eine pauschal wirksame Maßnahme ohne speziellen Nachweis der Wirksamkeit bei der einzelnen Person dort ebenfalls wirksam ist und die Eignung wiederherstellt - Anforderungen an solchen Kurse mit

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Rechtsfolgen sind inzwischen in § 70 der Fahrerlaubnisverordnung geregelt.

Seit Beginn der 80 Jahren zeigte sich aber, dass diese Kurse nur für einen Teil der Kraftfahrer empfohlen werden konnten, so dass jedes Jahr Zehntausende von Kraftfahrern negativ beurteilt wurden, ohne dass konkrete Empfehlungen für geeignete Maßnahmen zur Wiederherstellung der Eignung ausgesprochen werden konnten. Dementsprechend entwickelte sich ein anfangs kleiner, aber schnell wachsender Markt von Angeboten sehr unterschiedlicher Art: Reine Vorbereiter auf den "Idiotentest", auf Kraftfahrer spezialisierte Selbsthilfegruppen, Führerschein-Gruppen von Suchtberatungsstel-len, allgemeine psychotherapeutische Angebote und schließlich zunehmend spezialisierte Verkehrspsychologen. Dies waren zum damaligen Zeitpunkt Diplom-Psychologen, die sich auf diesen Bereich spezialisiert hatten, nach meinen Erinnerungen gab es Anfang der 80er Jahre bundesweit höchstes ein halbes Dutzend freiberuflich arbeitender Personen, die sich als Verkehrspsychologen bezeichneten. Diese Zahl änderte sich anfangs nur langsam, dann aber immer schneller, so dass ab Mitte der 90 Jahre bundesweit eine ganze Reihe von auf Einzelgesprächen spezialisierten, seriös arbeitender Praxen neben den Anbietern von Gruppenmaßnahmen und den reinen Testvorbereitern existierten. Parallel dazu liefen vier Entwicklungen:

1. Die in vielen bundesweit verstreuten Einzelpraxen arbeitenden Verkehrspsychologen begannen sich lokal zu vernetzen und waren auf der Suche nach eigenen Organisationsformen.

2. Die Sektion Verkehrspsychologie des Berufsverbandes Deutscher Psychologen und Psychologinnen BDP konzipierte eine Fortbildung zum "Fachpsychologen für Verkehrspsychologie" und gründete einen bundesweiten Arbeitskreis "Klinische Verkehrspsychologie". Vorläufer war ein seit Ende 1989 existierender Arbeitskreis in Baden-Württemberg/Rheinland-Pfalz.

3. Die Diskussionen um die anstehende Novellierung des Fahrer-laubnisrechtes beinhalteten die rechtliche Fundierung eines Berufsbildes "Verkehrspsychologe", die Forderung nach Trennung von Begutachtung und Nachschulung und schließlich die Etablierung einer Dienstleistung "Verkehrspsychologische Beratung" in Form von Einzelgesprächen mit Rechtsfolgen (Punkteabbau).

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4. Die Träger von Untersuchungsstellen bzw. Anbieter von Nachschulungsmaßnahmen begannen Beratungsangebote, Kurse ohne Rechtsfolgen und Angebote für Einzelgespräche zu entwickeln.

Diese Entwicklungen bildeten den Hintergrund für die dann 1998 erfolgte Gründung des "Bundesverbandes Niedergelassener Verkehrspsychologen", der sich verstand und versteht als Zusam-menschluss von auf Verkehrspsychologie spezialisierten Diplom-Psychologen, die unabhängig von Trägern von Begutachtungsstellen verhaltensändernde Maßnahmen (im Regelfall in Form von Einzelgesprächen) mit dem Ziel einer unauffälligen Verkehrsteil-nahme anbieten. Die Gründung erfolgte in bewusster Abgrenzung gegenüber unseriösen und unqualifizierten Testvorbereitern andererseits und gegenüber Beratungsangeboten, die organisatorisch und personell unvertretbar eng mit der Begutachtung verknüpft sind andererseits.

Neben der Arbeit an dem Aufbau einer bundesweit operierenden Interessenvertretung von Verkehrspsychologen in freier Praxis wurde schnell deutlich, dass das sich etablierende Konzept einer "Verkehrstherapie" ausgebaut und fundiert werden musste. Zum Zeitpunkt der BNV-Gründung war "Verkehrstherapie" nur pragmatisch als das zu definieren, was Verkehrspsychologen in freier Praxis mit verkehrsauffälligen Kraftfahrern machten. Absehbar war, dass die Anerkennung dieser Tätigkeit von zwei Voraussetzungen abhängig war: Einer klareren Bestimmung dessen, was Verkehrsthe-rapie ausmacht und dem Nachweis, dass diese Maßnahme wirksam ist.

Beiden Zielen stand aber zumindest auf den ersten Blick die Heterogenität der Anbieter und des Angebotenen entgegen. Nimmt man die BNV-Mitglieder als einigermaßen repräsentativen Quer-schnitt dieses Arbeitsfeldes, dann umfasst die organisatorische Spannweite den in Einzelpraxis arbeitenden Psychologischen Psychotherapeuten, der nebenbei Verkehrstherapien anbietet, den ehemaligen Gutachter mit Schwerpunkt Gruppenangebote, die Praxis als Teil eines bundesweiten Anbieters standardisierter Maßnahmen und schließlich auf Verkehrspsychologie spezialisierte Einrichtungen mit ausgefeilten, differenzierten Angeboten und mehreren Mitarbeitern. Die Länge der angebotenen Maßnahmen variiert von wenigen Stunden bis zu über einem Jahr mit verschiede-

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nen Phasen, die Methoden umfassen Verhaltenstherapie, die tiefenpsychologische orientierte Psychotherapie, Gesprächspsycho-therapie, systemische Therapie - mithin das ganze Spektrum therapeutischer Verfahren. Und schließlich darf nicht übersehen werden, dass der BNV ein Zusammenschluss von Marktkonkurren-ten, teilweise in derselben Stadt ist, mithin der Nachweis, besser oder schlechter als der Konkurrent vor Ort zu sein, über den ökonomi-schen Aufstieg oder das Aus entscheiden kann.

Angesichts dieser Probleme konnten wir glücklicherweise auf einen Ansatz zurückgreifen, den Sohn und Meyer-Gramcko Anfang 1998 in der Zeitschrift für Verkehrssicherheit publiziert hatten: "Evaluati-on der Verkehrstherapie - Zwischenbilanz und Ausblick".

Dort waren die genannten Probleme bereits vor Gründung des BNV beschrieben und ein Verfahren skizziert worden, nach dem die Wirksamkeit unterschiedlicher verkehrspsychologischer Einzelthe-rapien bundesweit anhand des Kriteriums der Legalbewährung evaluiert werden könne.

Ausgehend von diesem Ansatz wurde dann die Konzeption der BNV-Evaluation anhand folgender Prinzipien entwickelt:

1. Legalbewährung als entscheidendes Kriterium des Erfolges.

2. Prüfung der pauschalen Wirksamkeit aller angebotenen Maßnahmen, aber für verschiedene Teilgruppen getrennt.

3. Überprüfung der Ergebnisse einrichtungsunabhängig unter Einbeziehung externer Stellen, Transparenz des Verfahrens und Veröffentlichung der Ergebnisse.

4. Gewährleistung von unausgelesenen Meldungen durch die Praxis bei einheitlichen Meldekriterien.

5. Rückmeldungen der individuellen Ergebnisse jeder einzelnen Praxis an diese selbst, nicht aber an Marktkonkur-renten.

Zu den einzelnen Punkten:

1. Legalbewährung: Es ist inzwischen in der Diskussion des Fachgebietes unumstritten, dass der Erfolg einer Maßnahme zur Wiederherstellung der Fahreignung letztlich genau daran zu messen ist, ob die Fahreignung als Fähigkeit wiederhergestellt ist, zukünftig

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ohne erneute Verkehrsauffälligkeiten am Straßenverkehr teilzuneh-men. Alle anderen Kriterien haben nur Hinweisfunktion oder bilden eine Hilfskonstruktion: Positives MPU nach Maßnahme, wissen-schaftlich fundiertes Konzept, detailliertes Handbuch, Veränderun-gen in unterschiedlichen Tests, Ausbildungsniveau der Durchfüh-renden und sonstige von anderen Maßnahmen ins Feld geführte Kriterien. Wir haben uns deshalb von Anfang an darauf konzent-riert, diese Legalbewährung erheben zu können, operationalisiert als die Quote derjenigen, die nach Ablauf einer gewissen Zeit nach Wiedererteilung der Fahrerlaubnis mit einer Verkehrsauffälligkeit im Verkehrszentralregister des Kraftfahrzeugbundesamtes eingetragen sind.

Auch angesichts einiger methodischer Probleme und der hohen Dunkelziffer bei allen Verkehrs-Auffälligkeiten gewährleistet dieses Kriterium die beste Vergleichbarkeit verschiedener Maßnahmen, Teilgruppen und Kontrollgruppen und damit die Grundlage für die Beurteilung der Wirksamkeit einer Maßnahme. Dies war auch ausschlaggebend dafür, einen Zeitraum von 3 Jahren als Beobach-tungszeitraum zu wählen, da dies der am häufigsten verwendete ist.

Allerdings ist zu beachten, dass es Hinweise gibt, nach denen es aufgrund einer in den letzten Jahren deutlich gesunkenen Kontroll-dichte insgesamt zu geringeren Auffallenswahrscheinlichkeiten kommt, so dass die Vergleichbarkeit mit älteren Daten möglicher-weise ein zu günstiges Bild zeichnen kann. Das Ausmaß dieser Veränderung ist allerdings schwer abzuschätzen.

2. Globale Wirksamkeit: Langfristiges Ziel der Evaluation ist natürlich, herauszufinden, welche Methoden, welches Herangehen, welche Therapeuten besonders erfolgreich bei welchen Teilgruppen sind. Dafür ist es allerdings als erster Schritt erforderlich, zu überprüfen, ob pauschal, im Schnitt die von BNV-Mitgliedern durchgeführten Maßnahmen überhaupt eine Wirkung erzielen. Zudem sind Einzeltherapien zeitaufwendig, so dass ein einzelner Therapeut pro Jahr (je nach Konzept und Praxis-Schwerpunkt) lediglich einige Dutzend Fälle abschließen kann. Um eine genügend große Gesamt-Stichprobe zu erreichen, müssen die Praxen alle abgeschlossenen Fälle eines kompletten Jahrgangs einreichen. Damit ist zumindest eine Aussage dergestalt möglich, dass von BNV-Mitgliedern angebotenen Maßnahmen bei Alkoholtätern wirksamer

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zur Rückfallvermeidung sind als bei Punktetätern. Da in der Konzeptionsphase keine fundierten Schätzungen über die Rückfall-quoten insgesamt möglich waren, wurde für das Design auf den Versuch verzichtet, Daten der Art zu gewinnen: "In Süddeutschland ist Gesprächspsychotherapie bei Frauen wirksamer als Verhaltens-therapie, während es in Norddeutschland umgekehrt ist." Die Schwierigkeit liegt darin, dass die Untersuchungsgruppe eine unausgelesene, heterogene Stichprobe ist, für deren Beschreibung wir aufgrund der vorliegenden Literatur von mindestens folgenden relevanten Variablen ausgehen können: Bei den Klienten Alter und Geschlecht, bei den Delikt den Delikttyp (Alkohol, Punkte, Drogen), das Ausmaß der Ausprägung (Zahl der Trunkenheitsfahr-ten, maximale BAK), die Vorerfahrungen mit MPUs, bei den Therapien die methodische Grundlagen, die Länge in Tagen und die Dauer in Stunden. Jeder Versuch, hier differenzierte Auswertungen unter Berücksichtigung von Wechselwirkungen herauszuarbeiten, setzt unrealistisch große Stichprobengruppen voraus, die genannten Variablen führen je nach Abstufungsgenauigkeit zu 1.828 bis 450.000 Untergruppen. Wir haben uns also für diesen ersten Durchlauf bewusst auf Wirksamkeit statt Wirkungs-Analyse konzentriert.

3. Interne/externe Überprüfung: Denkbar sind verschiedene Herangehensweisen: Zum einen könnte jede Praxis selbst ihre Rückfallquoten erheben, an den BNV melden und dieser nimmt dann eine Auswertung vor. Dies würde aber mit einer hohen Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass "schlechte" Praxen an dem Verfahren erst gar nicht teilnehmen und zudem die Überprüfung der Daten nicht möglich ist, es gäbe keinerlei externe Überprüfung. Das andere Extrem wäre, dass die Praxen gemeinsam eine völlig unabhängige Forschungsgruppe damit beauftragen, nach deren Kriterien diese Maßnahmen zu evaluieren. Eine solche völlige Aufgabe der Kontrolle von Zielen und Methoden wäre einerseits bei den Mitgliedern kaum durchsetzbar, da sie hochsensible Daten an eine unbekannte Stelle geben müssten und zudem wären hohe Kosten angefallen. Wir haben uns deshalb zu einem gemischten Verfahren entschlossen: Eine Arbeitsgruppe des BNV hat in Abstimmung mit den Mitgliedern die zu erhebenden Grunddaten, die Meldekriterien, den Untersuchungszeitraum etc. festgelegt. Dann haben die teilnehmenden Praxen ihre Klientendaten unter Kenn-zeichnung mit einem von ihnen selbst bestimmten Praxis-Schlüssel

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an den Evaluationsbeauftragten des BNV, Herrn Born gemeldet. Damit hatte dieser und nur dieser (also weder eine andere Praxis, noch der Vorstand des BNV, noch das KBA) Kenntnis, welche Praxis sich hinter dem Schlüssel 314159 verbarg. Gemeldet wurden durch die teilnehmenden Praxen folgende Daten (mit Beispielanga-ben):

Tabelle 1: Von den Praxen eingereichte Datenstruktur mit fiktiven Beispieldaten

Die Datensätze wurden dann in einer Matrix zusammengefasst und an das Kraftfahrtbundesamt (KBA) gemeldet. Dieses überprüfte für jede Person, ob es eine Eintragung gab, wann es weitere Auffälligkei-ten gegeben hatte, welcher Art etc. Diese Erkenntnisse wurden aber nicht für die einzelnen Klienten an den BNV zurückgemeldet (da dazu eine formale Schweigepflichtsentbindung nötig gewesen wäre, die nur teilweise vorlag), sondern als Rückfallquoten von Teilgrup-pen, also der Art: Von den 466 gemeldeten Alkoholtätern haben nur 14 eine weitere Entziehung der FE aufzuweisen, von den 7 Punktetätern der Praxis 314159 hatten 3 Personen weitere Punkte. Zur Wahrung des Datenschutzes konnten Zellen mit weniger als 5 Datensätzen oder Zellen mit 100% Rückfallquoten vom KBA nicht gemeldet werden, da dies den Rückschluss auf Rückfälle von

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Einzelpersonen zugelassen hätte und eine De-Anonymisierung möglich gewesen wäre.

Durch diesen Ablauf ist es prinzipiell möglich, z. B. Rückfallquoten in Abhängigkeit von der Therapiedauer oder der maximalen Promillezahl zu erheben, also von Kriterien, die beim KBA selbst nicht vorliegen.

4. Unausgelesene Stichproben: Um einen objektiven Überblick über die Qualität unserer Arbeit zu gewinnen, war es nötig, alle Klienten zu melden, nicht nur die vermutlich oder nachgewiesen (in Bezug auf eine positive MPU) erfolgreichen. Wir haben dies dadurch gewährleistet, dass vertraglich vereinbart wurde, dass alle im Jahr 1998 abgeschlossenen Fälle mit einer Stundenzahl von mindestens 10 Therapiestunden gemeldet werden mussten. Unter 3 Stunden durfte Fälle nicht gemeldet werden, zwischen 3 und 10 war es der Einrichtung überlassen, solche Fälle als Kurzberatung oder Therapie zu werten - tatsächlich wurden keine Fälle unter 5 Stunden gemeldet und fast 90 % lagen über 10 Stunden. Als Nebeneffekt liegen damit - unabhängig von dem Erfolg - Daten vor, wie lange Einzeltherapien im Schnitt bei verschiedenen Untergruppen dauern. Da keine Vorerfahrungen vorlagen, wäre es selbst bei einem entsprechenden Willen kaum möglich gewesen, nur die erfolgversprechenden Fälle auszuwählen - zudem gab es für hohe Rückfallquoten keinerlei negative Konsequenzen zu befürchten. Mit jeder teilnehmenden Praxis wurde ein schriftlicher Vertrag geschlossen, der die Durchfüh-rung, Bezahlung, Auswertung der Evaluation und die Verwendung der Ergebnisse durch die Praxis regelt.

5. Rückmeldung an die Praxen: Grundvoraussetzung für die Teilnahme an der Evaluation ist die Sicherheit der angeschlossenen Praxen, eine differenzierte Rückmeldung über den Erfolg ihrer Arbeit zu erhalten, ohne wettbewerbsschädliche Einzelergebnisse publik werden zu lassen. Dies ist dadurch gewährleistet, dass die (je nach Praxisgröße auch nach Teilgruppen differenzierten Rückfall-quoten) den einzelnen Therapeuten (und nur diesen) bekannt gegeben werden und zudem die Gesamtergebnisse publiziert werden. Damit kann jeder Evaluationsteilnehmer erkennen, ob seine persönlichen Ergebnisse tendenziell besser oder schlechter sind als der Schnitt und zudem abschätzen, ob seine Klienten stärker oder

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weniger stark vorbelastet sein als die der anderen Praxen, bzw. er kürzere oder längere Therapien macht als seine Kollegen.

Insgesamt ist durch dieses Verfahren also folgendes gewährleistet:

- Es gelingt der Nachweis einer pauschalen Wirksamkeit der BNV-Maßnahmen.

- Es werden bundesweit Teilgruppen identifiziert, für die es noch nicht ausgereifte Behandlungskonzepte gibt.

- Jeder Therapeut kann die Qualität seiner Arbeit einschät-zen, ohne dass diese Information Mitbewerbern bekannt wird.

Die vorliegenden Ergebnisse bestätigen eindrucksvoll die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges. Ohne den Ergebnissen, die Herr Born darstellen wird, vorzugreifen zu wollen, kann ich Ihnen mitteilen, dass die Rückfallquoten "leider" so niedrig lagen, dass die geplante Differenzierung nach Teilgruppen nur sehr grob möglich war. Auch die Unterschieden zwischen den Therapeuten waren so gering, dass wir den teilnehmenden Praxen sehr ans Herz gelegt haben, nicht mit den geringen und statistisch nicht abgesicherten individuellen Ergebnissen zu werben, sondern das Gesamtergebnis des BNV in den Vordergrund zu stellen.

Hervorzuheben ist, dass diese Evaluation ohne externe Zuschüsse oder Unterstützung entwickelt und durchgeführt wurde. Trotzdem konnten dank eines hohen Ausmaßes ehrenamtlicher Tätigkeit die Kosten für die teilnehmenden Praxen in einem überschaubaren Rahmen gehalten werden. Aufgrund der erstmaligen Durchführung fielen hohe Entwicklungskosten an, die der BNV insgesamt getragen hat. Die eigentlichen Kosten für die teilnehmenden Praxen lagen bei 15,-- € pro gemeldetem Fall, wir hoffen, diesen Betrag auch für den nächsten Jahrgang (geplant ist die Evaluation der 2000 oder 2001 abgeschlossenen Fälle) beibehalten zu können.

Als nächste Schritte stehen an:

- Auswertung, Darstellung und Veröffentlichung von Gesamt- und Teilergebnissen,

- Bewertung der erzielten Ergebnisse im Vergleich zu anderen Evaluations-Studien aus diesem Bereich,

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- Prüfung, wieweit andere Praxen, die nicht BNV-Mitglieder sind, in das damit etablierte System der Qualitätssicherung einbezogen werden können,

- Differenzierte Prüfung der Wirkmechanismen unterschiedlicher Ansätze und der Bedeutung verschiedener Rahmenbedingen (Therapiemethode, Therapieziel, Zeitdauer, Stundenzahl), bzw. Klärung der Ursachen für die verblüffende Homogenität der Ergebnisse (erste Überlegungen wird Ihnen morgen Herr Dr. Rothenberger vorstellen),

- Herausarbeiten von Problemgruppen, für die nur seltener ein Erfolg erzielt wurde,

- Weiterentwicklung von Standards für die Teilnahme an dem Evaluations-System (Eckdaten der Therapien, Dokumentation, Mindestzahlen, Ausschlusskriterien).

Schon jetzt aber können wir sagen, dass wir mit der vorliegenden Evaluation einen Standard gesetzt haben, an dem sich andere Maßnahmen messen lassen müssen. Als gesichertes und belastbares Ergebnis steht fest, dass an der Studie beteiligten BNV-Praxen nachweisbar stabile Verhaltensänderungen bei einem sehr heteroge-nen Klientel erreicht haben und dass diese Erfolge offensichtlich nicht auf eine bestimmte Therapiemethode, eine bestimmte Sitzungsanzahl oder das Beachten standardisierter Arbeitsanweisun-gen zurückzuführen sind, sondern auf einer sorgfältig und verant-wortlich geplanten, auf den Einzelfall abgestimmten Intervention von erfahrenen Verkehrspsychologen beruht, die sich im Rahmen eines bundesweiten Erfahrungsaustausches um inhaltliche Qualitäts-standards, fachlichen Austausch, Offenlegung ihrer Ergebnisse und Weiterentwicklung der eigenen therapeutischen Kompetenz bemühen.

Literatur:

WINKLER, W., JACOBSHAGEN, W. & NICKEL, W.-R. (1988). Wirksamkeit von Kursen für wiederholt alkoholauffällige Kraftfah-rer. Bundesminister für Verkehr: Unfall- und Sicherheitsforschung Straßenverkehr, Heft 64

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SOHN, J.-M., MEYER-GRAMCKO, F. (1998): Evaluation der Verkehrstherapie - Zwischenbilanz und Ausblick. Zeitschrift für Verkehrssicherheit 44 (1998), Nr. 4, S. 170-173

Dipl.-Psych. Jörg-Michael Sohn Mitglied des BNV-Vorstands Verkehrspsychologische Praxis Saarlandstr. 6 a 22303 Hamburg Tel.: 040 - 56 00 80 08 E-Mail: [email protected] www.vpp.de

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Rüdiger Born

Ergebnisse der BNV-Evaluation

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

Geschichte und Grundprinzipien der BNV-Evaluation hat Ihnen eben Herr Sohn geschildert. Daran will ich - eingedenk unseres Kongressmottos möglichst nahtlos - anschließen.

Erste Ergebnisse hatte unsere Studie, als die Therapeuten Anfang 2002 ihre Klientendaten eingeschickt hatten, diese zusammengeführt waren und beschrieben werden konnten. Ich habe über diese Ergebnisse bereits 2002 in Regensburg berichtet, auf dem 38. Kongress für Verkehrspsychologie des BDP, unter dem Titel "Empirische Daten zu verkehrstherapeutischen Einzelmaßnahmen in Deutschland".

Die wesentlichen Ergebnisse aus diesem Bereich werde ich heute stark gerafft schildern, in der Regel bei Beschreibung der nunmehr bekannten Rückfallraten. Nur einige Werte will ich Ihnen vorab nennen, weil sie zur Einschätzung der Proportionen wichtig sind:

Es haben etwas über 30 Therapeutinnen und Therapeuten an der Evaluation teilgenommen. Das ist bei der damaligen Mitgliederstruk-tur ein guter Wert gewesen, denn einige Mitglieder führen keine Einzelmaßnahmen durch, wie wir sie untersuchen wollten, andere sind bereits in Qualitätssicherungssystemen eingebunden, die sie als ausreichend empfanden, andere waren noch nicht so lange niederge-lassen, dass sie 1998 Klienten gehabt hätten. Von den wirklich in Frage kommenden Mitgliedern haben die meisten teilgenommen.

Diese gut 30 Therapeutinnen und Therapeuten schickten Informati-onen über die ungefähr 700 Verkehrstherapien, die sie im Jahr 1998 abgeschlossen hatten.

Was diese 30 und diese 700 miteinander erarbeitet haben, will ich Ihnen in drei Kapiteln schildern:

1. Legalbewährung nach Verkehrstherapie als deren wichtigstes Qualitätskriterium

2. Die Bewährung verschiedener Untergruppen

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3. Unterschiede zwischen den evaluierten Therapeutinnen und Therapeuten

1. Legalbewährung nach Verkehrstherapie als deren wichtigstes Qualitätskriterium

"Ziel einer verkehrstherapeutischen Maßnahme ist das Vermeiden von Verkehrsauffälligkeiten.", heißt es zu Beginn der "Selbstver-ständnis-Erklärung" der Klinischen Verkehrspsychologen, die vom Arbeitskreis Klinische Verkehrspsychologie der Sektion Verkehrs-psychologie im BDP erarbeitet wurde und auf die der BNV sich verpflichtet hat.

In der Regel sind damit nur diejenigen Verkehrsauffälligkeiten gemeint, die der Klient/die Klientin bereits gezeigt hat und die den Therapieanlass gebildet haben, typischerweise also die Verkehrsauf-fälligkeiten, die dem Neuerwerb einer Fahrerlaubnis im Wege stehen, weil eine Wiederholung befürchtet wird. Der Verkehrsthera-peut hat keinen Auftrag, alle denkbar möglichen Varianten von Verkehrsauffälligkeit auf ihr Verwirklichungspotential zu prüfen und vorsorglich zu therapieren.

Diese Beschränkung schließt nicht aus, dass der Therapeut/ die Therapeutin sich um weitere Fahreignungsprobleme kümmert, auf die er/sie konkret aufmerksam wird, sei es durch Eingangsfragebö-gen oder im therapeutischen Gespräch. Beispiele hierfür wären ein Diabetes, den der BTM-Klient im medizinischen Fragebogen angibt, oder exzessiver Alkoholkonsum, über den die Punktetäterin im Gespräch über ihre Freizeitgestaltung berichtet.

Man kann also sagen, "Haupt- und ursprüngliches Ziel einer verkehrstherapeutischen Maßnahme ist das Vermeiden von erneuten Verkehrsauffälligkeiten der bekannten Art", und falls bei der Verfolgung des Ziels noch andere verkehrsbezogene Probleme sichtbar werden, soll man sich um diese auch kümmern. Es könnte interessant sein, die Häufigkeit des Auftauchens solcher Zusatznot-wendigkeiten zu untersuchen, in meiner Praxis z.B. ereignet sich das in ca. 15% der Therapien.

Bei der BNV-Evaluation haben wir uns auf die Frage nach dem erneuten Auftreten von Auffälligkeiten der bekannten Art

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konzentriert und in diesem Sinne drei Untergruppen gebildet und mit dem Kraftfahrtbundesamt vereinbart:

- "Alkoholtäter", die mit Alkoholverstößen aufgefallen waren und bei denen Alkoholfahrten und - wegen der großen psychologischen Ähnlichkeit - auch BTM- und Medikamentenverstöße als Rückfall gewertet wurden;

- "Punktetäter", bei denen allgemeine Verkehrsauffälligkeiten mit der Ausnahme von Alkohol- oder Drogendelikten als Rückfall gewertet wurden, und

- "Mischtäter", bei denen alle genannten Arten von Verstößen als Rückfall bewertet wurden.

Zu den Ergebnissen:

Bei der Untersuchungsdurchführung ergab sich noch eine vierte Gruppe von Personen, deren Überprüfung mit dem KBA nicht vereinbart gewesen war und die man dort freundlicherweise trotzdem bearbeitete: es hatte 6 Therapien in 1998 gegeben, die ausschließlich Drogen-, BTM-Probleme mit der Fahreignung zum Thema hatten. Alle sechs dieser Klienten sind nicht wieder mit Drogen- oder Alkoholverstößen aufgefallen. Sechs Therapien sind keine Zahl, die man hochrechnen dürfte und zu einer fundierten Aussage über Drogentherapien beim BNV machen dürfte. Aber auf jeden Fall scheinen diese sechs Personen und ihre Therapeutinnen und Therapeuten alle etwas Gutes und Dauerhaftes geleistet zu haben, und das ist bei Drogentherapien leider sonst nicht die Regel.

a) "Alkoholtäter" und -täterinnen.

Es sind 453 Personen vom KBA auf erneute Alkoholdelikte oder Drogendelikten untersucht worden, und man ist bei 16 von ihnen fündig geworden. Bei 15 Personen lag eine Alkoholstraftat vor, und bei 15 Personen wurde letztlich die Fahrerlaubnis entzogen. Nur eine Person war erneut mit Alkohol auffällig, aber im Bereich der Ordnungswidrigkeit geblieben. Bei den gut 450 Therapierten hat es also 3,53% erneute Auffälligkeiten und 3,31% Fahrerlaubnisentzie-hungen gegeben.

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Ein kurzer Einschub: wo von gerichtlichen Entscheidungen wie z.B. Fahrerlaubnisentzug die Rede ist, liegt immer der Termin der Straftat innerhalb unseres Beobachtungszeitraums von 3 Jahren, auch wenn die gerichtliche Entscheidung möglicherweise erst später erging.

"453 Personen", das ist eine stattliche Gruppe, und diese Kopfzahl ist für Evaluationen ähnlicher Maßnahmen durchaus üblich. Zufällig exakt genau so viele Personen - 453 - sind in der Behandeltengruppe bei der Evaluation von "Mainz 77" (1) des TÜVs gewesen, die wir uns als Vergleichsgruppe genommen haben.

Bild 1: Vergleich der Klientel

TÜV-Klienten hatten genau eine aktenkundige Trunkenheitsfahrt mit einer BAK von unter 2‰ hinter sich, während der BNV-Klient durchschnittlich eineinhalb Trunkenheitsfahrten aufzuweisen hat und seine maximal erreichte BAK bei 2,12‰ liegt - wie gesagt im Durchschnitt aller BNV-Klienten, teilweise waren die Werte viel höher, und 40% unserer Trunkenheitsfahrer fuhren mit mehr als 2,4‰.

Es ist hieraus erkennbar, dass das Klientel des TÜV geringer vorbelastet ist. Mit der geringeren Vorbelastung geht i. d. R. eine geringere Verfestigung von Fehlverhaltensgewohnheiten einher, und das erleichtert einen Therapieerfolg. Andererseits haben Menschen

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mit einer unkomplizierteren Vorgeschichte i. d. R. auch ein geringeres Problembewusstsein und entsprechend geringere Veränderungsbereitschaft. Dies erschwert das Erreichen eines Therapieerfolgs.

Die TÜV-Evaluation hat als "Kontrollgruppe" 460 Personen beobachtet, die auch an "Mainz 77" hätten teilnehmen dürfen, dieselben Voraussetzungen erfüllten, aber eben nicht teilnehmen, sondern - entsprechend der damaligen Rechtslage - ohne MPU am Ende ihrer Sperrfrist eine Fahrerlaubnis erhielten.

Bild 2: Erneute Auffälligkeiten binnen dreier Jahre nach Neuertei-lung

Sie sehen: dreieinhalb Prozent der von den evaluierten BNV-Mitgliedern therapierten Alkoholtäter wurden binnen dreier Jahren wieder auffällig, bei Mainz 77 waren es mehr als doppelt so viele, etwas unter acht Prozent, und bei den ungeschulten Personen war es sogar jeder siebte Fahrer, der mit seiner neuen Fahrerlaubnis wieder auffiel und sie i.d.R. wieder abgeben musste.

In klaren Zahlen, bezogen auf die untersuchten Gruppen: 16 BNV-Klienten fielen auf, 36 TÜV-Klienten fielen auf, 60 Ungeschulte fielen auf.

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Die Rückfallrate der BNV-Klienten ist signifikant unterschiedlich, und zwar zum besseren.

Soweit bisher Gruppenmaßnahmen evaluiert worden sind, auch solche mit Rechtsfolgen nach §70 FeV, liegt ihre Rückfallrate in der Größenordnung wie bei Mainz 77 oder sogar darüber. Einzelmaß-nahmen wie unsere sind bislang nur einmal evaluiert worden, und dabei ergab sich eine Rückfallhäufigkeit, die nicht geringer ist als die der BNV-Mitglieder, aber auch nicht nennenswert höher (2).

b) "Punktetäter und -täterinnen".

Bei ihnen gelten allgemeine Verkehrsauffälligkeiten als Rückfall, aber nicht Alkohol- oder Drogendelikte.

Viele unserer insgesamt 107 Punkteklienten sind wieder auffällig geworden mit allgemeinen Verkehrsverstößen, 37 von 107 Personen, was einem guten Drittel entspricht (34,58%).

Auf dem Expertengespräch der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) am 25.01.00 zum §70 der Fahrerlaubnisverordnung bestand weitgehend Einigkeit darin, dass im Gegensatz zu den alkoholauffäl-ligen Fahrern bei den Punktetätern nicht jeder Eintrag in Flensburg als Rückfall und damit als Beleg für das Nichtfunktionieren des entsprechenden Modells zu werten sei.

Auffälligkeit mit Verkehrsordnungswidrigkeiten ist auch nichts Seltenes. Am 31.12.2003 beispielsweise waren 4,727 Millionen Personen beim KBA eingetragen mit 1-7 Punkten. Diese Personen-zahl entspricht ungefähr 10% der deutschen Fahrerlaubnisinhaber.

Unsere Klienten sind also deutlich häufiger auffällig als der Durchschnittsfahrer. Die meisten unserer erneut auffälligen Punkteklienten sind mit mehreren Taten aktenkundig:

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Bild 3: Beim KBA verzeichnete allgemeine Verkehrsverstöße von BNV-"Punktetätern"

Dies kann eine Teilung in zwei Untergruppen bedeuten, deren eine unauffällig fährt und deren andere weiterhin beharrlich gegen Regeln verstößt und mehrere Einträge erhält. Das Fehlen eines breiten Mittelfeldes, einer Anzahl von Personen mit nur einem Verkehrsver-stosseintrag kann aber auch ein Artefakt sein, das von einer Unvollkommenheit unserer Untersuchung herrührt:

Es hat sehr viel Zeit gebraucht, bis wir mit dem KBA alle Daten-schutzfragen geklärt und Verträge unterzeichnet hatten. Das KBA hat die Aktenabfrage Anfang 2004 vorgenommen. Der Median der Zeit zwischen Therapieende und Neuerteilung einer Fahrerlaubnis beträgt 86 Tage. Der Beobachtungszeitraum, in dem Verkehrsver-stöße unserer Klienten gezählt werden sollten, soll ab der Neuertei-lung drei Jahre betragen und liegt somit in den Jahren 1998 bis 2002. Aufgrund der späten Abfrage ist es durchaus wahrscheinlich, dass viele Einträge getilgt sind von Klienten, die innerhalb des Beobach-tungszeitraums nur einmal auffällig waren und anschließend nicht mehr. Es ist weniger wahrscheinlich, dass Personen mit zwei oder mehr Auffälligkeiten die zwei Jahre Unauffälligkeit hinter sich haben, die zur Tilgung geführt hätte.

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Die Verkehrsverstöße, egal ob heute noch erkennbar oder getilgt, führten jedenfalls im Beobachtungszeitraum nicht zu Fahrerlaubnis-entziehungen. Laut KBA haben von den 107 Untersuchten der Kategorie "Punktetäter" nur zwei ihre Fahrerlaubnis entzogen bekommen, einer wegen Alkohols, einer aus nicht näher spezifizier-ten Gründen, die nach Ansicht des KBA aber nicht unseren Kriterien von erneuter Auffälligkeit entsprachen. Fahrerlaubnisentziehungen wären auf keinen Fall getilgt worden, so dass ihre Abwesenheit in den Akten des KBA als präzises Zeugnis des damaligen Geschehens gelten kann. Es ist bei den Punkttätern in keinem Fall zu einem solch massiven Rückfall in alte Muster gekommen, dass ein Fahrerlaubnisentzug die Folge war.

Bild 4: Verkehrsverstöße von BNV-"Punktetätern" binnen dreier Jahre

Fazit: Unsere Punkteklienten sind eindeutig häufiger auffällig mit Verkehrsverstössen als der "normale" Autofahrer. Verglichen mit ihrem früheren Verhalten im Verkehr scheint aber auch eine echte Verringerung von Verkehrsverstößen gelungen zu sein.

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c) "Mischtäter und -täterinnen". Bei ihnen werden alle bisher genannten Arten von Auffälligkeiten als Rückfall gewertet.

Es wurden 132 Therapien mit Mischtätern durchgeführt. Ähnlich wie die Punktetäter fallen viele Mischtäter mit Verkehrsverstößen - diesmal inklusive Alkoholverstößen - erneut auf, nämlich 18,94%. Wieder ist eine Zweigipfligkeit der Verteilung zu erkennen ("völlig unauffällig" vs. "gleich mehrmals auffällig"), die wie oben geschildert kaum zu interpretieren ist.

Bild 5: Beim KBA verzeichnete Verkehrsverstöße (inkl. Alkohol/ Drogen) von "Mischtätern"

Sechs von 132 Mischtätern haben Ihre Fahrerlaubnis verloren, das sind 4,55% und damit der höchste Anteil von all den bis jetzt beschriebenen Klientengruppen. Eine dieser Entziehungen konnte das KBA keiner Ursache zuordnen, aber fünf dieser Entziehungen beruhen auf Alkoholdelikten. Damit ist die Rate derer, die mit Alkohol ihre Fahrerlaubnis verlieren, bei den Mischtätern sogar geringfügig höher als bei den Alkoholtätern, nämlich 3,79%. Der Unterschied ist statistisch nicht signifikant.

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Bild 6: Die Rate der Verkehrsverstöße von BNV-"Mischtätern" binnen dreier Jahre

Erwähnt sei, dass die Mischtäter im Durchschnitt weniger Therapie-stunden absolviert haben als Alkoholtäter, obwohl sie nur etwas niedrigere BAKs aufweisen und obwohl sie mit ihren allgemeinen Verkehrsauffälligkeiten noch ein weiteres Thema mitgebracht haben. Die durchschnittliche maximale BAK bei Alkoholklienten betrug 2,13‰, bei Mischtätern betrug sie 1,78‰, das ist ein Unterschied von gut einem Drittel eines Promilles.

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Bild 7: Die durchschnittliche Anzahl von Therapiestunden verschiedener Klientengruppen

d) Gesamtklientel

Von 698 Therapierten, die das KBA in seinen Akten gesucht hat, haben binnen unseres Beobachtungszeitraums nur 23 ihre Fahrer-laubnis eingebüßt, das sind 3,3%. Das ist ein hervorragendes Ergebnis. Die Klienten sind mit der Seltenheit erneuter Führerschei-nentzüge näher an der Gruppe der bislang völlig unbescholtenen Fahrer als an der Gruppe der in Gruppenmaßnahmen geschulten anderen ehemals Fahrungeeigneten.

2. Die Bewährung verschiedener Untergruppen

Wir haben eine Vielzahl von Merkmalen erhoben und vom KBA die Wiederauffallenshäufigkeiten melden lassen, und es ist fast nichts Markantes herausgekommen, die Ausprägung der Merkmale hatte nichts Sichtbares mit der Rückfallrate zu tun. Es gibt keine Hinweise darauf, ob größere Versuchsgruppen signifikante Ergebnisse sichtbar machen würden. Das ist auf den ersten Blick frustrierend, für mich als Evaluationsbeauftragten und vermutlich auch für all die Kollegen,

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die diese vielen differenzierten Daten aus ihren damals schon geschlossenen Klientenakten herausgesucht und gemeldet haben.

Auf der anderen Seite ist dies ein unerwartetes und damit spannendes Ergebnis, da es anscheinend tatsächlich keine massiven Unterschiede zwischen Gruppen gibt, bei denen Unterschiede zu erwarten gewesen wären.

Angesichts der Niedrigkeit der Rückfallraten ist deren Gleichmäßig-keit eine gute Nachricht, denn sie bedeutet, dass anscheinend mit unterschiedlichen Personengruppen gut gearbeitet werden kann: mit Alten, mit Jungen, mit Frauen und Männern, mit Nachgeschulten und mit Uninformierten, mit massiv auffällig Gewesenen und mit Ersttätern. Als evaluierter Therapeut kann ich mich freuen, wenn ich erfahre, dass meine Kunst gleichzeitig vielseitig und haltbar ist.

Herausgegriffen seien aber die Rückmeldungen zum Merkmal "Therapieziel". Die Ähnlichkeit der Erfolgsraten der Ausprägungen "Abstinenz" und "Trinkkontrolle" sind so interessant wie ihre gemeinsame Unähnlichkeit mit der Ausprägung "keine Angabe".

Bild 8: Therapiezielnennungen der Therapeuten und Rückfallzahlen

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Bereits bei der Auswertung der von den Therapeuten eingereichten Daten war deutlich geworden, dass die Entscheidung für ein Therapieziel nicht aufgrund augenfälliger Kriterien getroffen wird. Z.B. haben die auf Abstinenz therapierten Personen eine durch-schnittliche maximale BAK von 2,11‰, während die auf "kontrol-liertes Trinken" therapierten Personen durchschnittlich eine maximale BAK von 1,95‰ gehabt hatten.

Bild 9: Therapieziele und durchschnittliche maximale BAK in der Vorgeschichte

Am ehesten korreliert die Therapiezielentscheidung mit Vorge-schichtsinformationen über die Anzahl der bekannten Trunkenheits-fahrten, MPUen und Nachschulungen: je mehr, desto weniger wahrscheinlich ein Therapieziel Trinkkontrolle.

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Bild 10: Therapieziele und die Anzahl von Begutachtungen in der Vorgeschichte

Aufgrund der nun vorliegenden Rückfallzahlen liegt der Schluss nahe, dass die Auswahl des Therapieziels - wie auch immer Klient und Therapeut sie treffen - praxistauglich ist. Auch wo bei hohen Promillewerten ein kontrollierter Umgang mit Alkohol zum Ziel gewählt worden ist, hat diese Lebensweise offensichtlich funktio-niert. Ich sehe in den Zahlen ein Plädoyer für die Suche nach individuellen Lösungen im Sinne der Begutachtungsleitlinien und ein starkes Argument gegen Pauschalierungen, wie man sie gelegentlich hört oder selber denkt, die da ungefähr lauten: "ab 2,2‰ vertraue ich nur auf Abstinenz".

Bei der obigen Tabelle (Bild 8) fällt auch auf, wie viele Auffälligkei-ten von den wenigen Klienten gezeigt wurden, deren Therapeuten in unserer Untersuchung kein Therapieziel benannt hatten. Ich will dies Phänomen mit der angemessenen Vorsicht diskutieren:

Der Unterschied zwischen den Gruppen "Therapeut benennt Ziel" und "Therapeut benennt kein Ziel" kann ein reiner Zufall sein- auch wenn es im Chi-Quadrat-Test hochsignifikant, mit einer 1-Prozentigen Irrtumswahrscheinlichkeit, danach aussieht, dass sich die Klienten der schweigenden Therapeuten weniger gut bewährt hätten.

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Warum hier trotz hoher Signifikanz ein Zufall vorliegen kann, will ich kurz beschreiben: das KBA hat uns 19 Tabellen geschickt mit circa 300 voneinander unabhängigen Zahlen. Es wäre ein Wunder, wenn ein aufmerksamer Betrachter in einer solchen Menge Daten nicht die eine oder andere Stelle fände, die interessante Kontraste aufweist - selbst wenn die Daten gar nicht echte Menschen beträfen, sondern mit der Lottomaschine erzeugt worden wären.

Der seriöse Umgang mit einem Fund wie dem obigen, ist also, ihn als Anlass zum Nachdenken, zur Diskussion, zum Bilden von Hypothesen zu nehmen, und ihn nicht für eine Perle der Gewissheit zu halten, auf die man gestoßen ist und die man für alle Zeiten behalten darf.

Die Hypothese könnte lauten: "Therapeuten, die im Rahmen ihrer Evaluation ihre jeweiligen Therapieziele offenbaren können und wollen, haben mehr Klienten, die sich an diese Ziele halten können und wollen".

Ob und wie wir dieser Hypothese im nächsten Durchgang einer Evaluation nachgehen werden, lasse ich offen. Ein Prüfen der Hypothese wird in jedem Fall Zeit brauchen, und vielleicht finden Sie ohnehin eine qualitative Auseinandersetzung mit dem Gedanken ergiebiger als seine statistische Absicherung. Ihre Meinungen dazu sind willkommen.

3. Unterschiede zwischen evaluierten Therapeutinnen und Thera-peuten

Die Therapeutinnen und Therapeuten unterscheiden sich natürlich mit ihren Rückfallzahlen, aber die Zahlen sind einander insgesamt zu ähnlich, als dass man signifikante Unterschiede der Arbeitsqualität aus ihnen ableiten könnte. Als anschauliches Beispiel: jeder, der genug Punktetäter hatte, um eine Rückmeldung des KBA zu bekommen, hat mindestens einen Rückfall gemeldet bekommen.

Auch Unterschiede zwischen verschiedenen Arten von Praxen springen nicht ins Auge, wie etwa, dass große Praxen anderen Erfolg hätten als kleine oder Therapeutinnen andere Erfolgsraten hätten als Therapeuten.

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Dies ist eine große Überraschung für uns gewesen. Wir waren darauf eingestellt, Kollegen mit sehr vielen Rückfallern zu identifizieren und hatten uns schon Gedanken gemacht, wie wir den nötigen Transfer von Know-How von den sehr Guten zu den eindeutig weniger Guten dezent und würdevoll und gleichzeitig wirksam organisieren könnten - sehr schwierig, da vertragsgemäß ich der einzige bin, der die Rückfallzahlen aller einzelnen Praxen sehen darf.

Nun stehen wir in der - zugegeben sehr angenehmen - Pflicht, die große Homogenität sehr guter Arbeit erklären zu müssen. Im Lichte obiger Gedanken über das Offenbaren von Therapiezielen und als Humanist halte ich den kollegialen freimütigen Austausch zwischen BNV-Mitgliedern für qualitätsfördernd und vereinheitlichend. Die Bereitschaft, sich mitzuteilen, auch und gerade im Wissen, dass man eventuell mit Misserfolgen sichtbar wird, und die Fähigkeit zu präziser Mitteilung, machen möglicherweise bessere Therapeuten aus uns. Und, übrigens: Offenheit, präzises Bekenntnis zum eigenen Tun - das ist ja auch das, was wir von unseren Klienten fordern.

1 Birnbaum, D. et al.,: "Evaluation des Nachschulungskurses ‚Mainz 77'", Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht, 2002 Heft 4, S. 164-170

2 Die Evaluation der Langzeitrehabilitation der IVT-Hö wurde als Forschungsprojekt von 1986 bis 1993 durch die Bundesanstalt für Straßenwesen wissenschaftlich begleitet (3,6 % Rückfälligkeit in den ersten drei Jahren nach Wiedererteilung der Fahrerlaubnis).

Dipl.-Psych. Rüdiger Born BNV-Geschäftsführer Börnestr. 34 22089 Hamburg Tel.: 040-27873810 E-Mail: [email protected] www.bnv.de

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Dr. Bernd P. Rothenberger

Was macht die BNV-Therapien wirksam? Brücken bauen - Nahtstellen nutzen - Veränderungen verwirklichen Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste, 1. Gestern hörten Sie von Kollege Sohn und von Kollege Born etwas über die Entstehungsgeschichte und die Interpretation der Daten, die wir in der BNV-Legalbewährungsstudie gewonnen haben.

Heute werde ich Ihnen über Ihre praktische Arbeit berichten, die Sie alle tagtäglich vor Ort leisten, um die Legalbewährungsdaten (LBD) des KBA wieder dorthin zurückzubringen, von wo sie hergekommen sind: von Ihrer Praxis - und nun sollen sie wieder in Ihre Praxis zurückgebracht werden. Ich werde deshalb einen praktischen Vortag im eigentlichen Sinne des Wortes "Praxis" halten, nämlich: aus der Praxis für die Praxis. Aus der Praxis Ihrer bisherigen Arbeit als BNV-Mitglied vor Ort - für die Praxis ihrer zukünftigen Arbeit als BNV-Psychologe. Speziell für die Absicherung Ihrer psychologischen Praxisform therapeutisch angewandter Verkehrspsychologie und für Ihre Existenzsicherung als Praxisinhaber. 2. Es geht mithin nicht um - Theorie und Repräsentation von verkehrspsychologischer Praxis

im Spiegel empirischer Daten, - Interpretation der Ergebnisse der Legalbewährungsdaten, - unsere Klienten und ihr Verkehrsverhalten, - uns Therapeuten und unsere wissenschaftliche Praxis klinischen

Handelns. Viel mehr, es geht um viel-mehr (als Wissenschaft): - es geht um das von uns selbst entwickelte Praxisparadigma rechtlich und therapeutisch angewandter Verkehrspsychologie,

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- es geht um die Explikation dessen, was in der Praxis des BNV-Verkehrspsychologen wirksam geworden ist und was tatsächlich geschehen ist, weil die Evaluations-Daten belastbar sind, weil in ihnen der Hinweis auf eine erst noch zu entwickelnde Theorie steckt, und weil die Daten selbst nur das Ergebnis eines Prozesses enthalten, der als Prozess von erfolgreicher Veränderung noch nicht genügend verstanden ist,

- es geht um das Selbstverständnis von uns als BNV-Therapeuten und damit, präzise gesagt, um das Praxisparadigma einer Verkehrspsycho-logie, die in einer einseitigen und nicht mehr reziprok gedachten Verantwortungsbeziehung angewandt wird. Damit soll die Präsenz und die Produktion von Recht, Gesundheit und Verkehrsicherheit unserer Klienten dort in den Mittelpunkt gerückt werden, wo sie ihre größtmögliche Entfaltung bekommen kann: nicht in den BNV-Praxen allein, sondern außerhalb unserer Praxen, in den Emotionen und Verhaltensgewohnheiten unserer Klienten und auf den Straßen und Plätzen in unserem Land.

Von diesem praktischen Geist, der in den Daten steckt, der aber aus der verkehrspsychologischen Praxis eines jeden BNV-Mitglieds stammt, will ich Ihnen heute morgen erzählen.

Dabei geht es mir um folgendes: Die bundesweit organisierte und bewusste Praxis einer verkehrspsychologischen Therapeutik soll als eine Erfolgsgeschichte begriffen werden, die sie von den Augenblick an wurde, als Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, in Ihren BNV-Praxen begonnen haben, ihr psychotherapeutisches Wissen im rechtswirksamen Einklang mit ihrem verkehrspsychologischem Wissen in den Dienst der Verkehrsicherheit zu stellen.

In meinem Vortrag will ich aber noch einen Schritt weiter gehen und die Erfolgsgeschichte der BNV-Therapien mit dem Erfolg der berufspolitischen und berufspraktischen Arbeit des BNV in Verbindung bringen. Mit der bundesweiten Institutionalisierung und Evaluation der Praxisform therapeutisch angewandter Verkehrspsy-chologie haben wir ein neues Praxisparadigma für den klinisch tätigen Verkehrspsychologen etabliert. Und genau dies scheint mir das wichtigste Ziel zu sein, das wir mit unserer BNV-Studie erreicht haben.

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Mit dem Abschluss unserer BNV-Legalbewährungsstudie verfügen wir nun über den Nachweis, dass wir ein wirksames verkehrspsycho-therapeutisches Leistungsangebot haben. Ein Angebot, das nicht nur auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, sondern das auch - zunächst einmal ganz unspezifisch ausgedrückt - eine erfolgreiche "verkehrspsychologischen Therapeutik" im Rechtssystem der Kraftfahreignung ermöglicht, die sich in der Praxis der Teilnahme am Straßenverkehr legal bewährt hat.

Wir dürfen deshalb wirklich stolz sein, dass wir nicht nur ein wissenschaftlich fundiertes, sondern - mit dem Vorliegen unserer Legalbewährungsstudie - heute auch ein legal bewährtes Praxispara-digma zur Verfügung zu haben. Bildlich gesprochen ist damit unsere Praxisform, die in den 80iger Jahren zur Welt kam, vielleicht noch nicht volljährig und erwachsen geworden. Mindestens aber ist sie "konfirmiert" worden, und sie hat damit die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Welt des Rechts geschafft.

Das permanente Staunen über die Homogenität und die klinische Eindeutigkeit der LB-Daten von verkehrspsychologischer Therapie

Es erstaunt mich immer wieder neu, was die Legalbewährungsdaten des KBA den an der BNV-Studie beteiligten verkehrspsychologi-schen Praxisinhabern klar und eindeutig zeigen:

1. Individuell durchgeführte verkehrspsychologische Therapie im BNV-Rahmen ist wirksam und zwar bei allen Untergruppen alkoholauffälliger Autofahrern extrem hoch (97%), sehr hoch bei sogenannten Mischtätern (88%) und hoch (66%) bei sog. Punktetä-tern.

2. Verkehrspsychologische Therapie ist nachhaltig, über drei Jahre hinweg, wirksam.

3. Verkehrspsychologische Therapie scheint auf das störungsspezifi-sche Erfolgskriterium bezogen statistisch wirksamer als konventio-nelle psychologische Psychotherapieformen. Im Gegensatz zu einer statistischen Wirksamkeit (effectiveness) psychologischer Therapien von 80 bis 85%, weist die BNV-Therapie eine klinische Wirksamkeit von ca. 97% auf, wobei zu sagen ist, dass die klinische (efficacy) immer unter der statistischen Wirksamkeit liegt

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4. Verkehrspsychologische Therapie führt nach den vorliegenden Daten zu homogenen Ergebnissen bei unterschiedlichen psychothe-rapeutischen Verfahren (PA, TP, VT, GT und eklektisch) und bei unterschiedlichen Therapeutenvariablen (Einzelkämpfer, Praxiszu-sammenschlüsse; Alter, Geschlecht, Länderdifferenz, professionelle Erfahrung, persönliche Werte u.a.).

Wir wissen jedoch nicht, warum das so ist. Speziell Punkt drei und vier sind noch völlig offen. Ich komme darüber ins Staunen und so muss ich innehalten und nachfragen:

- Was ist mit den Ergebnissen der BNV-Studie zweifelsfrei bewiesen?

- Was darf man aus den Ergebnissen der LB-Daten für die Praxis des psychotherapeutisch tätigen Verkehrspsychologen schlussfolgern? Die Beweise:

Aus der allgemeinen Psychotherapieforschung (Brown, 2004; Lambert, 2004; Project MATCH, 1997) insgesamt wissen wir bei geringeren Erfolgsquoten:

- Psychotherapie ist wirksam, auch bei Störungen durch Alkohol (Grawe, u.a 1994, Emmelkamp, 2004),

- es gibt wirksame und unwirksame Therapieverfahren in der Behandlung von Alkohol. Nicht nur in den USA und Kanada, auch in anderen Ländern der Erde werden immer noch unwirksame Alkoholtherapien angewandt. (Brown, 2004. Grawe, u.a. 1994),

- ihre Wirkung lässt sich nicht als Spontanremission erklären, sondern ist nachhaltig. (Grawe, 1994, Brown, 2004),

- Alkoholismus ist keine besondere Störung, sie muss auch nicht in dem besonderen setting der Suchttherapie behandelt werden. Vielmehr unterliegt sie wie jedes andere Verhalten auch den bekannten psychologischen Regeln der Verhaltens- und Einstellungs-änderung (Grawe, 1994, Emmelkamp, 2004),

- wird die Alkoholtherapie - wie im Project MATCH (Matching Alcohol Treatment to Client Heterogeneity) - korrekt und mit klaren Zielen angewandt, kann die Wirkung höher sein als bei konventioneller Psychotherapie. (Brown, 2004).

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2. Die bloß theoretische Erklärung für das dritte und vierte Ergebnis der BNV-Studie muss aus praktischer Sicht als beschränkt bewertet werden. Erstens, weil die Ergebnisse und Methoden der Psychothe-rapieforschung allein noch keine normative Wahrnehmung des Alkoholproblems und der Teilnahmebedingungen am Straßenver-kehr ermöglichen und zweitens, weil auch nicht mit Mitteln der Psychotherapieforschung ein Zugang zur Subjektivität des Klienten eröffnet werden kann, von dem aus mit ihm ein lebensgeschichtlich bedeutsames Gespräch über seine Trinkmotive sowie ein rechtliches Verantwortungsgespräch über sein Fahrverhalten begonnen werden können (Slife, in Lambert, 2004).

Die Schlussfolgerungen aus der Studie für die Praxis

Die Ergebnisse der Wirksamkeit von im BNV-Rahmen stattfinden-den verkehrspsychologischen Therapie könnten zu der Erwartung führen, dass alle, die an der Studie teilgenommen haben, zur Verbesserung der Verkehrsicherheit mithilfe aller ihrer unterschied-lichen psychologischen Methoden beigetragen haben.

Diese Ergebnisse nähren aber auch zugleich den Zweifel, ob diese Ergebnisse allein mit verkehrspsychologischen Mitteln oder therapeutischen Methoden erreicht wurden.

Die Schlussfolgerung aus den vorliegenden Daten könnte lauten:

- wenn alle an der Legalbewährungsstudie des BNV beteiligten Teilnehmer mit ihren unterschiedlichen Therapeutenvariablen die gleich guten Ergebnisse erzielt haben (Homogenitätsparadoxon) und

- wenn alle Teilnehmer die extrem hohe klinische Wirksamkeit in den LBD aufweisen (klinisches Paradoxon),

- dann müssen alle BNV-Teilnehmer offensichtlich etwas richtig gemacht haben.

Die atemberaubende Höhe der Legalbewährung kann jedoch den eigentlichen Punkt nicht klären, der mit der Frage verbunden bleibt:

Was ist das, was die Teilnehmer an der BNV-Studie richtig gemacht haben?

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Kann der Inhalt der therapeutischen Arbeit und der Charakter dessen, was die Teilnehmer richtig gemacht haben, allein nur durch empirisch-analytische Psychotherapieforschung begriffen werden?

Die Studie zeigt nun, dass alle Therapeuten in ihrer Arbeit im verkehrspsychologischen Setting die gleich hohe klinische Wirksam-keit aufweisen. Das ist das, was ich das Homogenitätsparadoxon genannt habe. Denn wenn unterschiedliche Psychotherapeuten mit unterschiedlicher therapeutischer Orientierung bei unterschiedlichen Klienten unterschiedliche Methoden anwenden, dann müsste nach klinischer Erfahrung Unterschiedliches, nämlich Unähnliches und Differentes dabei herauskommen. Eben dies ist jedoch nicht der Fall. Daraus ist zu folgern, dass es keine nur (wissenschafts-) theoretisch und/ oder methodologisch begründeten Variablen sein können, die das verkehrspsychologische Homogenitätsparadoxon konstituieren.

Ich vermute nun, dass wir es bei den BNV-Mitgliedern nicht um unterschiedliche verkehrspsychologische Psychotherapeuten mit unterschiedlichen Orientierungen zu tun haben. Vielmehr unterstelle ich genau das Gegenteil. Ich vermute, dass wir es mit einer Gruppe verkehrspsychologischer Psychologen zu tun haben, die ein gemeinsam getragenes berufliches Selbstverständnis, einen bestimm-ten verkehrspsychologisch informierten Arbeitsstil und ein gemeinsames Setting von rechtlich vorgegebenen Rahmenbedingun-gen miteinander teilen. Mithin haben wir es mit einer Gruppe zu tun, die eine gemeinsame, wenn auch noch nicht vollständig begriffe Praxis der "Verkehrstherapie" miteinander teilen, die jedoch als "Praxisparadigma" schon seit über 15 Jahren existiert und in dieser Zeit sich als in ihrer Praxis wirksam erwiesen hat..

Wenn nun mit Hilfe des Modells gemeinsamer Faktoren gezeigt werden kann, dass auch der Einfluss von Variablen der Therapeut-Klienten-Beziehung wie auch der von anderen gemeinsamen Faktoren der Behandlung minimal bis vernachlässigbar ist, dann bleiben für eine Erklärung nur noch außertherapeutische Variablen übrig, wie gesellschaftliche und ökonomische Rahmenbedingungen. Oder aber, als Gemeinsamkeit, die die Homogenität der Ergebnisse erklären könnte, bleibt die Stärke der moralischen oder rechtlichen Werte und Einstellungen der Klienten (ihre aktuelle Verkehrsmoral) und das in der Praxis verwirklichte berufliche Ethos der BNV-Teilnehmer (ihr aktuelles professionelles Selbstverständnis) übrig.

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Mögliche Auflösung des Paradoxons

Um das verkehrspsychotherapeutische Paradoxon auflösen zu können, müssen wir eine doppelte Aufgabe bewältigen. Wir müssen begreifen lernen, dass es sich bei unseren LB-Daten um rechtliche Daten handelt, die einen Zirkel von objektiven Tatbeständen einerseits und von Normen und Rechtsgesetzen andererseits konstituieren - und eben nicht in erster Linie um psychologische Daten.

(Und genau hier, in dieser Gleichzeitigkeit der Differenz von verkehrsrechtlicher Norm und verkehrspsychologischem Sachver-halt liegt ihr rechtliches und ihr verkehrspsychologisches Gewicht€)

Theoretisch betrachtet geht es bei den LB-Daten um psychologisch-rechtliche Daten. D.h. anders ausgedrückt, es geht um gemischte empirisch-normative Daten. Dies habe ich auf dem letzten, dem 38. BDP-Kongress in Regensburg ausgeführt.

Was also steckt nun in den Legalbewährungsdaten, wenn wir sie nicht nur als empirische, sondern als zugleich empirische und normative Daten begreifen?

Mit dem Faktum ihrer Legalbewährung dokumentieren unsere Klienten dem Gesetzgeber, der Polizei, den anderen Verkehrsteil-nehmern, aber vor allem auch sich selbst, dass sie sich im Straßen-verkehr legal, d.h. tatsächlich (effektiv) rechtlich korrekt verhalten haben, und dass sie zu Recht zur Teilnahme am Straßenverkehr wieder zugelassen wurden.

Mit dem Faktum der Wirksamkeit und Nützlichkeit unserer Therapien im BNV-Rahmen dokumentieren wir verkehrspsycholo-gischen Therapeuten, dass wir fähig und bereit sind, (erstens) das Verkehrsrecht mit verkehrspsychologisch-therapeutischen Mitteln zu verwirklichen (ein Praxisparadigma der "Verkehrsrechtspsycho-logie" haben) und (zweitens) Verantwortung für unsere Klienten und ihr Fahrverhalten zu übernehmen, genauer eine einseitige Verant-wortungsbeziehung (Hans Jonas, Emmanuel Levinas) zu unseren Klienten aufrechtzuerhalten, damit diese fähig und bereit werden, sich für ihr Verkehrsverhalten rechtlich verantwortlich zu fühlen.

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Wie wir das machen, kann nicht mehr Inhalt des jetzigen Vortrags sein.

Welche Schlussfolgerungen müssen wir aus der Anerkennung des Umstands ableiten, dass wir es in unserer Praxis mit unverwickelt empirisch-normativ gemischten Daten zu tun haben?

Als therapeutisch tätige Verkehrspsychologen sind wir im Gegensatz zu psychologischen Psychotherapeuten nicht mehr frei in der Zielbestimmung unserer Therapien; vielmehr folgen wir in unserem gesamten beruflichen Handeln dem Verkehrsrecht, das uns auch vorschreibt, welche Ziele wir erreichen müssen, wollen wir Erfolg haben. Damit zwingt uns das Recht, erfolgreich und wirksam zu sein, insofern wir uns am Recht orientieren und es nicht allein nur in der Person unseres Klienten auch durchsetzen, sondern zuallererst in einer Verantwortungsbeziehung mit ihm auch aktuell verwirklichen, d.h. klinisch wirksam werden lassen. Es sind mithin auch das Recht und die bestehenden Gesetze und nicht nur die Freiheit des therapeutischen Handelns und die psychologischen Gesetzmäßigkei-ten, die die Wirksamkeit unserer verkehrspsychotherapeutischen Maßnahmen begründen.

Damit haben wir nun einen Zugang gefunden, das verkehrspsycho-logische Paradoxon aufzulösen, wonach die klinische Wirksamkeit der verkehrspsychologischen Therapien im BNV-Rahmen bei weitem die klinische Wirksamkeit psychologischer Psychotherapien übertrifft. Die verkehrsrechtlichen Ziele sind mit verkehrspsycholo-gischen Mitteln gut, überraschend gut erreicht worden. Die Bereitschaft vormals auffällig gewordener Verkehrsteilnehmer, sich in ihrem Fahrverhalten an den bestehenden Verkehrsregeln zu orientieren, ist in einem Ausmaß gewachsen, das weit die Erwartun-gen übertroffen hat, die an die Wirksamkeit konventioneller psychologischer Therapien gestellt werden.

4. Fünf unerledigte Aufgaben

Ich weise auf fünf zentrale Aufgaben hin, die im Zusammenhang mit der BNV-Studie noch zu erledigen sind. Wir erkennen diese unerledigten Aufgaben, sobald wir die Ergebnisse der BNV-Studie auch in ihren normativen Implikationen (Voraussetzungen und Wirkungen) begriffen haben.

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Bedenken wir: Legalbewährungsdaten (LBD) wurden wohl in der verkehrspsychologischen Praxis gesät. Gewachsen aber sind sie allein im Prozess der Straßenverkehrsteilnahme. Erstmalig produziert wurden sie in der Datenverarbeitung, die im KBA in Flensburg erfolgte. Die Datengewinnung durch das KBA kostete die BNV-Mitglieder sehr viel Geld. Doch die LBD sind nicht nur in unserem Interesse, wie ich gleich zeigen werde.

1. Als straßenverkehrsrechtlich sensible Daten sind die Legalbewäh-rungsdaten (LBD) vor allem im Interesse der Aufrechterhaltung und Erhöhung der Verkehrssicherheit. Sie dienen damit nicht nur der Verbesserung der verkehrspsychologischen Praxis der BNV-Mitglieder, sondern auch der Verbesserung der Verkehrssicherheit.

Daraus leite ich die erste unerledigte Aufgabe ab, die auf eine Verbesserung der Zusammenarbeit von Verkehrsrecht und Verkehrspsychologie abzielt: Die Verkehrspolitik möge uns Verkehrspsychologen unterstützen und das KBA eventuell um Amtshilfe bitten, wenn es um die Gewinnung neuer LB-Daten aus verkehrspsychotherapeutischen Maßnahmen geht.

2. Wenn und insofern es sich bei den LBD um wahrhaft gemischte Daten aus dem verkehrspsychologischen und dem verkehrsrechtli-chen Praxisfeld handelt, dann bilden sie zwangsläufig nicht nur den verkehrspsychologischen oder den psychotherapeutischen Gegens-tandsbereich ab. Vielmehr verkörpern die Daten auch die Problema-tik - sowie die Lösungsperspektive - in der Beziehung von Verkehrs-recht und Verkehrspsychologie.

Daraus leite ich die zweite unerledigte Aufgabe ab, die an die verkehrspsychologische Wissenschaft und die Rechtspraxis geht. Die spannende und spannungsreiche Beziehung von angewandter psychologischer Wissenschaft und Rechtspraxis muss ihrem Wesen nach als solche und zwar konstruktiv begriffen werden. Wie ich gezeigt habe, kann sie in der Praxisform einer Verkehrsrechtspsycho-logie, die ihren psychologischen Beitrag leistet, das Verkehrsrecht zu verwirklichen, auf den Begriff gebracht werden.

Wenn nun die Verkehrspsychologen von den Juristen - zu Recht - ihre Ziele übernehmen, dann wären auch die Verkehrsrechtler gut beraten, sich von den verkehrspsychologischen Ergebnissen, die die

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verkehrspsychologische Praxis und den Prozess der Erreichung oder Nichterreichung der rechtlichen Ziele beschreiben, in ihrem Denken und Handeln korrigieren zu lassen.

Doch so einfach liegen die Dinge nicht in der Beziehung von Recht und Psychologie. Da das bestehende Gesetz immer das Gesetz ist und sich von der Wirklichkeit nicht korrigieren lassen muss - sondern gerade umgekehrt, die Wirklichkeit sollte dem Recht folgen - geht es vor allem darum:

Die Stimme der Verkehrspsychologie sollte nicht nur nachträglich und dann gehört werden, wenn die Juristen empirisches Wissen aus Psychologie und Nachbarwissenschaften benötigen, um ihre Urteile realistisch und sachlich korrekt fällen zu können. Die Verkehrspsy-chologen sollten auch zukunftsorientiert, im Sinne eines Politikbera-tungsprozesses, auf die Verbesserung des Verkehrsrechts angemessen Einfluss nehmen können.

3. Weil es sich bei den LBD des BNV um verkehrspsychologisch bereichsunspezifische Daten handelt und sofern jede verkehrspsycho-logische Therapie an ihrem Ende von einem Gutachter begutachtet wird, verweisen die LBD auch auf die Schnittstellenproblematik von Förderern und Gutachtern der Kraftfahreignung.

Wir haben in den letzten Jahren schon viele Erfahrungen an den Schnittstellen von Therapie und Begutachtung der Fahreignung gemacht, so dass ich mich hier nur kurz fassen kann. Die unerledigte Aufgabe, die zu lösen an die Kollegen Gutachter geht, ist eine doppelte:

a) Zunächst mochte ich Gutachter und Therapeuten zur Redlichkeit aufrufen, indem ich an die gewonnene Einsicht erinnere. Die LB-Daten beweisen wohl eindeutig und zweifelsfrei, dass die Therapien im BNV-Rahmen in der "Welt draußen", in der Anpassung vormals auffälliger Verkehrsteilnehmer an die Regeln im Straßenverkehr wirksam sind. Daraus aber die Schlussfolgerung zu ziehen, alle Teilnehmer hätten in ihren Praxen alles richtig gemacht, wäre falsch. Ich weise hier auf einen Fehlschluss hin, den ich den "klinischen Fehlschluss" nennen möchte. Wir Therapeuten machen ihn im Umgang mit unseren Patienten häufig und mit großem Engagement: "Wer heilt, hat Recht." Daraus folgern wir: " Wer erfolgreich geheilt

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hat, muss folglich etwas richtig gemacht haben". Daraus wird dann gefolgert: "Weil ich erfolgreich war, muss ich alles richtig gemacht haben."

Tatsache bleibt aber, dass wir trotz hervorragender LBD nicht wissen und auch nicht wissen können, was wir in unseren verkehrs-psychologischen Praxen tun, außer wir würden darüber fachöffent-lich reden, was wir jedoch in den bestehenden AK bundessweit und länderbezogen schon begonnen haben.

b) Und jetzt nur noch zu den Kollegen Gutachtern gesprochen: ich habe behauptet, dass die LB-Daten des BNV auch auf die immer noch ungeklärten Spannungen in den beruflichen Beziehungen von Gutachtern und Förderern der Fahreignung verweisen.

Daraus folgt zwingend die dritte unerledigte Aufgabe, die direkt an die Träger von BfF geht. Die einzelnen Träger mögen sich auf eine gemeinsame Studie einigen und mit der BNV-Studie direkt vergleichbare LBD aus dem KBA vorlegen und sie fachöffentlich zur Diskussion zu stellen. Denn nur dann, wenn wir in der Lage sind die LBD von Förderern und Gutachtern miteinander zu vergleichen, können wir auch Hypothesen entwickeln, wie wirksam die Bedingung "Begutachtung der Fahreignung ohne Förderung" im Vergleich zu "Begutachtung der Fahreignung mit Förderung" ist. Dann können wir auch versuchen den rein verkehrspsychotherapeu-tisch Anteil an den LBD zu bestimmen, der allein auf das Konto der Arbeit der Förderer geht.

4. Die vierte noch unerledigte Aufgabe geht an die BNV-Mitglieder und an weitere verkehrspsychologisch tätige Praxisinhaber, im Bemühen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und die Praxisinhaber zukunftsfähig zu machen.

Die Daten zeigen auch in unsere berufliche Zukunft und weisen auf den Teil hin, den wir in unserer verkehrspsychotherapeutischen Arbeit richtig gemacht haben. Darauf lässt sich eine stabile berufliche Identität gründen und daraus ein professionelles Selbstverständnis entwickeln, das aber noch, wie ich gezeigt habe, in einem Praxispa-radigma explizit gemacht werden muss. Denn wir wissen immer noch nicht, was wir tun. Wir sind aber in die glückliche Lage

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gekommen, uns - wie es gute Therapeuten immer machen - konstruktiv und lösungsorientiert zu fragen:

"Wie machst du das, dass sich deine Klienten so nachhaltig ändern?" - "Was genau machst du und wie schaffst du es, deine Klienten so zu motivieren, dass sie sich nicht nur in ihren Einstellungen und ihrem Bewusstsein, sondern auch in ihrem Fahrverhalten im Straßenver-kehr in so hohem Maße verändern?"

Die klare Botschaft, die in der unerledigten Aufgabe steckt, die Zukunftsfähigkeit aller verkehrspsychologisch tätigen Praxisinhaber zu sichern, ist einfach. Sie geht als Bitte an Sie, an jedes einzelne BNV-Mitglied: Bitte machen Sie bei der nächsten LB-Studie des BNV mit und beteiligen Sie sich an jeder anderen vom BNV vorgeschlage-nen Evaluationsstudie€

5. Die fünfte und letzte noch unerledigte Aufgabe beruht auf der im politischen Bereich trivialen Idee: nach dem Kongress ist vor dem Kongress.

Diese Aufgabe geht an den BNV-Vorstand und speziell an die nächste Kongress-Vorbereitungs-Gruppe. Für den zweiten BNV-Kongress möchte ich als Thema vorschlagen die Auseinandersetzung mit der praktischen und der verkehrsrechtlichen Dimension unserer verkehrspsychotherapeutischen Arbeit und zwar auf einer cross-nationalen, europäischen Ebene. Warum?

Es ist das Recht, das uns als Therapeuten bindet und damit unsere Praxis wirksam macht. Und es ist die rechtliche Verantwortung gegenüber Recht und Gesetz, die unseren Klienten hilft, ihren Führerschein wieder zu erwerben und auch zu behalten. Es ist nicht die therapeutische Freiheit, die uns erlauben würde, für unsere Patienten alles menschenmöglich Erwartbare und therapeutisch Erprobte zu tun, solange wir ihnen nur nicht schaden, und sie entweder gesund machen oder ihnen helfen, ihren Führerschein zu behalten.

Letzter Satz und to-take-home-Botschaft:

Die BNV-Studie zeigt, dass die Therapien im BNV-Rahmen eine Erfolgsgeschichte der vereinigten Praxis von Verkehrspsychologie

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und Verkehrsrecht darstellen. Unser Praxisparadigma einer verkehrstherapeutischen Rechtsverwirklichung, das vor Jahren durch Sie hier - in ihren Praxen - zur Welt kann, ist heute "konfirmiert" und in die erwachsene Welt des Rechts aufgenommen. Erwachsen aber muss es erst noch werden.

Die legale Bewährung unserer Arbeit im Straßenverkehr sowie die klinische Wirksamkeit unserer Arbeit in unseren Praxen liegen in unserem beruflichen Ethos als BNVler begründet und in der Klammer einer einseitigen Verantwortungsbeziehung, die wir um die beiden Verhaltensprobleme von "Verkehrsicherheit" und "Fahrver-halten" legen. Diese rechtliche und verantwortungsethische Klammer ist das missing link zwischen der Praxis der Förderung (und auch der Begutachtung?) der Fahreignung und der Realität des Fahrverhaltens im Straßenverkehr. Literatur:

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Carson, D.: Psychology and Law. A Subdiscipline, an Interdisciplinary Collaboration or a Project? In: Carson, D. and Bull, R. (Ed.), 2003, S. 1 - 30.

Carson, D. and Bull, R. (Ed.): Handbook of Psychology in Legal Contexts. John Wiley&Sons, 2003.

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Emmelkamp, P. M. G.: Behavior Therapy with Adults, in: Lambert, M. J. (Ed.) Bergin and Garfield`s Handbook of Psychotherapy and Behavior Change, 2004, S. 393 - 446.

Grawe, K., Donati, R., Bernauer, F.: Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession. Göttingen: Hogrefe, 1994.

Hubble, M.A., Duncan, B.L., Miller, S.D.: The Heart & Soul of Change. What works in Therapy? APA: Washington, DC, 1999.

Jonas, H.: Prinzip Verantwortung. Frankfurt: Insel-Verlag, 1989 (speziell Kapitel III und S. 172 - 184)

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Levinas, E.: Jenseits von Sein und anders als Sein geschieht. Freiburg, München: Verlag Karl Alber 1992.

Mary McMurran (Ed.): Motivating Offenders to Change. A Guide to Enhancing Engagement in Therapy. John Wiley Sons, 2002.

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Petrucci, C.J., Winick, B., J. and Wexler, D.B. Therapeutic Jurispru-dence: An Invitation to Social Sciences, In: Carson and Bull (Ed.): Handbook of Psychology in Legal Contexts, 2003, S. 579 - 604.

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Slife, B. D.: Theoretical Challenges to Therapy Practice and Research: The Constraints of Naturalism, in: Lambert, M. J. (Ed.) Bergin and Garfield`s Handbook of Psychotherapy and Behavior Change, 2004, S. 44 - 83.

Dipl.-Psych. Dr. Bernd P. Rothenberger Vorstandsvorsitzender des BNV Spitalwaldweg 2 73733 Esslingen 0711-9325900 E-Mail: [email protected] www.bnv.de

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Frank-Roland Hillmann

Fahrerlaubnisentziehung aus rechtlicher Sicht

1. Verkehrstherapie und MPU müssen sein!

Auch aus der Sicht eines Rechtsanwaltes ist der Betroffene aus-schließlich Opfer seines eigenen Handelns. Wer unter Alkohol- und/oder Drogeneinfluss ein Fahrzeug führt oder sich als Verkehrs-rowdy aufführt, handelt sich selbst und anderen gegenüber in höchstem Maße verantwortungslos. Er bedarf dringend einer Änderung seiner Einstellung zu diesem Problembereich. Deshalb ist die Verkehrstherapie und die anschließende MPU-Begutachtung ein wichtiger Beitrag zur Verkehrssicherheit.

2. Verkehrstherapie

Eine Verkehrstherapie ist vielleicht sogar das einzige sinnvolle Instrument, einen Alkohol- oder Drogentäter bzw. einen notori-schen Verkehrsrowdy zu therapieren.

Vorraussetzung ist allerdings, dass sich nicht jeder Psychologe oder gar Nichtpsychologe selbst zur Durchführung verkehrstherapeuti-scher Maßnahmen berufen kann, sondern dass es einer Zulassung nach einer gesonderten Spezialausbildung bedarf. Dazu bedarf es einer geschützten Berufsbezeichnung mit abgeschlossenem Spezial-studium und ggf. sogar staatlicher Prüfung. Seriosität ist unabdingba-re Voraussetzung für eine umfassende Akzeptanz.

Es macht auch keinen Sinn, dass freiberuflich tätige Verkehrspsycho-logen ohne jede Bedarfsanalyse wie die Pilze aus dem Boden schießen. Sie machen sich nur gegenseitig Konkurrenz, was auf Kosten der Qualität geht.

a. Wenn die Verkehrstherapie allgemein für sinnvoll erachtet werden sollte, dann könnte sogar eine "Pflicht-Verkehrstherapie" im Gesetz installiert werden, z.B. als eine unabdingbare Auflage zur Wiederer-langung der Fahrerlaubnis. Es kann aber auch an eine erleichterte nachträgliche Verkürzung der Sperrfrist gedacht werden, wenn der Verurteilte auf freiwilliger Basis ein Verkehrtherapiegutachten einer

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anerkannten Stelle zur Akte reicht. Der Richter könnte dann statt der Entziehung der Fahrerlaubnis oder daneben die Teilnahme an einer Verkehrstherapie anordnen.

b. Auch im Straf-Hauptverfahren könnte ein vorgelegter Verkehrs-therapienachweis wieder sperrfristverkürzend wirken, wie seinerzeit bei den Modellen Mainz 77, Hamburg 79 und LEER E. Die Rückfallwahrscheinlichkeit konnte mittels einer solchen Maßnahme erheblich reduziert werden. Zurzeit kann insoweit nur ein Rück-schritt in die Zeit festgestellt werden, in der die Betroffenen sich selbst und allenfalls privaten Aktivitäten überlassen sind.

3. Frühzeitige und umfassende Information

Von ganz besonderer Bedeutung ist aber eine frühzeitige und umfassende Information der Betroffenen. Immer wieder ist von betroffenen Mandanten zu hören, dass sie sich von dem Gericht und ihrem damaligen Anwalt regelrecht im Stich gelassen gefühlt hätten. Niemand habe sie über das Erfordernis aufgeklärt, die MPU absolvieren zu müssen. So ist die wertvolle Zeit der Dauer der Entziehung der Fahrerlaubnis regelmäßig nutzlos verstrichen. Eine sinnbringende Aufarbeitung der Problematik Alkohol und Straßenverkehr hat nicht stattgefunden.

a. Es wurden folglich auch keine Daten gesammelt, die für den späteren medizinischen Teil der Untersuchung sinnvoll wären. Je mehr Leberwerte bzw. Drogenscreenings vorliegen, umso zuverlässi-ger kann später die medizinische Analyse ausfallen. Der Betroffene ist also darauf hinzuweisen, solche Werte unmittelbar nach der Tat bis zum Zeitpunkt der MPU zu sammeln. Hinsichtlich des medizinischen Teils der Begutachtung kann eine einigermaßen zuverlässige Aussage, z.B. über die Frage einer ggf. erforderlichen Alkohol- oder Drogenabstinenz, jedenfalls im Hinblick auf die vorangegangene Zeit der Entziehung der Fahrerlaubnis nur dann vorgenommen werden, wenn ein kontinuierlicher Erfassungszeit-raum dokumentiert ist.

b. Die Entziehungszeit ist auch zu nutzen, um eine möglicherweise sinnvolle oder auch unumgängliche Verkehrstherapie durchzufüh-ren. Soweit erforderlich, kann die Zeit sogar für eine Alkohol- oder Drogenentziehungskur genutzt werden. Wichtig ist es bekanntlich,

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dass der Betroffene so frühzeitig wie möglich geeigneten Rehabilita-tionsmaßnahmen zugeführt wird. Unmittelbar nach der Tat hat der Betroffene sein Fehlverhalten noch vor Augen, ist seine Reue und demzufolge die Einsichtsfähigkeit, aber auch der Wille, etwas zu unternehmen, um die Fahrerlaubnis so schnell wie möglich wieder zu bekommen, am größten.

c. Die Strafgerichte haben in aller Regel aber keine Ahnung vom Führerscheinverwaltungsrecht, der Fahrerlaubnisverordnung und der MPU-Problematik. Und leider klären selbst die Verteidiger ihre Mandanten in der Regel nicht gleich im ersten Mandatsgespräch darüber auf, ob die MPU auf sie zukommen wird und wie sie die Zeit bis dahin sinnbringend nutzen können. Wichtig ist also eine entsprechende Fortbildung der Strafrichter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte.

Eine solche möglichst frühzeitige Information der Betroffenen durch das Strafgericht sollte in Trunkenheits- und Drogenfällen bereits zum Zeitpunkt der Anordnung der vorläufigen Entziehung der Fahrer-laubnis bzw. - bei Drogendelikten - durch die Polizei noch unmittel-bar vor Ort erfolgen.

4. Alternativen zur MPU

Die MPU hat stets eine Prüfungsfunktion. Es soll die Frage eingetretener Verhaltensänderung erforscht werden. Entweder hat eine Verkehrstherapie dies bewirkt oder der Betroffene hat es aus eigener Kraft geschafft. Die MPU hat aber den Nachteil, dass sie in oft nur ca. halbstündiger Untersuchung einen lediglich temporär eingegrenzten Einblick in die medizinische Situation und die Psyche des Probanden zulässt. Es ist daher zu erwägen, alternativ oder anstelle der MPU eine Pflicht zur Langzeitverkehrstherapie mit Abschlussbegutachtung durch anerkannte Nachschulungsinstitute einzuführen.

Interessant ist sicher auch der Gedanke, in geeigneten Fällen nach der MPU eine weitere Beratungspraxis zu installieren, z.B. in Form einer "Fachtherapie für Fahreignung". So könnte die MPU in den Zweifelsfällen als "positiv" mit der Auflage oder Empfehlung versehen werden, eine vorgegebene Zeit an einem solchen weiter-betreuendem Kurs teilzunehmen. Das erscheint mir allenfalls

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sinnvoller, als im Zweifel doch eher ein negatives Gutachten zu schreiben.

5. Kritik am gegenwärtigen Verfahren:

Der Ehemann-Entsorgungs-Fall:

Die (Noch-)Ehefrau des A berichtet der Führerscheinstelle, ihr Mann trinke regelmäßig Alkohol, oft bis zur Volltrunkenheit. Vor zwei Wochen sei er wegen eines solchen Alkoholexzesses in die Psychiatrie eines Landeskrankenhauses eingeliefert worden. Er fahre unverändert regelmäßig Auto.

Tatsächlich hat sich der Ehemann wegen eines unerträglichen und unaufhörlichen Psychoterrors seitens seiner Ehefrau freiwillig in das LKH begeben. Dort wurde nicht der geringste Hinweis auf Alkohol oder Alkoholmissbrauch festgestellt. Der Mann war vollkommen gesund.

-> Die Fahrerlaubnisbehörde ordnet die Beibringung eines MPU-Gutachtens an.

-> Die Fahrerlaubnisbehörde fordert eine Schweigepflichtentbin-dungserklärung des Ehemannes für eine Auskunft von dem Landeskrankenhaus.

Hier ist zunächst die Überprüfbarkeit der verwaltungsbehördlichen Anordnung der MPU zu nennen. Diese Frage stellt sich selbstver-ständlich nicht für die Fälle, in denen die MPU gesetzlich vorge-schrieben ist (z.B. über 1,6‰ Alkohol, Mehrfachtäter oder bei Hartdrogen), sondern ausschließlich für die Ermessensfälle. Die Anordnung einer MPU oder ärztlichen Begutachtung seitens der Führerscheinstelle ist im Vergleich zur früheren Rechtslage Ausfluss einer faktischen Beweislastumkehr, die unverändert nicht justiziabel ist.

Ich kritisiere, dass der Betroffene eine rechtliche Überprüfung erst im Anschluss an eine negative Entscheidung der Behörde durchset-zen kann. Bedenken Sie, dass der Fall des Betroffenen, der durch das BVerfG mit Beschluss vom 20.06.2002 entschieden wurde, aus dem Jahre 1994 stammte, er also 8 Jahre um sein Recht kämpfen und folglich die Fahrerlaubnis entbehren musste! Es besteht die Gefahr

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einer unkontrollierten Behördenwillkür. Tatsächlich ist eine deutliche Ausweitung der Untersuchungsanlässe seit der Einführung der FeV zu beobachten. Eine solche Machtfülle der Verwaltungsbe-hörden muss auf Skepsis stoßen, wenn sie de facto keiner Überprü-fungsinstanz unterliegt. Die Missbrauchsgefahr ist unübersehbar. Die Anordnung einer MPU muss also rechtsmittelfähig werden.

Täglich hören wir von den Mandanten, diese und jene Passage in dem MPU-Gutachten habe er nie gesagt, jedenfalls so nicht. Zumindest habe man ihn völlig falsch verstanden. Von allen Seiten wird deshalb seit vielen Jahren immer wieder mehr Transparenz der MPU-Begutachtung gefordert. Warum? Das Bild der MPU in der Bevölkerung ist geprägt von Misstrauen, gepaart mit Unwissenheit. Die MPU wird unverändert als reines Glücksspiel angesehen. Da ist von "Schikane" die Rede, und nicht von Ungefähr nennt der Volksmund die Begutachtung "Idiotentest". Es werden "Durchfall-quoten" bis zu 80% genannt.

Der Betroffene hat jedoch zweifelsfrei Anspruch auf ein faires und transparentes Verfahren. Nach der Rechtssprechung des Bundesver-fassungsgerichtes bedeutet die MPU die "Erhebung höchstpersönli-cher Befunde", die unter den Schutz des allgemeinen Persönlichkeits-rechts fallen. Dann hat der Betroffenen auch das Recht, für die zutreffende Verwendung dieser so gewonnenen Befunde Sorge zu tragen.

Zur besseren Nachvollziehbarkeit des Explorationsgespräches sollte daher grundsätzlich ein Tonband und/oder Videomitschnitt erfolgen. Ein solcher Mitschnitt sollte einer Aufbewahrungsfrist von mindestens 6 Monaten unterliegen. Er sollte als Tonbandkopie innerhalb dieser Frist jederzeit angefordert werden können. Nach Ablauf der Frist kann das Band vernichtet werden. Derartige Gesprächsmitschnitte helfen dann sicher auch, überflüssige Prozesse zu vermeiden. Wenn der Betroffene seinem Anwalt erzählt, diese und jene Passage in dem Gutachten habe er gar nicht oder zumindest nicht so gesagt, kann diese Behauptung sogleich anhand des Mitschnitts überprüft und ggf. widerlegt werden.

a. Ganz und gar unerfreulich ist die Situation zum Thema "Verarbei-tung von Vorbegutachtungen". Während die Verwaltungsbehörden in der Regel nicht verlangen, ein vorher einmal erstelltes Gutachten vorzulegen, weigern sich die MPU-Psychologen regelmäßig, mit der

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Begutachtung zu beginnen, solange das Vorgutachten nicht vorgelegt worden ist. Zu fordern ist aber eine objektive und ganz und gar unabhängige Begutachtung. Denn niemand ist verpflichtet, gegen sich gerichtete negative - wohlmöglich auch noch falsche - Erkennt-nisse zu offenbaren und sich selbst zu belasten.

b. Es sollte wieder - wie früher - bundeseinheitlich eine Oberbegut-achtung eingeführt werden und sowohl auf Wunsch der Verwal-tungsbehörde, wie auch des Betroffenen im Interesse der Rechts-gleichheit möglich sein. Die Oberbegutachtung ist ein sehr taugliches Instrument zur Qualitätssicherung der Basisgutachten.

6. Drogenproblematik

a. Cannabis:

Im Drogenbereich ist die gegenwärtige Regelung in § 14 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. Anlage 4 Nr. 9.2.2 FeV bei gelegentlichem Cannabiskonsum in der Praxis ein großes Ärgernis. Bekanntlich muss der Betroffene durch eine MPU nachweisen, dass er Konsum und Fahren sicher voneinander trennen kann und kein zusätzlicher Gebrauch von Alkohol oder anderen psychoaktiv wirkenden Stoffe, keine Störung der Persönlichkeit und kein Kontrollverlust vorlag. Diese Prüfung wird von den Führerscheinstellen stets unmittelbar nach der Tat gefordert, also zu einem Zeitpunkt, zu dem diese Frage nur zweifelsfrei verneint werden kann.

Eine MPU kann nach der gegenwärtigen Praxis aber frühestens nach 6 Monaten und bei nachgewiesener Abstinenz, also bei Vorlage mindestens 4 negativer Drogenscreenings, erfolgsversprechend sein. Bis dahin verliert der Betroffene entweder die Fahrerlaubnis ganz oder er muss jedenfalls den Führerschein bei der Verwaltungsbehör-de hinterlegen und darf von seiner Fahrerlaubnis bis zur Vorlage eines positiven MPU-Gutachtens keinen Gebrauch machen. Der Gesetzgeber verlangt in den zuvor genannten Bestimmungen aber gar nicht eine Abstinenz. Gelegentlicher Cannabiskonsum ist führerscheinrechtlich unproblematisch, solange er nicht im Zusammenhang mit der Benutzung eines Pkws steht, der Kraftfahrer also Konsum und Fahren voneinander trennen kann.

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Diese Trennungsfähigkeit muss er erst erlernen. Dazu ist nicht die Entziehung der Fahrerlaubnis erforderlich. Vielmehr kann eine verkehrpsychologische Schulungsmaßnahme dienen, an deren Ende dann durch eine MPU das Erlernte kontrolliert wird. Dem Betroffenen könnte also die Fahrerlaubnis unter der Auflage belassen werden, monatlich ein (negatives) Drogenscreening sowie seine regelmäßige Teilnahme an der verkehrspsychologischen Schulung nachzuweisen und nach Ablauf von 6 Monaten eine MPU zu absolvieren.

b. Hartdrogen:

Der "Ich-schwöre:-Nur-einmal!"-Fall:

Der M wird im Rahmen einer allgemeinen Fahrzeugkontrolle überprüft. Die Blutprobe ergibt einen geringen, aber relevanten Gehalt an Amphetamin. M beteuert, einmalig am Abend zuvor aus Freude über die Geburt seine ersten Kindes von Freunden animiert in geringer Menge Speed konsumiert zu haben. Das sei aber das erste, einzige und letzte Mal gewesen. Er bietet als Nachweis seiner Behauptung regelmäßige zufällig anzusetzende Drogenscreenings durch einen Facharzt an. Vorsorglich bringt er mehrere Drogensc-reenings bei, die sämtlich negativ sind.

-> Die Fahrerlaubnisbehörde entzieht die Fahrerlaubnis.

(so z.B. Nieders. OVG ZfS 2003, 476 f m.w.A., herrschende Rspr!)

Auch bei Hartdrogenkonsum ohne jeden Bezug zur Teilnahme am Straßenverkehr sollte nicht sogleich auf Ungeeignetheit geschlossen werden dürfen, sondern es sollte vielmehr ein medizinisch überwach-ter Drogenabstinenznachweis gefordert werden. Hatte eine Teilnahme am Straßenverkehr unter Drogeneinfluss stattgefunden, ist Verkehrstherapie und MPU angezeigt.

7. Abschließend noch ein Wort zu der Grundsatzentscheidung des EuGH (DAR 2004, 333) vom 29.4.2004. Sie lautet in seinem Leitsatz:

"Ein Mitgliedsstaat der EU darf einer von einem anderen Mitglieds-staat ausgestellten Fahrerlaubnis nicht deshalb die Anerkennung versagen, weil nach den ihm vorliegenden Informationen der

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Fahrerlaubnisinhaber zum Zeitpunkt der Ausstellung des Führer-scheins seinen ordentlichen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedsstaates und nicht im Hoheitsgebiet des ausstellenden Mitgliedsstaates gehabt hat."

Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine verbietet es also dem Aufnahmemitgliedsstaat, bei einer in seinem Hoheitsgebiet vorgenommenen Straßenverkehrskontrolle die Anerkennung eines von einem anderen Mitgliedsstaates ausgestellten Führerscheins mit der Begründung zu verweigern, der Inhaber habe zum Zeitpunkt des Erwerbs seinen ordentlichen Wohnsitz nicht im Ausstellerstaat gehabt. Die Beachtung der in Art. 7 Abs. 1 Buchstabe b und Art. 9 der Richtlinie vorgesehenen Wohnsitzvoraussetzung ist allein Sache des (ausstellenden) Mitgliedsstaates.

"Ein Mitgliedsstaat darf die Anerkennung der Gültigkeit eines von einem anderen Mitgliedsstaat ausgestellten Führerscheins nicht deshalb ablehnen, weil im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedsstaats auf den Inhaber des Führerscheins eine Maßnahme des Entzugs oder der Aufhebung einer von diesem Staat erteilten Fahrerlaubnis angewendet wurde, wenn die zusammen mit dieser Maßnahme angeordnete Sperrfrist für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis in diesem Mitgliedsstaat abgelaufen war, bevor der Führerschein von dem anderen Mitgliedsstaat ausgestellt worden ist."

Deutsche Behörden können daher einem Führerscheininhaber nicht auf unbestimmte Zeit die Anerkennung der Gültigkeit eines im Ausland erworbenen Führerscheins versagen, wenn zum Zeitpunkt des Erwerbs eine in Deutschland verhängte Sperrfrist bereits abgelaufen war.

Welche Auswirkungen hat diese Entscheidung auf die Praxis?

Insbesondere das Wohnsitzerfordernis und die Überprüfung durch die deutschen Behörden dient der Verhinderung des "Führerschein-tourismus". Trotz fortschreitender Harmonisierung nationaler Fahrerlaubnisbestimmungen, bedürfen nach wie vor weite Bereiche des Fahrerlaubnisrechts (Gültigkeit und Dauer der Fahrberechti-gung, Eignungsvoraussetzungen, Ausbildung etc.) unterschiedlicher Regelungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten.

Das Urteil läuft den bisherigen Bestrebungen Deutschlands im Hinblick auf eine effektive Eignungsprüfung aller Fahrerlaubnisin-

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haber und damit der Verkehrssicherheit zuwider. Zudem werden deutsche Führerscheininhaber im Inland gegenüber (deutschen) Führerscheininhabern mit im europäischen Ausland erworbenen Fahrerlaubnissen ohne Grund benachteiligt. Ausländische Führer-scheininhaber sind der Eignungsüberprüfung deutscher Führer-scheinbehörden durch das Urteil des Gerichtshofes teilweise entzogen. Der Umweg ins europäische Ausland zur Vermeidung einer in Deutschland drohenden medizinisch-psychologischen Untersuchung wird durch die Entscheidung des Gerichtshofs ungewollt erleichtert.

Fraglich ist allerdings, ob nach dem Urteil auch materielle Wiederer-teilungsvoraussetzungen nach deutschem Recht gegen das Gebot gegenseitiger Anerkennung europäischer Fahrerlaubnisse verstoßen. Der nationale Gesetzgeber hat zur Sicherstellung der materiell-rechtlichen Wiedererteilungsvoraussetzungen im Bundesgebiet eine eindeutige Regelung in § 28 Abs. 4 FeV geschaffen. Danach sind von einem anderen Mitgliedsstaat ausgestellte Fahrerlaubnisse, die nach Verhängung einer Fahrerlaubnisentziehung oder vergleichbarer Maßnahmen in Deutschland erteilt worden sind, hier nicht wirksam.

Der EuGH geht in seiner Entscheidung wohl zweifelsfrei davon aus, dass im Falle einer abgelaufenen Sperrfrist, ohne weitere vom Betroffenen für die Wiedererteilung einer deutschen Fahrerlaubnis zu erfüllenden materiellen Voraussetzungen (also z.B. keine medizinisch-psychologische Untersuchung), eine im europäischen Ausland erworbene Fahrerlaubnis in Deutschland anerkannt werden muss.

Nicht zweifelsfrei beantwortet ist die Frage für den Fall, dass der Inhaber der ausländischen Fahrerlaubnis zur Wiedererteilung einer deutschen Fahrerlaubnis noch materiell-rechtliche Anforderungen nach deutschem Führerscheinrecht (z.B. eine medizinisch-psychologische Untersuchung) erfüllen muss. Würde man die Entscheidung auch auf diesen Fall anwenden, wären nationale Eignungsvorschriften nicht mit dem Anerkennungsgebot europäi-scher Führerscheine vereinbar. Die EU-Richtlinie würde in (noch) nicht europaweit harmonisiertes materielles Fahrerlaubnisrecht eingreifen. Andererseits würde der Vorrang nationaler Fahreig-nungsbestimmungen bedeuten, dass die Richtlinienkompetenz der EU und damit der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung von

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Führerscheinen durch nationale Regelungen unterlaufen werden könnte. Die EU-Führerscheinrichtlinie wäre nicht mehr als eine "Rahmen"-Richtlinie.

Die Auswirkungen auf die Praxis der Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung bei im Ausland erworbenen Führerscheinen nach Ablauf der in Deutschland verhängten Sperrfrist bleibt damit ebenso abzuwarten wie die zukünftige gerichtliche Auslegung des § 28 Abs. 4 Nr. 3 und 4 FeV. Der Gesetzgeber ist dringend aufgefordert, für Klarheit zu sorgen.

MERKE:

- Wohnsitzerfordernis (§ 7 FeV): Auch bei Verstoß liegt gültige Fahrerlaubnis vor. Das Führen eines Kfz ist nicht strafbar!

- Erwerb der Fahrerlaubnis während laufender Sperrfrist: Keine gültige Fahrerlaubnis! Strafbar als F.o.F. (§ 21 StVG)!

- Erwerb nach Ablauf der Sperrfrist: Grundsätzlich keine Strafbar-keit wegen F.o.F. (§ 21 StVG):

-> Kein "MPU-Fall: Anerkennung durch deutsche Behörden!

-> MPU-Fall": MPU kann angeordnet werden. Bei negativem Ergebnis: Verbot des Führens eine Kfz in Deutschland, Eintrag eines Sichtvermerkes oder Beschlagnahme und Rücksendung an die Ausstellungsbehörde!

RA Frank-Roland Hillmann Rechtsanwälte Hillmann & Partner Gartenstraße 14 26122 Oldenburg 0441 – 361333-31 [email protected] www.hillmann-partner.de

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Sandra Schmidt

Die Rehabilitation auffälliger Kraftfahrer als gesellschaft-liche Aufgabe - die Position Deutschlands in Europa

Angesichts der noch immer hohen Zahl von 102.694 Fahrerlaub-nisentzügen wegen Trunkenheit am Steuer1 (Kraftfahrt-Bundesamt, 2004) und der steigenden Anzahl an medizinisch-psychologischen Begutachtungen im Zusammenhang mit Drogenkonsum (Knoche, 2004) haben rehabilitative Maßnahmen für Kraftfahrer weiterhin eine hohe Bedeutung. Neben der Betrachtung der europäischen Maßnahmenlandschaft im allgemeinen und des deutschen Systems im speziellen wird im folgenden auch auf die aktuelle Forschung der Bundesanstalt für Straßenwesen Bezug genommen.

1. Die europäische Maßnahmenlandschaft

Rehabilitationsmaßnahmen für auffällig gewordene Kraftfahrer werden in vielen Ländern Europas angeboten. Neben therapeutisch orientierten Interventionen, auf die der Gesetzgeber keinen Einfluss nimmt, liegt ein breites Spektrum an rehabilitativen Maßnahmen im gesetzlich geregelten Bereich vor. Diese sind i.d.R. mit Rechtsfolgen, wie etwa Belassung oder Wiedererteilung der Fahrerlaubnis, verbunden.

Einige Länder bieten singuläre Maßnahmen an, z.B. Italien (Verkehrspsychologische Nachschulung; Dorfer, 2004) oder Finnland (Traffic safety training for persons sentenced by court to community service for drinking and driving; Bartl et al., 2002). Andere Länder verfügen über ein breiteres Angebot, so zum Beispiel Großbritannien mit den Maßnahmen „Drink Impaired Drivers‘ Programme“ (Bartl et al., a.a.O.), „Drink/Drive Rehabilitation Courses“ (Davies & Smith, 2003) und „National Driver Improve-ment Scheme“ (Bartl et al., a.a.O.). In einigen wenigen Ländern kann ein Kraftfahrer sogar auf ein ganzes, teilweise aufeinander aufbauen-des System an Rehabilitationsmaßnahmen zurückgreifen. Dies ist etwa in Österreich oder in der Bundesrepublik Deutschland der Fall.

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Nicht alle Interventionen für auffällig gewordene Kraftfahrer werden von Psychologen durchgeführt. Interessant ist zum einen die Situation in Frankreich, zum anderen in Großbritannien. In Frankreich wird die sog. „formation spécifique en vue de la reconstitution partielle du nombre de points initial“ (Thibault, 2004) von Psychologen und Fahrlehrern gemeinsam gestaltet. Das Zusammenspiel dieser Professionen gestaltet sich oftmals nicht einfach, da Psychologen auf der Basis ihrer Ausbildung zu einem reflektierteren Vorgehen neigen, als die ursprüngliche Gestaltung der Kurse vorsieht. Auch in den englischen „Drink/drive rehabilitation courses“ kommen nicht nur Psychologen, sondern auch andere Berufsgruppen wie etwa Krankenschwestern zum Einsatz. Diese Interventionsform ähnelt in ihrer Ausrichtung den sog. Verkehrs-kursen, die in Deutschland traditionell von der Polizei durchgeführt wurden. Während diese in Deutschland weitestgehend durch psychologische Maßnahmen abgelöst wurden, kann mit Spannung erwartet werden, ob und wie sich dieser Prozess in Großbritannien gestalten wird.

Auch die Zusammensetzung der Ziel- bzw. Teilnehmergruppe erscheint in europaweiter Betrachtung heterogen. Jedoch hat jedes Land eigene, spezifische Zuweisungsregeln, die die Zusammenset-zung der Teilnehmergruppe bedingen. So richtet sich - je nach Land - eine Maßnahme entweder umfassend an Kraftfahrer, die mit Alkohol oder anderen Verstößen gegen das Verkehrsrecht aufgefallen sind, oder aber an Teilpopulationen spezifisch auffälliger Kraftfahrer, etwa an Fahrer unter Alkohol- oder unter Drogeneinfluss. Länder, deren Maßnahmen eine breite, umfassende Zielgruppe ansprechen, sind in erster Linie Frankreich und Belgien, spezifische Maßnahmen werden z.B. für alkoholauffällige Fahrer in Großbritannien oder in der Schweiz angeboten (Bartl et al., a.a.O.; Bächli-Biétry, 2003). Beispiele für drogenbezogene Maßnahmen sind etwa in Deutschland die Kurse SPEED 02 oder DRUGS (Ziegler et al., 1998). Darüber hinaus stellen die jungen Fahrer bzw. Fahranfänger in Ländern wie Österreich oder Deutschland eine besondere Zielgruppe dar, für die es eigens entwickelte Maßnahmen gibt. In Deutschland handelt es sich dabei vor allem um die Kurse ALFA und NAFA (Spoerer & Ruby, 1996; Jacobshagen, 1998).

Maßnahmen im gesetzlich geregelten Bereich sind häufig als Gruppenmaßnahmen mit i.d.R. festgelegten Mindest- und Höchst-

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teilnehmerzahlen organisiert. Eine Ausnahme bildet in Deutschland die verkehrspsychologische Beratung, die als Einzelfallmaßnahme durchgeführt wird.

Das globale Interventionsziel der rehabilitativen Maßnahmen für auffällig gewordene Kraftfahrer ist die Behebung von Fahreignungs-defiziten. Unterziele wie z.B. die Veränderung von Wissen, Einstellungen und Verhalten werden im zeitlichen Verlauf der Maßnahmen operationalisiert. Mögliche Operationalisierungen sind z.B. Vermittlung von Informationen über Risiken im Straßenver-kehr wie etwa Rasen und Drängeln (Jensch, 2002) oder Verändern der Einstellung und des Verhaltens zu Alkohol (Posch & Magnet, 2002). Dies alles dient der Vermeidung der Wiederauffälligkeit und damit der Verbesserung der Verkehrssicherheit.

Um das Globalziel und die maßnahmenspezifischen Unterziele zu erreichen, wird bereits bei der Maßnahmenentwicklung ein weites psychologisches Interventionsspektrum eingeplant. Die verwendeten psychologisch fundierten Konzepte und Methoden sind sehr heterogen, neben kognitiv orientierten Konzepten basieren sie z.B. auf individualpsychologischen, rational-emotiven oder verhaltens-psychologischen Herangehensweisen. Häufig kommt es zu einer Kombination mit pädagogischen Ansätzen. Eine besondere Betonung wird auf die Nutzung der Gruppendynamik als ein Veränderungs-prozesse stimulierendes Element gelegt.

Ausgehend von den spezifischen Maßnahmezielen werden Wirksam-keitserwartungen und – daraus abgeleitet – Wirksamkeitskriterien formuliert.

Generell reicht das Spektrum der Wirksamkeitsuntersuchungen von Akzeptanzbefragungen über Messungen von Einstellungsverände-rungen bis hin zur Erhebung der Legalbewährung bzw. Wiederauf-fälligkeit. Letzteres wird im Rahmen der Evaluation rehabilitativer Maßnahmen für auffällig gewordene Kraftfahrer als Königsweg angesehen, da – trotz eines hohen Dunkelfeldes nicht registrierter neuer Verstöße – die Wiederauffälligkeitsraten oder –quoten als die Daten mit der größten Objektivität gelten. Gleichzeitig ist die Erhebung der Legalbewährung sehr aufwendig, nicht zuletzt wegen der Notwendigkeit des Hinzuziehens externer Quellen wie etwa der Daten des Kraftfahrt-Bundesamtes oder der Straßenverkehrsakten sowie wegen der bestehenden Datenschutzregelungen. Dennoch wird

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die Legalbwährung in vielen Evaluationsstudien erhoben, bekannte Beispiele sind etwa

* die ALKOEVA-Studie von Winkler, Jacobshagen und Nickel (1988) mit Rückfallquoten der Kursteilnehmer an Kursen für alkoholauffällige Kraftfahrer in Höhe von 12,8 - 14,0 %,

* die EVAGUT-Studie von Jacobshagen und Utzelmann (1998) mit Rückfallquoten der Kursteilnehmer an Kursen für Kraftfahrer mit Verkehrsverstößen in Höhe von 32,1 % oder

* die Evaluation der Drink/driver rehabilitation courses in England and Wales, ebenfalls für alkoholauffällige Kraftfahrer mit einer Rückfallquote von 2 % (Davies, Harland & Broughton, 1999).

Aufgrund der unterschiedlichen Kurszuweisungsregeln und Teilnehmergruppen sind die Ergebnisse untereinander nicht ohne weiteres vergleichbar.

2. Die Position Deutschlands

Der Vergleich des rehabilitativen Systems Deutschlands mit dem anderer europäischer Länder zeigt - neben einem hohen Grad der Ausdifferenzierung - in Deutschland auch das Vorhandensein hoher Standards in der Qualitätssicherung und Evaluation der Maßnahmen.

Insbesondere im gesetzlich geregelten Bereich findet sich ein breites Maßnahmenspektrum, so gibt es spezifische Maßnahmen

* bei Verstößen während der Probezeit, getrennt nach Verstößen mit bzw. ohne Alkohol und Drogen;

* zur Reduzierung von Punkten im Verkehrszentralregister, ebenfalls getrennt nach Verstößen mit bzw. ohne Alkohol und Drogen;

* zur Wiederherstellung der Kraftfahreignung gemäß § 70 FeV, getrennt nach Verstößen mit Alkohol, Drogen oder gegen das Verkehrsrecht.

Darüber hinaus werden spezifische Maßnahmen zur Verkürzung der Sperrfrist angeboten, nach deren Teilnahme die zuständige Stelle - i.d.R. das zuständige Gericht – über eine Verkürzung der Sperrfrist befindet.

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In Deutschland liegen für den weitaus größten Teil der Maßnahmen im gesetzlich geregelten Bereich Wirksamkeitsnachweise vor oder werden zur Zeit erarbeitet, da seitens des Gesetzgebers Wert auf den Nachweis der Kurswirksamkeit gelegt wird. Ein besonderer Schwerpunkt liegt hier auf den sog. Kursen gemäß § 70 FeV. Insbesondere § 70 (4) FeV fordert explizit, dass für die Kurse zur Wiederherstellung der Kraftfahreignung „die Wirksamkeit der Kurse in einem nach dem Stand der Wissenschaft durchgeführten Bewertungsverfahren (Evaluation) nachgewiesen (...)“ wurde.

Auch das Angebot außerhalb des gesetzlich geregelten Bereiches ist sehr breit. Neben Beratungen finden Kurz- bis hin zu Langzeitinter-ventionen statt. Alle Angebote werden entweder in Form von Einzelfallinterventionen oder als Gruppenmaßnahmen organisiert. Die Maßnahmen sind i.d.R. intensiver und länger als die des gesetzlich geregelten Bereichs.

Auch in dem gesetzlich nicht geregelten Bereich besteht bei vielen Anbietern großes Interesse, die Wirksamkeit ihrer Maßnahmen unter Beweis zu stellen. Dabei reicht das Spektrum der durchgeführ-ten Evaluationen von Befragungen der Teilnehmer und Kursleiter bis hin zur Erhebung der Legalbewährung.

Abgesehen von den Wirksamkeitsuntersuchungen liegt eine weitere Stärke des deutschen Systems in den bisher erreichten hohen Standards der Qualitätssicherung. Hier reicht das Spektrum von Eigenentwicklungen bis zu Qualitätsmanagementsystemen gemäß DIN ISO 9001. Die weitaus strengsten Anforderungen werden auch hier an Anbieter von Kursen zur Wiederherstellung der Kraftfahr-eignung gestellt. So fordert der Gesetzgeber in §§ 70, 72 FeV neben der Vorlage eines Qualitätssicherungssystems auch die Akkreditie-rung des jeweiligen Trägers gemäß der Norm DIN EN 45013.

Bereits seit vielen Jahren (v. Hebenstreit et al., 1978; v. Hebenstreit et al., 1982; Winkler, Jacobshagen & Nickel, a.a.O.) wird in der Bundesanstalt für Straßenwesen aktiv im Bereich Rehabilitation auffälliger Kraftfahrer geforscht. Aktuell liegt ein Schwerpunkt auf der Sichtung des Gesamtspektrums rehabilitativer Maßnahmen. Um den Bereich außerhalb des gesetzlich geregelten Rahmens gezielt zu erfassen, wurden im Rahmen des Forschungsprojektes „Psychologi-sche Rehabilitations- und Therapiemaßnahmen für verkehrsauffällige Kraftfahrer“ rund 800 Anbieter schriftlich zu Themen wie Qualifika-

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tion der Anbieter, Zielgruppe, Organisation der Maßnahme, Qualitätssicherung oder Evaluation befragt. Der umfassende Forschungsbericht wird voraussichtlich Ende 2005 vorliegen.

Ein weiterer Forschungsschwerpunkt richtet sich auf Wirksamkeits-untersuchungen und hierbei insbesondere auf die Entwicklung von Kriterien zur gezielten Evaluation von Kursen gemäß § 70 FeV.

3. Ausblick

Nicht nur seitens des Gesetzgebers und der Kunden, der Teilnehmer an Maßnahmen für auffällige Kraftfahrer, auch seitens der Anbieter werden hohe Ansprüche an die Qualität und Wirksamkeit der Maßnahmen gestellt. So haben Wirksamkeitsnachweise und Qualitätssicherung für viele Maßnahmenträger beinahe Selbstver-ständlichkeit erlangt. Es gilt nun – auch gerade im Hinblick auf die Harmonisierungsbestrebungen innerhalb der Europäischen Union – die bisher erzielten Standards zu sichern und weiterzuentwickeln.

5. Literatur

Bächli-Biétry, J. (2003). Evaluation der bfu-Nachschulungskurse für Alkoholauffällige im Rahmen der EU-Studie ANDREA. Bern: bfu-Report 52.

Bartl, G., Assailly, J.-P., Chatenet, F., Hatakka, M., Keskinen, E. & Willmes-Lenz, G. (2002). EU-Project “Andrea”. Analysis of Driver Rehabilitation Programmes. Wien: KfV.

Davies, G. P., Harland, G. & Broughton, J. (1999). Drink/driver rehabilitation courses in England and Wales. TRL Report, TRL 426

Davies, G. P. & Smith, L. R. (2003). Reconvictions of drink/drive course attenders: A six year follow up. TRL Report, TRL 574

Dorfer, M. (2004). Persönliche Mitteilung.

v. Hebenstreit, B., Heinrich, H. Ch., Klebe, W., Kroj, G., Spoerer, E., Schneider, W., Walther, R., Winkler, W. & Wuhrer, H. (1978). Kurse für auffällige Kraftfahrer. Zwischenbericht 1978 – Empfehlungen zur Durchführung von Modellkursen. Köln: Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Bereich Unfallforschung.

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v. Hebenstreit, B., Hundhausen, G., Klebe, W., Kroj, G., Spoerer, E., Walther, R., Winkler, W. & Wuhrer, H. (1982). Kurse für auffällige Kraftfahrer. Schlussbericht. Köln: Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Bereich Unfallforschung.

Jacobshagen, W. (1998). Nachschulungskurse für alkoholauffällige Fahranfänger nach dem Modell NAFA in Deutschland: Klientel, Kursdurchführung, Wirksamkeit und Akzeptanz. In Bundesanstalt für Straßenwesen (Hrsg.), Driver Improvement. 6. Internationaler Workshop. 1997. (S. 261-273). Bergisch Gladbach: Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Heft M 93.

Jacobshagen, W. & Utzelmann, H. D. (1998). The medical-psychological assessment procedures for drivers with alcohol offences and drivers with a high penalty point status. Köln: Verlag TÜV Rheinland GmbH.

Jensch, M. (2002). Was entsteht, wenn sich „LEER“ und „IRAK“ verbinden? In E. Panosch (Hrsg.), Driver Improvement. 7. Internati-onaler Kongress 8. – 10. Oktober 2001 (S. 109-112). Wien: KfV.

Knoche, A. (2004) Begutachtung der Fahreignung – Jahresstatistik 2002. Zeitschrift für Verkehrssicherheit 1/2004

Kraftfahrt-Bundesamt (2004): Fahrerlaubnisentziehungen durch Gerichte. In: www.kba.de

Posch, C. & Magnet, W. (2002). Veränderungen von Einstellungen und Befindlichkeiten alkoholauffälliger Kraftfahrer im Laufe von Driver Improvement Kursen. In E. Panosch (Hrsg.), Driver Improvement. 7. Internationaler Kongress 8. – 10. Oktober 2001 (S. 123-133). Wien: KfV.

Spoerer, E. & Ruby, M. (1996). Zurück ans Steuer: Theorie und Praxis der Rehabilitation auffälliger Kraftfahrer. Köln: Forschungsgemein-schaft "Der Mensch im Verkehr" e.V.

Thibault, C. (2004). Persönliche Mitteilung.

Winkler, W., Jacobshagen, W. & Nickel, W.-R. (1988). Die Wirksamkeit von Kursen für alkoholauffällige Kraftfahrer. Bergisch Gladbach: Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Bereich Unfallforschung, Heft 64.

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Ziegler, H., Jensch, M., Krohn, B. & Brisch, E. (1998). Drogen und Gefahren im Straßenverkehr. Ein Rehabilitationsprogramm für drogenauffällige Kraftfahrer. Zeitschrift für Verkehrssicherheit, 44, 118-122.

1 Bezogen auf das Jahr 2002

Dipl.-Psych. Sandra Schmidt Bundesanstalt für Straßenwesen Brüderstr. 53 51427 Bergisch Gladbach E-Mail: [email protected] www.bast.de

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Dr. Bernd P. Rothenberger

Auf dem Weg zu einer Core-battery in der verkehrspsy-chologischen Therapiepraxis

A. EINLEITUNG

Hintergrundsthesen

1. Die Messung von Veränderungen wird niemals allein nur methodologisch und als Selbstzweck betrachtet, sondern immer in direkten Zusammenhang mit der Motivierung der Klienten zur Veränderung angewandt (McMurran, 2002; Miller, Rollnik, 2002). Psychodiagnostische Ergebnisse gehen gleich zu Anfang der Therapie in die Therapieplanung sowie in die gemeinsame Interpretation der Daten im Hinblick auf die psychodiagnostisch sichtbare Problematik und das "Persönlichkeitsprofil" (Stärken und Schwächen) des Klienten ein. Sie bilden die Grundlage für die ersten Gespräche über die Zielerreichung in der Therapie und dienen der Ursachenerfor-schung der Verkehrsstraftat sowie der Erklärung der Alkoholkarrie-re. (Finn, Butcher, 1991)

2. Die Qualität einer verkehrspsychotherapeutischen Maßnahme oder, anders ausgedrückt, die Ursachen und Voraussetzungen für die statistische und klinische Wirksamkeit von verkehrspsychologischer Psychotherapie müssen deutlich unterschieden werden von der Qualität der verkehrspsychotherapeutischen Praxis insgesamt. (Rothenberger: Wirksamkeitsreferat) Das naturalistische (an der Naturwissenschaft orientierte) Forschungsparadigma folgt einer unaufgeklärten szientifischen Metaphysik. Es zielt auf die Prüfung die Nützlichkeit (effectiveness) einer wirksamen (efficacy) therapeu-tischen Intervention und blendet dabei normative Fragen des Rechts und der Verantwortung (z.B. die Verkehrsmoral des Fahrers) aus. Umso wichtiger sind Legalbewährungsdaten, die jedoch in ihren empirischen und normativen Implikationen für die Praxis begriffen werden müssen.

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Wir brauchen auch klinische Daten, d.h. innertherapeutische Evaluationsdaten und nicht nur legale, im Straßenverkehr bewährte Evaluationsdaten.

2.1 Empirische Daten dienen der nicht-bagatellisierenden und realistischen Wahrnehmung der Praxis der Förderung der Fahreig-nung, wenn klar ist, dass die empirische Wahrnehmung nicht die normative Wahrnehmung des Problems der Förderung der Fahreignung verstellt und umgekehrt. Wenn mithin anerkannt wird, dass es einen unproblematischen und unverwickelten Zusammen-hang von Werten und Tatsachen geben kann, weil es überhaupt keinen ontologischen Grund gibt, im Denken das Sein vom Sollen und das Objekt vom Subjekt zu trennen (Hans Jonas 1994, Gerhard 2000). Die Abtrennung der empirischen Tatsachen von den präskriptiven Werten ist ebenso wenig zwingend wie die Trennung zwischen Ethik/Metaphysik und Wissenschaft oder die Trennung zwischen Theorie und Praxis.

Vier unterschiedliche Kriterien für Wirksamkeit und Praxistaug-lichkeit therapeutischer Maßnahmen

Nach einem Vorschlag des US NAMCH (National Advisory Mental Health Council) mit dem Titel "Bridging Science and Service" (zit. nach Barkham, M. and Mellor-Clark, J., 2003 ) sind nicht nur zwei, sondern vier Schlüsselbereiche für Forschungsaktivitäten zu unterscheiden, um die Wirksamkeit, die Nützlichkeit, die Praxistaug-lichkeit, die gesellschaftliche Relevanz und die sozialpolitische Güte einer therapeutischen Maßnahme zu bewerten.

* Wirksamkeit (efficacy) meint die empirische Frage nach der "Ursache" oder der kausalen Zuschreibung einer Wirkung auf eine bestimmte Ursache. Gefragt wird, ob eine bestimmte Intervention einen Effekt, eine Wirkung, eine bestimmte Potenz hat. (Gefragt wird nicht ob sie eine bestimmt Güte hat oder ob sie "bedürfnisge-recht" ist). Wirksamkeitsforschung zielt unter hoch kontrollierten Bedingungen auf die Ursache-Wirkungs-Relation der Intervention ab, auf deren Haupt- und Nebenwirkungen sowie deren Risiken.

* Klinische Nützlichkeit (effectiveness) versucht die Bedingungen zu untersuchen, die erfüllt sein müssen, damit eine als wirksam erwiesene Intervention (treatment) einen statistischen und klinisch

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nachweisbaren Nutzen hat bei unterschiedlichen Patientengruppen oder in unterschiedlichen klinischen settings. Zum Bereich der Nützlichkeit gehören auch die praktischen Fragen der taktischen und strategischen Planung in der Gestaltung und Umsetzung der Intervention vor und in der therapeutischen Beziehung. (Kaminski, 1970)

* Praxisforschung (practice research) untersucht, wie und in welchem setting die Maßnahmen an die Klienten weitergegeben werden. Es wird die Qualität der treatments insgesamt und vor dem Hintergrund der Praxistauglichkeit der treatments evaluiert.

Erst auf dieser Ebene der Bewährung der Maßnahme in der klinischen Praxis darf von einem evaluierten Praxisparadigma gesprochen werden.

* Systemforschung ( service system research) Sozialleistungssys-temforschung, z.B. im Gesundheitssystem, im Rechtssystem oder im Verkehrssicherheitssystem. Systemforschung stellt auf der politi-schen Makroebene angesiedelte organisatorische, Finanzierungs- und Versorgungsfragen zur Bedürfnisgerechtigkeit der verrechtlicht und bürokratisch erbrachten sozialen Dienstleistungen.

Diese vier Forschungsaktivitäten stehen miteinander in einem rekursiven Theorie-Praxis-Zusammenhang. Betrachten wir zur Vereinfachung nur die ersten drei der vier Aktivitäten: Eine praxisbasierte Innovation wird von der Forschung als wirksam erachtet. Die dergestalt evidenzbasierte Praxis führt zu nachweislich nützlichen Ergebnissen, aber auch zu neuen, unbekannten Proble-men. Die Wirksamkeit der bewährten Lösungen erfordert alternative Erklärungen und die neuen Problemlagen erfordern neue Lösungen. Diese neuen Erklärungen und neuen Lösungen müssen wiederum auf ihre Nützlichkeit und Praxisrelevanz geprüft werden. Der Referent (Rothenberger, Ms. 1997) ist der Meinung, dass dazu vom herkömm-lichen Wissenschaftler-Praktiker-Modell auf ein Praxisforschungs-modell des bewussten Praktikers übergangen werden muss, soll der Forschungs-Praxis-Bezug ohne Beschränkungen verwirklicht werden können.(1)

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B. HINFÜHRUNG ZUM THEMA

Die Messung von Veränderungen im Verhalten und Erleben von Klienten vor, während oder nach einer verkehrspsychologischen Therapie hat noch keine Tradition unter den niedergelassenen BNV-Praxisinhabern. Deshalb gibt es auch noch keinen Konsens zwischen den im Bereich der Förderung der Kraftfahreignung tätigen Verkehrspsychologen, welche Instrumente zur Messung der Qualität der verkehrspsychologischen Therapie auszuwählen sind.

Um das verkehrspsychotherapeutische Praxisparadigma als praktisch bewährt betrachten zu können brauchen wir jedoch, wie oben gezeigt, zusätzlich zu den Legalbewährungsdaten auch noch praxisbasierte Daten und evidenzbasierte Praktiken, mit denen die Arbeitsbedingungen und Arbeitsweisen der verkehrspsychologischen Psychotherapeuten, sowie die spezifischen Problemlagen und Bedürfnisse des Klientels realistisch begriffen und bedürfnisgerecht verändert werden können.

Die Praxis verkehrspsychologischer Therapie ist mehr als die Summe der Anwendungen verkehrspsychologischer Forschungsergebnisse und/oder psychotherapeutischer treatments auf den einzelnen Klienten. Hinzu kommt, dass es nicht möglich ist, die wissenschaftli-chen Ergebnisse auf Gruppenebene auf die individuelle Ebene des Einzelfalls zu übersetzen. Zu wissen, welchen Risiken ein Ver-kehrsteilnehmer, der der Gruppe der "Raser", im Straßenverkehr ausgesetzt ist und welche Risiken er bereit ist, in Kauf zu nehmen, heißt nicht zu wissen, was "mein Klient" in meiner verkehrspsycho-logischen Praxis an risikobewussten Einstellungen im Straßenver-kehr entwickelt hat.

Ebenso ist es nicht möglich, allein aus der Tatsache, dass ein Klient eine psychotherapeutische Behandlung mit Erfolg abgeschlossen hat, zu schließen, dass sich der Klient nachhaltig und tief greifend in seinen Einstellungen und Verhaltensweisen im Straßenverkehr geändert hat.

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SKEPTISCHE ARGUMENTE

Eine erfolgreich abgeschlossen Psychotherapie erlaubt von sich aus noch nicht die Prognose, dass der psychotherapeutisch Behandelte eine Verhaltens- und Einstellungsänderung vollzogen hat, die auch zu einer "charakterlichen Nachreifung" oder einem höher entwickel-ten Verantwortungsbewusstsein der Rechte und Pflichten als Verkehrsteilnehmer ("Verkehrsmoral") geführt haben. So darf nicht allein aufgrund des Nachweises einer erfolgreichen Psychotherapie davon ausgegangen werden, dass bewiesen ist, dass der Behandelte auch künftig nicht gegen Normen und Gesetze im Straßenverkehr verstoßen wird.

Auch die gutachterliche Aussage des Verkehrspsychologen oder Verkehrsmediziners bietet ohne Rückgriff auf Legalbewährungsdaten (LBD) nicht die Gewähr, dass der Begutachte sich zukünftig im Straßenverkehr legal bewegen wird.

Vor dem Hintergrund dieser Betrachtungen wäre es von theoreti-schen Interesse, wenn wir ein Vierfelderschema der Wirkung (Standardtherapie und Standardbegutachtung) und der Wirkungser-wartung (Scheintherapie und Scheinbegutachtung) von verkehrspsy-chologischer Begutachtung und Therapie verwirklichen könnten, das sowohl auf seine legale Bewährung als auch auf seine klinischen Unterschiede getestet wird.

C. DIE DOKUMENTATION UND EVALUATION DER auto-MOBIL® - PARTNERSCHAFTSGESELLSCHAFT

Die Entstehungsgeschichte der auto-MOBIL®-Evaluation vollzog sich in den Jahren 1995 bis 1999 in einem Dreierschritt.

1. Wir Partner von auto-MOBIL® haben uns entschieden, nur solche psychotherapeutischen Theorien und therapeutischen Interventi-onsmethoden in unseren Praxen anzuwenden, die von der wissen-schaftlichen Gemeinschaft evaluiert und von deren task-forces als wirksam erachtet wurden.( Grawe, Donati, Bernauer,1994 und Grawe, 1996; Bergin, Garfield,1994; Dobson, Craig, 1998). So können wir in jedem Fall einer verkehrspsychologischen Therapie sicher sein, dass wir damit eine notwendige Bedingungen erfolgrei-

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cher Therapie realisiert haben, weil nur statistisch und klinisch wirksames Therapieverfahren zur Anwendung kamen.

2. Wir haben uns die von der Psychotherapieforschung als wirksam evaluierten Therapieformen und Interventionstechniken im Alkoholismusbereich angeschaut (Hester, R.K., Miller, W.R., 1989) und sie auf die Umsetzbarkeit in das verkehrspsychologische setting eines niedergelassenen Diplom-Psychologen geprüft. Die kognitiv-behaviorale Therapie (CBT), das transtheoretische Modell der Verhaltensänderung im Suchtbereich (Prochaska, u.a.1994), die Anregungen der motivationalen Interviewführung (Miller, Rollnik) und die systemische Kurzzeittherapie (Berg, Miller, 1993; de Shazer, 1988 u. 1989) haben wir ausgewählt. In gemeinsamen Diskussionen sind wir zum Ergebnis gekommen, dass ressourcen- und lösungsori-entiert sowie kurzeitmäßig angewandte CBT (1.) verkehrspsycholo-gisch ( theoretisch fundiert durch eine Theorie der Verkehrsintelli-genz) sinnvoll ist, (2.) einzelfallbezogen wirksam ist (empirisch geprüft und mit Daten aus der Legalbewährung gestützt) und (3) für das Praxissetting des niedergelassenen Diplom-Psychologen praxisrelevant ist (supervisorisch geprüft).

Aus unserer Idee ist damit ein verkehrspsychotherapeutisches Leistungsangebot geworden, von dem wir glauben, dass es sich in der Praxis bewährt hat (Hammer, u.a., im Druck)

3. Wir haben eine - die einzelnen Praxen übergreifende - gemeinsame Dokumentation und Evaluation der verkehrspsychologisch bedeutsamen therapeutischen und diagnostischen Tätigkeiten entwickelt. Im Versuch, den Graben zwischen Psychotherapiefor-schung und Praxis der Psychotherapie zu begreifen und tendenziell auch zu überbrücken, haben wir die Dokumentation und Evaluation zur Praxisreife gebracht (Rothenberger, 1997).

DOKUMENTATION/QUALITÄTSSICHERUNG

Im Verlauf einer mehr als zweijährigen Arbeit der auto-MOBIL® -Partner wurden die folgenden Fragen beantwortet und die damit zusammenhängenden Praxisprobleme gelöst:

- Was ist Verkehrsverhaltenstherapie?

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- Wie muss eine verkehrspsychologisch angemessene Doku-mentation einer verkehrspsychologischen Therapie ausse-hen?

- Welche Form der verkehrspsychologischen Dokumentation ist in der Praxis sinnvoll und ohne zu hohen Aufwand durchführbar?

- Welche Form der Dokumentation kann in den einzelnen Praxen für alle verbindlich zur Anwendung kommen?

EVALUATION

- Kann ein fachlicher Konsens darüber hergestellt werden, welche vorhandenen psychodiagnostischen Verfahren die Veränderungen eines Klienten in einer verkehrspsychologi-schen Psychotherapie am einfachsten und genauesten mes-sen?

- Wie muss eine verkehrspsychotherapeutische "core battery" aussehen?

- Welche Kriterien sollten ausgewählt werden, um entschei-den zu können, welche Verfahren benutzt werden sollen?

- Was sollte eine verkehrspsychotherapeutische core battery messen?

- Welche einzelnen diagnostischen Verfahren sollten in eine verkehrspsychologische core battery aufgenommen werden?

Seit Ende 1999 liegt ein ausgearbeiteter Vorschlag für eine core battery für verkehrsauffällige Kraftfahrer mit Problemen mit Alkohol, Drogen (BTM) und Punkte vor. Er wurde bisher an 82 Klienten aus den auto-MOBIL® -Praxen erprobt.

Wir können im Folgenden nicht auf die Erörterung der vielfältigen Praxisprobleme eingehen, die in den oben genannten Fragen enthalten sind. In dem, was folgt, werden wir uns auf drei Fragen beschränken.

1. Wie kann eine (a) verkehrspsychologisch relevante sowie (b) klinisch wirksame und (c) in der verkehrspsychologischen Praxis nützliche core battery für verkehrsauffällige Autofahrer aussehen?

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2. Welche Ergebnisse der Dokumentation sind in Verbindung mit den Ergebnissen der core battery psychologisch relevant?

2.1 Sind die bisherigen Ergebnisse der core battery in der verkehrs-therapeutischen Praxis nützlich?

D. DIE CORE BATTERY VON auto-MOBIL®

Eine core battery besteht aus einer standardisierten Anzahl von psychodiagnostischen Verfahren für eine bestimmte Patientengrup-pe. (Strupp, Horowitz, Lambert, 1997).

Wir benötigen eine Batterie von Tests, die (a) die allgemeine Symptombelastung, (b) die spezifische Alkoholproblematik, (c) die interpersonellen Schwierigkeiten, (d) die persönlichen Eigenschaften und (e) die Karriere der Verkehrsauffälligkeiten der Klienten messen können.

Ausschlaggebend für die Auswahl der Testverfahren waren die vorhandenen und uns zugänglichen Forschungsergebnisse und Praxiserfahrungen

- Kognitive Therapie der Sucht (Beck, u.a. 1997)

- Lösungsorientierte Kurzzeittherapie bei Alkoholkranken (Steve deShazer,1988, 1989; S.D. Miller und Insoo Kim Berg, 1997; Berg, Miller, 1993).)

- Dimensionale Beschreibung von Persönlichkeit nach dem Fünf-Faktoren-Modell, sowie zur forensischen Bewertung und Behandlung von Straftätern ( Costa, Widiger: Personali-ty Disorders and the Five-Factor Model of Personali-ty,1994).

- Motivierende Gesprächsführung (Miller, Rollnik).

- Transtheoretische Modell (TTM) der Veränderung ( Pro-chaska, u.a: Jetzt fange ich neu an).

- Qualitätskontrolle in der Psychotherapiepraxis (Bergin, Garfield).

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- Ergebnisse der Wirksamkeitsforschung und der Psychothe-rapieforschung im Alkoholismusbereich (Hester, Miller, 1998)

- Unser verkehrsverhaltenstherapeutischer und psychologi-scher Ansatz zur Verkehrssicherheit (Hammer, u.a., im Druck).

Für die folgenden Verfahren zur dimensionalen Beschreibung der Zustände und Eigenschaften unseres Klientels haben wir uns entschieden:

A 1. Patientenangaben: Verkehrspsychologische Anamnese (Selbstauskunft)

- Fragen 1 bis 23

- Therapieziele für die verkehrspsychologische Behandlung (Zielerreichungsskala)

A 2. Therapeutenangaben (zu Behandlungsbeginn und Behandlung-sende)

- Fragen 1 bis 9 z.B. Wurde der Klient jemals wegen einer Straf-tat verurteilt (5 Kategorien) Frühere verkehrspsychologische Maßnahmen (17 Kategorien) Hauptdiagnosen nach DSM-IV oder durch SKID/ICD-10

B. Deskriptiv

- States und Symptombelastung (Disstress): SCL-90-R (Fakultativ BDI, STAI X1 und X2, STAXI)

- Traits/Kriterien 16 PF-R

TAI Skalen 1 bis 3 (nur für alkoholauffällige Kraft-fahrer) SET für alkoholauffällige Kraftfahrer (nur in 2 Pra-xen)

IIP-C

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C. Module - Kognition: KFP-30 (nur für Punktetäter) - Verhalten: d2 (fakultativ) - Psychodynamik: OPD (Achse II Beziehung,

Achse III Konflikt (fakultativ))

E. ERSTE ERGEBNISSE der auto-MOBIL® EVALUATION

Ohne die Hilfe von Prof. Dr. Rudolf Günther, Psychologisches Institut der Universität Tübingen, hätten wir die statistische Datenverarbeitung und die statistischen Analysen unserer auto-MOBIL® -Evaluationsdaten nicht durchführen können. Wir bedanken uns bei ihm an dieser Stelle für seine wertvolle Unterstüt-zung. Selbstverständlich sind nur wir für Interpretationen und Schlussfolgerungen aus den auto-MOBIL® -Daten verantwortlich.

E 1. Sozialstatistische Daten

Tabelle : Soziodemographische Kenngrößen der Klientenstichprobe Alter Bis 40 J. 49.3 Über 40 J 50.7 Geschlecht Männlich 80.8 Weiblich 19.2 Nationalität deutsch 88.7 Übersiedler 5.7 Andere Nat. 5.7 Familienstatus ledig 34.0 verheiratet 26.4 getrennt leb. 7.5 geschieden 17.0 verwitwet 9.4 wieder verh 5.7

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Partnersituation kurzfristig kein Partner 13.5 langfristig kein Partner 19.2 wechselnde Partner 3.8 fester Ehepartner 34.6 fester(nicht-Ehel.)Partner 28.8 Wohn-, Haushaltssituation eigener Haushalt 84.9 private Wohng, Zimmer, WG insg. 100.0 Schulabschluss Hauptschule 37.7 Realschule 34.0 (Fach-) Abitur 28.3 Ausbildungsabschluss noch in Ausbildung 3.8 Lehre/Fachschule 51.9 Meister, Techniker 11.5 (Fach-) Hochschule 17.3 ohne Abschl. 7.7 sonst. 7.7

In Auswertung und Interpretation der sozialstatistischen Daten ist festzuhalten:

1. Frauen holen auf! Die Daten zeigen ein Klientenverhältnis von 1:5 in der verkehrspsychologischen Therapiepraxis. D.h. auf eine Frau in der verkehrspsychologischen Therapie (VpT) kommen fünf Männer. Vor Jahren war das Verhältnis - meiner Schätzung nach auf Grund der Klientenzahlen in meiner Praxis - noch 1:10.

2. In der VpT behandeln wir nicht nur Unterschichtsklienten. Das Problem "Alkoholtäter", das wir in unseren Praxen wahrnehmen, ist kein eindeutiges Unterschichtsproblem. Als Verkehrspsychologen dürfen wir nicht davon ausgehen, dass wir die Aufgabe haben, eine abweichende gesellschaftliche Gruppe an die bestehenden Normen und Gesetze im Straßenverkehr anzupassen. Wir haben es mit ganz normalen und durchschnittlichen Personen zu tun, die nicht nur aus der Unterschicht kommen und die als normal angepasst an die gesellschaftlichen und verkehrsrechtlichen Normen gelten dürfen.

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3. Es handelt sich bei den Klienten einer VpT schon deshalb nicht um Unterschichtsklienten, weil beinahe Zweidrittel (62%) unserer Klienten eine weiterführende Schule besucht haben und die Hälfte über eine abgeschlossene Lehre verfügen. Beinahe ein Drittel (29%) haben Abitur und mehr oder aber einen Meistertitel. Ein fehlender Abschluss oder ein Sonderschulabschluss ist fast nie zu beobachten. Wir haben es mit gut ausgebildeten Personen zu tun, die uns in unseren Praxen aufsuchen.

4. Viele Klienten einer VpT müssen Erfahrungen mit diskordanten Beziehungen gemacht haben. Knapp 40% der Klienten leben nicht in festen Beziehungen. Und nur jeder vierte Klient (26%) ist verheiratet, jedoch ist nur jeder fünfte geschieden (17%).

E. 2. Schuldabwehr oder Verantwortungsübernahme, Problembe-wusstsein und therapeutische Selbstwirksamkeit

In der Frage 1 (1.21) der "Verantwortlichkeitsskala" wird der Klient nach dem Gefühl der Verantwortlichkeit gefragt, wie stark er sich für seine Verkehrsstraftaten verantwortlich fühlt. Gemessen werden kann sein Bewusstsein einer legalen Verantwortung für seine Verkehrsstraftaten und Ordnungswidrigkeiten oder aber die Stärke seiner Schuldabwehr, wenn zugleich mit einem geringen Wert auf der "Verantwortlichkeitsskala" ein hoher Wert auf der "Zielskala" (1.22) erreicht wird

Mit der Frage 2 (1.22), der "Zielskala", wird der Klient aufgefordert, den Abstand zwischen seinem Problem und seiner angemessenen Problemlösung realistisch einzuschätzen. Es wird vom Klient eine eher kognitive Wahrnehmung oder kalte Schätzung einer vorgegebe-nen Anzahl von Schritten (1 bis 10) verlangt, die beschreiben "wo er heute steht". Daraus kann der Therapeut erkennen, wie viel Schritte der Klient seiner Meinung nach noch zu tun hat, um die Lösungen seiner Probleme, die ihn in die verkehrspsychologische Therapie geführt haben, zu erreichen.

In der Frage 3 (1.23), der "Vertrauensskala", wird der Klient aufgefordert, in einer eher affektiven und warmen Wahrnehmung der Stärke von 1 bis 10, einzuschätzen, wie hoch sein Vertrauen in sich und seine Fähigkeiten ist, alle die von ihm erkannten ( und implizit auch die von ihm noch nicht erkannten) Probleme in seiner

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Therapie auch lösen zu können. Der Therapeut kann daraus die Quantität, d.h. die Stärke sowie die Qualität der "therapeutischen Selbstwirksamkeit" seines Klienten ableiten und prüfen, wie stark der Klient sich selbst für seine Therapie zu engagieren bereit (commitment) ist und wie groß sein Vertrauen ist in seine Fähigkeit, in der Therapie erfolgreich zu sein (therapeutische Selbstwirksam-keit), vielleicht sogar wie groß sein Vertrauen ist, ein Recht oder eine Garantie zu haben, erfolgreich zu sein, bzw. erfolgreich sein zu dürfen. Nicht gefragt wird nach der Selbstachtung oder nach (der Illusion des) dem Selbstwertgefühl des Klienten.

Tabelle: Antwortverteilung zu individuellen Problemeinstellungen in den Fragen 1 bis 3

Pers. Verant. f. Derz. Distanz zu Zukunftsvertrauen Verkehrsprobleme Problemlösung Lösbarkeit Pr. ________________________________________________________ 1 (gering) .0 2.1 .0 2 .0 .0 .0 3 2.6 4.3 .0 4 2.6 6.4 .0 5 10.5 14.9 .0 6 2.6 8.5 2.1 7 5.3 19.1 2.1 8 15.8 21.3 12.8 9 10.5 10.6 17.0 10 (hoch) 50.0 12.8 66.0 ________________________________________________________

100% 100% 100%

Tab. 1 der Fragen 1.21 bis 1.23 aus Günther, R. Tübingen, 2004, S. 5.

Die statistische Analyse der drei Fragen hat ergeben, dass sich keine Hinweise für Alters- oder Geschlechtsunterschiede finden lassen (jeweils p> 10%). Ebenso überraschend wie praktisch wertvoll ist der Befund, dass keine der drei Skalenwerte mit der punktebelegten Verkehrsauffälligkeit korrelieren. Dies ist ein für die Therapiepraxis bedeutsamer Befund. Rechtlicher Tatbestand (Verhalten) und subjektive Befindlichkeit bzw. Unrechtsbewusstsein (Einstellung) entsprechen sich nicht.

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Die persönliche Verantwortung für die Verkehrsstraftaten (Frage 1), die zu Punkten und Bestrafungen geführt haben, wird von einer Mehrheit von 76% (Skalenwert 8, 9, 10) gefühlt. Jedoch fühlt sich eine Gruppe von 5% überhaupt nicht oder nur in einem sehr geringen Ausmaß verantwortlich für begangene Verkehrstraftaten.

In der Frage 2, in der nach der räumlichen Distanz von Start zu Ziel der Problemlösung gefragt wird, ergibt sich eine 50 zu 50 Verteilung. Oder man nimmt eine Gruppe von einem Drittel wahr, die keine Lösungen erkennen, aber möglicherweise ein hohes Problembe-wusstsein haben. Man kann aber auch eine Gruppe von ca. 50% (44.7% für die Skalenwerte 8-10)) mit einer als sehr hoch erlebten Problemlösung wahrnehmen.

Die Frage 3 nach der therapeutischen Selbstwirksamkeit wird überraschend hoch eingeschätzt. Fast alle Klienten (95.7% für die Skalenwerte 8-10) schreiben sich ein extrem hohes Selbstvertrauen in sich und ihre Fähigkeiten zu, die Therapie erfolgreich abzuschließen. Insofern darf gesagt werden, dass die Klienten schon zu Beginn ihrer Therapie eine sehr hohe Therapiemotivation besitzen.

Folgende Überlegungen können aufgeworfen werden und sollten in der Praxis bedacht werden.

Ein knappes Drittel der Klienten (27,7% für Skalenwerte 1-5 in der Frage 2) erkennt bei sich ein "Problem, das professionelle Hilfe erfordert" und schätzt, dass es noch keine Lösung der erkannten Probleme gefunden hat. Insofern darf ein hinreichend gutes Problembewusstsein unterstellt werden. Ungefähr die Hälfte der Klienten hat ein Problembewusstsein, das mit der Mittelposition beschrieben werden kann "gleich weit vom Start wie vom Ziel entfernt" (48,9% für 4-7). In der Gruppe, die eine Lösung hat (44,7% für die Skalenwerte 8-10 in Frage 2) kann aber auch ein "Normalisie-rungsdruck" ein ausreichendes Problembewusstsein verhindert haben.

Nun zeigt sich, dass die Skalenwerte für Skala 1 nicht mit den Werten von Skala 2 korrelieren (r= -0.8, n.s.) Damit können wir nicht annehmen, dass eine gefühlte Verantwortlichkeit für das eigene Verkehrsverhalten und speziell für die begangenen Verkehrsvergehen mit einem erhöhten Problembewusstsein oder mit einem erhöhten Problemlösungsbewusstsein verbunden ist. Vielmehr haben wir

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einen Befund, der besagt, dass (erstens) schon zu Anfang einer verkehrspsychologischen Therapie eine sehr hohe therapeutische Selbstwirksamkeit wahrgenommen wird. Und dass (zweitens) diese Wirksamkeitserwartung das Risiko einer Schuldabwehr einschließen kann sowie die Möglichkeit einer fehlenden Konsistenz zwischen normativer Erwartung und empirischer Wahrnehmung, d.h. eine Fusion zwischen dem, was man tun sollte und dem, was man tatsächlich getan hat. Die therapeutische Folgerung daraus muss deshalb lauten: Zu Beginn einer verkehrspsychologischen Therapie ist die verlässliche Umsetzung der gefühlten Verantwortlichkeit in richtiges Handeln nicht als Bedingung zu fordern, sondern vielmehr als Ziel zu formulieren.

Es ist nun unsere Hypothese, dass in einer erfolgreichen verkehrs-psychologischen Therapie die Sensibilisierung für das Thema "Verantwortlichkeit für ein intelligentes Verkehrsverhalten" geschieht. Noch fehlen uns Beweise, die über die Legalbewährungs-daten (LBD) der BNV-Studie hinausgehen, dass am Ende einer erfolgreichen Therapie die als richtig erkannten Verkehrseinstellun-gen auch mit dem realen Verkehrsverhalten übereinstimmen. Umgekehrt aber: Wir haben in den LBD den Beweis, dass verkehrs-psychologische Therapie zur gelingenden Übernahme von Verant-wortung für das eigene Verkehrsverhalten führt. Und wir haben in den auto-MOBIL®-Daten den Beweis, dass die Klienten zu Anfang ihrer Therapie noch keine Verantwortung für ihre Verkehrsauffäl-ligkeiten übernommen haben , sondern lediglich eine Quasiver-pflichtung, die jedoch abstrakt bleibt und noch nicht auf die begangenen und punktebelegten Verkehrsverstößen bezogen ist. Insofern kann diese Form einer Quasi-Verantwortlichkeit auch eine Art Entschuldigung oder gar eine Schuldabwehr darstellen, die die Bereitschaft aus den eigenen Fehlern zu lernen eher behindert als fördert. (Die geringe Änderungsbereitschaft oder gar Änderungsresis-tenz entspricht im Bereich exzessiven Alkoholkonsums der Strategie des Bagatellisierens. Sie dient auch dort der Bestätigung der Wahrnehmung im Recht zu sein, mit der positiv erlebten Konse-quenz sich nicht ändern zu müssen.) Beziehen wir die beiden Aussagen aufeinander, dann dürfen wir behaupten, dass es in der verkehrspsychologischen Therapie mit großer Wahrscheinlichkeit gelingt, die anfänglich nur gefühlte Verantwortlichkeit für das eigene

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Verkehrsverhalten in eine aktualisierte rechtliche Verantwortlichkeit zu verwandeln.

E 3. Kundenzufriedenheit mit der verkehrspsychologischen Therapie

Tabelle nach Günther, 2004

Die Tabelle stellt die Auswertung des Kundenzufriedenheitsbogens der auto-MOBIL® Partnerschaftsgesellschaft dar. Zum Ende der Therapie wird dieser Bogen dem Klienten mit der Bitte vorgelegt, die Zufriedenheit mit dem Therapieangebot einzuschätzen. Die Tabelle gibt den Anteil der Klienten an, die "sehr zufrieden" (Rohwert 5) mit dem therapeutischen Leistungsangebot waren.

Es wurden fünf Smiles von "überhaupt nicht" bis "sehr" vorgegeben, die den Grad an Zufriedenheit mit den folgenden neun Bereichen am besten wiedergeben: Z1. Der frühzeitige Hinweis auf die auto-MOBIL®-Praxis und ihr Praxisangebot Z2. Die Stärke des eigenen Wohlfühlens in der Praxis. Z3. Die Qualität der Beratung in eigener Führerscheinangelegenheit. Z4. Die Fähigkeit das eigene Verkehrsverhalten zu ändern. Z5. Die Anregungen in der Therapie, die über das Problem Führerscheinerwerb hinausgehen. Z6. Das Gefühl sich vom Therapeut verstanden gefühlt zu haben.

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Z7. Die entstandenen Therapiekosten. Z8. Die Erfüllung der Erwartungen an den Therapeuten Z9. Die Zufriedenheit mit dem Ergebnis der Therapie, insgesamt.

Die Daten zeigen, wenn ihre Interpretation mit der gebotenen Vorsicht durchgeführt wird, dass der Großteil der Klienten (ca. 80%) sich nicht gut und nicht rechtzeitig genug über das Leistungsangebot in den auto-MOBIL® - Praxen informiert fühlen. Dem steht das zentrale Datum gegenüber, dass 9 von 10 Personen, die eine auto-MOBIL® - Praxis aufgesucht haben, mit dem Ergebnis der Therapie sehr zufrieden waren.

Kritisch muss angemerkt werden, dass 6 von 10 Klienten der Meinung waren, die Therapie war wirklich ihr Geld wert. Daraus mag abzulesen sein, dass fast die Hälfte der Klienten sich geringere Therapiekosten wünschen würden. Ebenfalls 6 von 10 Klienten gaben an, mit den Strategien sehr zufrieden zu sein, mit denen sie ihr eigenes Verkehrsverhaltens ändern können.

Zusammen mit der Einschätzung zu Z5 kann gezeigt werden, dass man nicht annehmen sollte, dass die Klienten im Bereich des Umgangs mit Alkohol mehr von ihrer Therapie profitiert haben als im Bereich ihres zukünftigen Verkehrsverhaltens. Es darf vielmehr vermutet werden, dass den Klienten zu Ende ihrer Therapie bewusst ist, nicht nur besondere Strategien im Umgang mit Alkohol am Steuer, sondern auch allgemeine Strategien zur Änderung ihres Verhaltens im Straßenverkehr gelernt zu haben.

Die Einschätzungen der Zufriedenheit mit den behavioralen, verkehrsbezogenen Qualitäten des Therapieangebots (Z4 und Z5) erreichen jedoch nicht die Höhe der Zufriedenheit mit den affektiven Qualitäten der therapeutischen Beziehungsqualität (Z6 und Z8). Die Zufriedenheit mit der Beziehungsqualität entspricht jedoch der gleich hohen Zufriedenheit (Z8) mit der Beratung in der eigenen Führerscheinangelegenheit(Z3).

E 4. Gibt es eine Täterpersönlichkeit des alkoholmißbrauchenden Verkehrsstraftäters?

"Der Mensch", soll William Butler Yeats einmal gesagt haben, "ist am wenigsten er selbst, wenn er in eigener Person spricht. Gib ihm

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eine Maske, und er sagt dir die Wahrheit." Was für Yeats die Maske war, ist für uns die objektive Persönlichkeitsdiagnostik geworden.

Es wird von Therapeuten noch zu wenig beachtet, dass die Psychodiagnostik in sich therapeutisch wirksam sein kann. Objektive, klinisch-diagnostische Messungen können einen Prozess therapeutischer Veränderung bewirken oder zumindest einleiten. Der therapeutische Impact klinischer Psychodiagnostik ist reflektie-renden Klinikern schon lange bekannt.

Finn & Butcher (1991) nennen vier Quellen der therapeutischen Wirkung von objektiver Persönlichkeitsdiagnostik:

1. Rapport herstellen, auch zu sog. schwierigen oder bagatellisieren-den Klienten:

"When objective personality testing is performed in a collaborative atmosphere with the client - with attention to the client's goals and questions, full test feedback as to results, and post hoc explanations about the nature of the test - it can be a positive experience for the client. We have repeatedly found that clients who markedly distrust both assessment and therapy can increase their trust through participating in objective personality assessment."

2. Erfahrungen des Klienten benennen (Naming the client's experience):

"One of the most beneficial aspects of objective personality testing, and indeed of all assessment, is that it helps clients to put words to, or name their experiences. This may sound a trivial matter, but its importance cannot be overestimated."

3. Material in die Therapie einführen:

"Once an experience or feeling is named (renamed, reframed and validated), it can be an open topic of discussion. Objective personal-ity assessment is often a no threatening way to raise sensitive topics in therapy sessions and to return to those topics during the course of psychotherapy. The beauty of using test results for this purpose is that if the client is threatened by or denies emotionally sensitive material, the therapist can always defer, placing responsibility for the interpretation on the test."

4. Therapeutische Veränderungen dokumentieren:

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"Objective personality assessment may be helpful in recording changes in a client during the course of treatment. Some changes may be readily apparent to client and therapist-...Other changes may only become evident through the process of the testing."

Die objektive Diagnostik von Persönlichkeitseigenschaften wird von uns angewandt, nicht um am persönlichkeitspsychologischen Diskurs teilzunehmen und mit zu bestimmen, was die personalen und situativen Invarianzen sind, die das Individuum in seiner Kontinuität als auch offensichtlichen Diskontinuität innerhalb seiner Lebenspanne bestimmen.

Wir wollen die Diagnostik innerhalb der verkehrspsychologischen Therapie zur Anwendung bringen, um - den therapeutischen Rapport zu unserem Klienten zu sichern, - mit ihm zusammen ein therapeutisch-motivierendes Gespräch über seine Änderungsbereitschaft beginnen zu können, - die unterschiedlichen Facetten der Subjektivität unseres Klienten als Autofahrer möglichst unverzerrt wahrnehmen zu können, - ihm zu helfen, den personalen Hintergrund seiner Alkoholkarriere und seines Verkehrsverhaltens zu ergründen, - einen objektiven Befund zur Verfügung zu haben, um die Diagnose einer psychischen Störung und wenn nötig einer Persönlichkeitsstö-rung absichern zu können.

Die Suchtpersönlichkeit?

In der klinischen Praxis werden oftmals ein bestimmter Typ der Persönlichkeit oder typische Persönlichkeitseigenschaften von Alkoholkranken zur Erklärung der Entstehung und Aufrechterhal-tung des Alkoholismus herangezogen.

Dafür lassen sich nach Becker und Quinten (2003) drei Hypothesen unterscheiden.

1. Alle Alkoholkranken sind in ihrer "Suchtpersönlichkeit" gleich. Diese Homogenitätsannahme besagt, dass es eine ty-pische Persönlichkeitsstruktur gibt, wonach sich Alkohol-kranke im Hinblick auf ihre Persönlichkeitseigenschaften untereinander sehr ähnlich sind und sich darin deutlich von Nicht-Alkoholkranken unterscheiden.

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2. Alkoholkranke bilden eine heterogene Patientengruppe, in der sich die gleichen Facetten der Persönlichkeitseigenschaf-ten finden lassen wie in der Gesamtbevölkerung.

3. Alkoholkranke lassen sich nach Becker und Quinten(2003) in vier Persönlichkeitstypen einteilen, die zwar keine ho-mogene Gruppe bilden, jedoch charakteristische Persön-lichkeitsprofile aufweisen, deren Kenntnis zur Erklärung der Ätiologie und zur Planung der Therapie beitragen kön-nen.

Wir haben uns die Beschreibungen unserer Klienten in den einzelnen psychodiagnostischen Verfahren (FPI, 16 PF-R, IIP-C, MMPI-2; in jüngster Zeit auch TIPI, NEO-PI-R und TVP) angeschaut und uns gefragt, warum die Klienten sich so beschreiben wie sie es tun und welche Botschaft sie mit ihren Beschreibungen an uns weitergeben wollen.

Im Folgenden beschränke ich mich auf die Darstellung der 16 PF-R Ergebnisse. Dabei nutze ich die Erfahrungen, die Karson, Karson und O`Dell (1999) bei der Interpretation des 16 PF-R in ihrer klinischen Praxis gewonnnen haben.

Wir interpretieren den objektiven Befund folgendermaßen:

1. Die Gruppe der mit Alkohol am Steuer auffällig gewordenen Verkehrsteilnehmer unterscheidet sich nicht wesentlich von der Kontrollgruppe aus der Bevölkerung.

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2. Die Klientengruppe auffällig gewordener Verkehrsteilnehmer repräsentiert die gesamten Persönlichkeitseigenschaften des 16 PF-R.

3. Merkmalsausprägungen in objektiven Persönlichkeitstests stellen nicht nur Einschätzungen der Probanden über faktisch vorhandene Persönlichkeitseigenschaften dar. Sie sind auch als Mitteilungen an den Therapeuten zu begreifen im Hinblick auf die im Straßenver-kehr bedeutsamen normativen Erwartungen an sich selbst sowie als Selbstcharakterisierung eines guten Autofahrers mit gemeinsam geteilten Idealen im Straßenverkehr (Verkehrsmoral). Wir vermuten: Zu Anfang der verkehrspsychologischen Therapie gibt diese Gruppe an ihren verkehrspsychologischen Therapeuten ein Selbstverständnis weiter, das den normativen Erwartungen an einen guten Autofahrer entgegenkommt.

4. Vor dem Hintergrund einer normativen Wahrnehmung der Skalenwerte liest sich das 16-PF-Profil in therapeutischer Absicht folgendermaßen:

Faktor PF-G+: hohes Regelbewusstsein: Skalenwert 7,1. Das erhöhte Ausmaß an Regelbewusstsein zeigt die Bereitschaft an, mit den sozialen Idealen konform zu gehen, und sich den Re-geln der Gruppe nicht nur bewusst zu sein, sondern sie auch zu achten und ihnen im konkreten Verhalten zu folgen.

Faktor PF-Q3+: Skalenwert 7,0. Hoher Perfektionismus oder klinisch ausgedrückt hohe Zwanghaftigkeit: Nach Catell steht Zwanghaftigkeit für das Ausmaß, in dem eine Person für sich selbst ein klares und konsistentes Muster sozial gebilligter Verhaltensstandards ausgebildet hat.

Sekundärfaktor PF-3: Selbstkontrolle (SK): Skalenewert 6,8. Diese Skala III (SK) beruht auf hohem Regelbewusstsein (G+) und Zwanghaftigkeit (Q3+). Hohe Selbst- und Verhaltens-kontrolle weisen diejenigen Personen auf, die Gesetze und Re-geln achten, das Bedürfnis haben, Ordnung herzustellen und aufrechtzuerhalten und im Zusammenhang mit einer erhöhten Ich-Stärke auch eine wirksame Impulskontrolle praktizieren.

Normative oder sozial erwünschte Selbstdarstellungen dürfen nicht nur als Unfähigkeit zur realistischen oder empirischen Wahrneh-mung der eigenen Probleme interpretiert werden. Aus klinischer Sicht sind diese Selbstdarstellungen auch als spezifische Mitteilungen

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an den Therapeuten zu begreifen. Sie dürfen als authentische normative Wahrnehmungen des Klienten, wie er sich zukünftig im Straßenverkehr verhalten soll und will, anerkannt werden. Nur so können sie auch therapeutisch utilisiert werden.

Damit fügen wir der Interpretation des Sekundärfaktors III durch Karson u.a (1999, S. 76f) eine neue, nicht naturalistische Interpretati-on hinzu.

Ergebnis: Wir sollten hinsichtlich des verkehrspsychotherapeuti-schen Klientels nicht von einer homogenen Personengruppe mit einer einheitlichen und abweichenden Täterpersönlichkeit ausgehen. Vielmehr wäre die Chance zu nutzen, in der Interpretation der objektiven Persönlichkeitstests eine normative von einer empiri-schen Wahrnehmung der Items und Skalen zu unterscheiden. Therapeutisch bedeutet dies, dass die "soziale Erwünschtheit" spezifischer Persönlichkeitseigenschaften konstruktiv anzuerkennen ist, denen der Klient folgen und in seinem zukünftigen Verhalten verkörpern will. Wir können die Bereitschaft des Klienten, Verantwortung für die konkrete Verwirklichung seiner sozial erwünschten Traits zu übernehmen, dann unterstützen, wenn wir bereit sind auch seine normative Botschaft an uns zu verstehen.

F. BEWERTUNG DER EVALUATIONSARBEIT DER auto-MOBIL® - PARTNERSCHAFTSGESELLSCHAFT

- Ohne die Interpretation empirischer Daten und deren Rückkoppe-lung an die Praktiker ist kein Lernen und damit auch keine Praxisverbesserung möglich.

o Problem: Mangel an Engagement und Interesse seitens der Therapeuten, solange in der Praxis alles gut läuft

- Aufwand für Evaluation und Darstellung der Ergebnisse wird als zu groß empfunden.

o Problem: Mangel an Einsicht und Sorgfalt/Disziplin

- Kombination von quantitativen und qualitativen Daten wün-schenswert.

Konsequenz: Die Entwicklung neuer und bereichsspezifischer, d.h. verkehrspsychologisch angemessener diagnostischer Verfahren, nicht

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die Übernahme vorhandener diagnostischer Verfahren, erscheint für die therapeutische Praxis wünschenswert.

LITERATUR

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(1) Interessierte können im Heft 2,1997 von VT&VM weiterlesen. Lesenswert ist auch: C.G. Long and C.R. Hollin: The Scientist-Practitioner Model in Clinical Psychology: A Critique, in: Intern. J. of Clin. Psychol. and Psychotherapy, Vol. 4(2), 75-83, 1997.

Dipl.-Psych. Dr. Bernd P. Rothenberger auto-MOBIL-Partnerschaftsgesellschaft - Spitalwaldweg 2 73733 Esslingen 0711-9325900 E-Mail: [email protected] www.auto-MOBILPartnerschaft.de

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Ruth Sarah Born & Axel Hansen

Cannabis- und Kokain-Konsumenten - Spezifika des verkehrspsychologischen (diagnostischen und therapeutischen) vs. suchtberatenden Begegnungskontextes

Abstract: Psychologen in den Arbeitsfeldern Suchthilfe und Verkehrspsy-chologie begegnen den (missbrauchenden bzw. abhängigen) Konsumenten von Suchtmitteln (Drogen, Alkohol) in unterschiedlichen Begegnungs-kontexten. Diese Settings unterscheiden sich hinsichtlich des psychologi-schen Auftrages in Beratung, Therapie und Begutachtung. Die unter-schiedlichen Aspekte der Settings sowie Unterschiede zwischen Cannabis- und Kokainkonsumenten werden beschrieben. Anhaltspunkte für die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Drogenkarriere werden aufgeführt. Als Hintergrundinformation werden relevante Thesen und Theorie (Transtheoretisches Modell, Motivierende Gesprächsführung) zum Verlauf von Abhängigkeit erörtert.

Keywords: Suchtberatung, Verkehrstherapie, Medizinisch-Psychologische-Begutachtung, MPU

Inhaltsübersicht

1. Einführung ins Thema

2. Zum Verlauf von Suchterkrankungen (Axel Hansen - AH)

3. Unterschiede zwischen Kokain- und Cannabiskonsumenten (Ruth Sarah Born - RSB)

4. Unterschiede im Setting zwischen Drogenberatung/-therapie, Verkehrstherapie und Begutachtung (RSB)

5. Exkurs: Motivierende Gesprächsführung (AH)

6. Hinweise auf eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Drogenkarriere (RSB)

7. Diskussion

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Teil 1: Einführung ins Thema

Seit über 15 Jahren stehen die Referenten in einem fachlichen Austausch, der sich auch auf die Felder Sucht und Verkehrspsycho-logie bezieht und in beiden Bereichen sowohl Diagnostik, Beratung und Therapie umfasst.

Die in diesen Jahren gewonnen Erfahrungen sollten zunächst Thema des Workshops sein, insbesondere sollte der Frage nachgegangen werden, warum Suchtklienten in der Drogenberatung/-therapie offener über ihren Drogenkonsum reden als in der Verkehrstherapie oder gar Begutachtungssituation. Doch bald zeichnete sich ab, dass aus dem geplanten Workshop durch die große Nachfrage eher ein Vortrag werden musste.

Unter dem Gesichtspunkt, dass es ein Vortrag vor Verkehrspsycho-logen sein sollte, haben wir aus dem Feld der Sucht einige der für diese Bezugsgruppe relevanten Themen dargestellt (Definitionen, Transtheoretisches Modell im Teil 2 und Motivierende Gesprächs-führung im Exkurs Teil 5).

Die Idee, diese Settingunterschiede hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf verschiedene Konsumentengruppen (Kokain und Cannabis) noch weiter zu spezifizieren scheiterte, da uns zu vielen Punkten immer wieder Gegenbeispiele einfielen.

Aus diesem Grund wurden die Unterschiede zwischen den Konsumentengruppen von Cannabis und Kokain in Teil 3 hinsicht-lich Drogenwirkung, Stressreaktionsmustern und Psychodynamik dargestellt.

Die grundlegenden Unterschiede der Begegnungskontexte Suchtbera-tung/-therapie und Verkehrspsychologie (Diagnostik und Therapie) vs. MPU (Begutachtung) arbeiteten wir im Teil 4 aus.

Ein Resümee des bisher Gesagten wurde in Teil 6 vorgenommen, indem wir aus den vorangegangenen Überlegungen Hinweise auf eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Drogenkarriere ableiteten.

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Teil 2: Zum Verlauf von Suchterkrankungen (AH)

Definitionen von Abhängigkeit

Die wesentlichen Aspekte von Abhängigkeitserkrankungen fasst Petzold in seiner Definition zusammen:

"Sucht ist eine chronisch rezidivierende, komplexe, somati-sche, psychische und soziale Erkrankung, die die Persönlich-keit des Drogenabhängigen und sein soziales Netzwerk be-trifft, beschädigt und - wenn sie lange genug wirkt - zerstört." (PETZOLD 1995)

In dieser Definition gibt es keine Festlegung auf eine besondere Substanz. Auch wird die im allgemeinen Sprachgebrauch übliche Einteilung in "harte" und "weiche" Drogen vermieden. Denn diese Kategorisierung trägt nicht dazu bei, Art und Ausmaß der tatsächli-chen Gefährdungen, die von den einzelnen Stoffen ausgehen, realistisch abzubilden. Zwar führen manche Drogen schneller in destruktive Entwicklungsprozesse als andere, jedoch sind die Form und das Ausmaß des Konsums für die Entwicklung einer Abhängig-keit wichtiger als die Art der Substanz:

Auf eine kurze Formel gebracht, heißt das: Es gibt keine "harten" oder "weichen" Suchtmittel. Wir sprechen von einem "harten" oder "weichen" Gebrauch.

Auch das ICD 10 kategorisiert die Suchtmittel hinsichtlich ihres Gefährdungspotentials nicht, sondern unterscheidet für jede Substanzgruppe u. a. zwischen "schädlichem Gebrauch" und "Abhängigkeitssyndrom":

Schädlicher Gebrauch "Konsum psychotroper Substanzen, der zur Gesundheitsschä-digung führt. Diese kann als körperliche Störung auftreten ... oder als psychische Störung ..." "Missbrauch psychotroper Substanzen"

Abhängigkeitssyndrom "Eine Gruppe von Verhaltens-, kognitiven und körperlichen Phänomenen, die sich nach wiederholtem Substanzgebrauch entwickeln. Typischerweise besteht ein starker Wunsch, die Substanz einzunehmen, Schwierigkeiten, den Konsum zu kon-

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trollieren, und anhaltender Substanzgebrauch trotz schädli-cher Folgen. Dem Substanzgebrauch wird Vorrang vor ande-ren Aktivitäten und Verpflichtungen gegeben. Es entwickelt sich eine Toleranzerhöhung und manchmal ein körperliches Entzugssyndrom."

(ICD-10-GM 2004)

Im ICD finden wir vor allem eine phänomenologische Beschreibung der problematischen Konsummuster. Sie zielt darauf, das Gefähr-dungspotential bzw. den Krankheitswert bestimmter Konsummuster global zu umreißen.

Die ICD Definitionen sind jedoch nicht geeignet, die individuelle Bedeutung des Drogenkonsums zu erfassen, geschweige denn, einen Konsumenten von möglichen problematischen Folgen seines Handelns zu überzeugen.

Um zu einer vollständigen Abbildung der Konsummuster zu kommen, sollte der nicht krankheitswertige Umgang mit Suchtmit-teln als "Gebrauch" mit erwähnt werden. Darüber hinaus sollte die Funktion des Konsums für den Konsumenten in die Definition einfließen.

Gebrauch Konsum, der nicht zur physischen und psychosozialen Desin-tegration führt (Spaß, soziales Ritual).

Missbrauch Konsum, der (zunehmend) im Sinne einer Selbstmedikation zur Abwehr gegen Krisen im Erleben eingesetzt wird (Erleich-terungstrinken, Joint zum Einschlafen, Kokain zur Steigerung der Leistungsfähigkeit). Häufig über die körperlichen Belastungsgrenzen hinaus vollzogenes Ritual.

Abhängigkeit Konsum, der nicht mehr der subjektiv freien Entscheidung des Konsumenten unterworfen ist. Konsum ist als Ritual bzw. als Selbstmedikation fest im Lebensablauf verankert.

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Thesen zur Suchtbiographie und zur Rolle der Drogenberatung /-therapie

These: Der Einstieg in eine Drogenabhängigkeit verläuft wie der Ausstieg und Rückfalle sind Teil der Experimente mit dem abstinenten Lebensstil.

Der Einstieg ist charakterisiert durch Experimente mit dem Suchtmittel. Der Ausstieg ist charakterisiert durch Experimente mit der Abstinenz.

Unter Experimenten verstehen wir Verhaltensweisen, die noch nicht stabil zum Verhaltensrepertoire eines Menschen gehören, sondern durch innere Befindlichkeiten oder äußere Rahmenbedingungen angeregt werden.

Menschliche Reifungs-/Wachstumsprozesse werden durch Experi-mente gefördert.

Aufgabe der Drogenberatung ist es, den Klienten dabei zu unterstüt-zen, seinen Mut zum Experimentieren wieder zu finden.

Dabei gilt es die Ambivalenz des Abhängigen Ernst zu nehmen: Er will zwar die Erfahrung des Gelingens machen, aber er befürchtet das Scheitern und unternimmt vielleicht erstmal gar nichts.

These: Rückfälle sind Ergebnisse notwendiger Experimente auf dem Weg in ein abstinentes Leben.

Rückfälle sind in diesem Denkmodell Ergebnisse notwendiger Experimente auf dem Weg in ein abstinentes Leben. Die Bewertung eines Rückfalls als Experiment kann auch als Einladung zum Selbstbetrug verstanden werden. Hier ist der Berater oder Therapeut gefordert, den ausstiegswilligen Konsumenten mit der Realität zu konfrontieren. Im Übrigen zeigt die Erfahrung, dass gerade die ausstiegsbereiten Konsumenten eher zur Dramatisierung ihrer Rückfälle ("Katastrophe...") neigen als zur Bagatellisierung. Aufgabe der Drogenberatung ist die Förderung der Grundhaltung "Schade, aber nicht schlimm." anstelle von "Wenn ich es jetzt nicht schaffe, ist alles verloren/zu spät." Denn Rückfälle liefern wichtige Informatio-nen über gute und schlechte Rahmenbedingungen für die Abstinenz.

Abhängige sollten daher lernen, unerwünschte Ergebnisse ihrer Experimente - Rückfälle oder andere kränkende Erfahrungen - zu

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akzeptieren, ohne die daraus folgenden Spannungen (Scham, Selbsthass) wiederum per Selbstmedikation "wegzumachen".

These: Der Erfolg einer suchttherapeutischen Maßnahme - bezogen auf den Konsum von Substanzen - misst sich an der Verlängerung suchtmittelfreier Intervalle, die durch Rückfälle unterbrochen werden können sowie an der Verringerung der Zeitspanne, die der Klient vom Rückfall oder Rückfallgedan-ken bis zur konkreten Suche nach Unterstützung durch Freunde, Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen etc. verstreichen lässt.

Diese Vorstellung spaltet die Biographie des Konsumenten nicht polarisierend in die Zeit "vor dem Ausstieg" und die Zeit "nach dem Ausstieg", sondern stellt die Dynamik seines Verhältnisses zum Suchtmittel in den Vordergrund. Zwar gibt es Suchtmittelmissbrau-cher und auch -abhängige, die nach einer Beratung oder Therapie dauerhaft von ihrem Suchtmittel lassen. Die meisten Abhängigen durchlaufen aber mehrfach den Ausstiegsprozess.

Denn im Zustand der Abhängigkeit erhalten stabile Verhaltensmus-ter den Konsum aufrecht. Im Ausstiegsprozess werden sukzessiv neue, die Abstinenz stützende Muster erlernt und stabilisiert. Die Ambivalenz, d. h. das Schwanken zwischen dem Konsum- und dem Abstinenzwunsch, endet nicht plötzlich, sondern neigt sich allmählich in Richtung einer immer eindeutigen und stabilen Abstinenz.

Das Transtheoretische Modell nach PROCHASKA u. DICLEMENTE liefert ein praxistaugliches Phasenmodell der Entwicklung von Einstellungen und des Verhaltens von Konsumen-ten abhängig machender Substanzen.

Das Transtheoretische Modell (PROCHASKA u. DICLEMENTE 1997)

Das Modell beschreibt 6 Phasen, die die Einstellung und das Konsumverhalten eines Suchtmittelgebrauchers in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge abbilden.

Die Phase der Absichtslosigkeit (1. Precontemplation) ist durch ambivalenzfreien Konsum charakterisiert. Sowie Zweifel an der

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Richtigkeit des Suchtmittelkonsums auftauchen, setzt die Phase der Absichtsbildung (2. Contemplation) ein. Zweifel am Konsum durch die Zunahme negativer Begleiterscheinungen münden in einen wachsenden Veränderungswunsch. Die gedankliche Vorbereitung auf den Ausstieg findet in der nächsten Phase (3. Preparation) statt. In der vierten Phase wird der Ausstieg konkret in Angriff genommen und umgesetzt (4. Action).

In der letzten Phase des Zyklus (5.Maintenance) wird das abstinente Konsumverhalten stabilisiert. In der letzten Phase (6. Termination) ist die Abstinenz endgültig stabil.

Im Falle eines Rückfalles kann der Zyklus erneut durchlaufen werden.

Spiralmodell der "Stages of Change" (aus: Prochaska, Norcross u. DiClemente, 1997).

Teil 3: Unterschiede zwischen Cannabis- und Kokainkonsumen-ten

Ausgehend von unseren Vor-Urteilen, aber auch den aus der Erfahrung gewonnenen Urteilen, ließen sich zwischen den beiden Konsumentengruppen durchaus Unterschiede formulieren: zum

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einen der intelligente, vergammelte 68er Kiffer und zum anderen der smarte, überaktive, erfolgreiche Kokainist. Allerdings fielen uns schnell Gegenbeispiele ein, so dass das Äußere oder der Werdegang kein hartes Kriterium für die Unterschiede zwischen den Konsumen-tengruppen sein kann.

Unterschiede der Drogenwirkungen

Dennoch besteht ein wesentlicher Unterschied, der durch die Erfahrung im Umgang mit den beiden Konsumentengruppen bestätigt wird. Dieser Unterschied ergibt sich im Wesentlichen aus der Wirkung der Drogen. Cannabis gehört zur Gruppe der Halluzinogene und Kokain zu den Stimulantien. Entsprechend der Drogenwirkung wird durch den Cannabiskonsum eine zurückgezo-gene Haltung im Sinne von ‚Aus-der-Welt-Gehen' und durch den Kokainkonsum eine aktivere Haltung in Richtung ‚In-der-Welt-Sein' gefördert.

Nach Gross (1990) lassen sich die Drogenwirkungen den drei Stressreaktionsmustern zuordnen:

1. Angriff / Kampf,

2. Flucht (nach innen, in die Ruhe) / Rückzug und

3. Erstarren/innere Emigration zuordnen.

Gross These lautet, dass je nach dem, welches Stressreaktionsmuster ein Mensch bevorzugt, er einer bestimmten Wirkgruppe den Vorzug geben wird.

Entsprechend werden Stimulantien von Personen eingenommen, deren überwiegendes Handlungsmuster unter der Stressreaktion dem des Angriffes/Kampfes, also einer erhöhten Aktivität entspricht. Allerdings zeigt die Erfahrung, dass Kokainisten nicht unbedingt zu einer dauerhaften, nachvollziehbaren Aktivitätssteigerung gelangen, sondern nicht selten Vorhaben anfangen und nicht abschließen ("Als-ob"-Aktivitäten").

Halluzinogene werden eher von Personen präferiert, deren Copingstrategie von der Flucht in eine Phantasiewelt (innere Emigration) geprägt ist. Viele Cannabiskonsumenten kiffen gemeinsam mit anderen (peer-group) und erleben sich in Gemein-

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schaft ohne wirklich miteinander in Kontakt zu kommen ("Als-Ob"-Begegnung).

Psychodynamik

Psychodynamisch betrachtet (s. auch Ermann 1997, S.205), ergibt sich aus dem bisher Angeführten für beide Konsumentengruppen eine erstaunliche Gemeinsamkeit: so liegt bei beiden Konsumenten-gruppen ein Abhängigkeits-Autonomiekonflikt vor. Allerdings befinden sich die Cannabiskonsumenten eher auf dem Pol der Abhängigkeit und die Kokainkonsumenten auf dem Pol der Autonomie. Da der Konflikt jedoch von keiner Konsumentengruppe bisher ‚reif' gelöst wurde, handelt es sich bei den Cannabiskonsu-menten um eine Pseudoabhängigkeit (Autonomiebestrebungen müssen abgewehrt werden) und bei den Kokainkonsumenten um eine Pseudoautonomie (Abhängigkeitswünsche bleiben unbewusst).

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Teil 4: Unterschiede im Setting zwischen Drogenberatung/-therapie, Verkehrstherapie und Begutachtung

Ziel oder der Auftrag

Das Ziel oder der Auftrag, der mit einer Dogenberatung/-therapie verbunden ist, unterscheidet sich wesentlich von dem der Verkehrs-therapie und Begutachtung.

Ist das Ziel in der Drogenberatung die Überwindung des Einsatzes von Drogen zur Selbstmedikation bei den Klienten, so ist das gemeinsame Ziel von Verkehrstherapie und Begutachtung die Verkehrssicherheit bzw. die Gewährleistung einer dauerhaft regelkonformen und sicheren Verkehrsteilnahme.

Methoden

Wiederum gleichen sich die Methoden der Drogenberatung und der Verkehrstherapie dahingehend, wie auf ihr jeweiliges Ziel hingewirkt werden soll. Denn in beiden Fällen geht es sowohl um das biogra-phisch/psychodynamische Verstehen des eigenen Gewordenseins als auch um das Erlernen neuer Verhaltensmuster.

In der Begutachtung dagegen wird kritisch der gegenwärtige Ist-Zustand des Untersuchten geprüft. Aus dem Ergebnis wird dann eine Prognose über das zukünftige Verhalten im Straßenverkehr abgeleitet.

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Psychologische Interventionsformen

In allen drei Settings werden als psychologische Interventionsformen Diagnostik und Krisenintervention sowie Beratung angewandt, allerdings in unterschiedlicher Intensität. Psychotherapie ist der Drogen- und Verkehrstherapie vorbehalten.

Machtverhältnisse

Deutliche Unterschiede im Setting ergeben sich bei Betrachtung des Macht-verhältnisses zwischen Berater/Therapeut/Gutachter und Klient. Der Gutachter verfügt, durch seinen Auftrag bedingt, real über offenkundige Macht. Denn die Begutachtung stellt für den Klienten eine reale Prüfungssituation dar, mit z. T. für die weitere Perspektive des Klienten gravierenden Konsequenzen.

Demgegenüber ist die Macht von Suchtberater und Verkehrsthera-peut eher gering. Zwar besitzt der Verkehrstherapeut reale Macht, wenn es z.B. bei der Verkürzung der Sperrfrist um die Ausstellung einer Teilnahmebescheinigung geht. Doch bleibt die reale Macht des Verkehrstherapeuten hinter seiner, ihm von manchen Klienten zugeschriebenen, also imaginierten Macht deutlich zurück. (So phantasieren manche Klienten (anfänglich), dass der Er-

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folg/Misserfolg bei der Begutachtung wesentlich von dem Vorhan-densein einer Bescheinigung des Verkehrstherapeuten abhinge).

Teilnahmebereitschaft

Auch die Unterschiede im realen Machtverhältnis sind nicht unwichtig für die Teilnahmebereitschaft der Klienten. Denn während zur Drogenberatung/-therapie die meisten Klienten freiwillig kommen, also überwiegend intrinsisch motiviert sind, sind die Probanden einer Begutachtung vor allem extrinsisch motiviert.

Zur Verkehrstherapie kommen die Klienten zum Teil mit deutli-chem Druck (durch den Gutachter, durch das Straßenverkehrsamt), meist jedoch eher eigenmotiviert, da sie vom Nutzen dieser Maßnahme bereits durch Freunde, Bekannte, Straßenverkehrsamt, Rechtsanwälte überzeugt wurden.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass auch eine Drogenbera-tung/-therapie mit einer Auflage (§35 BtmG) beginnen kann (extrinsisches Motiv) und dass nach einer erfolgreichen Verkehrsthe-rapie auch eine Begutachtung als sinnvolle Überprüfung des zurückgelegten Weges, als Standortbestimmung genutzt und verstanden werden kann (intrinsisches Motiv).

Der Klient erwartet von seiner Teilnahme an der Drogenberatung/-therapie Hilfestellung bei der Wiederherstellung seines subjektiven Wohlbefindens und beim Aufbau einer neuen (Lebens-) Perspektive. Von einer Verkehrstherapie wird vor allem die Hilfestellung beim (Wieder-) Erwerb der Fahrerlaubnis erwartet und von einer Medizinisch-Psychologischen- Untersuchung vor allem ein positives Gutachtenvotum bzw. der (Wieder-) Erwerb der Fahrerlaubnis.

Übertragung

Teilnahmebedingungen (hierzu gehört die Vorgeschichte), Auftrag bzw. Ziel und Machtverhältnis eines Settings wirken sich auf die Phantasien und Vorerwartungen der Klienten und damit auf das unbewusste Übertragungsgeschehen in der Begegnungssituation aus.

Nicht verwunderlich ist daher, dass bei aller Angst der Klienten, sich in eine neue, unbekannte Situation zu begeben, das spontane

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Übertragungsgeschehen in der Drogenberatung/-therapie eher positiv gefärbt ist. (Überwiegend freiwillige Teilnahmen, Erwartung Hilfestellung zu erhalten, Machtgefälle nur leicht, selten ist die Teilnahme mit unmittelbar spürbaren Konsequenzen verbunden). Unterstützt wird dies durch die Haltung des Drogenberaters/-therapeuten, dessen Hauptziel beim Erstkontakt in der Errichtung einer positiven Übertragungsbeziehung besteht. Ähnliches gilt auch für die Verkehrstherapie.

Bei der Begutachtung ist es anders. Die sich durch den Auftrag ergebende Prüfungssituation mit ihren realen Konsequenzen (Fahrerlaubniserteilung oder -entziehung) und das Machtgefälle erzeugen bei den meisten Klienten eher eine negative Übertragungs-situation i. S. von "böser, strenger Papa" mit Gefühlen der Angst, Wut, Hilflosigkeit. Nur in wenigen Fällen wird die kritische Überprüfung des Ist-Zustandes (MPU) positiv als Standortbestim-mung verstanden, die eine freundliche Übertragung auf den Gutachter seitens des Klienten zulässt. (Meist ist dies für den Gutachter ein positives Zeichen für die Glaubwürdigkeit der gewonnenen kritischen Distanz des Klienten zu seiner Vorgeschich-te).

Selbstdarstellung des Klienten

In Bezug auf die Selbstdarstellung des Klienten in den verschiedenen Begegnungssituationen kann abschließend gesagt werden, dass durch das eher gleichberechtigte Miteinander von Therapeut und Klient in der Drogenberatung/-therapie und Verkehrstherapie eine realistische Selbstdarstellung und damit einhergehend auch eine realistische Schilderung des Konsumverhaltens gefördert wird.

Demgegenüber führt in der Begutachtungssituation bei einer negativen Übertragung das reale Machtgefälle mit seinen massiven Konsequenzen für den Klienten zu einer positiven Selbstdarstellung (im Sinne sozialer Erwünschtheit) mit einem Trend zur Bagatellisie-rung, Beschönigung des Konsumverhaltens und Vermeidung der Übernahme von Eigenverantwortung für das eigene (Fehl-) Verhalten. Bei einer positiven Übertragung - z.B. nach einer Verkehrstherapie, Psychotherapie - kann jedoch die Macht des Gutachters auch genutzt werden als Anerkennung für die (durch

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harte Arbeit an sich und seinem Verhalten) erreichte stabile Veränderung des Klienten.

Teil 5: Exkurs:

Motivierende Gesprächsführung (MILLER und ROLLNICK)

Die oben beschriebenen Unterschiede in Zielen und Aufgaben von Drogenberatung/-therapie und Verkehrstherapie im Vergleich zur Medizinisch-Psychologischen-Untersuchung bedingen auch Unterschiede in den Haltungen von Beratern/Therapeuten einerseits und Gutachtern andererseits. Bei der Begutachtung geht es um die Feststellung eines Status Quo hinsichtlich einer genau umschriebe-nen Fragestellung. Bei der Beratung steht die Entwicklung neuer Sicht- und Verhaltensweisen des Klienten im Vordergrund. Er soll ermutigt werden, Ideen zu entwickeln. Die Gegensätzlichkeit seiner Wünsche soll ihn nicht mehr blockieren, sondern er soll eine Entscheidung fällen können und ermutigt werden, diese auch in die Tat umzusetzen. Die Grundhaltungen der Motivierenden Gesprächs-führung haben sich als besonders geeignet erwiesen, den Prozess der Veränderung, das Durchschreiten der "Stages of Change" zu unterstützen. Wegen ihrer praktischen Relevanz für die Verkehrs-therapie wollen wir dieses Modell in seinen Grundzügen vorstellen.

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nach Miller, W.R. u. S. Rollnick (1999)

Motivierende Gesprächsführung – Grundhaltungen

Empathie ausdrücken

Empathie ist eine entscheidende Voraussetzung, um Motivation aufbauen zu können. Das Verhalten wird nicht kritisiert und die Person wird mit ihrem Verhalten angenommen. Durch das Hineinversetzen in den Gesprächspartner gelingt es, Ansätze zur Motivationsbildung zu finden und Widerstand als Gegenreaktion zu vermeiden.

Diskrepanzen entwickeln

Die nachstehende Matrix ("Entscheidungswaage") ist ein Beispiel dafür, wie mit dem Klienten zusammen die Vor- und Nachteile seines Verhaltens in prägnanter Form gegenübergestellt werden können. Die Gegenüberstellung vermeidet die sonst übliche Parteinahme für das "erwünschte" Verhalten und erleichtert die nüchterne Bewertung der positiven Aspekte des Suchtmittelkon-sums.

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Beweisführungen vermeiden

Vorwürfe wegen ihres Verhaltens und Beweise über die "Unlogik" bzw. Unvernunft ihres Verhaltens kennen die Klienten in der Regel zur Genüge aus ihrer Lebensgeschichte oder ihrem aktuellen Lebensumfeld, z.B. durch Lebenspartner. Diese Beweisführungen sind kontraproduktiv, denn sie fordern meist nur die Abwehr des Klienten heraus.

Die Klienten sind trainiert darin, solchen Vorwürfen durch "Gegenbeweise" zu begegnen oder aus dem Kontakt mit den Kontakt mit dem Vorwerfenden zu beenden.

Mit dem Widerstand arbeiten

Neue Sichtweisen werden vorgestellt, nicht vorgeschrieben. Der Klient wird als kompetenter Ratgeber bei der Lösung von Proble-men gesehen. Er soll selbst Lösungen erarbeiten, um ihn aus der Haltung des "Ja, aber..." (einer ähnlichen Beweisführung wie vorstehend) heraus zu locken.

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Selbstwirksamkeit fördern

Der Glaube an die Möglichkeit, sich verändern zu können, ist eine wichtige Motivationsquelle. Der Klient ist für Entscheidungen zur Veränderung und ihre Durchführung verantwortlich.

6. Teil: Hinweise auf eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Drogenkarriere

Aus dem Konzept der motivierenden Gesprächsführung ergeben sich folgende Hinweise auf eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Drogenkarriere: - Der Klient kann Diskrepanzen benennen (z.B. kann er Vor- und Nachteile seines Drogenkonsums erläutern oder Unterschiede zwischen heute und damals beschreiben) - Der Klient kann eine Konfrontation mit seiner Konsumvergangen-heit ertragen - Der Klient klagt nicht mehr über die Welt, sondern ist sich seiner Selbstwirksamkeit bewußt

Aus der psychotherapeutischen Arbeit mit Abhängigen ergeben sich weitere Hinweise auf eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Drogenkarriere wie: - erhöhte Frustrationstoleranz - verbesserte Abgrenzungsfähigkeit - verbesserte Konfliktfähigkeit - mehr Übernahme von Verantwortung - mehr reale Aktivität - realistischere Erwartungen an sich und andere

Und zuletzt ergeben sich Hinweise für eine kritische Auseinander-setzung mit der eigenen Drogenkarriere aus der Wirkung der Drogen und den bevorzugten Streß-reaktionsmustern:

FÜR CANNABISKONSUMENTEN: - mehr gelebte Autonomie - mehr Eintreten für eigene Wünsche und Bedürfnisse - mehr gelebte Realität (weniger Weltflucht)

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FÜR KOKAINKONSUMENTEN: - mehr gelebte Abhängigkeit - eigene Begrenztheit und Hilfsbedürftigkeit werden zugegeben

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Teil 7: Diskussion

In der Diskussion wurde deutlich, dass Klienten (der Einfachheit halber wird bei den Ratsuchenden immer von Klienten gesprochen, egal ob sie im Kontext einer MPU oder Beratung erscheinen) die MPU nach den Erfahrungen der Anwesenden positiver erleben, wenn sie zuvor eine verkehrstherapeutische Maßnahme absolvierten. Die negative Übertragung auf den "Idiotentest", also auf die Institute und die dort tätigen Gutachter, weicht einer positiven Übertragung. Die Begutachtung wird dann eher als Chance und Überprüfung ihres persönlichen Entwicklungsprozesses denn als "Geldschneiderei" bzw. als demütigendes, abstrafendes Procedere begriffen.

Einzelne Teilnehmer berichten von Erfahrungen, wonach Drogen-berater bzw. -therapeuten nicht selten die negative Einstellung ihrer Klienten zur Begutachtung teilen. Es besteht die Gefahr, dass damit die Befürchtungen der Begutachteten eher verstärkt werden. Die Wahrnehmung der MPU als Chance zur Überprüfung der Fort-schritte bei der Überwindung der Abhängigkeit wird so eher verhindert. Der fachliche und kollegiale Austausch zwischen den hier verglichenen psychologischen Tätigkeitsfeldern sollte gefördert werden.

Es wurde von Herrn Dr. Hellwig darauf hingewiesen, dass bei PRO-NON in Essen Erfahrungen vorliegen dahingehend, wonach Klienten, die gemäß dem Transtheoretischen Modell bei Therapiebe-ginn den Phasen 3. bis 5. des Modells zugeordnet werden, weniger häufig eine Therapie abbrechen als Klienten anderer Phasen.

Literatur:

* Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2004): ICD-10-GM 2004. Systematisches Verzeichnis. Köln (Dt. Ärzte-Verlag).

* Ermann, Michael (1997, 2. Aufl.): Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin. Stuttgart (Kohlhammer).

* Gross, Werner (1990): Sucht ohne Drogen. Frankfurt am Main (Fischer TB).

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* Miller, W.R. u. S. Rollnick (1999): Motivierende Gesprächsfüh-rung. Freiburg i.B. (Lambertus).

* Petzold, Hilarion G. (1995): Motto: Sucht ist eine Krankheit. In: Therapiehilfe e.V.:Jahrbuch 1994.

* Prochaska, J. u. J. Norcross u.C. DiClemente (1997): Jetzt fange ich neu an. Das revolutionäre Sechs-Schritte-Programm für ein dauerhaft suchtfreies Leben. München (Droemer).

Dipl.-Psych. Ruth Sarah Born Verkehrstherapie.com Börnestr. 34 22089 Hamburg 040 – 61189074 E-Mail: [email protected] www.verkehrstherapie.com Dipl.-Psych. Axel Hansen Mitarbeiter im SEEHAUS - ambulantes Suchtberatungs- und Behandlungszentrum des Trägers Therapiehilfe e.V., Hamburg Hasselbrookstr. 94a, 22089 Hamburg E-Mail: [email protected] www.therapiehilfe.de / www.seehaus-hh.de

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Dr. Hans-Joachim Hellwig

Abbrecher in der Verkehrspsychotherapie - Zur Validität eines Fragebogens für erfolgsrelevante Persön-lichkeitsmerkmale in der Verkehrstherapie

Pro∙Non lässt seit Jahren erfolgsrelevante Persönlichkeitsmerkmale wie Strukturniveau, Emotionalität und soziale Einstellung durch den Therapeuten einschätzen. Seit über einem Jahr ergänzt Pro∙Non diese subjektiven Einschätzungen durch Selbsteinschätzungen der Klienten und versucht sie damit zu objektivieren.

Die Items des Fragebogens wurden aus folgenden Fragebögen selegiert: EPI Eysenck Personality Inventory VEV Veränderungs-Fragebogen des Erlebens und Verhaltens PRF Personality Research Form, Deutsche Fassung FAF Fragebogen zur Erfassung von Aggressionsfaktoren IMA Inventar zur Messung der Ambiguitätstoleranz MPT-E Mehrdimensionaler Persönlichkeitstest für Erwachsene FPI Freiburger Persönlichkeitsinventar FDE Fragebogen zur direktiven Einstellung

Der Fragebogen wird unter Abbildung 1 vorgestellt. Eine Faktoren-analyse ergab bei N = 95 sechs Faktoren mit einem mit einem Eigenwert > 1, die zusammen 62,5% der Gesamtvarianz aufschlüs-seln. Dies weist auf diverse Antworttendenzen der Klienten hin. Von diesen Faktoren hat sich eine Drei-Faktoren-Lösung als optimal herausgestellt, die 39,8% der Gesamtvarianz aufschlüsselt.

Abbildung 2 stellt das Ergebnis der Faktorenanalyse dar.

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Abbildung 1: Pro∙Non - Klientenfragebogen

Mit Angabe der Skalenbezeichnung: St = Strukturniveau, E = Emotionalität, Soz = soziale Einstellung Die Polung der Items im Sinne der Skalenbezeichnung ist hier markiert (fett, größer).

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Abbildung 2: Faktoren mit Markierung der relevanten Variablen

Die Faktoren konnten folgendermaßen interpretiert werden:

Faktor 1: Selbstbezogene Erfolgsorientierung Unlösbar erscheinende Probleme sind nicht eine persönliche Herausforderung. Verliert schnell die Beherrschung, fasst sich auch schnell wie-der. Arbeitet nicht gern allein. Leute kommen nicht mit ihren Sorgen. Die Art wird von anderen nicht leicht missverstanden. Leicht gekränkt, wenn andere an ihm oder seiner Arbeit etwas bemängeln. Unvorhergesehenes macht nervös. Die Dinge sind selten einfach schwarz oder weiß. Wird nicht leicht ärgerlich.

Faktor 2: Problembezogene Anpassung Wenn er mit jemandem Streit gehabt hat, ist dieser für ihn nicht erledigt.

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Unlösbar erscheinende Probleme sind nicht eine persönliche Herausforderung. Verliert nicht schnell seine Beherrschung. Grübelt nicht oft über Dinge nach, die er nicht hätte tun oder sagen sollen. Seine Art, etwas zu tun, wird von anderen nicht missverstan-den. Nicht leicht gekränkt, wenn andere an ihm oder seiner Arbeit etwas bemängeln. Unvorhergesehenes macht nicht nervös. Die Dinge sind nicht selten einfach schwarz oder weiß. Verschwendet nicht seine Zeit damit, es anderen Leuten recht machen zu wollen.

Faktor 3: Psychopathiefaktor: entdifferenzierende Selbstdurchset-zung

Freunde sollten immer die gleiche Ansicht haben. Wenn jemand mit ihm Streit gehabt hat, ist er für ihn erledigt. Grübelt nicht oft über Dinge nach, die er nicht hätte tun oder sagen sollen. In vergnügter Gesellschaft oft nicht ungezwungen und unbe-schwert. Verschwendet seine Zeit damit, es anderen Leuten recht ma-chen zu wollen.

Es zeigt sich, dass die Faktoren Therapie bezogene Bewältigungsstile charakterisieren, die wahrscheinlich auch im Leben der Klienten vorrangig zum Einsatz kommen. So beantworten die Klienten den Fragebogen unter dem Eindruck der einsetzenden und zu "bestehen-den" Verkehrspsychotherapie mit dem erheblichen Risiko, sich auf etwas einzulassen, was sie nicht kennen, von dessen Erfolg aber der Wiedererhalt ihrer Fahrerlaubnis abhängt.

Was liegt näher, als den Fragebogen daraufhin zu untersuchen, inwieweit er zwischen Klienten differenzieren kann, die mit der Herausforderung "Verkehrspsychotherapie" erfolgreich umgehen können und solchen, die an ihr scheitern. Daher hat sich die Analyse der Daten auf die Vorhersage von Therapieabbrechern konzentriert.

Für die Vorhersage von Abbrechern gibt es zwei Möglichkeiten:

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Möglichkeit 1: Es werden Einschlusskriterien gefunden, die für die Abbrecher sehr häufig, für die nicht abbrechenden Klienten aber selten sind.

Möglichkeit 2: Es werden umgekehrt Ausschlusskriterien gefunden, die für die nicht abbrechenden Klienten sehr häufig sind, nicht aber für die Abbrecher.

Abbildung 3: Vorhersage von Abbrechern

Abbildung 3 veranschaulicht, dass das Ereignis "Abbrecher" recht selten ist und eine Schnittmenge darstellt zwischen der Gesamtmenge aller Klienten und der Menge der Personen mit dem Indikator I, der erlaubt, das Ereignis "Abbrecher" vorherzusagen.

Für jedes Item lässt sich nun die bedingte Wahrscheinlichkeit berechnen, wann die Abbrecher ein Item positiv oder negativ beantworten. Die Wahrscheinlichkeit für die Abbrecher unter der Bedingung des Indikators I, also P(Abbrecher | Indikator), ergibt dabei mit der Wahrscheinlichkeit für alle Klienten unter der Bedingung des Indikators I, also P(Alle Klienten | Indikator), die Summe 1. Oder umgekehrt:

P(Alle Klienten | Indikator) = 1 - P(Abbrecher | Indikator).

Die folgende Aufstellung (Abbildung 4) listet die bedingten Wahrscheinlichkeiten für jedes Item auf.

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Abbildung 4: Bedingte Wahrscheinlichkeiten für jedes Item unter der positiven (eher richtig) bzw. negativen Antwort (eher falsch). Vorhersagerelevante Items sind markiert.

Die Items, die sich für die Vorhersage von Abbrechern eignen, sind solche, deren Wahrscheinlichkeit gemäß der oben angeführten zweiten Möglichkeit nahe Null liegen. Es zeigt sich, dass fünf Items dieser Forderung nachkommen. Allerdings stellen sie sich nur als Ausschlusskriterium zur Verfügung. D.h. dass nur Nicht-Abbrecher diese Items gewählt haben. Es handelt sich um folgende Items:

Item 2 (St): Wenn ich mit jemandem Streit gehabt habe, ist er für mich erledigt. Item 4 (E): Ich verliere schnell die Beherrschung, aber ich fasse mich auch schnell wieder. Item 6 (Soz): Ich arbeite gern allein. Item 11 (E): Ich bin leicht gekränkt, wenn andere an mir oder meiner Arbeit etwas bemängeln. Item 13 (St): Die Dinge sind selten einfach "schwarz" oder "weiß".

Die Entscheidungsregel Indikator: (Item 2- oder 4- oder 6- oder 11- oder 13-) --> Kein Abbrecher liefert folgende Ergebnisse:

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Abbildung 5: Tatsächliche Abbrecher und Indikatoren für Abbre-cher (ein Item). In Klammern die Prozentanteile für den jeweiligen Indikator.

Aus Abbildung 5 ergibt sich: Chi2 = 11.7 bei df = 1. Der Chi2-Wert für den Zusammenhang zwischen der Vorhersage und der tatsächli-chen Gruppenzugehörigkeit ist hoch signifikant. Die Entscheidungs-regel liefert insgesamt 80% Treffer. D.h. dass 68 Klienten richtig als Nicht-Abbrecher erkannt worden sind und 8 Klienten richtig als Abbrecher. Allerdings ist der Anteil der Abbrecher, die richtig erfasst wurden (38%), noch deutlich niedriger als der Anteil der fälschlicherweise als Abbrecher erfassten Klienten (62%).

Es wurde daher versucht, Indikatoren aus jeweils zwei Items zu bestimmen, um den Anteil der fälschlicherweise als Abbrecher erfassten Klienten zu reduzieren.

Tabelle 6 gibt die Item-Paare an, die nur Nicht-Abbrecher gewählt haben.

Abbildung 6: Item-Paare als Indikatoren für das Ausschlusskriterium Abbrecher

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Die Entscheidungsregel Indikator: [mind. eine Zweier-Kombination mit P(Abbrecher | Indikator) = 0.00)] --> Kein Abbrecher liefert folgende Ergebnisse:

Abbildung 7: Tatsächliche Abbrecher und Indikatoren für Abbre-cher (Item-Paare). In Klammern die Prozentanteile für den jeweiligen Indikator.

Der Chi2-Wert für den Zusammenhang zwischen der Vorhersage und der tatsächlichen Gruppenzugehörigkeit ist hoch signifikant: Chi2 = 23.6 bei df = 1. Die Entscheidungsregel liefert ebenfalls insgesamt genau 80 % Treffer (76 von 95 Fällen). Allerdings hat sich die richtige Vorhersage für die Nicht-Abbrecher erhöht (97%) sowie die für die Abbrecher ebenfalls (41%). Somit können mit diesen Indikatoren fast alle Nicht-Abbrecher und die fast die Hälfte der Abbrecher erfasst werden. Tatsächlich wurden 12 von 14 Abbre-chern (86%) richtig zugeordnet und 64 von 81 Nicht-Abbrechern (79%).

Der relativ hohe Vorhersagefehler von 59% falschen Abbrechern für den Indikator "Abbrecher" ist für den Verkehrstherapeuten allerdings weniger gravierend als ein falsche Vorhersage von Nichtabbrechern. Klienten, die von Therapeuten als Abbrecher erwartet werden und sich als Klienten herausstellen, die die Therapie ordnungsgemäß abschließen können, stellen kein Problem dar.

Weitere höherwertige Indikatoren wurden nicht berechnet, da für Indikatoren mit Kombinationen von mehr als zwei Items ein größeres N erforderlich ist.

Interessant ist nun die Frage, aus welchen Tätergruppen sich die Abbrecher vorrangig rekrutieren. Wie Abbildung 8 veranschaulicht, handelt es sich vor allem um Personen, die mit Punkten auffällig geworden sind.

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Abbildung 8: Anteil der Abbrecher getrennt nach Tätergruppen Alkohol N = 1501, Alkohol und Punkte N = 299, Punkte = 235, andere Anlässe N = 70

Es stellte sich heraus, dass die Therapie im Mittel erst nach 13,2 Sitzungen abgebrochen werden. Dieser Wert ist im übrigen langfristig relativ stabil: Von 1995 bis 2003 wurden die Pro∙Non - Therapien im Mittel nach 12,5 Sitzungen abgebrochen. Das lässt den Schluss zu, dass die Abbrüche nicht in erster Linie mit der Person des Therapeuten zu tun haben, da sonst die Abbrüche eher zu erwarten wären. Sie fallen jedoch in die üblicherweise letzte Phase einer Verkehrspsychotherapie, sodass wahrscheinlich andere, MPU bezogene Merkmale (z.B. aufgrund nach wie vor extrinsisch orientierter Motivation) zum Abbruch geführt haben.

Geht man auf die verschiedenen Tätergruppen ein, differenziert sich das Bild. Für Klienten mit einer Suchtmittelproblematik lässt sich feststellen, dass sie umso wahrscheinlicher zum Abbruch ihrer Therapie neigen, je weniger sie sich mit ihrem Alkoholkonsum auseinander gesetzt haben (siehe Abbildung 9).

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Abbildung 9: Phase der Auseinandersetzung mit dem Suchtmittel-konsum zu Beginn der Therapie in Abhängigkeit vom Therapieab-bruch (Alkohol und Drogen). Nicht-Abbrecher N = 784, Abbrecher N = 93

Zu Beginn einer Therapie schätzen Pro∙Non - Therapeuten ihre Klienten mit einer Suchtmittelproblematik nach dem Phasenmodell von Prochaska & DiClemente (1992) ein. In der Phase der Precon-templation findet unkontrollierter Konsum statt, der auch nicht weiter reflektiert wird. In der Phase der Contemplation findet der Klient trotz fortgeführten Konsums zu ersten Reflexionen. In der Phase Action werden Versuche unternommen, den Konsum zu reduzieren. Schließlich wird in der Phase der Maintenance Abstinenz behauptet. In der psychotherapeutischen Praxis hat sich gezeigt, dass Klienten in der Phase der Maintenance aus zweierlei Gründen zur Verkehrspsychotherapie kommen. Aus diesem Grunde haben wir diese Phase entsprechend gekennzeichnet: Klienten in der Phase Maintenance A werden bei ihren Abstinenzversuchen rückfällig. Klienten in der Phase Maintenance B können ihre Abstinenz behaupten.

Bei Klienten mit Punkten sind wir von folgenden Fahrertypen ausgegangen:

Typ 1: Der Funktionalist Fahrmotive: absichernd-auslebend, hoch ausgeglichen, fährt nur mit schwacher emotionaler Bedeutung Fahrstile: durchschnittlich-unauffällig, keine Selbstüberschät-zung

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Verhältnis zum Auto: schwach emotional, hoch funktioneller Gebrauchsgegenstand, Hauptsache zuverlässig

Typ 2: Der Ängstliche Fahrmotive: überwiegend absichernd, fährt nur notgedrungen, mit negativen Emotionen besetzt Fahrstile: unsicherer Wenigfahrer, ängstlich, zurückhaltend, keinerlei Selbstüberschätzungstendenzen Verhältnis zum Auto: schwach emotional, angstbesetzt, ohne Interesse

Typ 3: Der Raser Fahrmotive: ausschließlich auslebend, stark stimmungsabhän-gig Fahrstile: sportlich-rasant bis riskant-aggressiv, neigt zur Selbstüberschätzung, Jägermentalität, hohes Unfallrisiko Verhältnis zum Auto: stark emotional, gibt viel Geld fürs Au-to aus, sehr hohe Fahrleistung

Typ 4: Der Gelassene Fahrmotive: auslebend, vergessen wollen ohne Absicherung, der Genießer unter den Autofahrern Fahrstile: konstant gleichmäßig zurückhaltend, souverän und sicher, wenig emotionalisiert Verhältnis zum Auto: stark emotional, Auto ist Entspan-nungs- und Spaßfaktor Nummer Eins, komfortorientiert

Typ 5: Der Frustrierte Fahrmotive: ausschließlich am Ausleben orientiert, hohe Lust am Risiko, durch äußere Umstände massiv am Ausleben be-hindert, Autofahren hat Kompensationsfunktion Fahrstile: massiv reaktiv-aggressiv, verkrampft-verbissen, mas-sive Selbstüberschätzungstendenzen und starke Bagatellisie-rungstendenzen, alles hoch emotional und hoch konflikthaft besetzt Verhältnis zum Auto: hoch konflikthaft emotional, hoch funktionell

Typ 6: Der Vorsichtige Fahrmotive: absichernd mit deutlichen Motiven des Ausle-bens, hoch sicherheitsorientiert im Straßenverkehr, leichte Oberlehrermentalität

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Fahrstile: bewegt sich lieber im gemäßigten Geschwindig-keitsbereich, überschätzt eigene Fähigkeiten keinesfalls, ver-meidet emotionalen Fahrstil Verhältnis zum Auto: schwach emotional, stark sicherheits-orientiert, durchschnittliche Fahrleistung

Typ 7(Mixed): Der Rowdy Fahrmotive: Mix aus extremem Raser und extremem Frust-rierten, bedeutet, dass ausschließlich Motive des Auslebens dominieren, meist konflikthaft besetzt Fahrstile: unverantwortlich, ruppig, aggressiv-rücksichtslos Verhältnis zum Auto: extrem emotional, hoch symbiotisch, Vielfahrer, Schnellfahrer, Risikosüchtige ohne Angst vor Un-fällen, Leistung ist das Wichtigste

Diese Klassifikation stammt von Adelt, Grimmer & Stephan (1999). Jeder Klient mit Punkten wird vom Pro∙Non - Therapeuten maximal zwei Typen zugeordnet. Auf diese Weise kamen bei einem N von 93 insgesamt 183 Nennungen zustande. Abbildung 10 zeigt auf, dass vor allem Rowdys und Raser dazu neigen, die Therapie vorzeitig abzubrechen. Frustrierte weisen zwar auch eine relativ hohe Abbruchsquote auf, aber sie unterscheidet sich nicht wesentlich von der Gruppe der Nicht-Abbrecher.

Abbildung 10: Fahrertypen in Abhängigkeit vom Abbruch der Therapie. N = 93, Nicht-Abbrecher N = 67, Abbrecher = 26

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Literaturhinweis: Adelt, Grimmer & Stephan: Autofahrertypen auf Deutschlands Straßen, 1999 Prochaska, DiClemente & Norcross: Modelle der Veränderung 1992

Danksagung: Ich danke Herrn Dr. Harald Meyer für die Unterstützung bei der Auswertung der Daten.

Dipl.-Psych. Dr. Hans-Joachim Hellwig PRO-NON e.V. Provesthöhe 3 45257 Essen Tel. 02 01 / 48 81 57 E-Mail : [email protected] www.pro-non.de

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Jürgen Schattschneider

MPU - eine Möglichkeit für eine Perspektive des Kunden

Wenn der Gutachter seine Aufgabe, seine Macht und seine Verantwortung richtig reflektiert, dann wird der Proband zum Kunden, der ein Recht auf Transparenz in der Datenerhebung und Beurteilung hat.

Der Arbeitsbereich der Fahreignungsbegutachtung hat in der Öffentlichkeit kein gutes Image.

Das liegt zum einen in der Natur der Tätigkeit, weil ein Mensch, der gefehlt hat, zusätzlich zu Strafe und Sperrfrist unter bestimmten Bedingungen zur Begutachtung muss und dafür auch noch selbst bezahlen muss. Dass hieraus in einer meist bereits finanziell angespannten Situation (durch den Verlust der Fahrerlaubnis entstehen sehr oft Folgekosten) eine zusätzliche sehr hohe Belastung entsteht, liegt auf der Hand. Schließlich kostet eine Begutachtung je nach Fragestellung gegenwärtig zwischen 320 und 700 € incl. MwSt.

Ein viel wichtigerer Faktor ist aber wahrscheinlich in der Machtlo-sigkeit des Menschen zu sehen, der sich einem Gutachter offenbaren soll und der in diese Situation gekommen ist, weil er genau das (sich jemandem zu öffnen) zu lange nicht getan hat. Für den Betroffenen verwischen sich die Tatsachen, dass der Gutachter auch nur ein Mensch ist und dass Begutachtung vor allem eine Begegnung zwischen zwei Menschen ist, die ihre Gleichberechtigung als Menschen nicht einbüßen, weil der eine über den anderen eine Beurteilung durchzuführen hat.

Faktisch ist der Betroffene nicht ausgeliefert, er hat Ansprüche und Rechte, für die er bezahlt und der Gutachter hat Pflichten, für die er bezahlt wird.

Führerschein als wirksame Eingangsmotivation

Wenn ein Mensch den Führerschein verliert, dann steht dahinter erfahrungsgemäß eine längerfristige Entwicklung, in der kompetente Lösungsansätze für den Umgang mit den Unebenheiten des Lebens

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immer weniger genutzt werden und es findet eine Einengung auf kompensatorisches Verhalten statt, wobei letztlich Verkehrsauffäl-ligkeiten die für die Öffentlichkeit sichtbare Spitze eines Eisberges sind. Im Laufe der Zeit ist der Überblick für die problematische Entwicklung verloren gegangen und ein Bewusstsein oder ein eingeräumtes Bewusstsein für eine kritische Entwicklung ist meist nicht mehr erkennbar. Dabei stellt diese Entwicklung oft ein sich selbst verstärkendes System dar, in dem kritische Hinweise von außen als Attacke auf die persönliche Integrität erlebt werden - oder anders ausgedrückt: Es ist durchaus menschlich, wenn die Karre solange in den Dreck gefahren wird, wie die Räder sich scheinbar noch bewegen.

Der dabei stattfindende Kampf um soziale Anerkennung, der faktisch quer geführt, aber nie aufgegeben wird, konzentriert sich nicht selten darauf, mindestens den Arbeitsplatz zu erhalten, und damit ist dieser Lebensbereich nicht selten einer der letzten, der nach außen noch funktionsfähig gehalten wird - zumindest subjektiv.

Der Verlust der Fahrerlaubnis macht offensichtlich, dass etwas nicht stimmt und hebt gleichzeitig selbstverständlich gewordene Flexibili-tät auf.

In fast jedem sozialen Kontext ist der Besitz einer Fahrerlaubnis selbstverständlich und der Verlust der Fahrerlaubnis findet grundsätzlich keine positive Resonanz. Nicht selten ist gleichzeitig der Arbeitsplatz gefährdet oder weg.

Während sich bis dahin kritische Entwicklungen Zug um Zug eingestellt hatten, ist die Entziehung der Fahrerlaubnis ein massiver Einschnitt und stellt den Betroffenen vor die Frage der wirtschaftli-chen Existenz. Dieser Einschnitt kann nicht mehr kompensiert werden und ruft spätestens zum Ende der Sperrfrist den Generalplan auf, den Führerschein zurück zu bekommen.

Im Augenblick der Konfrontation mit der Notwendigkeit einer MPU werden alle Ressentiments gegen diesen Arbeitsbereich aufgerufen. Gleichzeitig werden auch Prozesse der Selbsterkenntnis in Gang gesetzt, die durch entsprechende Widerstände begleitet sind. Dabei ist dem Betroffenen nicht wirklich unbekannt, "dass es so eigentlich nicht mehr weitergehen kann".

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Diese Tatsache öffnet das bis dahin weitgehend gegen Einflüsse von außen geschlossene "System" des Betroffenen, aber zunächst meist nur mit dem Kurzziel, die Fahrerlaubnis zurück zu bekommen. An dieser Schnittstelle wird der Betroffene zum Kunden für die Begutachtungsstelle.

Anforderungen an den Kunden

Weil es so nicht mehr weitergehen kann, wird erwartet, dass der Kunde sich ändert. Damit nicht genug, soll die Änderung auch noch stabil sein und hier wird das Unfassbare an der MPU konkret.

Die Notwendigkeit zur Veränderung wird auch vom Kunden nicht in Frage gestellt. Aber was erwartet man bei der MPU und was muss man sagen und wie muss man es sagen und wann ist es genug?

Diese oft vorzufindende Orientierungslosigkeit charakterisiert einen großen Teil der Befürchtungen und Ängste und manifestiert gleichzeitig das Gefühl, ausgeliefert zu sein.

Die Anforderung an den Kunden ist eine ausreichende und stabile Verhaltensänderung. Konkreter kann diese Anforderung nicht formuliert werden, wenn sie auf alle Kunden anwendbar sein soll.

Stabilität in der Verhaltensänderung geht als Anforderung an den Kunden aber deutlich über das von ihm selbst formulierte Kurzziel der Neuerwerbs der Fahrerlaubnis hinaus. Der Kunde soll transpa-rent und plausibel machen, wie er es schaffen will, sich nicht erneut falsch zu verhalten, was hat er aus dem Fehler gelernt.

An dieser Stelle ist sich der Kunde mitunter selbst genug und die Überzeugung, der starke Wille werde es schon richten, ersetzt oft den unangenehmen Weg, sich kritisch zu hinterfragen und Ursachen für problematisches Verhalten zu klären und dann den durchaus mühsamen Weg zu gehen, geändertes Verhalten umzusetzen und beizubehalten.

Anforderungen an die MPU

Die vorangestellten Ausführungen sind an sich niemandem unbekannt, der sich mit Therapie und Begutachtung von ver-

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kehrsauffälligen Kraftfahrern befasst. Dabei ist es sicher richtig, dass diese Darstellungen über den Weg eines Menschen vom Betroffenen zum Kunden nicht alle Faktoren einer solchen Entwicklung beschreibt. Schließlich gilt auch hier der diagnostische Grundsatz, dass hinter einer bestimmten kritischen Entwicklung bei jedem Menschen andere Ursachen stehen können und dass gleiche kritische Voraussetzungen auch zu unterschiedlichen kritischen Entwicklun-gen führen können.

Wenn man voraussetzt, dass Gutachter tatsächlich an der diagnosti-schen Aufklärung für einen Kunden interessiert sind - und ehrliches Bemühen hierum sollte man niemandem absprechen, der in diesem Arbeitsbereich tätig ist - dann ist es die Aufgabe des Gutachters, eine effektive und missverständnisfreie Kommunikation zu gewährleisten, indem er dem Kunden die Möglichkeit öffnet, über den Tellerrand der Ängste hinaus einen Überblick über die Aufgabe der Begutach-tung zu gewinnen.

Damit ist es nötig, dass ein Kunde zunächst noch einmal ganz persönlich erfährt, warum Gutachter Fragen stellen und dass er als Kunde gegenüber dem Gutachter das Recht und sich selbst gegenüber die Pflicht hat, Fragen zu stellen, wenn er den Sinn von Fragen nicht versteht.

Der Kunde sollte verstehen, welche Anforderungen an ihn gestellt werden und warum. Er sollte wissen, welche tatsächliche Möglich-keit der Mitwirkung und günstigen Einflussnahme er durch seine Offenheit hat.

Der Vorteil eines solchermaßen kompetenten Kunden liegt auf der Hand - wer versteht, was von ihm erwartet wird und warum welche Fragen gestellt werden, ist eher bereit, über zum Teil sehr persönli-che Zusammenhänge zu berichten. Unabhängig von einem Untersuchungsergebnis bietet eine solche Offenheit auch die Möglichkeit, das Untersuchungsergebnis eindeutig als Beurteilung über den bisherigen Erfolg der Auseinandersetzung des Kunden zu bewerten.

Um diese Transparenz zu erreichen, sind die Mittel der Wahl denkbar einfach.

- Es braucht eine standardisierte Datenerhebung, um die Unterschie-de zwischen Gutachtern zu bereinigen. Ein solches System muss

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dabei natürlich flexibel angewendet werden. Wenn ein Gutachter von der Entwicklung von Verhaltensstörungen und /oder Sub-stanzmissbrauch/-sucht nichts versteht, dann kann er den Spuren im Gespräch nicht folgen und den Kunden nicht sinnvoll unterstützen.

- Die standardisierte Datenerhebung soll so vollständig wie möglich dokumentiert werden und in dieser Vollständigkeit Bestandteil des Gutachtens sein, damit der Kunde sich in seinen Angaben wiederer-kennt. Wenn dieser Wert der Wiedererkennung nicht gewährleistet ist, dann ist die Identifikation des Kunden mit den Gutachteninhal-ten unterbrochen und damit wird die Motivation erschwert, sich mit kritischen Ergebnissen als aktuellem Stand der persönlichen Auseinandersetzung zu identifizieren. Ohne diese Wiedererkennung werden überflüssige Widerstände aktiviert, die sich ungünstig auf die weitere Entwicklung des Kunden auswirken können.

- Grundsätzlich gilt für die Begutachtung das gleiche, wie für jede andere Kommunikation zwischen zwei sich persönlich vollkommen fremden Menschen auch - Missverständnisse kann man nicht ausschließen. Dabei ist es absolut unwichtig, auf welcher Seite (beim Kunden oder beim Gutachter) der Ursprung solcher Missverständ-nisse liegt. Wenn ein Missverständnis in die Beurteilung eines Kunden eingeht, dann verliert das Gutachten eigentlich seine Gültigkeit. Schließlich soll geprüft werden, ob eine erfolgreiche Verhaltensänderung eingetreten ist und nicht, ob jemand sich unmissverständlich vermitteln kann. Was ist also zu tun: Der Gutachter druckt die Angaben aus dem Untersuchungsgespräch aus, der Kunde prüft die Darstellung und entscheidet, ob er richtig wiedergegeben wurde. Wenn es Missverständnisse gegeben hat, dann sind diese zu korrigieren. Wenn dem Kunden etwas zusätzliches einfällt, was er durch die Aufregung im Untersuchungsgespräch vergessen hat, dann ist mit dem Gutachter zu prüfen, ob diese Angaben wichtig sind und ggf. sind sie mit entsprechender Kenn-zeichnung im Untersuchungsgespräch einzufügen. Auch hierbei geht es um Wiedererkennung und Identifikation und die Vermeidung von Widerständen, die für den Kunden nicht nützlich sind.

- Wenn abschließend Einigkeit über die dokumentierten Informatio-nen besteht, soll dem Kunden, soweit dies möglich ist - und das ist es bei ca. 98 % - das Untersuchungsergebnis mitgeteilt werden. Diese Ergebnismitteilung erspart dem Kunden ca. 2 Wochen Ungewissheit

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und verschafft ihm bei einem negativen Untersuchungsergebnis Zeit, sich unter dem frischen Eindruck des Untersuchungsgesprächs sinnvolle Gedanken zu machen und sinnvolle Unterstützung in Anspruch zu nehmen.

- Gleichzeitig braucht der Kunde genau jetzt eine Perspektive. Viele Kunden sind bei negativem Untersuchungsergebnis enttäuscht und hilflos, weil alles, was bisher getan wurde - und man kann unterstel-len, dass die meisten es auch ernst meinen - nichts genützt hat. Jetzt ist der Gutachter erster kompetenter Ansprechpartner, um die noch bestehenden Defizite zu verdeutlichen und auf erforderliche Erkenntnisprozesse zu verweisen sowie auch auf Maßnahmen hinzuweisen, die erfahrungsgemäß sinnvoll sind.

- Der Gutachter kann für eine weitere therapeutisch geleitete Auseinandersetzung nicht zur Verfügung stehen - der Gesetzgeber hat das aus guten Gründen so geregelt. Erfahrungsgemäß ist aber eine der Begutachtung nachfolgende direkte Kommunikation zwischen Therapie und Begutachtung nützlich für den Kunden, unabhängig davon, ob bereits eine therapeutische Unterstützung bestanden hat oder nicht. Im Zusammenhang mit einer negativen Ergebnismittei-lung und dem Verweis auf Therapeuten muss dem Kunden also die Möglichkeit gegeben werden, den Gutachter als informatorischen Ansprechpartner in die weitere Auseinandersetzung einzubeziehen. Entsprechend bekommt der Kunde die Möglichkeit, den Gutachter gegenüber einer bestimmten Person von der Schweigepflicht zu entbinden.

- Die hieraus mögliche Kommunikation zwischen Begutachtung und Therapie nützt allen:

o Der Kunde spart Zeit und Geld, weil der Gutachter direkt und ohne Informationsverlust die noch zu klärenden Informationsberei-che mit einem Therapeuten erläutern kann.

o Begutachtung und Therapie bleiben im Gespräch miteinander und die Gefahr, dass beide eine für den anderen unverständliche Sprache entwickeln, wird sinnvoll reduziert.

o Ein sich hieraus entwickelndes informatorisches Netzwerk kann zur Erhöhung von Kompetenz auf beiden Seiten beitragen.

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Störungen in der Diagnostik

Der Gesetzgeber hat geregelt, dass es keine Verbindung zwischen Begutachtung einerseits und Vor- und Nachbereitung andererseits geben darf und das ist auch gut so.

Wenn eine Verbindung besteht, dann kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine subjektiv erlebte oder objektiv formulierte Verpflichtung gegenüber hauspolitischen Interessen eine bevorzugte Zuweisung zu "hauseigenen" Beratungsinstituten hervorbringt. Das kann zu einer selektiven Verzerrung in der Diagnostik führen, weil auch Gutachter sich gegenüber ihrem Arbeitgeber und gegenüber ihrer persönlichen finanziellen Sicherheit verpflichtet fühlen können.

Dieses Problem ist wahrscheinlich so alt wie die Begutachtung, hat aber erst mit der Entwicklung von Nachschulungs- und Vorberei-tungsmaßnahmen bei Trägern von Begutachtungsstellen oder in ihrer geschäftspolitischen Nachbarschaft an Bedeutung gewonnen. Dass dies selten korrigiert wird, hat sicher auch damit zu tun, dass wirtschaftliche Faktoren dringender geworden sind und nicht selten beschränkt sich der Sachverstand der Entscheidungskompetenz bei Trägern von Begutachtungsstellen und Schulungs-/Beratungsinstituten auf betriebswirtschaftliche Inhalte. Und so kann es sein, dass sich ein hohes Maß an "Corporate Identity" störend auf den Prozess der Datenerhebung und das Untersuchungs-ergebnis auswirken kann, wenn die Verbindung zwischen Begutach-tungsstellen und Schulungseinrichtungen zu eng geworden ist.

Fehler bei der Diagnostik

"Kursfähigkeit" neben "Positiv" und "Negativ" als diagnostische Zielvorgabe ist ein Problem für eine saubere Diagnostik.

Zum einen ist Kursfähigkeit ein zu prüfendes Kriterium bei negativem Untersuchungsergebnis und kein eigenständiges Ergebnis, zum anderen kann bei dem Versuch einer zuende ausgeführten Diagnostik nur selten ein Kursus empfohlen werden.

Aus den Angaben eines Kunden kann entweder nachvollzogen werden, was er mitgeteilt hat, oder es bestehen Widersprüche.

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Wenn die Angaben nachzuvollziehen sind, dann kann auf der Grundlage des dargestellten Erkenntnisprozesses auch entschieden werden, wie weit ein Problem gegangen war. Erfahrungsgemäß kommen solche Kunden, die verstanden haben, dass sie ein Problem haben und dass eine Veränderung nötig ist, erst dann zur Begutach-tung, wenn sie sicher sind, dass das Problem nicht mehr besteht und damit kann in den meisten Fällen positiv beurteilt werden.

Wenn die Angaben nicht nachzuvollziehen sind, dann kann auf der Grundlage der Angaben nicht entschieden werden, wie weit ein Problem gegangen war. Wenn ein Problem nicht zu identifizieren ist und nicht klar ist, warum es überhaupt zu einem Problem gekom-men war, dann kann in den meisten Fällen auch nicht beurteilt werden, was der Kunde erreichen muss, um sicher nicht wieder auffällig zu werden. Ein Gutachten kann also nur negativ abschlie-ßen und der Kunde bekommt die Aufgabe, eine Klärung herbeizu-führen und daraus die erforderliche Veränderung zu bestimmen.

Erst dann kann an einer sinnvollen Verhaltensänderung erfolgreich gearbeitet werden. Dabei ist meist nicht eindeutig vorherzusagen, ob ein Kunde z. B. noch kontrolliert trinken kann, oder nicht. Wenn also eine Nachschulungsfähigkeit als Untersuchungsergebnis formuliert wird, dann kann dies auch gegenüber dem Kunden nur verantwortet werden, wenn eine Abstinenzpflicht ausgeschlossen werden kann. Wenn diese Ausschlussdiagnostik nicht geleistet wird, besteht die Gefahr, dass bei einem Kunden die falsche Annahme, seinen Alkoholkonsum kontrollieren zu können, verstärkt wird und damit wird eine problematische Entwicklung nicht unterbrochen, sondern positiv verstärkt.

Folgen

Geschlossene Systeme (BfF - Schulung; Kooperationen zwischen verschiedenen Trägern für Begutachtungsstellen; Absprachen zwischen BfF und Beratern) fördern in der Öffentlichkeit die schlechte Meinung über den Arbeitsbereich BfF, weil dadurch die Freiheitsgrade des Kunden eingeschränkt werden. Stattdessen werden sichere Wege (Maßnahme bei X, dann Begutachtung bei Y und dann klappt das schon) zurück zur Fahrerlaubnis beschrieben, die teilweise

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vom Kunden auch gewünscht werden, weil der Kunde nicht wissen kann, wo er die richtige Unterstützung für sich bekommt.

An dieser Stelle ist es aber die Verantwortung der BfF, sich nicht in den Hinweisen einzuschränken, sondern auf alles zu verweisen, was an Maßnahmen zur Verfügung steht. Auch hier geht es um den Erhalt der Freiheitsgrade für den Kunden, damit der Bezug zu seiner Verantwortung für sich und für die richtige Auswahl der für ihn richtigen Maßnahme nicht eingeschränkt wird. Je weniger ein Kunde von einem Gutachter auf "das sichere Gleis" gesetzt wird, umso notwendiger ist eine persönliche Auswahl und umso klarer kann die Entscheidung ausfallen, ob eine Maßnahme auch die richtige ist.

Der größte Nachteil geschlossener Systeme besteht darin, dass sie über die Vermittlung des "sicheren Weges" ohne die Betonung der Eigenverantwortung Erfolg suggerieren und damit die Notwendig-keit eigener Motivation reduzieren. Damit wird eine eingeschränkte Aktivität bei der Problemlösung provoziert, die den möglichen Erfolg einer Maßnahme erheblich behindern kann.

Tragisch kann dies ausgehen, wenn das geschlossene Systeme sich selbst gegenüber zum Erfolg verpflichtet ist, um die Wirksamkeit der eigenen Maßnahmen zu beweisen. Die Gefahr, dass dann positiv beurteilt wird, weil eine bestimmte Maßnahme durchgeführt wurde und nicht, weil nötige Erkenntnisse erarbeitet und erforderliche Veränderungen umgesetzt wurden, kann so nicht ausgeschlossen werden.

Fazit

Solange eine zuverlässige Trennung zwischen BfF und Thera-pie/Beratung auf der Trägerebene durch wirtschaftlich orientierte Kooperationen nicht ausgeschlossen werden kann, besteht die Gefahr, dass Kunden an Maßnahmen vermittelt werden, die nicht richtig für sie sind.

Das Ziel bei der Begutachtung und davor oder danach bei einer Maßnahme muss immer eine zuende geführte Differenzialdiagnostik (Missbrauch bis Abhängigkeit) zum Ziel haben, um sicherzustellen, dass es keine Zweifel an der nötigen Verhaltensänderung (kontrol-lierter Substanzgebrauch vs. Abstinenz) gibt.

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Kunden und Therapeuten können sehr viel stärker und offener in die Begutachtung einbezogen werden, wodurch der Kunde besser verstehen kann, warum eine Begutachtung erforderlich ist und welche berechtigten Ansprüche sich an eine Verhaltensänderung (Substanzverzicht oder reduzierter Konsum) ableiten lassen:

- Transparenz bei Datenerhebung und Beurteilung

* Ausdruck der Angaben, wie sie im Gutachten stehen

* Lesen ohne Zeitdruck im Wartebereich

* Möglichkeit der Ergänzung

* Korrektur offensichtlicher Missverständnisse

* Ergebnismitteilung

- Öffnen der Kommunikation zwischen Therapie und Begutachtung durch eine Entbindung von der Schweigepflicht

- Schaffen eines offenen Netzwerks aus Therapie und Begutachtung ohne geschlossene Systeme

Dipl.-Psych. Jürgen Schattschneider Fachlicher Leiter der IBBK GmbH Marzellenstr. 23 50668 Köln Tel 0221-9228875 E-Mail: [email protected] www.ibbk-koeln.de

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Anita Müller

Der Gutachter hat immer Recht? Realität und Vision im fachlichen Austausch zwischen Verkehrstherapeuten und Gutachtern

Sowohl Verkehrstherapeuten als auch Gutachter und Träger von Begutachtungsstellen sitzen in einem Boot, der Verkehrspsychologie. Gerade das jüngste EuGH-Urteil macht deutlich, wie wichtig es ist, die differenzierten und wirksamen Maßnahmen der deutschen Verkehrspsychologie im Bereich der Diagnostik, der Beratung und der Therapie gemeinsam weiterzuentwickeln und die hohe Qualität des verkehrspsychologischen Arbeitsgebietes, die inzwischen erreicht worden ist, auf europäischer Ebene zu erhalten.

Dabei ist ein enger fachlicher Austausch zwischen Verkehrstherapeu-ten und Gutachtern unverzichtbar. Für eine gemeinsame Weiterent-wicklung der Verkehrspsychologie brauchen wir gemeinsame, intensive, sachliche Debatten und fachlich fundierte Auseinanderset-zungen zwischen Förderern der Fahreignung und Gutachtern. Polarisierende Debatten, die in einem Gegeneinander von Gutach-tern und Verkehrstherapeuten stecken bleiben, sollten wir zugunsten der gemeinsamen fachlichen Weiterentwicklung hinter uns lassen.

Deshalb sollen hier erst einmal die Gemeinsamkeiten und gemeinsa-men Ziele der verkehrspsychologischen Arbeit von Therapeuten und Gutachtern aufgezeigt werden, um dann das Besondere der gutachterlichen Arbeit zu beschreiben und die Konsequenzen aufzuzeigen, die für die gutachterliche Arbeit zu ziehen sind, wenn eine fachlich fundierte Auseinandersetzung stattfinden können soll.

Für eine fachlich fundierte Auseinandersetzung ist es allerdings zwingend notwendig, die Arbeitsbereiche der Begutachtung einerseits und der Therapie andererseits organisatorisch und finanziell strikt voneinander zu trennen. Es ist aber ein offenes Geheimnis, dass die gesetzliche Festlegung dieser strikten Trennung beider Arbeitsbereiche durch die Anlage 14 der Fahrerlaubnisver-ordnung über die Gründung von Tochtergesellschaften umgangen wird, so dass auf diese Weise der vorbereitende und therapeutische Arbeitsbereich weiterhin unter einem Dach mit dem Bereich der

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Begutachtung ist und beide Bereiche weiterhin finanziell als auch organisatorisch miteinander verquickt und voneinander abhängig sind. Dass dies dem Ruf unseres gemeinsamen Fachgebietes nicht eben zuträglich ist, sondern vielmehr das landläufige Vorurteil der Abzocke nährt und eine kritische und offene sowie fachlich fundierte Auseinandersetzung zwischen den beiden Arbeitsbereichen erschwert, liegt auf der Hand.

I. Gemeinsamkeiten in der Arbeit von Verkehrstherapeuten und Gutachtern

Gutachter und Verkehrstherapeuten arbeiten beide im Spannungs-feld zwischen den Interessen des Einzelnen, seine Mobilität wiederzuerlangen und gleichzeitig den öffentlichen Interessen an der Verkehrsicherheit. Damit ist die verkehrspsychologische Arbeit einerseits durch verwaltungsrechtliche, verkehrsrechtliche und strafrechtliche Rahmenbedingungen bestimmt und unterliegt einer zunehmenden Formalisierung, aber auch Verrechtlichung. Auf der anderen Seite bestimmen internationale Klassifikationsstandards wie IDC 10 und DSM IV und der aktuelle Stand der psychologischen Forschung und Praxis im Bereich der Diagnostik, Intervention und Therapie die Rahmenbedingungen gutachterlicher und verkehrsthe-rapeutischer Arbeit.

Verkehrstherapeuten und verkehrspsychologische Gutachter eint das Ziel, eine ressourcenorientierte Arbeit zu machen. Was im Rahmen der Begutachtung die beratende und ressourcenorientierte Diagnostik von dauerhaften Verhaltensveränderungen ist, ist im Rahmen der Verkehrstherapie die ressourcenorientierte und auf dauerhafte Verhaltensänderungen hin angelegte therapeutische Arbeit.

Das wesentliche Werkzeug unserer Arbeit - und auch das eint uns - ist die Sprache und vor allem unsere eigene Person. Selbstverständ-lich ist der Bereich der leistungspsychologischen Diagnostik von großer Bedeutung. Allerdings liegt der Schwerpunkt der Arbeit an Veränderungen im verkehrstherapeutischen Bereich ebenso wie die psychologische Diagnostik von Veränderungen im Bereich der Begutachtung im Bereich in der Anwendung von weichen Methoden der Intervention und Befunderhebung.

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II. Rahmenbedingungen der gutachterlichen Arbeit

Die Arbeit eines Gutachters ist allerdings durch den besonderen Charakter der Begutachtungssituation bestimmt. Zunächst entspricht die Arbeit des verkehrspsychologischen Gutachters der eines psychologischen Sachverständigen und muss dementsprechend den dafür entwickelten Kriterien und Standards gerecht werden. Die Begutachtung der Fahreignung ist dabei ein besonderes Gebiet psychologischer Sachverständigentätigkeit, denn sie stellt entspre-chend den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts einen schweren Eingriff ins Persönlichkeitsrecht dar.

Der Kunde sieht sich in der Zwangssituation, behördliche Zweifel durch eine Begutachtung widerlegen zu müssen und hat keine Rechtsmittel gegen eine entsprechende behördliche Anordnung zu einer Begutachtung. Weigert er sich, ist von seiner Nichteignung auszugehen. So gesehen ist die Begutachtung zwar eine Chance für den Kunden, seine Eignung zu beweisen. Schlicht ausgedrückt muss der Kunde jedoch aus seiner Sicht für etwas bezahlen, was er nie haben wollte und was noch dazu in einem doch erheblichen Prozentsatz zu einem Ergebnis führt, das seinen Interessen - die Fahrerlaubnis wieder zu bekommen - diametral entgegensteht. Kurzfristig will also der Kunde nicht ein korrektes Gutachten, sondern ein positives. Dass langfristig das Interesse des Kunden ebenso wie das Interesse des Gutachters und des Verkehrstherapeu-ten ist, die Fahrerlaubnis nicht nur wieder zu bekommen, sondern auf Dauer zu behalten und damit alle wieder in einem Boot sitzen, könnte nur über eine Art von "Reframing" deutlich werden. Wenn das im Rahmen einer Begutachtung gelingt, die zu einer negativen Prognose gelangt - was gar nicht so selten passiert - ist der hohe Anspruch einer beratenden Diagnostik umgesetzt.

Hat also der Gutachter immer Recht? Der Gutachter muss insofern Recht haben, als es seine Aufgabe entsprechend Anlage 15 der Fahrerlaubnisverordnung ist, ein Gutachten zu erstellen, das nachvollziehbar, nachprüfbar und verständlich sowie vollständig ist. Das Gutachten muss zu einer klaren Prognose kommen. Mit einem "sowohl als auch" beantwortet das Gutachten die gestellte Frage der Behörde nach der Wahrscheinlichkeit erneuter Verkehrsauffälligkei-ten eben nicht. Der Gutachter bzw. die Begutachtungsstelle muss dieses Gutachten auch juristisch vertreten im Falle von zivilrechtli-

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chen Auseinandersetzungen. Zwar trifft der Gutachter nicht die Entscheidung über die Eignung, gleichwohl muss ein Gutachten und insbesondere die Prognose so sein, dass daraus rechtliche Folgen ableitbar sind. Die Fahrerlaubnisverordnung insbesondere mit der Anlage 15, die Beurteilungskriterien zur Kraftfahrereignung, die trägereigenen Beurteilungskriterien, die Akkreditierungsrichtlinien und die darauf beruhenden Anforderungen im Rahmen der Qualitätssicherung bestimmen die Arbeit des Gutachters. Der verkehrspsychologische Gutachter ist als Sachverständiger der Berater für Verkehrsbehörden und Gerichte, die die entscheidende Instanz sind und die verantwortlichen Entscheidungen treffen. In früheren Veröffentlichungen wird der verkehrspsychologische Gutachter dann auch folgerichtig als Gehilfe des Gerichts bezeichnet.

Gleichzeitig besteht jedoch zwischen dem Kunden und der Begutachtungsstelle ein Werkvertrag mit allen Implikationen. Der Kunde wählt frei aus, wo er sich begutachten lassen will, trifft also seine Wahl unter - im Moment mit allen Mitteln um die Kunden kämpfenden - Trägern von Begutachtungsstellen. Den Gutachter selbst kann er sich nicht auswählen, hier muss eine zufällige Verteilung sichergestellt sein.

III. Beratende Einzelfalldiagnostik

Beratung und medizinisch-psychologische Begutachtung sind aber kein Gegensatz. Vielmehr geht es bei der Begutachtung gleichzeitig um einen beratenden und einen diagnostischen Prozess. Dies ist schon seit den achtziger Jahren unbestritten, nachdem Richter Menken 1980 im Auftrag des TÜV Rheinland ein Rechtsgutachten zu der Frage des Rechtsverhältnisses zwischen Kunde und Begutach-tungsstelle erstellt hat. Seine grundlegenden Äußerungen definieren bis heute unwidersprochen das Verhältnis zwischen Kunde und Gutachter. Seitdem beschreiben die Stichworte der einzelfallbezoge-nen und anlassbezogenen beratenden Diagnostik, der Entlastungsdia-gnostik, der ressourcenorientierten bzw. rehabilitativen einzelfallbe-zogenen Diagnostik den Anspruch der Gutachter an ihre eigene Arbeit.

Aus Sicht von Herrn Richter Menken besteht die Rolle des Gutachters weder darin, Büttel der Behörde zu sein, noch gerichtli-

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cher Sachverständiger. Der Gutachter ist vielmehr nur den Betroffenen selbst, nicht aber irgendeinem Dritten gegenüber als Auftraggeber verpflichtet und hat demnach von seinem Selbstver-ständnis und Berufbild her die Aufgabe, dem Betroffenen bei der Lösung seiner Eignungsprobleme nach besten Kräften zu helfen bzw. ihm, wenn er noch ungeeignet ist, wenigstens den Weg zu zeigen, wie er seine Eignung wieder gewinnen kann. Der Gutachter ist also eben nicht Berater der Behörden und Gerichte, sondern als Sachverständiger beratend für den Kunden tätig. Also: sitzen wir mit Verkehrstherapeuten und dem Kunden in einem Boot - oder zwischen allen Stühlen?

IV. Psychologische Exploration als Herzstück der Begutachtung

Die Anforderung einer beratenden Diagnostik geht weit über das Einhalten der erforderlichen formalen und auch inhaltlichen Standards hinaus. Beratende Diagnostik bedeutet qualitativ etwas anderes als die inzwischen zum gängigen Standard aller Begutach-tungsstellen gewordenen Angebote zur Information und Beratung vor einer Begutachtung.

Die Weiterentwicklung fachlicher Standards für die Umsetzung dieses großen Anspruchs einer beratenden Diagnostik im Rahmen einer Begutachtung betrifft vielmehr das Herzstück der psychologi-schen Arbeit, nämlich die psychologische Exploration bzw. die entscheidungsorientierte Gesprächsführung selbst. Hier liegt unserer Ansicht nach der Bereich, in dem eine weitere Entwicklung - auch auf Grundlage der fachlichen Diskussion mit Verkehrstherapeuten - notwendig ist.

Entspricht das Gutachten den kurzfristigen Interessen des Kunden, nämlich seine Fahrerlaubnis wiederzuerhalten, ist das Gutachten für ihn per se überzeugend, und es spielt keine Rolle, ob es aus Sicht des Kunden auch korrekt ist, solange es von der Verkehrsbehörde als mangelfrei akzeptiert wird. Fälle, in denen Kunden sich wegen einer ungerechtfertigten positiven Prognose beschweren, wird es der Natur der Sache nach nicht geben. Dann aber, wenn das Gutachten zu einer negativen Prognose gelangt, kommt es entscheidend darauf an, dass der Kunde die Schlussfolgerungen des Gutachters nachvoll-ziehen kann und die negative Prognose sowie die Hinweise darauf,

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auf welchen Wegen und wie er seine Fahreignung wieder herstellen kann, annehmen kann.

Eine beratende Diagnostik bedeutet, dass der Kunde das Ergebnis und entsprechende Empfehlungen aber nicht erst vierzehn Tage nach der Untersuchung aus dem Gutachten erfährt, sondern bereits am Ende des Untersuchungsgesprächs eine erste Rückmeldung darüber bekommt, sofern die Befundlage das zulässt.

Beratende Diagnostik heißt hier auch, mit den dann ggf. entstehen-den Diskussionen professionell umzugehen, statt sie einfach zu vermeiden, indem man sich bezüglich des Ergebnisses bedeckt hält. Soll der Anspruch eingelöst werden, eine beratende Diagnostik zu betreiben, gehört selbstverständlich aber auch die Bereitschaft der Begutachtungsstellen dazu, dem Kunden in einem angemessenen Zeitraum nach der Begutachtung die Gründe für ein negatives Gutachten und ggf. entsprechende Empfehlungen zu erläutern. Dem Kunden gleich mit einem negativen Gutachten die Empfehlung zu einem kostenpflichtigen Beratungsgespräch zuzusenden, in dem er dann seine Fragen zum Gutachten selbst klären kann, ist eine Praxis, die den Anspruch beratender Diagnostik in den Begutachtungsstellen ad absurdum führt.

Soll der Kunde aber eine negative Prognose positiv motiviert nutzen können, für die er viel Geld bezahlt hat und die zunächst seinem verständlichen Interesse, die Fahrerlaubnis wieder zu erhalten, diametral entgegen steht, kommt es entscheidend darauf an, dass der Gutachter nicht nur am Ende des Gesprächs erste Schlussfolgerungen transparent und verständlich darstellt. Das entscheidungsorientierte Gespräch selbst muss für den Kunden nachvollziehbar und transparent sein. Mit dem Gutachter soll ein Arbeitsbündnis entstehen, das trotz eines ggf. negativen Gesamtergebnisses an Ressourcen des Kunden anknüpft und dem Kunden über die momentane negative Prognose hinaus die Zuversicht gibt, mit seinen Möglichkeiten auch eine Chance auf das Erreichen seines Zieles zu haben. Dies bedeutet auch die hohe Anforderung, Fragen dem individuellen Kunden und dem jeweiligen Gesprächsablauf entsprechend zu formulieren. So ist zum Beispiel die Formulierung "auf Nachfrage", die immer noch in Gutachten zu finden ist, direkt aus dem Gerichtssaal entliehen und gehört nicht in eine psychologi-sche Exploration, denn diese Formulierung benutzen Richter, wenn

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sie Angaben von Zeugen und ihre entsprechenden Nachfragen kurz zum Diktat zusammen fassen.

Beratende Diagnostik heißt, dass im Laufe des Gesprächs neben Fragen und Nachfragen auch dauernd Rückmeldungen des Gutachters erfolgen, damit Kunden nachvollziehen können, wie der Gutachter Äußerungen von ihnen wertet und auf diese Weise auch die Möglichkeit haben, ggf. ihre Äußerungen korrigieren zu können. Außerdem wird nur so der Prozess der gutachterlichen Entscheidun-gen transparent. Idealerweise kann sich dann die Rückmeldung über das voraussichtliche Gutachtenergebnis am Ende des Gespräches auf eine Zusammenfassung dessen beschränken, was im Gespräch schon angesprochen wurde.

V. Transparente entscheidungsorientierte Gesprächsführung

Es kommt also entscheidend auf die Gesprächsführung an und damit auf den diagnostischen Prozess im Gespräch selbst. Ein bloßes Sammeln von Befunden, mit denen z.B. eine negative Prognose klar begründbar ist, reicht keinesfalls aus, denn beratende Diagnostik setzt voraus, dass eine Problemdiagnostik erfolgt und eine möglichst differenzierte Analyse der Verhaltens- und Einstellungsbereiche, in denen noch grundlegende Veränderungsarbeit notwendig ist. Selbstverständlich sollte dabei immer im Hinterkopf bleiben, dass es sich bei dem Gutachten nicht um eine vom Kunden freiwillig in Anspruch genommene Werkleistung handelt, ebenso darf nicht vergessen werden, dass es sich um ein offizielles Dokument handelt, dass Eingang in die Akten der Behörden finden kann. Und natürlich handelt es sich immer um eine anlassbezogene Begutachtung, die nicht ausgeweitet werden darf.

Entscheidungsorientierte Gesprächsführung heißt, ein Gesprächkon-zept zu haben, das es ermöglicht, einerseits alle notwendigen Fragen zu stellen und Befunde zu erheben und andererseits erkennbar dem individuellen Kunden mit seinen Gesprächsangeboten und auch seinen Kommunikationsmöglichkeiten zu folgen. Eine Exploration, die eingeengt ist auf das Abhaken von Kernfragen wie zum Beispiel den Fragen nach Trinkmengen und -häufigkeiten oder Umständen des Deliktes und die nicht den Äußerungen des Kunden folgt, sie nicht aufnimmt und nicht hinterfragt, wird dem Anspruch einer

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entscheidungsorientierten Gesprächsführung nicht gerecht, sondern macht sich selbst entbehrlich, denn dann könnte auch ein Fragebo-gen ausreichend sein.

VI. Brisante Nahtstelle: Negatives Gutachtenergebnis nach einer als erfolgreich eingeschätzten Verkehrstherapie

Es gibt vielfältige Berührungspunkte zwischen der verkehrstherapeu-tischen Arbeit und der Tätigkeit der Gutachter sowohl vor, als auch während und nach einer Begutachtung. Festzustellen bleibt - auch da sitzen wir in einem Boot - dass es einen hohen Prozentsatz gibt, mit dem Verkehrstherapeuten negativen Prognosen in einem Gutachten nach einer Verkehrstherapie zustimmen. In der großen Mehrzahl gibt es eine Übereinstimmung zwischen Gutachtern und Verkehrs-therapeuten in der prognostischen Einschätzung.

In den wenigen Fällen jedoch, wo es nach einer als erfolgreich eingeschätzten Verkehrstherapie zu einem negativen Gutachtener-gebnis kommt und kein Konsens über die prognostische Einschät-zung herrscht, widersprechen sich Gutachter und Verkehrstherapeu-ten auf allen Ebenen. Es gibt sowohl erhebliche Unterschiede in der Einschätzung der zugrunde liegenden Problematik, als auch dementsprechend unterschiedliche Einschätzungen, welcher Grad an Aufarbeitung erforderlich bzw. erreicht ist, welche Verhaltensände-rungen überhaupt angemessen sind als auch Unterschiede in der Einschätzung, ob eine Verhaltensänderung als stabil zu werten ist.

Nun sind weder die Gutachter die Supervisoren der Verkehrsthera-peuten noch umgekehrt die Verkehrstherapeuten Supervisoren der Gutachter. Zwar haben wir die grundsätzlich gleichen Arbeitsziele, allerdings sind die Rahmenbedingungen der Arbeit als Gutachter einerseits und der Arbeit als Verkehrstherapeut andererseits grundverschieden. Gleichwohl sitzen wir in einem Boot und unsere Arbeitsbereiche berühren sich eng und sind voneinander abhängig.

Auf der verkehrstherapeutischen Seite könnte zum Beispiel ein negatives Gutachten nach einer Verkehrstherapie im Hinblick auf die verkehrstherapeutische Eingangsdiagnostik geprüft werden oder die verkehrstherapeutische Intervention oder auch die letzte Phase der Verkehrstherapie, die Vorbereitung auf die besondere Situation der Begutachtung. Im letzten Bereich stellt sich wohl immer die

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verkehrstherapeutische Gretchenfrage, ob sich der Klient auch ausreichend positiv darstellen kann.

Auf der Seite der Gutachter könnte eine kritische Rückmeldung von verkehrstherapeutischer Seite zum Beispiel Hinweise geben auf eine verzerrte Darstellung ihres Klienten im Gutachten und damit auf Mängel in der psychologischen Exploration, durch die sich der Kunde nicht ausreichend darstellen konnte oder auch Hinweise auf Unklarheiten oder unangemessene Gewichtungen in der Anwendung diagnostischer Kriterien zur Problemeinschätzung.

VII: Psychologische Exploration als Kunsthandwerk

Eine fachliche fundierte Auseinandersetzung über ein Gutachten mit einer negativen Prognose nach einer Verkehrstherapie setzt aber zunächst mal voraus, dass die im Rahmen der Begutachtung erhobenen Befunde als valide akzeptiert werden. Dabei ist die Exploration die zentrale Methode der Begutachtung, in der in der Regel auch die entscheidenden Befunde für eine negative Prognose erhoben werden. Ein Gutachten kann also nur so plausibel und überzeugend sein, wie die Art der psychologischen Gesprächsfüh-rung als wesentliche Methode der Befunderhebung überzeugend ist.

Herr Weinand, der jetzige Leiter des Akkreditierungsbereichs von Begutachtungsstellen für Fahreignung der Bundesanstalt für Straßenwesen, hat in diesem Zusammenhang 1994 von einem Kunsthandwerk gesprochen. Er stellt fest, dass bei der Exploration eine Reihe von Störfaktoren wie zum Beispiel verbale Konditionie-rungen oder auch Übertragung und Gegenübertragung Einfluss gewinnen können und folgert daraus, vom Gutachter müssten bestimmte Eigenschaften wie Lebenserfahrung, Kontaktfähigkeit, Affektkontrolle sowie Empathie gefordert werden und es müsse eine gründliche Ausbildung in Explorationstechniken erfolgen.

Persönliche Einstellungen, Haltungen, Vorlieben und Vorurteile können einen erheblichen Einfluss auf den Prozess der Therapie und den Prozess der Begutachtung haben und zu Verzerrungen führen. "Glaubt" zum Beispiel ein Verkehrstherapeut grundsätzlich nicht an die Möglichkeit des kontrollierten Trinkens nach einem vorherigen Alkoholmissbrauch, kann dies dazu führen, dass Kunden unabhängig von der bei ihnen vorliegenden Problematik generell die Empfehlung

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bekommen, abstinent zu leben, ohne dass in einem oft schwierigen und ambivalenten Prozess eine Entscheidung darüber getroffen wird, welcher Umgang mit Alkohol für den einzelnen Klienten seinem Problem im Umgang mit Alkohol angemessen ist. Hält andererseits ein Gutachter jenseits von seinem fachlichen Wissen grundsätzlich nichts vom kontrollierten Trinken, besteht die Gefahr, dass auch Trinkgewohnheiten, die sich vielleicht am oberen Rand des gesellschaftlich Üblichen bewegen, als zu hoch und damit ggf. als prognostisch negativ gewertet werden.

Einerseits Handwerk, andererseits Kunst - was bedeutet das für die Gutachtenerstellung? Es kann niemand mehr ernsthaft bestreiten, dass Gutachter selbstverständlich auf ihren Untersuchungsgegens-tand, also ihr Gegenüber und dessen Aussagen, Einfluss nehmen. Dass der Gutachter unbeteiligt ist, ist eine Fiktion und längst durch gängige wissenschaftliche Forschung aus dem Bereich Diagnostik widerlegt. Die Erkenntnis ist nicht neu, dass die Befunderhebung mit der "weichen Methode" der entscheidungsorientierten Gesprächsfüh-rung zum Beispiel durch kulturelle Unkenntnisse, durch eine unbewusste Voreinstellung zu bestimmten Lebensstilen oder Verhaltensweisen oder durch die Lebenserfahrung des Untersuchers oder durch das Geschlecht usw. beeinflusst werden kann.

Diesen Fakt zu bestreiten und Kritik, die sich auf solche Störfakto-ren in einem Gutachten beruft, pauschal zurückzuweisen unter Verweis darauf, dass die formalen Bedingungen für die Gutachte-nerstellung eingehalten worden seien, wird der hohen Anforderung an eine Begutachtung und dem Anspruch, überzeugende und plausible Sachverständigenarbeit zu machen ebenso wenig gerecht wie der sehr hohen Qualität der Arbeit der Gutachter.

Ein grundsätzliches Mauern bei Kritik, um nicht das Instrument der Begutachtung insgesamt angesichts der immer noch vorhandenen großen öffentlichen Vorurteile durch eine transparente Auseinander-setzung auch über Fehlerquellen in der Begutachtung zu gefährden, kann da nur der falsche Weg sein. Denn ein Instrument bzw. eine Untersuchungsmethode kann nur so gut sein, wie die kritische Auseinandersetzung damit und die darauf beruhende Weiterentwick-lung.

Auffallend ist aber, dass zwar auch in Gutachten immer wieder die psychologische Exploration als zentrale Untersuchungsmethode der

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gesamten medizinisch-psychologischen Untersuchung bezeichnet wird, andererseits aber nicht ausführlich dokumentiert wird, ganz im Gegensatz zu vielen anderen Untersuchungsbestandteilen, bei denen inzwischen die Methode der Untersuchung selbst als auch zum Beispiel Normbereiche ausführlich wiedergegeben werden müssen.

Während sich immer wieder Gerichtsurteile damit beschäftigt haben, in welcher Weise die psychologischen Befunde, also die Angaben der Kunden wiedergegeben werden müssen und in welcher Ausführlich-keit, wird erstaunlicherweise nicht diskutiert, dass die zentrale Untersuchungsmethode, mit der diese Befunde erhoben werden, also die Gesprächsführung des Gutachters mit seinen sprachlichen Interventionen zumindest dort, wo relevante Aussagen des Kunden erhoben werden, wiedergegeben werden muss. Wenn es auch ein Fortschritt ist, dass die wesentlichen Angaben des Kunden aus dem Gespräch entsprechend den formalen Anforderungen wiedergegeben werden, ist es noch längst nicht zum Standard geworden, die sprachlichen Interventionen des Gutachters so wiederzugeben, wie sie stattgefunden haben.

Hier steht eine große Intransparenz der Tatsache gegenüber, dass gerade der Methode der Exploration der größte Stellenwert in der Befunderhebung bei der Begutachtung eingeräumt wird. Ein Gutachten ist aber nur dann plausibel und überzeugend, wenn der Prozess des Gesprächs zumindest in wesentlichen Bestandteilen ebenso abgebildet wird wie die Fragen und Hinweise des Gutachters selbst, denn nur dann kann nachvollziehbar sein, wie bestimmte Aussagen der Kunden zustande gekommen sind. Nur dann auch ist nachvollziehbar, ob die Exploration tatsächlich im Geist einer beratenden Diagnostik geführt wurde und der Kunde vom Gutachter unterstützt und ermuntert wurde, seine Problemsicht darzustellen.

Werden aber zum Beispiel bei der Gesprächswiedergabe Äußerungen des Kunden unter einem Thema zusammen gefasst, die er an ganz unterschiedlicher Stelle im Gespräch und in ganz unterschiedlichen Gesprächszusammenhängen gemacht hat, kann nicht von einer nachprüfbaren Wiedergabe dieses wichtigen Bestandteils einer medizinisch-psychologischen Untersuchung gesprochen werden. Gerade die Wiedergabe der wesentlichen Gesprächssequenzen einschließlich aller Äußerungen des Gutachters ist aber doch geeignet, die oben angesprochene Kunst der psychologischen

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Sachverständigenarbeit zu dokumentieren und damit die medizinisch - psychologische Untersuchung und die hohen Anforderungen, die an die Arbeit des psychologischen Gutachters gestellt werden, transparent zu machen.

VIII. Welche Konsequenzen folgen daraus?

Gutachter sind nur Menschen, Menschen machen Fehler. Konse-quenzen aus dieser Tatsache betreffen grundsätzliche Prinzipien im Umgang mit Kritik an und Beschwerden über Gutachten ebenso wie die Ebene von Aus- und Fortbildung sowie Supervision als auch Fragen der Dokumentation.

Eine wesentliche Konsequenz aus dem oben Gesagten betrifft die Dokumentation des Gesprächs. Die Wiedergabe des Gesprächs muss im wesentlichen Ablauf sowie einschließlich der Fragen und Äußerungen des Gutachters vollständig sein, was ausführliche Mitschriften oder auch Tonbandaufnahmen erforderlich macht. Nur dann können Gutachten überprüft werden. Die Praxis, Kunden die Mitschrift des Gesprächs zu geben und sie dann ihre Äußerungen schriftlich korrigieren sowie anschließend unterschreiben zu lassen, ist nur vordergründig kundenfreundlich. Zum einen wird durch diese Praxis die Verantwortung zur Klärung von Missverständnissen auf die Kunden verschoben. Außerdem ist der Spielraum zur Auseinandersetzung mit dem Gutachten danach erheblich einge-schränkt. Dass solche Verfahrensweisen keine objektiven und verwertbaren Gutachten erwarten lassen, hat das bayrische Innenministerium ausdrücklich festgestellt und die Kreisverwal-tungsbehörden entsprechend informiert.

Das Wissen um die oben genannten Störfaktoren hat Konsequenzen für die Ausbildung der Gutachter. Dabei ist die Ausbildung in entscheidungsorientierter Gesprächsführung und dort vor allem das Training der Fähigkeit, einerseits ein individuelles Gesprächskonzept zu entwerfen und zu verfolgen und sich andererseits im Gesprächs-prozess flexibel auf den individuellen Kunden einzustellen, ein wesentlicher Schwerpunkt. Besonders wichtig aber ist die Ausbil-dung und Anleitung zur dauernden Selbstbeobachtung und das Schärfen der Fähigkeit, störende Kontaktprozesse im Begutach-tungsprozess wahrzunehmen, bewusst zu machen und professionell

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damit umzugehen. Ein wesentlicher Bestandteil einer Grundhaltung eines psychologischen Sachverständigen ist die Erkenntnis, dass nicht das Auftreten von Übertragungen und Gegenübertragungen unprofessionell ist, sondern das Verkennen solcher Prozesse.

Außerdem müssen neben einer laufenden Qualitätskontrolle der Gutachten, die diesen Beziehungsaspekt in der Untersuchungssitua-tion mit berücksichtigt, auch angemessene Rahmenbedingungen zur Verfügung gestellt werden, damit eine solche selbstkritische Beobachtung und ggf. eine entsprechende Korrektur für Gutachter möglich ist. Dies bezieht sich auf fachliche Strukturen wie Supervisi-on, Fallbesprechungen im Team etc., aber auch auf atmosphärische Aspekte und bedeutet auch, dass Gutachter die Möglichkeit haben müssen, sich vor oder in einer aktuellen Untersuchungssituation für befangen zu erklären. So gibt es zwar einerseits Hinweise in den Beurteilungskriterien zur Kraftfahrereignung, dass ein Gutachter wie jeder Sachverständige die Möglichkeit hat, eine Begutachtung wegen Befangenheit abzulehnen, wenn er befürchtet, nicht neutral sein zu können. In der Praxis der Begutachtungsstellen müssen jedoch besondere Möglichkeiten geschaffen werden, damit dies im Begutachtungsalltag auch möglich ist.

Wenn wir ernst nehmen, dass das Kernstück der Begutachtung die psychologische Gesprächsführung ist und diese sehr hohe Anforde-rungen an die Sachverständigentätigkeit stellt und einige Störfakto-ren beinhaltet, kann die Konsequenz nur sein, eine Kultur im Umgang mit Fehlern zu entwickeln. Fehler müssen als Chance zum Lernen begriffen werden, also nicht als Defizite, sondern als Hinweise auf zu entwickelnde Ressourcen, was aber nur dann geht, wenn Fehler nicht schamhaft als Versagen verdeckt werden müssen und dies durch Abwiegeln von Kritik von außen unterstützt wird.

Unversehens finden wir uns hier als Gutachter mit den Kunden in einem Boot. Denn Gutachter fordern von Kunden einen offenen und unverstellten sowie realistischen Umgang mit ihren eigenen Fehlern in der Vergangenheit, was nur dann möglich ist, wenn die Scham darüber überwunden wurde. Die eigentliche Arbeit der Gutachter wird bestimmt von dieser Schwierigkeit und dem unterschiedlichen Grad, in dem es Kunden gelungen ist, aus Defiziten, also ihren Verkehrsauffälligkeiten, zu lernen und entsprechende Ressourcen zu nutzen, um ihr Verhalten in bestimmten Bereichen zu verändern.

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Dieser unverstellte Umgang mit Fehlern sowie die grundlegende Bereitschaft, sich mit Kritik auseinanderzusetzen, muss also Maxime sein für Gutachter. Wenn selbst erlebt wird, wie schwer es sein kann, Kritik zu erleben, Fehler zu machen, und aus diesen Fehlern lernen zu müssen, sie also nicht zu verdrängen oder abzuwehren, sensibili-siert das grundlegend für die Situation, in der sich Kunden in der Begutachtungssituation befinden.

Für die Institution Begutachtungsstelle für Fahreignung heißt das, organisatorisch, rechtlich und finanziell einen Rahmen zu bieten, in dem ein Fehler und Kritik nicht abgewehrt werden müssen, sondern als Einladung zum Lernen und zur Verbesserung der Sachverständi-genarbeit genutzt werden können. Dies bedeutet auch, dass offen auf Kritik oder Beschwerden reagiert wird, die entsprechenden Gutachten intensiv überprüft werden und ggf. entsprechend den werkvertraglichen Regelungen durch eine Nachbesserung für die Erstellung eines nicht nur mangelfreien, sondern auch überzeugen-den Gutachtens gesorgt wird - oder eben auch, ein Gutachten für nicht verwertbar zu erklären.

Eine solche Praxis könnte dafür sorgen, dass sich der allen Trägern zumindest verbal gemeinsame Anspruch, eine kundenfreundliche und beratende Diagnostik der Fahreignung anzubieten, konsequenter umsetzt und zu einer Weiterentwicklung der Verkehrspsychologie insgesamt führt. Und eine nicht nur formal korrekte, sondern vor allem plausible, überzeugende Praxis der medizinisch-psychologischen Begutachtung ist notwendig, um angesichts der jüngsten europäischen Entwicklung das bereits hoch entwickelte Fachgebiet der deutschen Verkehrspsychologie zu stabilisieren.

Dipl.-Psych. Anita Müller AVUS-Diagnosezentrum AVUS GmbH Schillerstr. 44 22767 Hamburg Tel: 040-3899010 E-Mail: [email protected] www.avus-mpu.de

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Anita Nieder

Veränderung als zentrales Thema in Therapie und Begutachtung - Motivation zur Veränderung und Beurteilung des Verände-rungsprozesses

1. Mut zur Veränderung

Es geht sowohl in einer verkehrspsychologisch orientierten Therapie wie in der Begutachtung um Veränderung. Die Therapie ist eine Hilfe zur persönlichen Änderung. Die Fahreignungsbegutachtung hat die Aufgabe, zu überprüfen, ob die Veränderungen ausreichen, die Bedenken an der Fahreignung auszuräumen. In der Fahreig-nungsbegutachtung wird eine Prognose über das zukünftige Verhalten im Straßenverkehr erstellt. Im günstigen Fall wird aus den Einsichten und persönlichen Veränderungen die Schlussfolgerung gezogen: Es ist nicht mehr zu erwarten, dass Herr xy unter Einfluss von Alkohol oder Drogen auffällt bzw. dass er weiterhin erheblich gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen wird.

Die Hürde in der Begutachtung besteht darin, dass nur eine Änderung von Denken, Fühlen und Verhalten zu einem positiven Ergebnis führt. Genau in diesem Aspekt liegt die Zumutung für diejenigen, welche zur Begutachtung kommen. Kein Mensch verändert sich einfach so und aus freien Stücken. Helm Stierlin, der maßgeblich für die Entwicklung der systemischen Therapie in Deutschland war, hat ein Zitat von Nietzsche herangezogen, um zu verdeutlichen, wie Veränderungen beginnen. Es geht darum: Mut zum Angriff auf die eigene Überzeugung aufbringen. Das ist nicht einfach. (s. de Shazer 1994)

Eine weit verbreitete Fachmeinung besagt: Voraussetzung für eine Therapie ist ein ausreichender Leidensdruck. Er führt zu einer Änderungsmotivation. Nur dann ist jemand bereit, an sich zu arbeiten. Im Laufe meiner therapeutischen Ausbildungen habe ich durch die systemische Therapie einen neuen Blick auf die Therapie-motivation bekommen: Hilfreich für Veränderungen ist eine persönliche Utopie, was besser, anders sein soll. Hilfreich ist ein

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Minimalglauben an die eigenen Kräfte, eine Veränderung zu bewerkstelligen. Dann kann der Mut zum Angriff auf die eigene Überzeugung wachsen. (s. Kim Berg & Miller 1993; von Schlippe & Schweitzer 1996)

Wie spiegelt sich das in der Verkehrspsychotherapie und der Begutachtung wider? Ein Leidensdruck ist durch den Verlust der Fahrerlaubnis gegeben. Wenn sich jedoch keine weiteren Ände-rungsmotive hinzugesellen, ist die Bereitschaft gering, Anregungen in der Therapie aufzugreifen, um das eigene Denk- und Verhaltensmus-ter kritisch zu durchleuchten, Ansichten zu ändern. Sowohl für Fortschritte in der Psychotherapie wie auch als Pluspunkt in der Begutachtung ist das persönliche Interesse entscheidend: Was gewinne ich außer dem Führerschein noch? Wer keine anderen Motive hat, wird z.B. nach Wiedererlangen der Fahrerlaubnis die alten Trinkgewohn-heiten fortführen. Setzen sich begonnene Veränderungen im Trinkverhalten und der Lebensführung jedoch fort, wird im Laufe der Zeit idealerweise der Führerschein zum Nebeneffekt anderer Verbesserungen im Leben.

Die Kundinnen und Kunden, die sich nach dem Entzug der Fahrerlaubnis schnell auf einen Änderungsweg begeben, haben nach meiner Erfahrung schon in der Zeit davor zumindest Ahnungen , dass das, was sie machen, für sie selber und ihre Umwelt nicht gut ist. Sie erleben eine Ambivalenz, welche einen guten Nährboden für die Umgestaltung gewohnter Denk- und Verhaltensmuster abgibt. Es liegt eine latente Änderungsbereitschaft vor. Dies zeigt sich beispielhaft an Äußerungen: Heute bin ich froh darum, dass es passiert ist und ich aufgewacht bin. Ich habe schon länger gewusst, dass mein Alkoholkonsum nicht mehr normal war. Ich finde es traurig, dass ich so alt werden musste, um zu begreifen, dass ich zu viel getrunken habe. Ich habe Jahre meines Lebens verschenkt. Hier handelt es sich um eine Gruppe, die am ehesten auch ohne fachliche Hilfe die Begutachtung schaffen könnte oder deren positive Änderungsansätze so deutlich sind, dass bei Restbedenken ein Nachschulungskurs nach § 70 FeV empfohlen wird. Genau diese Gruppe wiederum kann Hilfestellung in therapeutischen Gesprächen gut für sich nutzen.

Eine bestimmte Gruppe unserer Gutachtenkundinnen und Gutachtenkunden braucht relativ lange, um in der Therapie andere persönlich bedeutsame Aspekte außer dem Führerschein zu sehen.

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Sie sind mit sich und ihrem Leben zufrieden und sehen ihre Auffälligkeit im Straßenverkehr nur als "Ausrutscher". Hier kann eine Motivation für eine Abkehr von früheren Gewohnheiten langsam über positive Erfahrungen mit dem neuen Verhalten gewonnen werden. Manche sagen offen in der Begutachtung: Natürlich habe ich meinen Alkoholkonsum zuerst nur wegen des Führerscheins geändert. Es ist mir erst durch den Entzug klar geworden, wie wichtig der Führerschein ist. So wichtig ist mir der Alkohol oder der Drogenkonsum nicht gewesen. Dann habe ich aber gemerkt, dass ich plötzlich mehr Zeit am Wochenende hatte. Ich habe mit meiner Familie Ausflüge gemacht .Das Familienleben hat sich verbessert. Ich habe jetzt ein Hobby. Ich merke erst jetzt, wie eintönig ich vorher gelebt habe.

Es gehört Mut dazu, den eigenen Einsichtsprozess so offen in der Begutachtung darzustellen. Aber genau das macht die Schilderungen nachvollziehbar und stellt einen psychologischen "Beleg" für einen Änderungsprozess dar.

Die Gruppe von Kunden und Kundinnen hat wenig Chance auf eine positive Fahreignungsprognose, die keinerlei persönliche Utopie oder Vorstellung eines anderen Lebens hat. Ich hatte zwei Kunden in diesem Jahr, deren Begutachtung negativ war. Ich habe mit ihnen die Gründe für die negative Beurteilung besprochen. Ich habe Ihnen gesagt, welche Veränderungen ich für nötig ansehe, damit es ihnen gelingen kann, ihr exzessives Trinken dauerhaft aufzugeben. Ich frage gerne an dieser Stelle: Ist ihnen der Führerschein das wert, dass sie ihre Gewohnheiten verändern? Wenn sie nach Feierabend wie bisher immer in die Kneipe gehen und keine anderen Freunde suchen, werden sie weiterhin viel trinken. Hier sagte mir einer: Ich habe sonst nichts. Dann verzichte ich auf den Führerschein. Bei einem anderen ging es darum, dass ich ihm sagte: wenn Sie sich nicht entscheiden, erwachsen zu werden, dann werden Sie weiter trinken. Auch er sagte mir: Ich will lieber so weiter leben wie bisher. Solche Nachgespräche nach der Begutachtung sind sehr aufschlussreich. Sie können in einem günstigen Fall Zweifel an der Einstellung wecken, dass alles so bleiben soll, wie es ist. Dann kann auch hier langsam eine Bereitschaft wachsen, die eine oder andere Neuerung zu versuchen.

Zur Gutachtenphilosophie der IAS gehört, in einer Ergebnisbespre-chung mitzuteilen, was außer einer Veränderung der Sichtweise der

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Ursachen für die Auffälligkeit im Straßenverkehr zu einem nötigen Veränderungsprozess noch gehört, damit ein nächstes Gutachten positiv ausfallen kann. Meine Erfahrung zeigt mir, dass unsere Kundschaft damit mehr anfangen kann, als wenn ich ihnen nur aufzeige, dass sie ihre Problematik bagatellisieren. Ziel ist, die Besprechung des Ergebnisses letztlich zu einer therapeutischen Intervention zu machen. "Sie sind derjenige/diejenige, die eine Entscheidung zu treffen hat." Dies ist ein Ausgangspunkt, eine Veränderungsbereitschaft zu wecken oder zumindest eine persönli-che Ambivalenz zu schaffen, ob es tatsächlich der beste Weg ist, alles beim Alten zu lassen. Auch die Antwort: "ich habe sonst nichts" wird weiter wirken und ist ein Stachel, das Gewohnte einfach fortzuführen.

In den Laufbahnberatungen vor einer Begutachtung zeigen wir auf, an welchen Punkten jemand zu arbeiten hat. Die KundInnen erhalten eine Auflistung konkreter Themen und Fragen. Wichtig ist, in der Beratung Neugier auf Veränderung und Ahnungen über eigene Ressourcen und Utopien zu wecken. Dann dürfte eine gute Ausgangsbasis für alle weiteren therapeutischen und beraterischen Interventionen gelegt sein, die letztlich in einem positiven Gutachten münden sollen.

2. Der Prozess der Veränderung und die Anforderungen der Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung

Veränderung ist ein lebenslanger Prozess, um den wir gar nicht herumkommen. Wir können ihn jedoch in die eine oder andere Richtung mit besten Kräften zu steuern versuchen. In der Therapie wird Veränderung idealerweise in einem guten Maße zu einem Ziel hin gefördert, das in der Therapiekonzeption und vom Klienten her wünschenswert ist. Es gibt in der verkehrspsychologisch orientierten Therapie im Vorfeld einer Begutachtung eine Besonderheit. Das Therapieziel ist mehr oder weniger durch die Anforderungen an ein positives Gutachtenergebnis geprägt. Die Klientel will schließlich das Gutachten bestehen und den Führerschein wieder erlangen..

Wenn ein Veränderungsprozess beginnt, so wird die eigene Person genauer beobachtet. Neue Schritte werden in ihren Auswirkungen aufmerksam registriert. Die Therapie beginnt mitten in einem

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lebendigen Prozess, begleitet diesen eine Weile. Die Begutachtung ist an einem späteren Prozesspunkt angesiedelt. Sie macht die Be-standsaufnahme eines Veränderungsprozesses, zu dem die therapeuti-schen Interventionen beigetragen haben. Gleichzeitig hat sie die Aufgabe der Prognoseerstellung. Sie soll also aufgrund wissenschaft-licher Methoden einen Ausblick in die Zukunft dieses Menschen machen. In der Begutachtung wird nicht nur beurteilt, was hat dieser Mensch seit der Auffälligkeit im Straßenverkehr verändert. Sie muss auch Schlussfolgerungen ziehen, wie werden sich diese Entwicklun-gen voraussichtlich fortsetzen und auf den Straßenverkehr auswir-ken.

Ich habe in meinem Berufsleben eine Phase der Begutachtung und Therapie gehabt, sieben Jahre nur Therapie und Schulungen unterschiedlichster Art gemacht, vor drei Jahren wieder mit der Fahreignungsbegutachtung begonnen. Durch diesen Wechsel und die Erfahrungen in Therapie und Begutachtung ist bei mir die Frage entstanden: Gibt es unterschiedliche Sichtweisen auf Veränderungen je nach Position der Therapeutin oder der Gutachterin? Wo liegt der Schwerpunkt der Beurteilung aus Sicht der Therapeutin und wo als Gutachterin? Welche möglichen Unterschiede existieren?

Aus den Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung (2000) lassen sich am Beispiel der Alkoholthematik folgende Vorgaben für psychologische Veränderungen ableiten, die eine positive Fahreig-nungsprognose begründen können:

* Der Aufbau der Alkoholgewöhnung muss nachvollziehbar dargelegt werden können.. * Persönliche Hintergründe des Vieltrinkens müssen erkannt sein. * Die Alkoholproblematik muss realistisch bewertet werden.. * Die Trinkgewohnheiten müssen in Richtung einer Abstinenz oder eines mäßigen Alkoholkonsums verändert worden sein. * Der Prozess der Umgewöhnung muss nachvollziehbar dargelegt werden können, was eine realistische und genaue Selbstbewertung voraussetzt. * Es müssen Veränderungen hinsichtlich der persönlichen Hinter-gründe (Motive, äußere Rahmenbedingungen) erkennbar sein. * Die mit der Verhaltensänderung erzielten Wirkungen werden positiv erlebt.

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* Die Verhaltensänderungen sind in das Gesamtverhalten integriert. Ihre Stabilität ist erkennbar.

Wann können diese Kriterien nun als erfüllt angesehen werden? In diesem Punkt kann es zu unterschiedlichen Beurteilungen aus Sicht des Therapieprozesses und der Begutachtung kommen.

3. Die Strukturen der Erzählungen

Potenziell unterschiedliche Sichtweisen auf Veränderung lassen sich auf die Charakteristika beziehen, wie unsere Klientel ihr Erleben und Verhalten beschreibt und bewertet: auf die Struktur ihrer Erzählung. Sowohl Therapiegespräche wie auch die psychologische Exploration in der Begutachtung basieren auf Erzählungen. Es handelt sich jeweils um die Konstruktion einer Geschichte.

Nach Gergen und Gergen (1986, s. auch de Shazer 1994) ist das Erzählen von Geschichten eine Tätigkeit, die teilweise auf Fragen fokussiert wie: Bin ich ein guter oder schlechter Mensch Geht es mir besser oder schlechter? Erreiche ich meine Ziele oder komme ich davon ab? Um solche Fragen zu beantworten, erzählen Menschen die Geschichte ihres eigenen Lebens und das von anderen. Es werden drei Erzähltypen unterschieden:

Progressive Erzählungen: Sie erzählen davon, wie Menschen sich verändern. Wie sie sich ihren Zielen /Wünschen/Utopien nähern. Hier handelt es sich um die erwünschten Veränderungen.

* Stabilisierende Erzählungen Sie handeln von dem, was sich im Leben nicht ändert. Ihr Fo-kus ist die Festigung dessen, was ist.

* Regressive Erzählungen Sie handeln davon, wie Menschen von ihren erwünschten Le-bensumständen abkommen. Es sind unerwünschte Verände-rungen. Die Erzählung ist gekennzeichnet durch Beschwerden und Klagen.

Diese Erzählstrukturen können auf die Beurteilung von Verände-rungsprozessen im Zusammenhang mit der Fahreignungsbegutach-

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tung angewendet werden. Hierfür müssen die Kategorien etwas erweitert werden:

3.1. Progressive Erzählungen

Sie handeln von erwünschten Veränderungen und dem Weg zu diesen Veränderungen mit allen Erfolgen und Stolpersteinen.

Ein Mensch gewinnt neue Einsichten in das Problemverhalten. ("Es ist beschämend, dass ich so alt werden musste, um zu begreifen, dass ich nicht mehr normal getrunken habe. Vorher habe ich die Kommentare meiner Frau nie ernst genommen. Mittlerweile sehe ich, dass sie recht hatte. Aber ich wollte es vorher nicht wahr haben.") Das eigene Verhalten wird realistisch als problematisch bewertet und als veränderungsbedürftig erkannt. ("So konnte es nicht weiter gehen.") Es erfolgt eine sorgfältige Bestandsaufnahme, wie es zu dem Problem-verhalten kommen konnte, welches zu der Auffälligkeit im Straßenverkehr führte (Alkoholgewöhnung, Drogenkonsum, fortwährende Überschreitung von Verkehrsgesetzen).

Neue Verhaltensweisen werden erprobt. Neue Reaktionen anderer werden erlebt und bewertet. Die Sichtweise auf Freundschaften verändert sich möglicherweise. (Ich habe nichts mehr getrunken. Zuerst bin ich gar nicht mehr zum Angelverein gegangen, weil ich es sonst nicht geschafft hätte. Die anderen haben weiter getrunken wie vorher und mich gehänselt. Als ich mich sicherer fühlte, bin ich manchmal noch zum Angeln gegangen. Ich kam mir wie ein Fremdkörper vor. Es war enttäuschend, dass ich gar nicht mehr zum Ausflug mitgenommen wurde. Ich dachte, das wären meine Freunde gewesen. Aber die wollten nur einen Saufkumpan.)

Fragen, welche Hinweise auf diese "progressiven" Veränderungen geben, sind in Hinblick auf die Alkoholthematik z.B. folgende:

Welche neuen Einsichten und Erkenntnisse habe ich über mich gewonnen? Wie ist mir deutlich geworden, dass mein Alkoholkon-sum ein Problem war? Wie habe ich die Vorstellung über mich und mein Trinkverhalten verändert? Was habe ich in meinem Trinkver-halten verändert? Welche Schwierigkeiten habe ich dabei erlebt? Welche Erfolge und welche positiven Erfahrungen habe ich gemacht? Wie hat sich mein Selbstvertrauen geändert? Mein Umgang mit

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anderen Menschen? Was hat sich beruflich und in meinem Freizeit-verhalten geändert? Was in meinem sozialen Umfeld? Wie gehe ich Konflikte und Probleme heute im Gegensatz zu früher an? Was unterscheidet meinen Alltag heute von demjenigen von damals? Habe ich heute Ziele, die ich anstrebe? Was hat sich in meiner Ausdauer, Konzentration in meiner Leistung zum Besseren verändert? Welche neuen Erfahrungen haben andere mit mir gemacht? Welche neuen Reaktionen von anderen erlebe ich?

.

3.2 Stabilisierende Erzählungen

Sie handeln von dem, was sich im Alltag bewährt hat. Sie berichten davon, was ein Mensch tut, um dafür zu sorgen, dass es in mancher-lei Hinsicht so bleibt wie es ist. Es geht um Hinweise auf eine Festigung der neuen Verhaltens-, Denk- und Fühlweisen. In diese Kategorie gehören ebenso individuelle Strategien zur Vermeidung eines Rückfalls.

Diese Erzählstruktur hat weitgehend ähnliche Inhalte wie die progressiven Erzählungen in der Begutachtung. Hier liegt der Schwerpunkt jedoch auf den Hinweisen, was sich im Alltag bewährt hat. Die stabilisierenden Erzählungen sind sehr konkret. Sie beinhalten die vielen kleinen Alltagsdinge, von denen Leute glauben, dass es nicht interessiert.

Beispiel 1: Bei einer Begutachteten hatte sich heraus kristallisiert, dass sie getrunken hat, wenn sie sich unterordnete, sich mit verdecktem Ärger um ihre Familie kümmerte und ihre Interessen zurückstellte. Sie erzählte: Ich habe gelernt, nein zu sagen. Diese Behauptung konnte sie mit einem "Meilenstein" in der Entwicklung ihres abstinenten Lebens belegen. Sie schilderte den Ablauf des letzten Weihnachtsfestes. Sie hatte lange Jahre für alle ein schönes Fest bereitet, alle bekocht und umsorgt, alle Geschenke inklusive ihres eigenen eingekauft. An diesem neuen Weihnachtsfest hat sie mit dem Ritual gebrochen. Sie hat ihrer Familie erklärt, dass sie sich nicht beschenkt vorkäme, wenn sie selber ihr Geschenk auswählen und einkaufen müsse. Sie mache das nicht mehr. Sie hat erklärt, dass sie sich ausruhen und auch umsorgt werden wolle. Die Verwandtschaft wurde nicht mehr eingeladen zur Rundumversorgung. Die Familie ist essen gegangen. Es war seit Jahren das erste Weihnachtsfest ohne

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innerlichen Ärger für sie. Sie war stolz, ihre Wünsche zu äußern und hat erlebt, dass auch sie wichtig ist, weil sich die anderen tatsächlich Mühe mit einem Geschenk für sie machten. Sie hat Fakten mit Folgewirkungen geschaffen. Das wäre ein "Beleg" für eine Stabilisie-rung.

Beispiel 2 handelt von einem Berufskraftfahrer in der Personenbe-förderung, der Punkte sammelte. Eine kritische Situation entstand, wenn es hieß: du musst diese Kinder in einer kurzen Zeit von der Schule abgeholt und nach Hause gebracht haben. Es gibt auf seiner aktuellen Fahrt aber Streit zwischen den Kindern im Bus. Er weiß, Anhalten ist das beste Mittel, die Kinder zu beruhigen. Die Folge ist, dass er seine nächste Fahrt später antreten wird und ein Kind nicht rechtzeitig abholen kann. Er hat mittlerweile erprobt, in diesem Fall Kollegen anzurufen, wer Zeit hat, die Fahrt zu übernehmen. Er hat durch sein Verhalten an seinem Arbeitsbereich eine Neuerung eingeführt: wer etwas Zeit hat, meldet sich in der Zentrale, um bei Notfällen aushelfen zu können. Auch dies zeigt, dass sich eine Verhaltensweise zur Vorbeugung von Verkehrsgesetzesübertretun-gen stabilisiert hat.

Wichtig ist zudem die Auseinandersetzung mit den eigenen Schwachpunkten, welche dazu verführen könnten, das alte Problemverhalten wieder aufzugreifen. Die Schilderungen handeln von dem Mut, sich aktiv zu fragen, unter welchen Umständen z.B. der Alkoholkonsum wieder attraktiv werden kann. Bei verkehrs-rechtlichen Zuwiderhandlungen geht es um die Frage: Unter welchen Umständen besteht die Gefahr, alle gute Vorsätze zu vergessen, die Verkehrsregeln einzuhalten. Es ist die realistische Einschätzung der eigenen Person angesagt, dass es Rückfallgefahren gibt. Nur wer seine Schwachpunkte kennt und sich gedanklich mit ihnen beschäftigte, wird sie wachsam wahrnehmen und "Notfallplä-ne" bzw. "Ausstiegspläne" haben.

Rückfallbewusstsein und Vorbeugemaßnahmen sind wichtig. Manche scheitern in der Begutachtung daran, dass sie sich zu sicher fühlen und keine Konflikterprobungen neuer Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen darlegen können. Sie meinen, es sei ihnen leicht gefallen, sich zu ändern und es werde nie mehr Probleme geben. Wenn es für sie außerhalb ihrer Vorstellung ist, dass sie überhaupt je wieder in Versuchung wären, zu ihrem alten Verhaltensmuster

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zurückzukehren, können sie sich nicht davor schützen. Sie werden sorglos Warnsignale übersehen, wenn sich scheinbar überwundene Verhaltensmuster wieder einschleichen.

Bei der Alkoholthematik gehört zur stabilisierenden Erzählung die Einsicht in die Fortdauer der eigenen Gefährdung im Umgang mit Alkohol. Sie ist nötig, um auf Dauer abstinent zu leben oder zu wissen, dass ein mäßiges Trinken keine Ausnahmen beinhalten darf. Nur wer weiß, dass eine Veränderung des Alkoholkonsums sich nicht auf bestimmte Situationen und eine vorübergehende Maßnah-me beschränken darf, wird auf Dauer Abstand von früheren Trinkgewohnheiten nehmen. Interessant sind Erzählungen, wie sich jemand mit der persönlichen Kränkung auseinander setzt, ein Leben lang der eigenen Alkoholgefährdung Rechnung tragen zu müssen.

3.2 Regressive Erzählungen

Die regressiven Erzählungen beinhalten die Beschwerden über die Folgen des Führerscheinentzugs und die Mühen, ihn wieder zu erhalten. Das sind die Klagen, wie beschwerlich das Leben ohne Führerschein ist. Das ist die Beteuerung guter Vorsätze, ohne Einsichten und Veränderungen. Ich werde es so machen wie ich es mit einer Ausnahme immer machte, nämlich nicht fahren, wenn ich getrunken habe. Denn jetzt weiß ich, wie wichtig der Führerschein ist.

4. Unterschiedliche Sichtweisen in der Beurteilung der Verände-rung

Eine positive Begutachtung basiert auf den progressiven und den stabilisierenden Erzählungen. Sie braucht beide Strukturen. Ohne progressive Erzählung hat sich nichts Wesentliches verändert. (Es ist alles wie vorher auch, nur dass ich weniger trinke. Alle haben mich gelobt, weil sie wissen, was ich ohne Führerschein durchmache.) Ohne stabilisierende Erzählung kann die Veränderung nur als positiver Ansatz gewertet werden, der sich aber im Alltag nicht gefestigt hat. (Ich weiß jetzt, wie ich meinen Stress meinen Stress reduzieren kann, damit ich nicht wieder zu schnell fahre. Seit vier Wochen habe ich eine Mitarbeiterin für das Telefon und die schriftlichen Arbeiten angestellt. Zukünftig kann ich mich mehr auf den Verkehr konzentrieren und die

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Regeln einhalten.) Die Anfangseuphorie einer Veränderung trägt nicht, wenn nicht auch die ersten Ernüchterungen erfolgt sind, erste Konflikte überwunden wurden. Ein kleiner Teil regressiver Erzählung sei den Begutachteten schließlich zugestanden. Der Führerscheinentzug führt oft zu erheblichen Problemen in der eigenen Mobilität. Der Arbeitsplatz ist in Gefahr bzw. der Führer-schein ist bei manchen eine Voraussetzung, eine Arbeitsstelle zu finden.

Die möglichen Divergenzen in der Beurteilung des Veränderungs-prozesses liegen in der Gewichtung der progressiven und stabilisie-renden Anteile der Erzählung. In der Rückschau auf den therapeuti-schen Prozess zeigen die progressiven Anteile die Veränderung und das "Ergebnis" der therapeutischen Arbeit. Stabilisierende Erzählun-gen sind für die Therapie weniger interessant. Die Klientel kommt gerade wegen der gewünschten Progression, um anschließend sofort zur Begutachtung zu gehen und sich quasi als gewandelter Mensch zu präsentieren. Das reicht jedoch für eine positive Begutachtung nicht aus.

Mögliche Unterschiede in der Beurteilung, ob eine Veränderung so erfolgreich war, dass sie die Fahreignung wieder herstellt, liegen meines Erachtens in der Gewichtung der progressiven und stabilisie-renden Anteile der Erzählung unserer Klientel. Aus therapeutischer Sicht werden die progressiven Anteile am ehesten überschätzt. Es ist aus den Therapiegesprächen bekannt, wie schwer es manchen gefallen ist, Meinungen zu ändern, neue Verhaltensweisen auszupro-bieren. Jeder Fortschritt hat eine Geschichte, die wertzuschätzen ist. Aus gutachterlicher Sicht sind in Ergänzung zu den progressiven Erzählungen jedoch auch die stabilisierenden relevant. Jede Veränderung braucht Zeit und Erfahrungen, um in das Verhaltens-repertoire des Alltags eingegliedert zu werden.

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Abbildung: Sichtweisen auf Veränderungsprozesse aus Sicht der Therapie und der Begutachtung

Eine Ursache für die Erstellung falsch positiver Gutachten ist darin zu sehen, dass die progressiven Anteile der Erzählung überbewertet wurden. Für die Begutachtung bedeutet das, den Blick intensiver auf die stabilisierenden Anteile zu lenken und sich die Mühe zu machen, in diese Richtung Fragen zu stellen. Ich arbeite bei der IAS in Berlin mit meinen MitarbeiterInnen daran, angemessen Explorationsstrate-gien für diese Themen zu entwickeln. Es wäre ungerechtfertigt, alle negativ zu beurteilen, die sagen: Eine Rückfallgefahr gibt es nicht. Ich habe festgestellt, dass durch andere Fragen einiges zu dieser Thematik beigetragen wurde. Z.B. Was hilft ihnen denn, nicht wieder leichtsinnig zu werden und ihre Vorsätze zu vergessen? Es kann nach Beispielen gefragt werden, wie jemand mit kritischen Situationen umgeht., z.B. Streit mit der Ehefrau, der Terminkalender wird immer voller. Das Problem in der Exploration dieser Themen ist, dass die Begutachteten Angst haben, irgendwelche Schwächen zu zeigen, die zu einem negativen Ergebnis führen könnten. Hier ist eine Aufklärung in der Exploration nötig, warum dieses Thema wichtig ist und dass es normal ist und für eine vorausschauende Absicherung der eigenen Fortschritte spricht, sich auch mit zukünftigen Rückfallgefahren befasst zu haben. Es ist eine möglichst variantenreiche Explorationsstrategie nötig.

In der Therapie ist es umgekehrt wichtig, der Rückfallgefährdung in alte Verhaltensmuster und den Schwachstellen Raum zu geben. Für die Hilfesuchenden ist das auf den ersten Blick vielleicht nicht so interessant, da sie sich über neue Einsichten freuen. Die Verfestigung von Veränderungen braucht jedoch den antizipierenden Blick auf die Identifizierung und die Bewältigungsmöglichkeiten schwieriger Situationen in der Zukunft.

Literatur:

Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung des Gemeinsamen Beirats für Verkehrsmedizin beim Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und beim Bundesministerium für Gesundheit. Bundesanstalt für Straßenwesen (Hg.) ; Reihe "Mensch und Sicherheit", Heft M 115, Februar 2000.

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De Shazer, Steve: Das Spiel mit den Unterschieden. Heidelberg: Carl Auer Verlag 1994

(Gergen, K.J. & M.J. Gergen. Narrative form and the construction of psychological science. In. T.R. Sabin (Hg.). Narrative psychology. The storied nature of human conduct. New York: Praeger 1986)

Kim Berg, Insoo & Miller, Scott D. Kurzzeittherapie bei Alkohol-problemen. Heidelberg: Carl Auer Verlag 1993.

Von Schlippe, Arist & Schweitzer, Jochen. Lehrbuch der systemi-schen Therapie und Beratung. Göttingen und Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht 1996.

Dipl.-Psych. Anita Nieder Begutachtungsstelle für Fahreignung IAS Institut für Arbeits- und Sozialhygiene Allee der Kosmonauten 47 12681 Berlin 030-54783-197 E-Mail: [email protected] www.ias-stiftung.de

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Anita Müller

Dissens und Konsens - typische Konflikte um Gutachten nach einer Verkehrstherapie anhand konkreter Beispiele

Seit längerem gehört es zur Tradition der AVUS, in den einzelnen Untersuchungsstellen in Round-Table-Gesprächen regelmäßig zwischen Gutachtern und Verkehrstherapeuten über Fälle zu diskutieren. In diesem Workshop sollten nun anhand von Auszügen aus zwei Gutachten beispielhaft wichtige Aspekte in der Diskussion um Gutachten nach einer Verkehrstherapie diskutiert werden. Dabei ist selbstverständlich zu berücksichtigen, dass es angesichts des Rahmens nicht um die Diskussion von komplexen Gutachten gehen kann oder um eine komplexe Falldiskussion, sondern lediglich um die Diskussion von einzelnen Aspekten, die durch stark verkürzte Fallzusammenstellungen illustriert und angeregt werden sollen.

Im Folgenden werden die beiden Fallzusammenstellungen wiederge-geben und anschließend eine grobe Zusammenfassung der Aspekte in der anschließenden Diskussion, die sich sehr lebendig und sachlich und auf einem sehr hohen fachlichen Niveau bewegte. Dabei ist die folgende Wiedergabe von Aspekten aus der Diskussion aus der Erinnerung aufgelistet und bildet keineswegs den vollständigen Diskussionsprozess im Workshop ab. Besonders beeindruckend war in diesem Workshop, dass es gelungen ist, in einen intensiven fachlichen Dialog zu treten, der respektvoll war und in dem vielfältige Aspekte angerissen wurden, die als Einzelthemen gelesen werden für weitere Workshops, in denen Gutachter und Verkehrs-therapeuten gemeinsam fachliche Aspekte diskutieren und vertiefen. Eine befürchtete Polarisierung zwischen Gutachtern und Verkehrs-therapeuten fand ebenso wenig statt wie eine Polemisierung. Stattdessen war der gemeinsame Tenor der Diskussion getragen von gegenseitigem Respekt. Es entstand der Eindruck eines großen Interesses auf allen Seiten, einen solchen fachlichen Austausch intensiv fortzusetzen.

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FALL 1

Frau, 55 Jahre alt, in zweiter Ehe verheiratet, aus erster Ehe zwei Kinder, aus zweiter Ehe zwei Kinder, Kinder im Alter zwischen 20 und 30 Jahren). Keine Ausbildung, da sie früh im Geschäft der Eltern hat mitarbeiten müssen, später sei sie u.a. an der Hotelrezeption und als Propagandistin tätig gewesen. Nach einer Hüft-OP sei sie jetzt seit zwei Jahren zu Hause.

Begutachtungsauftrag: Alkoholfragestellung Medizinisch-Psychologische Untersuchung: 1/2004 Aktenlage:

* 2/2002 Trunkenheit im Verkehr mit einer Blutalkoholkon-zentration von 2,1 bis 2,2 Promille zur Tatzeit um 20.23 Uhr * 1/2003 Vorbegutachtung beim TÜV laut eigenen Angaben mit negativem Ergebnis * 10/2003 Teilnahme an vier zweistündigen verkehrstherapeu-tischen Gruppensitzungen und einem Beratungsgespräch

Angaben zu den Umständen der Trunkenheitsfahrt in einer Gaststätte viel getrunken, bestimmt zweieinhalb Fla-schen Wein

Angaben zu der Alkoholkonsumvorgeschichte: * Seit zweieinhalb Jahren fast täglich eine gute Literflasche Wein getrunken * Am Wochenende mehr getrunken, eineinhalb bis zwei Fla-schen Wein (Literflaschen) * Vermehrt getrunken zweieinhalb Jahre vor der Trunken-heitsfahrt * Schon Blackouts gehabt

Auszug aus der Exploration - anknüpfend an ihre Schilderungen über die Trinkgewohnheiten vor der Trunkenheitsfahrt.

Ob sie nicht gedacht habe, das sei zuviel? "Natürlich habe ich mir das gedacht."

Aber sie habe nichts verändert: "Nein, ich habe eine sehr dominierende Mutter. Ihr Wort galt. (....). Man hatte keine Meinung, das gab es nicht. Da habe ich immer mit gelebt. Das habe ich gemerkt, wie ich bei der Therapie teilgenommen habe. (...).

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Früher habe ich das alles bis zu einem gewissen Punkt in mich reingefres-sen. (...)."

Was sie gelernt habe? "Ich habe mich freiwillig so entschieden, mein Inneres war nicht bereit. Du bist einmal bei dem MPU-Test durchgefallen. Dass ich das Ganze erst richtig begriffen habe, habe ich erst da. Nicht nur, dass ich ein Jahr abstinent war. Aber den Sinn der Sache, den habe ich da gekriegt. Durch die Gespräche, auch mit den anderen. Wir waren immer zu dritt. Ich habe rausgehört, wenn die anderen sich verteidigt haben."

Wann die Vorbegutachtung gewesen sei? "Im Januar."

Warum sie dann jetzt erst zur Beratung gegangen sei? "Ich bin auf Anraten meines Rechtsanwaltes hingegangen."

Warum sie so lange gewartet habe? Am 18.12. bin ich ins Krankenhaus gekommen und am 02.01. entlassen worden. Und hatte einen Leberwert von 11. Und dann bei der MPU hatte ich 108. Dann hat mein Rechtsanwalt Einspruch dagegen erhoben."

Das hätte wohl nichts am Ergebnis verändert: "Ja, aber ich habe mich da festgehalten. Das war der Stein des Anstoßes, dass ich zum Rechtsanwalt gegangen bin. Diese Verkehrstherapie hatte mir mein Anwalt schon im Januar vorgeschlagen. Da war ich noch nicht so weit. (...)."

Wie die Umstellung gewesen sei? Mit meiner Hüftoperation kam ich in die Klinik, die war im Juni 2002. (....) Die Fußballweltmeisterschaft im Juli, da war mein Sohn weggefah-ren. Die haben ihm den Autoschlüssel aus der Tasche genommen und sind volltrunken gegen den Baum gefahren."

Wie die Umstellung gewesen sei? "Das war im Juni, mit der OP. Dann war ich drei Wochen in der Reha. Ich habe schon gedacht, wenn die anderen ihren Wein getrunken haben, das wäre auch was für mich. Aber ich habe nicht getrunken. Ich fühlte mich frischer, morgens dieses Würgegefühl nicht mehr."

Wieso sie von Januar bis Juni weiter getrunken habe, ehe sie abstinent geworden sei? "Weil ich auf alles sauer war. Mein Führerschein war weg, ich war nur noch behindert."

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Aber sie habe doch schon die Erkrankung (Stoffwechselerkrankung) gehabt, warum sie trotzdem weiter getrunken habe? "Aber nicht so hoch. Ich habe das beiseite geschoben. (..). Ich habe das runtergespielt. (...)."

Vielleicht habe sie mit ihrem Alkoholkonsum die Erkrankung verschlimmert? "Habe ich auch. Aber jetzt habe ich alles, meine ganze Ernährung umgestellt. (...)."

Die offene Frage zur Einleitung der Diskussion war, welcher Eindruck der Gesprächsführung, Frageformulierung und Gesprächs-atmosphäre beim Lesen dieser Gesprächssequenz entsteht.

Anlass zur Prüfung des Gutachtens war die Beschwerde der Kundin selbst. Das Gutachten wurde unter anderem aufgrund der nicht neutralen und Befunde verzerrenden Gesprächshaltung der Gutachterin zurückgezogen, wobei es noch andere gravierende Mängel gab, die eine Nachbesserung nicht möglich machten. Die erneute Begutachtung kam zu einem positiven Ergebnis.

Im Zusammenhang damit wurden unter vielen anderen Aspekten auch folgende Punkte diskutiert:

* Die Notwendigkeit, das Gespräch und vor allem die Fragen der Gutachter zu dokumentieren, ist zwingend notwendig, damit Gutachten überprüfbar sind, wie sich in diesem Fall zeigt.

* Die Gutachterin sei vorwurfsvoll und moralisch in ihrer Ge-sprächsführung gewesen.

* Die Gutachterin sei nicht auf die Äußerungen der Kundin eingegangen, es sei ein Abfragen gewesen.

* Die Kundin habe unklare und widersprüchliche Angaben gemacht.

* Es entstanden Zweifel an dem Grad der Einsicht der Kundin in ihr Problem und den Grad der Aufarbeitung.

* Es stellte sich die Frage nach dem Schutz der Gutachter, wenn Gutachten zurückgezogen werden.

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* Es wurde diskutiert, dass die schwierige und anspruchsvolle Arbeit der Gutachter nur dann stattfinden kann, wenn es gerade diesen Schutz durch die Institution Begutachtungsstelle für Fahreignung gibt, der auch darin besteht, eine regelmäßige Qualitätskontrolle zu machen und bei Abweichungen personenunabhängig Konsequenzen zu ziehen.

* Es wurde die Frage nach der erforderlichen fehlerfreundlichen Atmosphäre diskutiert, ohne die eine selbstkritische Auseinanderset-zung mit der eigenen Arbeit nicht möglich ist.

* Es stellte sich die Frage nach zivilrechtlichen und werkvertragli-chen Konsequenzen.

* Es wurde Erstaunen geäußert, dass ein Gutachten zurückgezogen wird und Kritik und Hinweise auf Mängel nicht abgewiegelt werden.

* Es stellte sich die Frage, welche Bedingungen dazu führen, dass jetzt ein solch offener Umgang mit Mängeln möglich ist.

* Es wurden Aspekte in der Aus- und Fortbildung sowie Strukturen der Zusammenarbeit in Begutachtungsstellen diskutiert, die erforderlich sind, wie z. B. regelmäßige kollegiale Supervision einschließlich der Leitungsebene direkt bei der psychologischen Begutachtung, Supervision von außen, regelmäßige Fallbesprechun-gen etc.

* Es wurde spekuliert, zu welchem Ergebnis die Eingangsdiagnostik in dieser Verkehrstherapie wohl gekommen sei und welche Therapieziele wohl mit der Kundin erarbeitet worden seien.

* Es wurde über die Dauer der verkehrstherapeutischen Maßnahme diskutiert.

* Es wurde diskutiert, dass es wichtig ist, Kunden, die mit einem Gutachten nicht einverstanden sind, zu ermutigen, sich selbst an die Begutachtungsstelle zu wenden.

* Es wurde die Notwendigkeit in der verkehrstherapeutischen Arbeit diskutiert, nicht in die Rolle der Helfenden zu gehen, die Verantwor-tung abnehmen, sondern immer wieder die Verantwortung an die Kunden zurückzugeben.

Fall 2

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Mann, 40 Jahre alt, Elektriker, verheiratet, drei Töchter, seit Abschluss der Lehre in seiner Lehrfirma tätig

Begutachtungsauftrag: Alkohol Med.-Psychologische Untersuchung: 4/2003 Aktenlage:

* 8/2001 Trunkenheit im Straßenverkehr mit einer Blutalko-holkonzentration von 1,63 Promille zum Zeitpunkt der Blut-entnahme um 04:05 Uhr, Tatzeit ca. 03.37 Uhr * 5/2002 negatives Vorgutachten * 2/2003 negatives Vorgutachten, die Gutachter konstatierten verharmlosende Trinkmengenangaben. Herr X macht seiner-zeit geltend, seit 3/2002 vollständig auf Alkohol zu verzichten, schloss jedoch einen erneuten Alkoholkonsum in Zukunft nicht aus * 7/2002 bis 4/2003 Teilnahme an 18 verkehrstherapeutischen Einzelgesprächen

Angaben zu den Umständen der Trunkenheitsfahrt sowie zur Alkoholkonsumvorgeschichte realistisch und selbstkritisch

Auszug aus der Exploration - Thema: Umgang mit Alkohol in Zukunft

Wie lange er auf Alkohol verzichten wolle? "Ich will weiterhin ohne Alkohol leben und habe vor, das beizubehalten. Die Leber ist angeschlagen. Ich habe aber keine Beschwerden."

(Anmerkung: bei Herrn X wurde in der Vergangenheit ein minimal erhöhter GGT-Wert mit unklarer Ursache festgestellt, was aus med. Sicht als nicht relevant für die Fragestellung bewertet wurde, auch wurde ihm aus ärztlicher Sicht nicht ein Alkoholverzicht empfohlen)

Was dagegen spreche, hin und wieder mal ein Bier zu trinken? "Meine Gefahr ist, dass ich doch wieder mehr trinke. Das möchte ich ausschließen. Deshalb trinke ich die nächste Zeit keinen Alkohol."

Wann er eventuell wieder etwas trinken wolle? "Zeitlich habe ich mir da keine Grenze gesetzt. Wenn die Leberwerte wieder in Ordnung sind, dann gönne ich mir ein Bier, aber in Maßen und ohne Fahrzeug."

Wie er sicherstellen wolle, dass er dann nicht wieder mehr trinke?

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"Da muss ich gewaltig an mir arbeiten. Ich setze mir die Grenzen selber und sage mir, bis hierher und das muss ich unter Kontrolle kriegen. Wenn man Alkohol trinkt, dass man dann nicht mehr mit dem Auto fährt."

Ob er glaube, dass er seinen Alkoholkonsum dauerhaft kontrollieren könne? "Ja. Ich muss an mir selber arbeiten, dass das, was ich mir vornehme, dass ich das hundertprozentig durchziehe."

Auszug aus der Exploration – Thema jetziger Alkoholverzicht und Umgang mit Alkohol in Zukunft

Wie er die Umstellung auf seinen Alkoholverzicht erlebt habe? "Das hat mir keine Probleme gemacht. Nach dem Führerscheinentzug ist es immer weniger geworden, das hat mir nie Probleme bereitet. Die Kumpels haben das eingesehen. Ich habe denen das erklärt, dass ich keinen Alkohol mehr trinke."

Wie er denen das erklärt habe? "Ich habe gesagt, diese Scheiße, die ich hinter mir habe, die möchte ich nicht noch mal erleben. Die Arbeitsstelle ist 49 km weit weg und da ist es gut, wenn man den Führerschein hat."

Ob er eine Situation nennen könne, in der er gerne wieder Alkohol getrunken hätte, seit er jetzt ganz darauf verzichte? "Ja, also mein Kumpel, der hat im März Geburtstag und da hat er gesagt, darfst du immer noch keinen Alkohol trinken? Ich habe gesagt, nein, ich war fast am Kippen."

Weshalb sein Kumpel frage, ob er immer noch keinen Alkohol trinken dürfe? "Er hat gefragt, ob ich immer noch keinen Alkohol trinke, ob ich das ernst genommen habe."

Ob er den Alkohol vermisse? "Nein."

Weshalb er dann wieder Alkohol trinken wolle? "Ich habe das so vor, weiter zu leben ohne Alkohol. Die Gefahr, wenn ich momentan ein Bier trinken würde, wäre, dass es wieder mehr wird. Das will ich auf alle Fälle vermeiden."

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Woran er erkennen könne, dass er seinen Alkoholkonsum kontrol-lieren könne? "Das kann ich nicht hundertprozentig ausschließen, dass ich das nicht kontrollieren kann. Es hat öfter geklappt früher, aber oft auch nicht, deshalb möchte ich das bleiben lassen."

Er habe vorhin ja gesagt, er habe es durchaus vor, wieder mal ein Bier zu trinken: "Also mein Ziel ist, ohne Alkohol zu leben. Wenn das mit meiner Gesundheit in Ordnung ist, dann ein Bier, aber in gemäßigtem Rahmen."

Anlass der Überprüfung des Gutachtens war die Beschwerde des Verkehrstherapeuten, der die negative Prognose nicht nachvollzie-hen konnte, was zu einer intensiven und nach anfänglichen Spannungen sehr produktiven fachlichen Diskussion führte. Die Prüfung des Gutachtens ergab keine Mängel und wurde aufrechter-halten.

Die Frage zur Einleitung der Diskussion war hier, welche Einschät-zung über die Stabilität der Verhaltensänderung nach Lesen dieses Gesprächsabschnittes entsteht.

Es wurden unter vielen anderen Aspekten unter anderem folgende diskutiert:

* Es wurde die fehlende Klarheit des Kunden über zukünftige Absicht im Umgang mit Alkohol festgestellt

* Im Gegensatz zum vorherigen Gesprächsauszug wurde die sorgfältig nachfragende und einfühlsame Gesprächsführung des Gutachters festgestellt.

* Es wurde kritisch diskutiert, dass es bereits für sich ein Kunstfehler sei, wenn eine VK-Therapie über einen solch langen Zeitraum gehe.

* Es wurde als Kunstfehler kritisch diskutiert, dass die Verkehrsthe-rapie trotz negativem Gutachten in dem Zeitraum der Therapie nicht zu einer klaren Aufarbeitung gekommen sei.

* Es wurde die Frage nach dem Stellenwert der Eingangsdiagnostik in der VK-Therapie diskutiert.

* Es wurde diskutiert, wann Abstinenz von Kunden zu fordern ist und wann nicht.

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* Die Formulierung therapeutischer Ziele im Rahmen einer VK-Therapie wurde diskutiert (wann, welche etc.).

* Es wurde diskutiert, welche Rolle die Höhe der BAK für Gutachter bei der Forderung nach Abstinenz spielt.

* Es wurde diskutiert über die Frage von Trinkpausen versus langfristigem Alkoholverzicht.

* Es wurden Fragen nach der Alkoholmathematik diskutiert.

* Es wurden Fragen diskutiert über die Alkoholdiagnostik von ICD 10 versus Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung.

* Es wurde die Frage diskutiert, ob immer ein Jahr Abstinenz nachzuweisen sei.

* Es wurde kontrovers diskutiert, für welche Kunden ein kontrol-lierter Umgang mit Alkohol als Therapieziel angemessen ist und für welche Kunden Alkoholabstinenz.

* Es wurde die Problematik einer VK-Therapie diskutiert, die nicht am Einzelfall ausgerichtete Verhaltensveränderungen als Ziel mit dem Kunden erarbeitet, sondern jedem Kunden gleich pauschal Alkoholverzicht empfiehlt.

* Es wurde die Problematik diskutiert, dass für ein positives Gutachten nicht nur Verhaltensänderungen bereits eingeleitet sein müssen, sondern auch stabil sein müssen und auch Verhaltensabsich-ten für die Zukunft erarbeitet werden müssen.

* Es wurde angesprochen, dass bei Kunden, bei denen keine dauerhafte Abstinenz erforderlich ist, die aber im Rahmen einer VK-Therapie keine Regeln zum kontrollierten Umgang mit Alkohol erarbeitet haben, von gutachterlicher Seite eine Kursempfehlung erfolgen kann zur Aufarbeitung dieser Defizite.

* Es wurde diskutiert, dass häufig Kunden entgegen dem Rat von VK-Therapeuten bereits auf der Durchführung einer MPU beharren.

* Es wurde angesprochen, dass eine Laufbahnberatung während einer VK-Therapie eine Unterstützung der verkehrstherapeutischen Maßnahme sein kann: wenn sie Kunden differenziert die Defizite aufzeigt und klar macht, dass ein positives Gutachten noch nicht zu

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erwarten ist, kann das eine Motivationshilfe zur weiteren Arbeit an sich sein.

* Es wurde festgestellt, dass VK-Therapeuten dieses Angebot von Begutachtungsstellen nur in Anspruch nehmen können, wenn sie nicht fürchten müssen, dass der Kunde "im Loch Ness" verschwindet und an einen Kurs zur Vorbereitung einer MPU unter gleichem Dach weitervermittelt wird statt zu ihnen zurück kommt.

Dipl.-Psych. Anita Müller AVUS-Diagnosezentrum AVUS GmbH Schillerstr. 44 22767 Hamburg Tel: 40-3899010 E-Mail: [email protected] www.avus-mpu.de

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Andreas Skultéti

Biografisches Trauma = Deliktfahrt = Aktueller Denkfehler?

Abstract: Psychotherapie und Gedächtnistherapie sind zwei Zugänge zum Verständnis des Fahrverhaltens eines Klienten und seiner Deliktfahrt. Während die Psychotherapie im Rahmen der Verkehrstherapie bereits bekannt und gut geübt ist, wird in diesem Referat vom Zugang durch die Gedächtnis- und Problemlösepsychologie berichtet.

Die Gedächtnistherapie bedient sich zur Bestimmung des aktuellen Störungsgrades der momentanen Problemlösefähigkeit. Er ist objektiv messbar, wird in einer Zahl ausgedrückt und schließt taktisches Verhalten aus. Therapieerfolge lassen sich ohne Zeitverzug und ohne großen Energieaufwand computergestützt dokumentieren. Vergleiche zwischen Klienten und unterschiedlichen Praxen sind noch nach Jahren möglich, wissenschaftliche Untersuchungen können problemlos angeschlossen werden. Die Objektivität ist sehr hoch, die Akzeptanz beim Klienten und bei Fahrerlaubnis-Behörden gegeben. Die für die Diagnostik notwendigen Items sind ikonisch und beeinflussen eine tiefere Ebene als symbolische Sprachtechniken (nach BRUNER 1966).

Die Biografie bestimmt die Güte und die Höhe der aktuellen kognitiven Leistungen. Fehler beim Problemlösen sind individuell stabil (kognitiver Fingerabdruck) und korrelieren mit dem Fahrverhalten: sie werden manifest durch Wissenslücken und Umstände der externen Realität. Eine Verbesse-rung der Problemlösefähigkeit geht mit der Auseinandersetzung des persönlichen Fehlermusters und mit Lernen einher: Man muss sich in seiner Biografie nur mit den Zeitpunkten auseinander setzen, die den aktuellen Denkfehler verursachen (Trauma). Andere biografische Erinnerungen, werden vom Gehirn nicht generiert (Ökonomieprinzip, Zeitersparnis). Nehmen Fehler in den Problemlösungen ab, reduzieren sich die Fehler auch im Straßenver-kehr. An ihre Stelle tritt ein Leistungsprinzip, welches Deliktwiederholungen minimiert.

Die Gedächtnistherapie wird zum einen durch das Gedächtnismodell von SHIFFRIN (1975, 1976, 1977) möglich: Sämtliche Verhaltensweisen werden durch das Gedächtnis samt Fehlertypus abgerufen und in unterschiedli-

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chen Lebensbereichen umgesetzt. Zum anderen ist die Unterscheidung zwischen Fakten- und Operatorenwissen (DÖRNER 1979) für diesen Arbeitsbereich sinnvoll, denn hier wird deutlich, dass beide Strukturen (Wissen und Können) für Fehler beim Fahren verantwortlich sind.

Arbeitsgebiete der Gedächtnispsychologie

Die Gedächtnispsychologie beschäftigt sich im Wesentlichen mit drei Fragestellungen:

Informationsverarbeitung von Außen nach Innen: Wie gelangt Information von Außen (Umwelt) nach Innen (ins Gedächtnis)? Wie kann man den Informationsfluss verbessern? Die Optimierung dieses Fragenkomplexes heißt Arbeits- und Lerntechniken. Hier geht man beispielsweise der Frage nach, wie man das zu lernende Material strukturieren soll oder kümmert sich um die Verbesserung des persönlichen Zeitmanagements.

Informationsverarbeitung von Innen nach Innen: Wie verarbeitet der Mensch die im Gedächtnis gespeicherten Informationen? Wie wird die zu lernende Information (z. B. Schulwissen) von der zu vergessenden Information (z. B. leidvolle Erfahrungen) differenziert? Die Optimierung dieses Fragenkomplexes heißt Gedächtnistraining. Hier geht man beispielsweise der Frage nach, wie die Speicherung von Faktenwissen und die Löschung von Störgedanken verbessert werden kann. Gute Trainings beziehen zu den Gedächtnisspeichern auch Körperspeicher mit ein.

Informationsverarbeitung von Innen nach Außen: Wie wird die bereits gespeicherte Information abgerufen und auf neue Lebensbe-reiche angewandt? Wie präzise passt das gespeicherte Wissen als Handlung in eine vorgegebene Umwelt? Wie werden Fehler (1) konzipiert? Sind diese situativ oder überdauernd (automatisiert)? Die Optimierung dieses Fragenkomplexes heißt Operatoren-Training. Man geht der Frage nach, wie man das gespeicherte Wissen auf neue Situationen besser anwendbar macht. Dadurch steigt die Leistungsfä-higkeit des Menschen, die Anzahl persönlicher Verhaltensfehler sinkt.

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Beobachtbares Verhalten und Problemlösepsychologie

Während der Informationsfluss von Außen nach Innen sowie die Informationsverarbeitung von Innen nach Innen Konstrukte darstellen, ist das Verhalten eines Menschen als Folge seines gespeicherten Wissens eine beobachtbare Größe. Während menschliche Verhaltensweisen in einer real existierenden Umwelt kaum zu erfassen und zu bewerten sind, auch weil geschickte sprachliche Fähigkeiten Fehlertypen überdecken können, benötigt man zur Ermittlung des persönlichen Fehlermusters (kognitiver Fingerabdruck, Charakter) eine künstliche und überschaubare Umwelt. In dieser künstlichen Umwelt werden Probleme gestellt, der Klient kann in ihr seine Problemlösungen ausführen. Man prüft nun, inwieweit die menschliche Handlung etwas mit der vom Problem geforderten Handlung zu tun hat und kann so die vom Klienten durchgeführte Handlung quantifizieren. Die Items, die man für eine Quantifizierung der Problemlösefähigkeit nutzen sollte, weisen bestimmte Eigenschaften auf:

* Die Items samt Regeln sind leicht zu verstehen

* Die Items sind grafisch (zum einen für die internationale Nutzung, zum anderen, weil sie nach BRUNER (1967) unter dem Sprachver-halten das ikonische Denken aktivieren)

* Die Items sind computergeneriert (100% Kontrolle)

* Die Items lassen eine Leistungsordnung zu. Dadurch ist Diagnostik und Training mit ihnen möglich

Mit diesen Items (siehe Anhang) ausgestattet, kann man sich nun zur praktischen Arbeit begeben.

Gedächtnis und Gefühle

Gefühle und Gedächtnis hängen unweigerlich zusammen. Gerade aus diesem Grunde ist es ja möglich, biografische Störgefühle als Fehler in aktuellen Problemlösungen zu erfassen. In der therapeutischen Sitzung erleben wir Menschen, die mit ihren Gefühlen nicht so richtig klar kommen und die deswegen in der Therapie sind, um diese zu ordnen. Sie wünschen sich klare Gedanken und lassen sich therapeutisch helfen. Im biografischen Ansatz werden Erinnerungen

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zum Thema der therapeutischen Gespräche. Ziel ist es meistens, mit dem Menschen biografisch leidvolle Erinnerungen durchzuarbeiten und diese zu mindern.

Die Gedächtnistherapie, deren Kern die Wiederherstellung der menschlichen Leistungsfähigkeit ist, strebt nach den gleichen Zielen. Es ist bekannt, dass Menschen sich nicht immer genau an das erinnern, was wirklich war. Der Klient kann nur das erinnern, was er glaubt, was war. Wir sind uns einig darüber, dass wir die wahre Biografie nicht kennen lernen können, haben aber die wohlbegrün-dete Meinung, dass er während der Therapie sein wahres Ich durch seine Worte, seine Gesten, seine Interaktion, eben durch seine Art und Weise zeigt. Wenn man seine Äußerungen als Folge von zum Teil bewussten und zum großen Teil automatisierten Verhaltenswei-sen versteht, bietet sich der Gedanke an, sein Verhalten auch mit einer Maschine erfassen und dokumentieren zu können.

Im Rahmen der Gedächtnistherapie geht man davon aus, dass ein Gedächtnis gespeichertes Wissen niemals vergisst, nur der Abruf wird erschwert. Aus diesem Grunde versucht man emotionale Erinnerungen des Klienten nicht unnötig zu vertiefen und lenkt, nach dem man die Emotionen bearbeitet hat, die psychologische Arbeit wieder auf die aktuelle Leistungsfähigkeit und auf die zu erreichenden Ziele. Wenn der Klient wieder beginnt, sich mit seiner Leistung auseinanderzusetzen, konzentriert er sich auf die Gegen-wart, kann von hier aus seine Zukunft planen und diese umsetzen lernen - sorgenvolle Erinnerungen werden so seltener. Zu beobach-ten ist, dass der Klient nur noch die Erinnerungen erhält, die ihm bei seiner Leistungsentwicklung stören. Dazu zählen auch leidvolle.

Im verkehrstherapeutischem Geschehen sind die Klienten meist nicht freiwillig zu Gast. Die meisten haben nur ein Problem, nämlich wie sie ihre Fahrerlaubnis wieder bekommen. Ansonsten stört sie ihr Alkohol- oder Drogenkonsum meist nicht weiter. Versucht man jedoch den einzelnen Klienten eine Leistungsdiagnos-tik nahezulegen, sind die Klienten meistens verblüfft. Erst eine Mitteilung darüber, dass eine Fahreignungsüberprüfung aus drei Teilen besteht, die nacheinander abzuarbeiten sind, nämlich den medizinischen, den psychologischen und den psychophysischen Teil (die Tests), führt zu einer wohlwollenderen Betrachtung des Diagnostikversuches, denn um eine positive Begutachtung zu

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erhalten, muss man innerhalb der Tests, z. B. um PKW fahren zu dürfen, den Prozentrang 16 überschreiten. Um ein böses Erwachen während der Begutachtung zu vermeiden, wird die aktuelle Leistung erfasst. In der verkehrstherapeutischen Praxis wird der Klient meistens zum ersten Mal mit Gleichaltrigen verglichen, zum ersten Mal kann er sehen, wo er dank seines Alkoholkonsumes momentan steht. Ist im Leistungstest der Prozentrang = 0 zu beobachten, empfindet der Klient sein Ergebnis als Schmach und möchte an sich freiwillig etwas ändern. Der letzte aller Gleichaltrigen zu sein, ist ein Ergebnis, welches er sich nicht gewünscht hat.

Die einzigen, die eine kognitive Diagnostik gerne durchgeführt haben, waren Klienten, die sowieso schon auf hohem Niveau Probleme gelöst hatten. Diese Menschen waren unter den auffälligen Kraftfahrern als Punktesünder bekannt und empfanden ein anschließendes Training als Herausforderung und Bereicherung. Zudem sahen sie es als vernünftig an, ihren Geist unabhängig von irgendetwas zu schulen und lebenslang kognitiv zu funktionieren.

Ein Training, welches dazu beiträgt, die kognitive Leistungsfähigkeit wieder herzustellen und so dem Klienten und dem Therapeuten hilft, die Therapiezeit besser zu nutzen oder gar zu verkürzen, heißt Operatoren-Training und wird später vorgestellt.

Der Trinker als Klient

In freier verkehrspsychologischer Praxis verantwortlich zu arbeiten bedeutet, einem Klienten auf dem Weg zum Führerschein zwei Themen anzubieten und diese umzusetzen:

1. Prüfung und gegebenenfalls Herstellung seiner kognitiven Leistung

2. Information und Dialog im Sinne der Verkehrstherapie

Während der zweite Punkt jedem Verkehrstherapeuten bekannt sein sollte, möchte ich im Folgenden auf den ersten Punkt eingehen.

BERTHOLD (2000) berichtet, dass überdauernder und mehrfacher Alkoholkonsum zu einer Veränderung der Nervenzellmembran bei Hirnnervenzellen führt: Fette werden durch Cholesterine ersetzt. Dadurch entsteht Alkoholresistenz: Während der Körper betrunken

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ist, wird die Alkoholmenge vom Gehirn nicht mehr interpretiert. Der Trinker hat so das Gefühl, kein Alkoholproblem zu haben. Zudem merkt er in einer konstant bleibenden Umwelt nichts von seiner Hirnänderung: Er funktioniert in gewohnten Bahnen. Cholesterine haben die Eigenschaft, neue Nervenzellverbindungen zu erschweren: Der Trinker reagiert unter einer Umweltveränderung eher mit einer Erhöhung seiner Handlungsgeschwindigkeit von bereits bekanntem Verhalten, eine Variation oder eine Anpassung seines Verhaltens auf neue Situationen wird erschwert, sein Lernverhalten ist bis zu Faktor 15 verlangsamt. (2)

Eine Computertomografie wäre nach BERTHOLD eine Möglich-keit, den Cholesteringehalt der Hirnnervenzellen zu bestimmen, psychologische Leistungstests seien allerdings billiger und schneller um einigermaßen objektiv die Hirnschädigung zu ermitteln. Das Leistungsdefizit, welches ab ca. 1,8 Promille bei jedem Fahrer zu finden sein sollte, korreliert mit den SPM-Werten (SPM = Standard - Progressive Matrices nach RAVEN) negativ: Um so höher die am Steuer ermittelte Promilleanzahl, desto niedriger ist der SPM-Wert. Bei beinahe allen meinen Klienten war ein Prozentrang von Null zu beobachten, steigt die Promillezahl über 2,5.

Nach den Begutachtungsleitlinien-Kommentar (2002) unter 2.5 kann bei niedrigen Prozenträngen in Ausnahmefällen eine Messwiederho-lung erfolgen. Man erhofft sich durch dieses Vorgehen eine Zunahme des Prozentranges. In einer weiteren kleinen Praxisstudie (N=8) wurden Klienten mit PR=0 aufgefordert, abstinent zu leben und den SPM wöchentlich zu wiederholen (Kontrollgruppe). Nach bis zu sieben Wiederholungen konnte kein Lernen beobachtet werden, der Prozentrang blieb bei Null. In einer Treatmentgruppe wurde nach dem ersten SPM-Messwert von PR=0 das Operatoren-Training nach SKULTÉTI (2004) durchgeführt. Anschließend wurde eine SPM-Messwiederholung durchgeführt. Alle Teilnehmer hatten den vom Gesetzgeber vorgegebenen PR=16 überschritten, in Einzelfällen konnte ein PR größer 40 beobachtet werden.

Einspeichermodell des Gedächtnisses

SHIFFRIN (1975, 1976, 1977) legte Mitte der 70er Jahre die Grundlagen für das Einspeichermodell des Gedächtnisses. Es

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zeichnet sich dadurch aus, dass sämtliches Wissen im Langzeitge-dächtnis (LZG) gespeichert wird und die Elemente des Wissens, die im Moment benötigt werden, aktiv werden. Diese aktiven Elemente bilden den Inhalt des Kurzzeitgedächtnisses (KZG) und entsprechen unserem Bewusstsein. Alle nichtaktivierten Elemente des LZGs sind im Moment nicht bewusst und gliedern sich in nicht- und unbewuss-tes Wissen in Abhängigkeit der Anzahl der vernetzten Gehirnner-venzellen auf.

Das KZG ist ein kleiner Speicher, dessen Inhalt ständig, zur Bearbeitung der aktuellen Situation, ausgetauscht werden muss. Dieser Austausch verläuft automatisch und ist eng verbunden mit der äußeren Realität (Bottom-Up gesteuert). Dadurch gelingt es unserem Organismus, genau auf die Situation der Umwelt zu reagieren, die gerade zu bearbeiten ist. Geraten wir in eine neue unbekannte Umgebung, bleibt unserem Gehirn nichts anderes übrig, als das Wissen anzuwenden, welches es kennt. Insofern sind Vorurteile Standard. Operatoren helfen nun, die Vorurteile an die tatsächliche Situation anzupassen. Dieser Prozess wird Denken genannt und benötigt Zeit. Die Handlungen in einem neuen Terrain werden langsamer und der Bottom-Up-Prozess leistet maximal (ausschließli-ches reagieren auf die Umwelt). In bekanntem Terrain muss der Mensch über sein Verhalten nicht mehr nachdenken, er weiß, was er tun muss und tut es (Top-Down gesteuert). Die Geschwindigkeit des Verhaltens ist hoch, qualitative Aspekte bzw. angepasstes Verhalten ist bereits automatisiert gespeichert. Allerdings werden auch die beim Lernen mitgelernten Fehler automatisiert abgerufen und führen bei Kontrollen zu (eigentlich unerwünschten) Auffälligkeiten.

Beim trinkenden Klienten kann man erwarten, dass durch seinen dauerhaften Alkoholgenuss Cholesterine in den Hirnnervenzellen eingelagert sind. Diese Einlagerungen erschweren eine neue Vernetzung mit anderen Nervenzellen. Dadurch verändert sich das Verhalten des Trinkers: In unbekanntem Terrain setzt er anstatt mit Bottom-Up mit Top-Down-Prozessen fort, eine Anpassung an die neue (Verkehrs-)Situation ist nicht möglich. Zudem sind biografische Erinnerungen dauerhaft im KZG zu finden (automatisierte Biografie). Dadurch kann die Wahrnehmung nur begrenzte Informationsmengen in die kognitive Repräsentation überführen: Das Verhalten kann nicht angepasst werden. Der Trinker lebt in neuen Situationen genau das, was er kennt, eine Anpassung ist nicht

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zu erwarten. Sollten Fehler im Verhalten auftreten, kann wegen des verlangsamten Lernens seines Denkapparates kaum etwas Neues an Wissen erworben werden, der Fehler wird sich wiederholen.

Manches Mal können wir uns an etwas Bestimmtes nicht erinnern. Man kann davon ausgehen, dass das Wissen gespeichert ist, aber nicht abgerufen werden kann. Folgende Überlegung soll diesen Sachver-halt verdeutlichen: Es gibt zwei Organe, die von der Wiege bis zur Bahre konstant durchblutet sind: Die Haut und das Gehirn. Durch die konstante Gehirndurchblutung ist auch die Lerngeschwindigkeit lebenslang konstant. Um ein neues Wissenselement in das Gehirn zu integrieren, benötigt man Zeit. Um neues Wissen bewusst abrufen zu können, muss an der Stelle im Gehirn an der das Wissen gespeichert wird für mindestens 20 Minuten Blut fließen (die Stelle muss aktiv sein). Somit kann man ausrechnen, dass man pro Tag rund 72 neue, bewusst abrufbare Wissensinhalte speichern kann.

Das Gehirn ist im entspannten Zustand gleichmäßig durchblutet, jedes gespeicherte Wissen wird somit ernährt, gepflegt und weiter vernetzt. Wenn wir uns aktiv um etwas bemühen, entsteht eine ungleichmäßige Durchblutung. Die Hirnbereiche, die wir zur Bearbeitung des äußeren Lebensumstandes benötigen werden besser durchblutet als andere Hirnbereiche (Bewusstwerdung). Da jede Hirnnervenzelle lebt, besitzt auch jede einen Stoffwechsel mit Abfallprodukten. Um nun nicht zu erkranken, erzwingt das Gehirn eine Gleichdurchblutung und eine Reinigung auch der nicht für bewusste Aktivitäten genutzten Zellen. Als Mensch erleben wir eine Konzentrationsstörung, die für die Selbstheilung eines Gehirnes ebenfalls Standard ist. Zur Selbstheilung eines gelebten Tages dient natürlicherweise der Schlaf.

Ein Trinker ist meistens nicht in der Lage, ein Ungleichgewicht der Durchblutung für bewusste Lernvorgänge herzustellen. Das ist ihm zu anstrengend und gelingt ihm auch nicht so einfach. Im Bilde gesprochen besitzt der Trinker Autobahnen im Gehirn, welche er über die Jahre seiner Trinkentwicklung ausgebildet hat, Bundesstra-ßen oder Landstraßen sind kaum benutzt, Feldwege sind mit Gras überwachsen und können gar nicht genutzt werden.

So bleibt ihm nur die Durchblutung, die ihm das Gehirn vorgibt (Denkautobahn). Durch die Cholesterine werden alte Denkbahnen aufs Neue geübt, neue Denkbahnen (neue Vernetzungen) sind selten.

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Im praktischen Leben heißt das, dass kaum ein Lernen aus erlebten Situationen stattfindet, da neue Wege nicht benutzt werden können. Aus diesem Grunde wird allen meinen Klienten zur Abstinenz geraten. (3)

Zudem hilft das Operatoren-Training, Bundes- und Landstraßen wieder zu benutzen, Feldwege frei zu räumen und schwierige Aufgaben trainieren sogar noch Trampelpfade.

Das Operatoren-Training (OPT)

Der Begriff Operator wurde von DÖRNER (1979) im Rahmen der Problemlösepsychologie vorgestellt. Er stellt ein kognitives Werkzeug dar, mit welchem man sich Vorstellungsbilder schafft und Problemlösungen gestaltet, die anschließend in Handlungen überführt und so in der Realität Fuß fassen können. Im Vorstel-lungsbild sind biografische Erinnerungen und gegenwärtig äußere Umstände integriert. In diesem inneren Bild werden Regeln angewandt und via Handlung in der Welt gelebt. Fehlerhafte, d. h. nicht passende Repräsentationen erscheinen in der Welt als Fehler. Das OPT dient nun dazu, Fehler bereits im Vorstellungsbild zu unterlassen und somit Handlungen zu leben, die sehr gut zu einer vorhandenen Umwelt passen. Fehler werden reduziert, die Leistungsfähigkeit steigt. Psychologische Facetten wie Selbstwert-probleme werden reduziert.

Natürlich gibt es verschiedene Trainings und diese sollen in ihrer Leistung nicht geschmälert werden. Doch das OPT zeichnet sich in bestimmten Punkten aus.

Zum einen ist es als Buch zum Selbermachen aufbereitet. Es eignet sich daher hervorragend als therapiebegleitende Maßnahme und kann als Hausaufgabe angeboten werden. Es ist für unsere Klienten leicht verständlich und bedarf wenig Kontrollarbeit vom Therapeu-ten.

Menschliche Trainings haben die Eigenschaft, die Fähigkeiten des Trainingsherstellers abzubilden. Sie enden genau dort, wo die Leistungsfähigkeit des Herstellers endet. Das OPT besteht aus 100% computergenerierten Aufgaben, die in ihrer Schwierigkeit weit über meine Denkleistung hinausreichen. Sie sind in jahrelanger Rechenar-

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beit entstanden und bestehen aus purer Mathematik. Die grafischen Labyrinthaufgaben (4) sind bis auf 19 Stellen hinterm Komma in ihrer Irrtumswahrscheinlichkeit berechnet und konnten so aus einem Pool von mehreren Milliarden Aufgaben ausgewählt werden, dass die Schwierigkeitszunahme der Items mit der durchschnittlichen Lerngeschwindigkeit eines Gehirnes abgestimmt ist.

Die Items sind so ausgewählt, dass sie viele Facetten menschlichen Denkens trainieren und so helfen sie einen Beitrag zur vollständigen Hirndurchblutung zu leisten. Wenig durchblutete Hirnbereiche werden wieder reaktiviert und helfen so bei Erinnerungen im therapeutischen Kontext bzw. Prozess. Im Bild gesprochen, Bundesstraßen und Landstraßen werden als Verkehrsnetz zu den Denkautobahnen mitgenutzt.

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Die Items haben eine beobachtbare Nebenwirkung: Sie reduzieren Angstzustände und verhelfen zu besserem Schlaf. Dies lässt sich am besten durch die KZG-Nutzung erklären: Das KZG ist der Ort der bewussten Informationsbearbeitung. In ihm müssen wir uns entscheiden, was wir tun wollen. Entscheiden wir uns Angst zu haben, erleben wir Angst. Entscheiden wir uns zu denken (Probleme zu lösen), reduzieren wir Ängste. Weniger Ängste führen zu einem neuen Wohlempfinden und dies wirkt sich auf das Schlafverhalten positiv aus.

Das Erlernen von Heuristiken (Daumenregeln) zur Erkennung von falschen Lösungen ist eine enorm wichtige Eigenschaft des OPTs. Versucht man, sich im normalen Leben mit der Fehlerreduzierung seines Verhaltens auseinanderzusetzen, vergehen meist Jahre. Das OPT hilft, diese fehlererkennenden Heuristiken in meist weniger als einem viertel Jahr Trainingszeit zu entwickeln.

Das Operatoren-Training hilft, vorhandenes Wissen besser auf neue Situationen anzuwenden. Hierbei wird die Wahrnehmung, das Gedächtnis, der biografische Abruf und die interne Repräsentation in Form von Vorstellungsbildern trainiert. Nebenbei wird die Intelligenz und die individuelle Kreativität erhöht. Natürlich hat eine verbesserte Wahrnehmung, Speicherung und ein antrainiertes passenderes Verhalten auch positive Auswirkungen im Straßenver-kehr (z. B. lernen aus Fehlern).

Der nächste Abschnitt beschreibt die Entwicklung des Operatoren-Trainings als ein vorläufiges Endergebnis einer ellenlangen For-schungsgeschichte, die 1989 ihren Ursprung hatte, noch weit vor meinem Diplom 1994.

E-PRO® und OPT

Der Gedanke, einen Computer für die praktische psychologische Arbeit zu nutzen, entstand Ende 1989. Ich lernte einen Physikstu-denten kennen, der mich die Möglichkeiten und Grenzen der damaligen Rechner lehrte. 1990 begann ich, das Programmieren unter AMIGA-BASIC zu lernen und übte mich in der Programmie-rung statistischer Verfahren. 1991 waren die Programmierkenntnisse soweit entwickelt, dass ich mich um das recht schwierige Program-mieren von Rekursionen (eine Rekursion ist eine Computerroutine,

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die sich selbst aufruft) kümmerte. Zudem wurde deutlich, dass man die Arbeiten am Computer durch ihn selbst objektiv mitloggen (mitloggen = der Computer zeichnet auf, was man mit ihm veranstaltet hat) konnte und so immer in der Lage war, seine Handlungen zum späteren Zeitpunkt objektiv nachzuvollziehen und daraus lernen zu können. Die Technik, zu handeln wie man es für richtig hält und eine Maschine beobachten zu lassen, was man macht, begeisterte mich von nun an. Zudem entstand durch die LogFunkti-on die Beobachtung, dass identische Programmierprobleme von unterschiedlichen Menschen unterschiedlich gelöst werden. Jeder Lösungsansatz der Menschen stand zum zu lösenden Computerprob-lem mehr oder weniger effektiv in Verbindung (das ist der Grundge-danke des OPTs). Schon zum damaligen Zeitpunkt war recht schnell klar, dass jeder Mensch Erfolg und Misserfolg selbst in der Hand hat: Wer sich das Computerproblem besser vorstellen (repräsentieren) konnte und mit besserem Fachwissen zur Lösung antrat, konnte effektiver und zielgenauer arbeiten (Operatoren). Fehldenken und Fehlhandlungen wurden schneller reduziert als bei Menschen mit weniger Fach- und Vorstellungswissen (dies gilt auch heute noch: Um so schlechter die kognitive Verfassung eines Menschen, desto schwieriger ist es, ihn zu einem Training zu bewegen). Zudem zeigte sich, dass es wichtig war, Heuristiken zur Fehlerminimierung zu besitzen, oder sich diese zu erwerben.

Die Beobachtung, dass Menschen unterschiedlich Probleme lösen oder eben nicht lösen, wurde durch meine Diplomarbeit Chunkbil-dung bei Schachspielern 1993 untermauert. Es zeigte sich bei allen Versuchspersonen, die insgesamt 250 Stunden am Computer Daten abgaben, dass sie immer und genau wissen, wann sie eine Problemlö-sung beenden sollen, aber nicht wissen, wie sie eine Problemlösung vorantreiben können (das ist ein allgemeines Therapieproblem). Die Beobachtung, dass das Beenden von Problemlösungen eine sehr stabile Eigenschaft von Menschen ist, führte zum Begriff kognitiver Fingerabdruck. Das Abbrechen beziehungsweise Beenden von noch offenen Problemlösungen führt genau dann zu menschlichen Auffälligkeiten und dauerhaften Misserfolgen, wenn der Lösungsan-satz, der für diese Aufgabe der einzig richtige war, vorzeitig abgebrochen wird. Um dauerhafte Misserfolge reduzieren zu können, benötigt man daher ein Diagnostikum, welches die konstanten Fehlertypen eines Menschen erfassen und verändern

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kann. Ziel war es damals, jedem Menschen durch verbesserte Wahrnehmung, verbessertem Vorstellungsbild und darin verbesser-ten Denkprozessen ein verbessertes bzw. ein angepassteres Verhalten in beliebigen Umwelten zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang sollten natürlich auch die menschlichen Fehler in der psychologi-schen Praxis ermittelt und für das normale Leben reduziert werden. Ich erwartete positive Effekte für das menschliche Wohlbefinden: Das Selbstwertgefühl, die Denkfähigkeit, die Mensch-Umwelt-Interaktion (z. B. Auto fahren) sollten verbessert werden, Ängste vor irgendwelchen Dingen sollten abnehmen, klareres Denken sollte zu weniger unerwünschten Gedanken und somit zur inneren Ruhe und verbessertem Schlaf beitragen. Negative biografische Gefühls-Erlebnisse sollten durch rationalistischere Sichtweisen verbessert werden. Die Lust auf Lernen, Behalten und lebenslange kognitive Leistungsfähigkeit sollte gesteigert werden. Wie die Zusammenhänge tatsächlich aussahen, wurde in meinem ersten Buch 1996 Ganzkör-pergedächtnis - Training (GKGT) - Wie Gedanken auf den Körper wirken zusammengefasst. Es war zum damaligen Zeitpunkt von allen Göttinger Krankenkassen als gesundheitsfördernde Maßnahme anerkannt. Damals wurden sämtliche Kosten für das GKGT übernommen.

Das maschinelle Dokumentieren von menschlichen Leistungs- und Fehlertypen wurde 1994 mit einem dafür hergestellten Computer-programm namens E-PRO® (E-PRO® bedeutet Entwicklungs-Prognostikum) eingeleitet. Ich beschäftigte mich mehrere 10.000 Stunden mit der Sichtung verschiedener psychologischer Literaturen und der Extraktion psychologischer wissenschaftlicher Erkenntnisse, die als KI-Konstrukte (KI bedeutet Künstliche Intelligenz) in E-PRO® einflossen. Die Operationalisierung der wissenschaftlich-psychologischen Erkenntnisse wurde in Zusammenarbeit mit Dipl.-Phys. J. LEHMANN umgesetzt. Es gelang uns 128 unterschiedliche psychologische Interpretationen einer einzigen Problemlösung eines Menschen zu erfassen und vom Computer dokumentieren zu lassen. Da Commodore vom Markt verschwand, stellten wir unsere Hardware auf Linux um. Die Möglichkeiten, die sich nun auftaten, prägten beinahe das ganze letzte Jahrzehnt.

Mein Wunsch, menschliche Denkweisen über das Verhalten zu erfassen und maschinell objektiv zu dokumentieren, konnte 1995 endlich in die praktische psychologische Arbeit einfließen. Das

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Page 203: Bundesverband N V - MPU · len, zum Europäischen heranreifen muss. Die auf dem ersten BNV-Kongress gezeigten Haltungen und Kenntnisse sind gut geeignet, auch in Europa lernen zu

gesamte Jahr 1995 bestand in der praktischen Erprobung und Erweiterung von E-PRO®. Mehrere hundert Probanden absolvierten die Datenaufnahme und hinterließen viele MegaBytes an Daten. Wir experimentierten im Bereich der psychologischen Personalauswahl, mit dem Denken von Serientätern, mit dem Denken von Gewaltop-fern, mit Legasthenikern, Hirnorganikern, Alkoholikern, Drogen-konsumenten, suchten Unterschiede im Denken von Straftätern und gesetzestreuen Menschen und wirbelten beinahe 18 Stunden am Tag mit der Erstellung von verfeinerter Auswertungssoftware. Zudem versuchten wir Firmen, Verbände, Vereine und die Politik von unserem Verfahren zu überzeugen. Die Datenaufnahme wurde zusätzlich zur Disketten und CD-Version ins Internet verlagert, so dass man das Angebot der sprachfreien Diagnostik weltweit anbieten konnte. Selbstverständlich können so wissenschaftliche Untersu-chungen an die Datenaufnahme angeschlossen und automatisiert veröffentlicht werden. Praxen können ihr Klientel miteinander vergleichen und so zur Verkehrstherapie-Forschung beitragen.

Ende 1996 begann ich die Verkehrspsychologie in meine Alltags-Tätigkeit mit einzubeziehen. So entstanden über die Zeit mehr als hundert Datensätze über Trinker, ihre Denkfähigkeiten und Lerngeschwindigkeiten. Vergleiche des Denkens zwischen den einzelnen Deliktgruppen rundeten die Forschung ab. Kurz zusammengefasst ergaben die praxiseigenen Studien, dass jegliches Deliktverhalten (auch auf der Straße) durch das gleiche Denken verursacht worden ist, welches auch in der Computerdiagnostik erfasst werden kann. Beispielweise zeigen sich bei auffälligen Kraftfahrern Einbußen in der Wahrnehmung der äußeren Umwelt, eine lückenhafte Repräsentationsfähigkeit ihres Gedächtnisses, eine kurzatmige Denkfähigkeit, mangelnde Konzentrationsfähigkeit und geringe Problemlösefähigkeit. Zudem sind die Inhalte ihres Denkens, welche für die aktuelle Situation benötigt werden, durch biografische Erinnerungen überlagert: Es mischen sich Regelsysteme ihrer Jugend mit denen des jungen Heranwachsenden, mit denen des Erwachsenen und stückweise aktuellen Regeln. Im Allgemeinen kann man beobachten, dass schwierigere Biografien auch mehr Auffälligkeiten in der Gegenwart herstellen. Ohne Denkkorrekturen und einem Problemlösetraining werden sich die biografischen Anteile erneut im Verhalten durchsetzen (müssen). Diese Überlagerung der Regeln führt daher zu aktuellen Denkeinbußen, die Leistungsfähigkeit ist

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meist stark entwicklungsbedürftig. Es erscheint daher nötig, auch innerhalb der Verkehrstherapie zu Beginn der Therapie darauf zu achten, dass sich die zur Lösung eines Problems angewandten Regeln alle in der Gegenwart befinden, so dass die aktuelle Situation des Fahrerlaubnisentzuges auch für starke Trinker verstehbar wird. Integriert in die Diagnostik und ggf. einem Training werden die Leistungsfähigkeiten auf Abstinenz-Niveau angehoben und die nötigen Gespräche der geplanten Therapie integriert. Ziel ist es, alle Klienten psychologisch in die Gegenwart zu führen, um von dort aus die Zukunft anzugehen.

Im Jahre 2003 konnte gezeigt werden, dass die doch recht zeitauf-wändige Datenaufnahme mit E-PRO® (mindestens 3 x 30 Minuten sowie Vor- und Nachbesprechung der Ergebnisse) durch ein weniger aufwändiges aber dennoch in der Praxis taugliches Vorgehen ersetzt werden konnte: Nachdem eine Leistungsdiagnostik mit den Standard-Progressiven Matrices (SPM) nach RAVEN durchgeführt wurde und der Prozentrang gleich Null ist, wird das Operatoren-Training durchgeführt. Anschließend stieg die Leistungsfähigkeit bei jedem Kunden auf mindestens Prozentrang 16, in Ausnahmefällen auf über 40. Kollegen in Bayern setzten das Operatoren-Training bei Klienten mit PR < 16 beim RST (RST3 bedeutet Reaktive Stress-Toleranz.) ein und erzielten einen Trainingseffekt nach Beendigung des Trainings mit PR > 60.

Der Punktesünder als Klient

Im Vergleich zu Alkoholtätern besitzen Punktesünder im Allgemei-nen eine (z. T. sehr) hohe Leistungsfähigkeit und sind schwer zu erreichen. Sie gehen davon aus, dass sie alles unter Kontrolle haben und sind über Polizeikontrollen genervt. Sie wissen, dass sie ein hohes Reaktionsvermögen haben, nüchtern Fahren und so niemandem, trotz großer Überziehung beispielsweise ihrer Geschwindigkeit, schädigen können. Dieser Fehlglaube kann in Gesprächen kaum ins Wanken gebracht werden, denn manchmal sind sie verbal geschickt. Wie kann ein möglicher Ansatz aussehen, um den selbstkritischen Anteil des punkteorientierten Klienten zu erreichen?

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Die Erfahrungen zeigen, dass man sich mit ihm nicht auf ein Sprach-Schach einlassen, sondern deutlich machen sollte, dass auch er Fehler machen kann und diese Facette sollte er unbedingt kennen lernen. Nur leider muss man ihm dies (meistens) beweisen. Das OPT Band 1, welches sich nur mit Blöcken und leeren Feldern beschäftigt, ist zwar für Trinker ausreichend schwierig, wird aber von einzelnen Punktesündern einfach abgearbeitet. Für sie ist es ein Denkspiel und festigt sie eher in ihrer Meinung des Unverletzlichen. Für leistungs-starke Punktetäter ist Band 2 errechnet worden, Matritzen mit Blöcken und Kreuzungen. Die Aufgaben sind wie im ersten Band so aufgebaut, dass sie genau so schnell schwerer werden wie ein Gehirn lernen kann. Doch die Anzahl von Feldtypen (Blöcke und Kreuzun-gen) führen sie in den Grenzbereich der Wahrnehmung. Nachdem der Punktetäter seine Fehler nun selbständig sehen kann, fällt es ihm schwer, weiterhin an seine unfehlbare Denkfähigkeit zu glauben.

Nach dem OPT ist der Klient von seinem Fehlverhalten bei bereits so einfachen Aufgaben beeindruckt. In den folgenden Therapiestun-den ist er für Gespräche offen und zeigt Mitarbeit und Selbstkritik. Denn eines wurde ihm deutlich: Wer bei so einfachen Käsekästchen Fehler macht, wird in einer komplexen Fahrsituation versagen.

Abschluss und Zusammenfassung

Dieser Artikel ist als kurzer Abriss in die Einführung der Gedächt-nistherapie gedacht. Er ist an vielen Stellen (zu) kurz gefasst. Diese Straffheit hilft aber dem interessierten Leser einen groben Überblick über meinen Arbeitsbereich zu bekommen. Der Aufsatz setzt sich die Aufgabe, den Menschen als Informationsverarbeiter darzustellen. Ziel der Gedächtnistherapie ist es, zu Beginn einer Sprach-Therapie die allgemeine Leistungsfähigkeit des Menschen festzustellen und ggf. die Leistungsfähigkeit mit dem Operatoren-Training wieder herzustellen. Bei sämtlichen Therapieformen kann das OPT helfen, die Freizeit des Klienten im Sinne der Therapie zu nutzen; es ist zu erwarten, dass Therapiezeit eingespart werden kann.

Die Diagnostik und der Heilungsverlauf von kognitiver Leistung kann mit E-PRO® maschinell dokumentiert werden. Das Computer-training kann durch einen einfachen SPM vor der Sprachtherapie und einem nachfolgenden Operatoren-Training ersetzt werden.

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Diagnostik der allgemeinen Leistungsfähigkeit und deren Wiederher-stellung gelten als Basis der Gedächtnistherapie und dienen als hervorragende Grundlage für eine anschließende Verkehrstherapie. Die Behandlungszeit einer durchschnittlichen Verkehrstherapie in meinem Hause liegt mit dem OPT im Zeitraum zwischen zwei und vier Monaten (bei wöchentlich einer Doppelstunde Einzelgespräch).

Literatur BERTHOLD, JOACHIM (2000). Medizinisch-psychiatrische Aspekte des Alkohols im Strassenverkehr. Manz-Verlag, Zeitschrift für Verkehrsrecht (ZVR), ISSN 0044-3662. BRUNER, J. S. ET AL. (1966). Studies in cognitive growth. Wiley, New York. DÖRNER, DIETRICH (1979). Problemlösen als Informationsver-arbeitung. Kohlhammer standards Psychologie. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz. SCHNEIDER, W. & SHIFFRIN, R. N. (1977). Controlled and automatic human information processing: I. Detection, search, and attention. Psychological Review, 84, 1-66. SCHUBERT, WOLFGANG; SCHNEIDER, WALTER; EISENMENGER, WOLFGANG & STEPHAN, EGON (Hrsg.) (2002). Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung - Kommen-tar. Kirschbaum Verlag; 1. Auflage. Bonn. ISBN: 3-7812-1525-3. SHIFFRIN, R. M. (1975). Shortterm store: the basis for a memory system. In RESTLE, F. ET AL. (Eds.) Cognitive Theory (Vol.1). Hillsdale, N.J. Erlbaum, 193-218. SHIFFRIN, R. M. (1976). Capacity limitations in information processing, attention and memory. In ESTES, W. K. (Ed.) Hand-book of learning and cognitive processes. Erlbaum, Hillsdale, N. J., 177-236. SHIFFRIN, R. M. (1977). Commentary on Human memory: a proposed system and its control processes. In BOWER, G. (Ed.) Human memory: basic processes. Academic Press, New York. SHIFFRIN R. M. & SCHNEIDER, W. (1977).Controlled and automatic processing: II. Perceptual learning, automatic attending, and a general theorie. In Psychological Review, 84, 127-190. SKULTETI, ANDREAS (1993). Chunkbildung bei Schachspielern - Untersuchung des Endspiels Dame & König gegen König. Diplom-arbeit, unveröffentlicht, Göttingen.

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SKULTETI, ANDREAS (1996). Das Ganzkörper-Gedächtnistraining. Unveröffentliches Lehrskript für die DAK und Volkshochschulen. Göttingen. SKULTETI, ANDREAS (2004). Operatoren-Training Band I: Blöcke. Selbstverlag und www.psytec.de, Bochum, ISBN 3-00-014137-5.

1 Unter Fehler werden alle Verhaltensweisen verstanden, die in der Umwelt eine nicht vorhergesehene, unerwünschte Situation schaffen mit der man unzufrieden ist. Beispiele: Kommunikation, Erziehung, Autoreparatur, ... gelingen nicht, Delikte, Süchte, ... entstehen, Versagen bei Prüfungen usw. Fehler sind gleichwertig: Sie zeigen, dass das Vorstellungsbild im Menschen nicht mit der Umwelt übereinstimmt.

2 In einer kleinen praxiseigenen Studie zwischen Trinkern und Abstinenzlern 1997 nachgewiesen (N=8).

3 Die Begutachtungsleitlinien fordern eine Differenzierung zwischen Missbrauch und Abhängigkeit. Diese Unterscheidung hat Gültigkeit für die Verkehrstherapie, nicht aber für ein kognitives Training innerhalb der Gedächtnistherapie.

4 Die Aufgaben des Operatoren-Trainings sind unter dem Namen AuWay® als Marke und in ihrer grafischen Form urheberrechtlich geschützt.

Dipl.-Psych. Andreas Skultéti Verkehrspsychologische Praxis Im Mailand 58 44797 Bochum Tel: 0173-2903661 E-Mail: [email protected] www.psytec.de

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Dr. Karl-Friedrich Voss

Alkoholauffällige Kraftfahrer: Leistungsdefizite und Möglichkeiten zu ihrer Kompensation

Abstract: Im Rahmen einer MPU wird die Leistungsfähigkeit von Antragstellern, die mit Alkohol aufgefallen sind, untersucht. Die Frage ist, ob sich dieser Personenkreis von anderen unterscheidet Zu diesem Zweck werden Daten zu folgenden Leistungsbereichen ausgewertet: Reaktionsfähigkeit, Aufmerksamkeitsleistung, Konzentrationsleistung, Orientierungsleistung und Belastbarkeit. Zu diesen Bereichen wird die Reaktionszeit ermittelt und auch Fehlreaktionen und Auslassungen. Zum Vergleich werden Daten von unauffälligen Verkehrsteilnehmern herangezogen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Defizite alkoholauffälliger Kraftfahrer im Wesentlichen bei Fehlreaktionen und Auslassungen und nicht so sehr bei Reaktionszeiten bestehen. Das Potential zum Ausgleich solcher Defizite durch Trainingsmaßnah-men im Rahmen einer Verkehrstherapie wird empirisch ermittelt.

Im Rahmen einer MPU wird die Leistungsfähigkeit von Antragstel-lern, die mit Alkohol aufgefallen sind, untersucht. Die Frage ist, ob sich dieser Personenkreis von anderen unterscheidet. Zu diesem Zweck werden Daten zu folgenden Leistungsbereichen erhoben und ausgewertet:

* Reaktionsfähigkeit, * Aufmerksamkeitsleistung, * Konzentrationsleistung, * Orientierungsleistung * Belastbarkeit.

Zu diesen Bereichen wird die Reaktionszeit ermittelt und auch Fehlreaktionen und Auslassungen. Zum Vergleich werden Daten von unauffälligen Verkehrsteilnehmern herangezogen. Sie entspre-chen dem Median der Leistungen der Referenz-Stichprobe.

Folgende Testversionen werden zur Überprüfung der Aufmerksam-keit verwendet:

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Reaktionsfähigkeit Akustische Einfachreaktionszeit 20 Trials Aufmerksamkeitsleistung Geteilte Aufmerksamkeit, Bedingung 3, 100 trials Konzentrationsleistung GoNogo 40 trials Orientierungsleistung Visuelles Scanning, 100 trials Belastbarkeit Reaktionswechsel, Buchstaben und Zahlen wechselnd, 100 trials

Die Angaben zu den Medianen werden den "Normtabellen zu den normierten Testverfahren der Kurzform der Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP-K)" entnommen.

Der Median und die Anzahl alkoholauffälliger Kraftfahrer Md(ms) darüber Anteil darunter darüber

Reaktionsfähigkeit 190 14 6 .30 Aufmerksamkeitsleistung 668 10 10 .50 Konzentrationsleistung 394 12 8 .40 Orientierungsleistung 4397 9 11 .55 Belastbarkeit 745 6 14 .70

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Die Ergebnisse deuten daraufhin, dass die Reaktionszeiten alkohol-auffälliger Kraftfahrer bei den relativ einfachen Tests zur Reaktions-fähigkeit und zur Konzentrationsleistung besser sind als die Vergleichspersonen in der Referenzstichprobe. Die Reaktionszeiten beider Gruppen unterscheiden sich kaum in Bezug auf die Aufmerk-samkeits- und Orientierungsleistung. Demgegenüber sind die Defizite alkoholauffälliger Kraftfahrer bei der Belastbarkeit besonders deutlich dadurch, dass die Reaktionszeiten entsprechend oft über dem Median liegen.

Defizite alkoholauffälliger Kraftfahrer können auch durch Fehlreak-tionen und Auslassungen sichtbar werden. Dazu werden folgende Teile der Testbatterie verwendet.

Aufmerksamkeitsleistung Anzahl der Auslassungen Orientierungsleistung Anzahl der Auslassungen Belastbarkeit Anzahl der Fehlreaktionen

Die Angaben zu den Medianen werden den "Normtabellen zu den normierten Testverfahren der Kurzform der Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP-K)" entnommen.

Der Median und die Anzahl alkoholauffälliger Kraftfahrer

Md(ms) darüber Anteil darunter darüber

Aufmerksamkeitsleistung 1 9 11 .55 Orientierungsleistung 0 2 18 .90 Belastbarkeit 2 9 11 .55

Die Anzahl der Auslassungen oder Fehlreaktionen beider Gruppen unterscheiden sich kaum in Bezug auf die Aufmerksamkeitsleistung und die Belastbarkeit. Demgegenüber sind die Defizite alkoholauffäl-liger Kraftfahrer in bei der Orientierungsleistung besonders deutlich dadurch, dass die Anzahl der Auslassungen entsprechend oft über dem Median liegt.

Die Medizinisch-Psychologische Untersuchung versteht sich als eine Status-Diagnostik. Dieses Verständnis kann dazu führen, dass ein Klient negativ begutachtet wird, wenn seine Leistungen nicht den

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Erwartungen entsprechen. Ein solcher Schritt wäre nachvollziehbar, wenn sichergestellt ist, dass eine Minderleistung nicht verbessert werden kann. Dafür, dass diese Voraussetzung in der Regel erfüllt ist, ergeben sich erhebliche Zweifel:

Denn es ist durchaus möglich, dass die Leistungen eines Klienten deshalb zu niedrig sind, weil er für längere Zeit nicht am Straßenver-kehr teilgenommen hat und daher auch nicht mehr über die entsprechende "Übung" verfügt.

Weiter ist es nicht auszuschließen, dass eine Minderleistung nach Alkoholmissbrauch wie ein bio-feedback wirkt. Dann wäre der Klient besonders motiviert, eine ihm bis dahin unbekannte Alkoholfolge zu kompensieren durch Verzicht auf Alkoholmiss-brauch und durch ein gezieltes Training.

Das psychologisch fundierte Training solcher Fähigkeit mag manch Status-Diagnostiker wie etwa KRIEGESKORTE (2004) in Köln skeptisch beurteilen. Doch gibt es andere, wie etwas WEGDE (2001), die das Training von anticipation und scanning als eine wesentliche Maßnahme zur Förderung der Verkehrssicherheit junger Fahrer ansehen. Schließlich äußerte sich auch SCHUHFRIED (2004) kritisch zur additiven Verknüpfung von Leistungen, die oberhalb eines wie auch immer begründeten Prozentranges liegen.

Diese Zweifel führen zu dem Versuch, die Leistungen alkoholauffäl-liger Kraftfahrer im Experiment zu verbessern.

Das geschieht am Beispiel der Orientierungsleistung (visuelles Scanning). Die Untersuchung erfolgt mit alkoholauffälligen Klienten im Rahmen einer Verkehrstherapie. Zu Beginn und nach drei bis fünf Versuchen (jeweils einer pro Woche) ergab sich folgendes Leistungsbild.

Die Entwicklung der Orientierungsleistung im Rahmen einer Verkehrstherapie

Anfang Ende

(a) (e) e/a Reaktionszeit (ms) 6227 4389 .705 Anzahl der Auslassungen 10.6 6.0 .566

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Es ist leicht zu erkennen, dass schon kleine Trainingeinheiten zu großen Erfolgen führen: So beträgt die Reaktionszeit am Ende nur 70% von der am Anfang, und die Anzahl der Auslassungen - etwa vergleichbar mit Fahrzeugen, die der Fahrer übersieht - bedeutet einen Rückgang von mehr als 40%.

Diese Ergebnisse sprechen dafür, dass Leistungsdefizite im Rahmen einer qualifizierten Verkehrstherapie reduziert werden können. Das bedeutet eine Schwächung der oben erwähnten Status-Diagnostik, die präzise gesehen nur feststellt, ob eine Leistung vorhanden ist oder nicht. Den Grund dafür liefert sie ebenso wenig wie für die additive Verknüpfung der einzelnen Teile der Testbatterie. So bleiben Kompensationsmöglichkeiten außerhalb der Fahrprobe ungenutzt.

Literatur

KRIEGESKORTE, E.: Seriöse und unseriöse Vorbereitung auf eine MPU. In Erfahrungen mit pädagogisch-psychologischen Maßnahmen für auffällig gewordene Kraftfahrer. Seminar der Gesellschaft für Ursachenforschung bei Verkehrsunfällen. Manuscript. Köln, 2004

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SCHUHFRIED, G.: Statistische Urteilsbildung in der verkehrspsy-chologischen Diagnostik. Abstract in 44. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Göttingen, 2004

WEDGE, T. What if? Boosting driver awareness. Abstract in Junge Fahrer und Fahrerinnen. Zweiter Internationaler Kongress des Deutschen Verkehrssicherheitsrates. Wolfsburg, 2001

ZIMMERMANN, P. & FIMM, B. Testbatterie zur Aufmerksam-keitsprüfung - Kurzform (TAPK), Version 1.5. Ergänzung zum Statistik-Handbuch, 1999.

Dipl.-Psych. Dr. Karl-Friedrich Voss Verkehrspsychologische Praxis Hamburger Allee 41 30161 Hannover Tel: 0511-2355477 E-Mail: [email protected] www.verkehrspsych-praxis.de

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Rüdiger Vollmerhaus

Zum Aussagehorizont von Ethylglucuronid in den Haaren

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

aus unterschiedlicher Perspektive kennen wir alle das Problem:

Alles scheint zu stimmen.... der Vortrag des Klienten in der medizinisch - psychologischen Untersuchung erscheint schlüssig, nachvollziehbar, widerspruchsfrei....

Er entspricht im Grunde den Anforderungen an ein MPG, das sich praktisch von allein zu schreiben scheint.

Die Veränderung eines zuvor erhöhten Alkoholkonsums wird bei Einsicht in die quantitative wie auch qualitative Normdevianz des Mißbrauchs von der Seite des Verzichts wie auch von breit gefächerten Rückwirkungen her plausibel und authentisch unterlegt beschrieben. Die Angaben wirken glaubhaft.

Berichtet wird im z. B ein mentales Aufklaren nach Jahren eines strapaziösen Mißbrauchs. Die psychische Befindlichkeit wird als umfassend angehoben geschildert. Die Lebensverhältnisse erscheinen infolge der Umstellung konsolidiert. Der Klient hat wieder Arbeit. Die Ehe wird als wieder stabilisiert beschrieben.

Strafende oder fragende Blicke der Kinder gehören der Vergangen-heit an.

Am Monatsende bleibt wieder etwas übrig. Erste Neuanschaffungen wurden getätigt, der Freizeitbereich sinnvoll ausgeweitet.

Der Bewährungsvorlauf - sei es für Abstinenz, sei es für einen bewußteren, kontrollierten Konsum - erscheint zunächst ausrei-chend, die Perspektive gesichert.

Alles erscheint stimmig - dann kommen die "Werte":

Gamma-GT: 78 U/l MCV: 96 fl

Der Sachverständige steht vor einer unerwarteten Barriere.

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Nunmehr wird der Befund geröntgt.

Kleinere Unstimmigkeiten bekommen auf einmal eine gravierende Bedeutung.

Ein "Haar in der Suppe“ findet sich immer.

Und auf diesem Haar balanciert der Sachverständige zur Ablehnung - sei es, daß er aus den Rückwirkungen des Verzichts die Angaben zum Konsum als fragwürdig betrachtet und das Problem aggraviert, sei es, daß er eine unzureichende Aufarbeitung der Problematik von der motivationalen Seite her beklagt und / oder den Bewährungsvor-lauf nunmehr als unzureichend einstuft.

Härchen windet sich um Härchen, knüpft sich zum Strick. Wir alle kennen derartige Gutachten.

Aufzuklären sind erhöhte Laborwerte ex post nur selten - was insofern nicht zu verwundern vermag, als es sich bei den Markern eines mißbräuchlichen Alkoholkonsums, sofern sie sich nicht im Ereignisblut selbst auf den Alkoholmetabolismus beziehen, um indirekte Werte handelt. Indirekte Werte aber können vielfältige Ursachen haben.

Gleichwohl sind, wie wir wissen, auch die indirekten Marker im Ereignisblut mit steigendem Alkoholgehalt um ein Vielfaches der epidemiologisch zu erwartenden Basisrate erhöht -und die Skepsis der Sachverständigen erscheint durchaus nachvollziehbar, zumal die Sensitivität der einzelnen Marker nicht einmal als hoch zu betrach-ten ist.

Die Angaben zur Sensitivität der Gamma-GT etwa schwanken in der Literatur zwischen 30 % und 90 %. Für das MCV finden wir bezüglich seiner Sensitivität Angaben zwischen 25 % und 95 %, für das CDT zwischen 70 % und 90 %. Ersichtlich verbleiben hohe Non-Responder-Quoten (vgl. Aderjan: “Marker missbräuchlichen Alkoholkonsums“, 2000).

Gerade dieser Sachverhalt erscheint jedoch oftmals eher geeignet, i. S. eines ungünstigen Votums zur Überzeugungsbildung der Sachver-ständigen beizutragen. Da kommt mitunter so ein "Hah - erwischt€" zum Tragen.

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Tatsächlich machen es hohe Non-Responder-Quoten sogar unmöglich, die Erhöhung eines kritischen Laborwertes durch die Herbeiziehung etwa anderer -normaler- Indikatorwerte schlüssig zu widerlegen.

Die Widerlegung einer erhöhten Gamma-GT durch ein normwerti-ges CDT als deutlich spezifischerem Marker wäre sogar ein Kunstfehler, da sich die Koinzidenz von erhöhter Gamma-GT und erhöhtem CDT -einer gemeinsamen Studie des früheren TÜV Bayern/Sachsen und des IRM München zufolge - mit nur 14 % als eher niedrig darstellt (vgl. Buchholtz, Gilg; Kongressbericht 1999 der DGVM, Schriftenreihe der BASt, Heft M 111).

Die Spezifität einer isoliert erhöhten Gamma-GT als C2-Mißbrauchsmarker liegt bei normalem Bilirubin und normaler AP bei über 80 %, was immerhin 20 % alternative Ursachen eröffnet - z.B. etwa 50 unterschiedlichen Erkrankungen (vgl. a.a.O.).

Die Spezifität liegt beim CDT, das in der Begutachtung regelmäßig nicht erhoben wird, dann zwar deutlich höher, und die "Störemp-findlichkeit" ist geringer..

Ganz zweifellos würde dieser Wert als State-Marker die Validität der Begutachtung auch nachhaltig stärken.

Sein Einsatz scheitert aber an der finanziellen Seite.

Die ethyltoxische Spezifität der Gamma-GT als des "Leitenzyms der Begutachtung" sinkt dann bei einer Lebererkrankung - gleichgültig welcher Ätiogenese - auf unter 20 % ab.

An einer Lebererkrankung leiden in Deutschland aber mehrere Millionen Menschen.

Es sind die Mechanismen der Selbstselektion, die aktenkundige Vorgeschichte, die hohe statistische Prävalenz durch Zugehörigkeit zu einem problematischen Kollektiv, die hier die Überzeugungsbil-dung der Sachverständigen tragen.

In der Regel ganz sicher zu recht.

Es bleibt bei den State-Markern jedoch eine Grauzone aus unzurei-chender Sensitivität, die einen bestehenden Mißbrauch unentdeckt läßt und ungenügender Spezifität, die nicht selten auch zur Überschätzung der alkoholischen Genese führt.

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Ursächlich hierfür ist die Entfernung der indirekten Indikatoren vom eigentlichen Alkoholmetabolismus.

Je näher ein Indikatorwert am eigentlichen Alkoholmetabolismus liegt, desto sicherer ist seine Evidenz im Hinblick auf den Nachweis von Konsum, Mißbrauch oder Abstinenz .( Ein Beispiel für den Nachweis eines Alkoholmissbrauchs aus dem Ereignisblut wäre etwa Methanol, das im Blut aufgrund kompetitiver Hemmung durch den Äthanolabbau solange kumuliert, wie die BAK nicht unter 0,3 o/oo - 0,5 o/oo sinkt.)

Was uns in der Begutachtung fehlt, ist eine Art chronologischer Fahrtenschreiber des Konsums oder Mißbrauchs, der dessen Zeittakt folgt - oder doch zumindest ein Indikator, der eine nicht zu knapp limitierte Retrospektive gestattet, z.B. wenn nach mehreren Wochen ein (möglicherweise ja berechtigter) Einspruch gegen das Gutachten kommt.

Eine seinerzeit evtl. gegebene Gesundheitsstörung kann zwischen-zeitlich ausgestanden sein. Ein nunmehr angegebener Schmerzmittel-gebrauch kann vorgelegen haben.

Ein wirklich sicherer Aufschluß wäre hier retrospektiv wohl am ehesten von der Einlagerung relevanter Indikatorwerte aus dem Alkoholmetabolismus in eine feste Matrix zu erwarten, wie sie uns von der Haaranalyse auf Drogen bekannt ist, die heute m. W. praktisch in allen Bundesländern den Standard definiert.

Hier scheint sich im Alkoholbereich eine perspektivisch vielverspre-chende Methode abzuzeichnen -und zwar über die Einlagerung direkter Alkoholmetaboliten in das Haar.

Alkohol selbst lagert sich, nicht in die Haare - ein wohl aber seine Metaboliten.

Hier werden gegenwärtig insbesondere verschiedene Fettsäureethyl-ester (FSEE) und Ehylglucuronid (Etg.) erforscht.

In aller Deutlichkeit vorab: Die Forschung steht noch am Anfang, zeitigt aber bereits jetzt in der Begutachtung subsidiär und entschei-dungsrelevant verwertbare Ergebnisse.

Sie wird damit auch für Ihre Klienten und Sie bedeutsam, z.B. wenn Sie nach langer Arbeit mit einem Klienten einen zu Ihrer Überzeu-

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gung feststehenden Therapieerfolg durch ein negatives Votum desavouiert sehen, weil die "Werte" nicht stimmen und ein zusätzliches, vielleicht nicht ganz glücklich verfasstes ärztliches Attest bei den Sachverständigen auf Ablehnung stößt, vielleicht sogar - etwa aufgrund einer erkennbaren Parteinahme - Ressentiments weckt.

Hier wäre weitere Aufklärung geboten, die in aller Regel unterbleibt, über Haaranalysen auf direkte Akoholmetaboliten aber bereits heute mit einfachen Mitteln zu leisten wäre - z. B. über Ethylglucuronid.

Ethylgucuronid ist ein hochspezifisches direktes Stoffwechselpro-dukt des Äthanols. Es bildet sich im menschlichen Körper durch enzymatische Konjugation von Ethanol und Glucuronsäure in der Leber. Bis zu 0,5 % des im Körper vorhandenen Ethanols werden durch Kopplung an aktivierte Glucuronsäure in der Phase II des Alkoholmetabolismus entgiftet.

Ethylglucuronid ist im Blut länger nachweisbar als der Alkohol selbst.

Auch im Harn wird das Maximum der Ethylglucuronidkonzentrati-on erst nach der maximalen Äthanolkonzentration erreicht.

Sein bloßer Nachweis im Urin (> 1 ng / ml) belegt vorangegange-nen Konsum - je nach vorangegangener Konsumintensität noch für eine Dauer von vier bis maximal sechs Tagen.

Seidl, Wurst und Alt berichteten 1999 auf dem Kongress der DGVM aus der Oberbegutachtung für ein Untersuchungskollektiv von 186 Alkoholtätern einen positiven Etg -Nachweis bei 18 Probanden, von denen 8 eine ein- bis 7jährige Alkoholabstinenz angegeben hatten.

Diese 18 Probanden hatten auch im Mittel ein auf dem 5%-Niveau signifikant höheres CDT (16,9.% vs. 14,0%) und signifikant höhere MCV-Werte (92 fl vs. 90 fl ) als Etg -negative Probanden (vgl. Kongressbericht 1999 der DGVM, Berichte der BASt, Mensch und Sicherheit, Heft M111, Bergisch Gladbach 1999).

Etg.-Konzentrationen > 50 ng / ml Urin können darüber hinaus als Hinweis auf einen mißbräuchlichen Konsum gewertet werden (5 ng/ml im Serum). Ein quantitativer Zusammenhang ist gesichert. Hier existieren auch Rückrechnungsmodelle auf den Konsum.

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Bezogen auf die Haaranalyse bedeutet die hohe Spezifität des Etg, daß die festgestellten Einlagerungen im Haar auf jeden Fall dem Körperinneren, konkret dem Alkoholmetabolismus entstammen. Eine externe Kontamination der Haare, wie sie z. B. bei Fettsäure-ethylestern durch alkoholhaltige Haarwasser, -gele etc. bewirkt werden kann, scheidet beim Etg. aus.

Bereits jetzt wird Etg. zunehmend im Rahmen der Abstinenzkon-trolle beim Patienten-Monitoring in Fachkliniken verwendet.

Bereits jetzt gibt es orientierende Vortests.

[Zimmer (2000) berichtet von der Entwicklung eines Immunoassays an 622 Seren und 265 Urinproben von 18 % falsch negativen Vortests im Serum und 16 % falsch negativen im Urin und 12 % falsch positiven im Serum sowie 17 % falsch positiven im Urin bei einem Cut-off von 0,5 mg / l für das Serum und 1,8 mg / l bei Urin. Die Spezifität wird mit 88 % (83 %) angegeben, die Sensitivität mit 82 % (84 %).]

Die Sensitivität erhöht sich selbstverständlich dann mit höherwerti-gen Analyseverfahren und erreicht bei der GC / MS-Methode 100 %.

Wie nun gelangt das möglicherweise verräterische, möglicherweise aber auch entlastende Stöffchen in das Haar?

Diese Frage bedarf näherer Betrachtung.

Abb.1 Schematischer Schnitt durch die Haut mit Haarfollikel, Haarschaft, Talg- und Schweißdrüsen

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Haare werden in der Wachstumsphase 4 mm unter der Epidermis an der Basis des Follikels durch Zellteilung gebildet und schieben sich durch Proliferationsdruck im Haarkanal nach oben. Die Wurzel wird durch ein feines Kapillarsystem mit Blut versorgt und gerät dabei auch in Kontakt mit allen durch Ingestion, Inhalation oder Injektion aufgenommenen Fremdsubstanzen, die bei der Haarbil-dung eingelagert werden.

In der Keratinisierungszone synthetisieren die Zellen Melanin und beginnen zu verhornen.

Das menschliche Haar besteht zu 65 -95 % aus Proteinen (90% Keratin) mit einem Wasseranteil von 15 -35 % und einem Lipidanteil von 1 -9 %, den die Talgdrüsen beisteuern.

Es wächst 5 -6 Jahre (Anagenphase), mit einer mittleren Geschwin-digkeit von 1 cm pro Monat, dann kontrahiert sich der Follikel innerhalb von wenigen Wochen, die Keratinisierung wird eingestellt (Katagenphase). Bis zu 6 Monate verbleibt das abgestorbene Haar noch stehen (Telogenphase), bevor es dann von einem neuen Haar aus der Wurzel geschoben wird.

Haarfollikel sind hoch aktiv.

Für die Einlagerung von Fremdstoffen stehen bei nur 1,2 bis 1,5 mm Distanz von der Zellteilungszone bis zum Ende der Keratinisierungs-zone nur etwa 3 bis 5 Tage zur Verfügung. Deshalb bewegen sich die gemessenen Konzentrationswerte auch im Nano- und Picogramm-bereich. (Wachstum: 0,3 - 0,5 mm /die).

Die Einlagerung erfolgt aber nicht, wie ursprünglich angenommen, ausschließlich über die Blutversorgung. Vielmehr lagern auch Schweiß und Talg Fremdsubstanzen in die Haare ein. Man folgt heute einem komplexen Inkorporationsmodell, das auch der Exposition an Stäube, Aerosole und Gase Rechnung trägt:

[Die bloße Exposition z. B. an den Rauch von Crack führt bei nicht mehr gestillten Kleinkindern zu hohem Cocainnachweis in den Haaren (teils höher als bei den Erwachsenen), während der Urin keine Metaboliten aufweist ( vgl.Smith FP, Kidwell DA, Cocain in hair, saliva, skin swabs and urine of cocain users´ Children, Forensic Science International 83 (1996), 179 -189).

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Ein einfacher Versuch: Fünf Probanden wurden nach intranasaler Cocainexposition drogenfreie Haarabschnitte für 30 Minuten in die Hand gelegt. Sie waren auch nach dem Waschen noch Cocainpositiv. Die Einlagerung erfolgt hier eindeutig über den Schweiß, da die Handinnenflächen keine Talgdrüsen haben ( vgl. Henderson, GL, Mechanisms of drug incorporation into hair, Forensic Science International 63, 1993, 19 -29).]

Abb. 2 Der Weg von Fremdsubstanzen über aktiven Konsum oder passive Exposition in das Haar

Generell lagern sich in den Haaren bevorzugt die Muttersubstanzen von Drogen und auch deren lipophile Metaboliten in höheren Konzentrationen an als die hydrophilen Endmetaboliten, die in den Urin abwandern. Glucuronidierte Substanzen durchdringen die Zellmembranen im Follikel schlechter, weshalb auch Ethylglucuro-nid eher über den Schweiß der Kopfhaut in das Haar eingelagert wird als von der Wurzel her.

Haaranalysen, meine Damen und Herren, sind - bei aller Faszination durch die Methodik - durchaus kritisch zu betrachten.

Sie unterliegen zahlreichen Störeinflüssen. Die Häufigkeit von Haarwäschen, die Intensität der Exposition an natürliche Witte-

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rungseinflüsse (z.B. führt intensive Exposition an Sonnenlicht über nur 3 Monate allein schon zu einem erheblichen Rückgang von THC im Haar),vor allem aber haarkosmetische Behandlungen wie ganz besonders Blondieren ,aber auch Bleichen, Dauerwellen führen zu einem drastischen Rückgang eingelagerter Substanzen.

[Einige Bespiele aus Versuchen: * Cocain: Rückgang der Ausgangskonzentration nach Dauerwelle: 8 -82 %, im Mittel um 34%; nach Bleichbehandlung Abfall der Konzentration auf im Mittel 66% des Ausgangswertes ; identische Tendenz beim Benzoylecgonin * Heroin: nach Bleichen Abfall des Ausgangswertes um im Mittel 52% für MAM, 40% für Morphin.]

Die Sensibilität der Analytik und die eingesetzten Extraktionsmittel bestimmen ganz maßgeblich das Ergebnis. Aufgrund interindividuell unterschiedlicher Zusammensetzung der Haarmatrix, unterschiedli-cher Expositionsintensität infolge schwankender Konzentrationswer-te bei Drogen, evtl. Vorbehandlung des Haars, Unsicherheit hinsichtlich des quantitativen Beitrags einzelner Eintragsquellen und auch hier zu sehender interindividueller Unterschiede können auch Aussagen über ein Konsummuster, d.h. über Quantität und Konsumhäufigkeit nur sehr zurückhaltend und im Grunde auch nur innerhalb der Statistik des jeweiligen Labors formuliert werden.

Den aufgezeigten Störgrößen ist auch bei der Analyse auf Alkohol-mißbrauchsmarker in den Haaren Rechnung zu tragen. Vorbehan-delte Haare sind kritisch zu betrachten.

[Exkurs zur Methodik von Haaranalysen : Die kopfhautnah abgeschnittenen Haare werden zunächst gewa-schen, die Spülflüssigkeit wird zum Ausschluß von externer Kontamination analysiert. Das getrocknete Haar wird klein geschnitten, gemahlen und dann in definierter Menge mit einer definierten Menge einer Extraktionsflüssigkeit versetzt. Diese Flüssigkeit wird dann mit geeigneter Methodik gemessen (GC,MS; LC,MS etc. ). 7 -9 % der Haare befinden sich im Telogenstadium. Diesem Sachverhalt ist bei der Probenentnahme Rechnung zu tragen, indem die Entnahmestelle durchgekämmt wird, um eine Verfälschung der

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Probe durch Althaar zu verhindern bzw. diesen Faktor zu minimie-ren. Telogenes Haar sitzt lockerer.]

Werfen wir nun einen kritischen Blick auf das, was man im Rahmen der Forschung bei Alkoholabstinenten, Normalkonsumenten, bei Patientenkollektiven (Entwöhnung) und toten Trinkern mit scharfem Schnitt von der Kopfhaut trennte.

Fettsäurethylester

FSEE werden nach Alkoholkonsum in nahezu allen Geweben in mannigfacher Form aus freien Fettsäuren, Triglyzeriden und Phospholipiden gebildet. Auch die Talgdrüsen, die in jeden Haarkanal münden, bilden sie aus Äthanol.

Auf die spezielle Analytik - sie ist komplex -soll hier nicht eingegan-gen werden. Werfen wir lieber einen Blick auf das Ergebnis von 69 Haarproben, die von Pragst an der HU Berlin auf FSEE untersucht wurden.

Abb. 3 Konzentration von Fettsäureethylestern in Probandengrup-pen mit unterschiedlichem Alkoholkonsum nach E. Pragst: Alkoholmarker" in B. Madea / F. Mußhoff (Hrsg): Haaranalytik, S.268. Deutscher Ärzteverlag, Köln 2004.

In der Darstellung werden vier einzelne Ester übereinander additiv dargestellt.

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In die Analyse gingen Abstinenzler, "Normalkonsumenten" (2 -16 g Äthanol täglich), Alkoholiker in Entzugsbehandlung und Todesfälle mit exzessivem Alkoholkonsum zu Lebzeiten ein, ferner einige Probanden aus der Fahreignungsbegutachtung.

Der Abbildung ist zu entnehmen, daß prinzipiell sowohl bei Normalkonsumenten als auch bei Abstinenzlern FSEE in den Haaren nachweisbar waren.

Hohe Werte -jenseits einer von Pragst vorläufig formulierten kritischen Grenze von 1 ng / mg -finden sich dann aber nur noch bei den Patienten in Entwöhnungsbehandlung und bei den Todesfällen.

Die Ergebnisse noch einmal in tabellarischer Form:

Abb.4 C:FSSE in den einzelnen Probandengruppen.

Pragst teilt mit, daß in keiner Gruppe ein linearer Zusammenhang zwischen dem angegebenen Konsum und der festgestellten FSEE Konzentration ( C:FSEE) zu finden war.

Damit eignet sich das Verfahren gegenwärtig ersichtlich am ehesten für eine Abschätzung des Konsums in 2 Kategorien:

1. mäßiger Konsum (bis 20 g die) oder abstinent 2. kritischer oder exzessiver Konsum.

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Ein sicherer Abstinenznachweis ist aktuell (€) ebenso wenig möglich wie die sichere Widerlegung einer Abstinenzangabe, da sich Abstinenzler und Mäßigkonsumenten im unteren Nachweisbereich in Einzelfällen überschneiden. Andererseits wurde bei zwischenzeit-lich deutlich erweiterter Datenbasis in keinem Fall von Abstinenz ein FSEE-Wert von C: > 0,4ng/mg gefunden. lnsofern steigt die Wahrscheinlichkeit einer zutreffenden externen Validierung bzw. Objektivierung oder Falsifizierung entsprechender Kundenangaben (Mäßigkonsum, Abstinenz) mit diesem Verfahren prinzipiell ganz sicher erheblich, sofern Störgrößen (s.u.) sicher ausgeschlossen werden können. Der Abstineznachweis rückt näher.

Als ursächlich für den Nachweis von FSEE bei Abstinenzlern diskutiert Pragst endogenen Alkohol.

Eine zeitaufgelöste Untersuchung durch segmentweise Analyse ist dann leider nicht möglich, da sich FSEE im distalen Haarabschnitt mitunter sogar in höherer Konzentration finden als im proximalen Segment.

Hervorzuheben ist allerdings, daß Pragst in einer anderen Studie mit 18 Konsumenten für den Cut-off bei 1 ng / mg eine höhere Sensitivität nachweisen konnte als für die miterhobenen Marker CDT, Gamma-GT und MCV.

Die Forschung läßt sicher noch einiges erwarten - vor allem bei verbesserter Analytik.

Was mich an diesem Ansatz für die Begutachtung verunsichert, ist die Verfälschungsmöglichkeit durch alkoholhaltige Haarwachse, Gele, Haarwässer und durch die Intensität der Körperpflege an sich. Regelmäßige Anwendung von alkoholhaltigem Haarwasser führt unweigerlich zur Überschätzung des Konsums. Ihre nachträgliche Angabe erschwert die Interpretation.

Der hohe Nachweis von FSEE bei den Todesfällen ist primär unzureichender Haarhygiene zuzuschreiben.

In der Begutachtung ist eine derartige Methodik somit angreifbar, bedarf jedenfalls aber umfassender Recherche und vollständiger Absicherung im Vorfeld der Probengewinnung.

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Ethylglucuronid

Werfen wir nun einen Blick auf die Ergebnisse der Forschung im Bereich Ethylglucuronid, zunächst auf den Stand der Forschung im Jahr 2002.

Abb. 5 Ethylglucuronid in 97 Haarproben: K= Kinder, N = Normalkonsument, P = Patienten in Entwöhnung, T = Todesfälle mit exzessivem Konsum zu Lebzeiten, nach: Janda, Forensic Science International 128 (2002), 59-69; Quelle: Pragst, a.a.O., S. 272

Die Abbildung verdeutlicht unmittelbar eine hohe Non-Responder-Quote im Kriteriumskollektiv der Entwöhnungspatienten wie auch im Kriteriumskollektiv der Todesfälle bei einer Nachweisgrenze von 0,03 ng / mg.

Damit wäre die Methode für den Nachweis eines Mißbrauchs zwar bedingt geeignet, für die subsidiäre Stützung eines Abstinenzvortra-ges aber unbrauchbar.

Zwischenzeitlich ist es dem Laboratoire National de Santé Toxicologie der Universität Luxemburg jedoch gelungen, die Nachweisgrenze für Ethylglucuronid in den Haaren durch eine verfeinerte Analytik auf 0,002 ng/mg zu senken.

Um eine volle Zehnerpotenz€ Die Entwicklung verläuft auf diesem Gebiet offenbar mit kurzen Halbwertszeiten.

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Mit freundlicher Genehmigung des Autors referiere aus einer Studie mit einem Probenumfang von N = 28, in der es Yegles und anderen unter Anwendung der neuen Nachweisgrenze gelang, bei allen untersuchten Todesfällen (n = 11) und bei allen Entwöhnungspatien-ten ( n =10 ) einen positiven Nachweis von Ethylglucuronid zu führen, während die Ergebnisse von Totalabstinenten (n =3) und Mäßigkonsumenten ( n = 4, Konsum von bis zu 20g/Äthanol täglich) nach wie vor negativ waren (Yegeles et al., Comparison of ethyl glucuronide and fatty ethyl ester concentrations in hair of alcoholics, social drinkers and teetotallers, Forensic Science International 145 (2004), SS 167-173; in press, erhältlich über www.sciencedirect.com).

Die folgenden Tabellen geben eine prägnante Ergebnisübersicht.

Abb. 6 Vergleich von FSEE und Ethylglucuronid bei Kindern

Abb. 7 Nachweis von Ethylglucuronid und Fettsäureethylestern bei moderatem Alkoholkonsum

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Die Abbildungen 6 und 7 machen deutlich, dass Ethylglucuronid bei dem gegenwärtigen Stand der Methode in Fällen von Abstinenz und bei moderatem Alkoholkonsum nicht nachzuweisen ist. Zugleich unterstreicht der FSEE- Nachweis bei Kindern m. E. Pragsts Annahmen über die Bedeutung endogenen Alkohols.

Abb. 8 Fettsäureethylester und Ethylglucuronid bei Entwöhnungs-patienten

Auch in der Arbeit von Yegeles et al. ergab sich leider keine enge Übereinstimmung des berichteten Alkoholkonsums mit dem Nachweis in den untersuchten Haarsegmenten. Den gesuchten Fahrtenschreiber, die Zeitsonde, haben wir auch hier nicht.

Gleichwohl wird schon jetzt deutlich, dass Ethylglucuronid zwischen Missbrauch einerseits und Abstinenz bzw. mäßigem Konsum andererseits heute offenbar doch bereits trennt. Die empirische Evidenz erweitert sich von Monat zu Monat. Der positive Nachweis von Ethylglucuronid im Haar hat gegenüber den FSEE den großen Vorteil der eindeutigeren Verursachung durch

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zuvor aufgenommenen, in der Leber konjugierten Äthanol. Anders entsteht Ethylglucuronid, dem aktuellen Erkenntnisstand zufolge, in bisher messbarem Umfang nicht.

Natürlich unterliegt auch die Haarprobe auf Ethylglucuronid den oben bereits erwähnten Manipulationsmöglichkeiten.

Sie unterliegt jedoch nach dem bisherigen Erkenntnisstand keiner Verfälschung durch Erkrankungen des Leber-/ Galle-/ Pankreassys-tems, die einer ausreichenden Präsenz von Glucuronsäure oder deren Aktivierung entgegenstünden und ist damit den indirekten Missbrauchsindikatoren spezifisch überlegen.

Damit eignet sich dieser Indikator m. E. vor allem für die Widerle-gung der ethyltoxischen Genese unklarer Erhöhungen anderer Indikatorwerte (z.B. Gamma-GT) und dient in diesem Sinne auch der Entlastung von Eignungszweifeln. Subsidiär i. S. einer aggregati-ven Steigerung der Glaubwürdigkeit bzw. Prognosesicherheit erscheinen beide Parameter auch geeignet, Abstinenzangaben zu unterlegen und Angaben zum Konsum abzusichern.

Ethylglucuronid führt dann bei positivem Nachweis im Haar natürlich unweigerlich zur zweifelsfreien Widerlegung von Abstinenzangaben.

Lassen Sie mich noch knapp von drei interessanten Fällen berichten, in denen die Haaranalyse auf Ethylglucuronid und FSEE für uns hilfreich war.

Fall 1 Der Kunde ist am Untersuchungstag im Dezember 2003 29 Jahre alt, Gebäudereiniger, im väterlichen Betrieb tätig. Er hat seit einem Jahr eine feste Freundin. Zum früheren Umgangskreis wird kein Kontakt mehr unterhalten. Er besucht in seiner Sparte nunmehr im zweiten Anlauf die Meisterschule.

Die freie Zeit verbringe er mit seiner Freundin und mit seiner Fortbildung.

Er hat 1994 erstmalig unter dem Einfluss von Diazepam und 0,59 Promille BAK einen Unfall verursacht. Er erhält 1996 eine Nachschulungsempfehlung und bekommt im August 1996 nach

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Ablauf der Zweijahresfrist die Fahrerlaubnis zurück. Im Dezember 1996 tritt er um am frühen Morgen erneut durch alkoholisierte Verkehrsteilnahme in Erscheinung. Um 13:10 Uhr werden bei ihm 1,4 Promille BAK festgestellt. Im April 1999 und im März 2000 erhält er negative Gutachten. Am 11. 07. 2000 wird ihm dann eine neue Fahrerlaubnis erteilt. Im Mai 2001 dann erneut Trunkenheit und Unfallflucht.

Um 07:00 Uhr, zwei Stunden nach Tatzeit, werden 1,25 Promille BAK festgestellt. Im Januar 2003 erhält er von uns ein negatives Gutachten mit eindringlicher Abstinenzempfehlung. Im Sommer 2003 nimmt er an einer individualpsychologischen Langzeitrehabili-tation teil. Im Dezember 2003 dann bei uns die letzte Begutachtung.

Seine Einlassungen: Er habe einen langjährigen Wochenendmiss-brauch betrieben. Alkohol habe in seinem Leben eine sehr ungünsti-ge Rolle gespielt. Er habe in seiner Jugendzeit am Wochenende "gesoffen, bis man nicht mehr stehen konnte... habe ab der Jugend gesoffen, ging jahrelang so ... vom 16. bis 28. Lebensjahr... wurde mehr...konnte mehr ab ...erst billige Sachen getrunken... später auch höherwertige Spirituosen... bis zwei Flaschen Wodka.... viele Schlägereien unter Alkoholeinfluß gehabt ..... dreizehnmal musste ich vor Gericht...ich war ohne Grenzen, wenn ich Alkohol getrunken habe(€)....beim letzten Mal den zweiten Firmenwagen kaputtgefahren...habe zwei Monate meinen Vater angelogen " das Auto muss geklaut worden sein"......ohne Alkohol - das ist ein anderes Leben ....kontrolliertes Trinken - da wollte ich immer hin, aber nach zwei, drei Bieren setzt es bei mir aus ....Leben nur zum Vorteil verändert ...Ziele gesetzt...jetzt am Geburtstag mit der Freundin in New York gewesen.....früher nie so was gemacht...".

Sein Alkoholverzicht sei für sein weiteres Leben verbindlich. Kontrolliert - das klappe bei ihm einfach nicht.

Man möchte meinen, da zieht jemand Bilanz. Medizinisch bietet sich lediglich eine sehr dezent erhöhte GPT, die vom Hausarzt, der im übrigen Abstinenz bescheinigt, auf ein früheres Carcinom zurückge-führt wird. Ein weiterer Mediziner attestiert die Verschreibung von Diclofenac.

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Fettsäureethylester geben kein klares Bild. Ethylglucuronid ist mit 0,088 ng/ mg hoch positiv, die Abstinenzangabe wird von uns zurückgewiesen. Er belässt es dabei.

Fall 2 Der vierzigjährige Klient ist alkoholkrank. Er ist im Mai 2002 mit 3,4 Promille aufgefallen und wurde wegen Vollrauschs verurteilt. Von Juli bis Dezember 2002 dann stationäre Entwöhnungsbehand-lung, nachfolgend SHG mit günstiger Abstinenzprognose.

Versicherungskaufmann in geordneten Lebensverhältnissen, verheiratet, zwei Kinder. Keinerlei Bagatellisierung der Vorgeschich-te. Kapitulation vor dem Alkohol wird affektiv gestützt vorgetragen Es ging nicht mehr ohne. Er habe getrunken, um zu funktionieren bis zu einer Flasche am Tag. Nimmt jetzt Gefühle wieder wahr. Familienleben wieder harmonisch. Mehr Austausch zwischen den Partnern. Interessiert sich wieder für die Kinder, nimmt an ihrem leben teil. Beschreibt offenen Umgang mit der Erkrankung am Arbeitsplatz, bespricht auch mit seinen Kindern, was mit ihm war. Kein Alkohol zuhause. Teilt neuen Ärzten sofort mit, dass er Alkoholiker ist, damit nichts Falsches verschrieben wird. Wirkt gefestigt. Psychologischerseits wird diese Entwicklung als glaubhaft akzeptiert, die Prognose erscheint günstig.

Dann aber Gamma GT:123, G0T: 38, GPT:48. Hausärztlicherseits wird mit Medikamenteneinnahme wegen asthmatischer Beschwerden argumentiert ferner mit einem Medikament gegen eine Reflux-ösophagitis, an der Trinker bekanntlich gerne leiden.

Zwei Monate später erheben wir nach zahlreichen Telefonaten ein CDT, das mit 3.7% bei nahezu unveränderter Gamma-GT klar erhöht ausfällt.

Dieser Sachverhalt gibt mir zu denken. In mehren Telefongesprä-chen und einem persönlichen Gespräch erlebe ich einen festen, aber auch sehr verletzten Menschen. Später reagiert er zunehmend verärgert.

Wir entscheiden uns im Februar 2004 für eine Haaranalyse, die keinen Nachweis von Etg. ergibt und einen lediglich diffusen Befund

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bei den FSEE, die in der Summe deutlich unter dem Kriteriumswert liegen. Beide Werte sprechen somit für einen äußerst moderaten Alkoholkonsum oder für Abstinenz. Da ein dauerhaft moderater Konsum hier nicht denkbar erscheint, akzeptieren wir Abstinenz und ziehen unser Votum zurück.

Fall 3 Mitvierzigerin, Geschäftsfrau, alkoholkrank.

1988 Trunkenheitsfahrt mit 2,48 o/oo; 1991 desgleichen: 2,10 o/oo, danach dreimonatige Langzeitentwöhnungsbehandlung; positives MPG 1993; erneute Auffälligkeit mit 2,08 o/oo 1995; 1998 positives MPG nach zwischenzeitlicher Psychotherapie; 1999 dann zunächst Unfallflucht, gefolgt von einer Trunkenheitsfahrt mit 2,75o/oo. 2002/2003 dreimonatige Entwöhnungsbehandlung, danach ambulante Nachsorge.

Die Kundin berichtet uns sehr offen, dass sie bis zur letzten Entwöhnungsbehandlung nie länger als drei Monate abstinent gelebt habe. Sie habe es sogar fertig gebracht, eine Suchtgruppe zu leiten und in dieser Zeit gleichwohl zu trinken. Sie ist durch und durch "Suchtspezialistin".

Gleichwohl wirkt ihre Distanzierung vom Alkohol heute an keiner Stelle aufgesetzt, ihre Kapitulation vor dem Alkohol affektiv gestützt bedingungslos. Sie berichtet schonungslos von Jahren des Selbstbe-truges, abgespaltenen Emotionen und ihrer inneren Not. Sie beschreibt authentisch die "Wiederherstellung" ihres inneren Gleichgewichtes, die Restrukturierung der sozialen Bezüge und einen sorgsameren Umgang mit sich selbst.

Manches erinnert gleichwohl - wie sollte es auch anders sein? - an Äußerungen in früheren Begutachtungen.

Wir sehen uns in diesem kritischen Fall vor dem Hintergrund eines nur marginalen FSEE -Nachweises und fehlendem Ethylglucuronid in einer ausreichend langen Haarprobe, die hier letztlich den Ausschlag gibt, trotz der äußerst ungünstigen Vorgeschichte noch einmal in der Lage, eine positive Prognose zu stellen.

Auf diesem Gebiet wird sich sicher noch einiges tun. Insbesondere erscheint es nur als eine Frage des technischen Fortschritts, wann

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hier die Differenzierung zwischen mäßigem Konsum und Abstinenz geleistet wird.

Der Beitrag, den die Labormedizin zu unserem Arbeitsgebiet leistet, hat sich in den letzten Jahren erheblich ausgeweitet.

Die psychologische Tätigkeit wird durch derartige Neuerungen jedoch nicht in Frage gestellt. Die Prognose bleibt dem Psychologen vorbehalten.

Je selbstverständlicher die Nutzung von Synergieeffekten zwischen den beteiligten Disziplinen erfolgt, desto geringer erscheint mir dann auch die Gefahr von Rivalitäten und Reibungsverlusten.

Fazit:

Die Analyse auf unmittelbare Akoholmetaboliten wie Ethylglucuro-nid im Haar bietet gegenüber den indirekten Markern eines mißbräuchlichen Alkoholkonsums den Vorteil der klareren Genese. Damit erscheinen diese Marker geeignet, Angaben zum Alkoholkon-summuster subsidiär zu unterlegen bzw. aggregativ zur Glaubwür-digkeit entsprechender Angaben beizutragen und den Kunden von Eignungsbedenken zu entlasten. Insbesondere sind sie unter bestimmten Voraussetzungen geeignet, die Annahme einer ethyltoxischen Genese erhöhter sekundärer Mißbrauchsmarker zu widerlegen, z.B. wenn von einem chronifizierten Schädigungsprozeß ausgegangen wird.

Hier kann die Haaranalyse auf Fettsäureethylester und Ethylglucu-ronid den Betroffenen auch u. U. auch die Risiken der mitunter gesuchten, in aller Regel völlig sinnlosen Leberbiopsie ersparen.

Die genannten Metaboliten erfassen dann natürlich auch den chronischen Missbrauch ohne schon erkennbare körperliche Schäden.

Als single relapse -Marker bieten sich beide Metaboliten im Haar hingegen nicht an (anders Etg. im Urin€ ).

Sie sind jedoch bei positivem Nachweis insbesondere von Ethylglu-curonid , aber wohl auch bei FSEE-Werten > 0,4 ng/ mg, geeignet, unzutreffende Abstinenzangaben klar zu widerlegen und erscheinen bei bestimmten Fallgestaltungen gerade in der Fahreignungsdiagnos-

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tik sehr geeignet, den Sachverständigen aufgrund ihrer hohen Spezifität zu höherer Entscheidungssicherheit zu verhelfen und damit zu einer höheren Einzelfallgerechtigkeit beizutragen. Ihre Einführung in die Routinen der Fahreignungsdiagnostik erscheint mir in Anbetracht ihrer hohen Spezifität und der weiterhin zu erwartenden Erhöhung der Detektionssicherheit nur als eine Frage der Zeit.

Ihre routinemäßige Anwendung in den amtlich veranlassten Überprüfungsverfahren wäre schon jetzt geeignet, die Verkehrssi-cherheit über die Erfassung von "Trinkern" nachhaltig zu erhöhen.

Dem Therapeuten geben sie eine Möglichkeit an die Hand, dem Klienten bei problemtypischer Abwehrhaltung schwer abweisbar rational ein unverfälschtes Spiegelbild vorzuhalten, wo dies nötig erscheint -aber eben auch die Möglichkeit einer objektiven Argu-mentation gegen Fehlbegutachtungen, insbesondere wenn die "Werte" nicht stimmen.

Weitere Forschung ist ganz sicher noch erforderlich und wird auch geleistet. Zu einem Einsatz der Haaranlyse auf direkte Alkoholmeta-boliten in unklaren bzw. kritischen Fällen kann ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber schon jetzt nur ermutigen.

Dipl.-Psych. Rüdiger Vollmerhaus Leiter der Abteilung Verkehrspsychologie / Verkehrsmedizin (BfF) des Inst. für Rechts- und Verkehrsmedizin, Leiter MD Dr. M. Birkholz, am Klinikum Bremen-Mitte gGmbH, Bismarckstraße 223 28205 Bremen Tel: 0421-4974420 E-Mail: [email protected] www.klinikum-bremen-mitte.de

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Dr. Harald Meyer

Die Dokumentation der Beratung nach § 71 FeV als QM-Element - Anspruch und Wirklichkeit

1 Anlass und Zweck des Beitrags

Viele Fragen der Teilnehmer (1) am Workshop "Verkehrspsycholo-gische Beratung" beim letztjährigen Psychologentag in Bonn bezogen sich auf das Was und Wie der Beratungsdokumentation, vor allem auf die Anhänge E (Beratungsdokumentation) und F (Jahresbericht). Häufige Fragen waren: "Was soll da geschrieben werden, worauf achten Sie, wie werten Sie das aus?" Diese Fragen signalisieren Unsicherheit über Sinn und Zweck dieses Teils des QM-Systems, wahrscheinlich auch Zweifel an seiner Zweckmäßigkeit. Die Gefahr besteht, dass die Bedenken gegen Teile des Systems via Generalisie-rung dazu führen, das QM-System der § 71-Maßnahme insgesamt schlechter zu bewerten. Der vorliegende Beitrag versucht daher, einerseits die Ursachen für diese Unsicherheit und Zweifel aus der Sicht des Qualitätsmanagements zu beleuchten und zur Beseitigung der Ursachen beizutragen, andererseits auch das QM-System als Ganzes kritisch zu würdigen. Sein Ziel ist, die Diskussion über die Zweckmäßigkeit des derzeitigen QM-Systems der § 71-Maßnahme anzuregen, gewissermaßen also ein QMS-Review einzuleiten, als dessen Ergebnis Vorschläge für konkrete Maßnahmen zur Verbesse-rung des momentanen Zustandes stehen sollten und damit verbun-den eine größere Akzeptanz des Gesamtsystems. Der Beitrag bezieht sich, ohne es im Verlaufe weiter explizit anzuführen, auf die einschlägigen Paragraphen des StVG, der FeV, vor allem auch auf den Leitfaden Version 5.0 und auf den Änderungsreport zur Version 5.0 des Leitfadens.

2 Allgemeines zu QM-Systemen

Ein QM-System soll gewährleisten, dass vorgegebene Qualitätsziele erreicht werden. Es enthält daher folgende Hauptbestandteile ( Abb 1):

1. Das Qualitätsziel: Was soll mit der Maßnahme erreicht werden?

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2. Die Prozesse, die notwendig sind, um das Qualitätsziel zu erreichen 3. Die Rahmenbedingungen, die bei der Zielerreichung zu beachten sind 4. Die personalen und sonstigen Voraussetzungen 5. Die Prozesslenkung und -dokumentation 6. Die Ergebnisdokumentation 7. Die Evaluation

Abbildung 1: Die Hauptbestandteile eines QM-Systems

Diese Teile stehen untereinander in einer Mittel-Zweck-Relation: Das Ziel verlangt zu seiner Erreichung bestimmte Prozesse. Diese Prozesse können umso genauer festgelegt werden, je eindeutiger das Ziel formuliert ist. Bei der Prozessplanung sind allerdings (z.B. gesetzliche) Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, und es darf nicht vergessen werden, die personalen und sonstigen Voraussetzun-gen zu benennen, die notwendig sind, damit die Prozesse überhaupt durchgeführt werden können. Das Ergebnis hängt also nicht nur von der Qualität der Prozesse ab, sondern wesentlich auch von der Qualität des Personals, das die Prozesse durchführt und von der Qualität der Resourcen. Ein weiterer wesentlicher Bestandteil eines jeden QM-Systems ist die Dokumentation. Sie gewährleistet unter anderem, dass eine Evaluation durchgeführt werden kann und dass im Falle einer Zielabweichung der gesamte Prozess rückverfolgt werden kann, der zum unerwünschten Ergebnis führte. Nur durch

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diese Rückverfolgbarkeit ist es möglich, nachträglich die Ursachen der Zielabweichung zu erkennen und Maßnahmen zu ergreifen, um in der Zukunft derartige Zielabweichungen zu vermeiden.

Wegen dieser Vernetztheit kann ein Bestandteil die Funktion des gesamten Systems beeinträchtigen. Es empfliehlt sich daher, die einzelnen Bestandteile der Reihe nach kritisch zu prüfen: Sind sie klar definiert und erfüllen sie ihre Funktion im Gesamtsystem? Die erste Stufe dieser Prüfung ist das Studium des QM-Handbuchs: Enthält es alle notwendigen Details des QM-Systems? Die zweite Stufe ist dann die konkrete Prüfung der Prozesse: Werden sie den Vorgaben des Handbuchs entsprechend durchgeführt?

Der vorliegende Beitrag befasst sich nur mit der ersten Stufe, mit der Prüfung des QM-Handbuchs. Offenbar hat der Leitfaden zur § 71-Maßnahme zusammen mit den Anhängen die Funktion eines QM-Handbuchs. Um ihn geht es also in erster Linie bei der Beurteilung der einzelnen Bestandteile des QM-Systems.

3 Die Bestandteile des QM-Systems de § 71-Maßnahme

3.1 Das Ziel der Maßnahme

Das Ziel ist im Gesetz und im Leitfaden klar und unmissverständlich definiert: Der Klient soll die eigene Einstellung zum Straßenverkehr und zum verkehrssicheren Fahren überprüfen und ggf. verändern. Er soll veranlasst werden, Mängel in seiner Einstellung zum Straßenver-kehr und im verkehrssicheren Verhalten zu erkennen und die Bereitschaft zu entwickeln, diese Mängel abzubauen. Der Berater soll die Ursachen der Mängel aufklären und Wege zu ihrer Beseitigung aufzeigen.

Die Beratung hat also eine ausschließlich beratende, nicht jedoch therapeutische Zielrichtung. Es geht um Bewusstseinsveränderung und um den Aufbau der Motivation, Fehlverhalten zu verändern, nicht unmittelbar um Verhaltensänderung.

3.2 Die Prozesse

Genau wie das Ziel sind auch die Prozesse, um dieses Ziel zu erreichen, klar und unmissverständlich festgelegt. Gesetzgeber und

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Leitfaden sehen zwei Prozesse vor: Beratung und bei Bedarf ergänzend eine Fahrprobe Gestaltungsfreiraum besteht lediglich bei den Inhalten und den Methoden der Beratung. Aber auch hier gibt es Vorgaben bzw. Empfehlungen. Inhalte und Methoden sollen sein:

- Über Ursachen der Verkehrsauffälligkeiten aufklären und Wege zu einem angemesseneren Verhalten im Straßenverkehr aufzeigen, Verbesserung der Problemsicht und der Änderungsmotivation

- Wissenserweiterung

- Selbstreflexion

- Produktive Verunsicherung

- Perspektivenübernahme und realistische Selbsteinschätzung

Als besonders wichtig, weil eine notwendige Voraussetzung für den Erfolg der Maßnahme (die Motivation des Klienten zur Veränderung seines Fehlverhaltens) werden hervorgehoben:

- Der Berater muss ein Einvernehmen zwischen sich und dem Klienten hinsichtlich des Beratungsbedarfs herstellen.

- Berater und Klient müssen einvernehmlich das Ziel der Beratung definieren gemeinsame Lösungsansätze erarbeiten.

Der Umfang der Beratung soll drei oder vier Einzelgespräche mit einer Gesamtdauer von vier Zeitstunden, einschließlich einer Stunde Vor- und Nachbereitung betragen. Als Gesamtdauer der Maßnahme sind vorgesehen: mindestens 14 Tage und höchstens 4 Wochen.

3.3 Die Rahmenbedingungen

Der Leitfaden nennt als wesentliche Rahmenbedingung die rechtliche Einbettung der Maßnahme. Daraus leitet er die notwendigen personellen Voraussetzungen für den Erfolg der Maßnahme ab:

Verkehrspsychologische Berater lösen mit ihrer Bestätigung der Teilnahme an einer solchen Beratung Rechtsfolgen für die Betroffe-nen nach dem Punktsystem des § 4 StVG aus und sind damit eng in das Verwaltungshandeln der Fahrerlaubnisbehörden eingebunden. Vor diesem Hintergrund müssen eine effiziente, zeitgerechte und kostengünstige Abwicklung der Beratungsaufgabe (2), ein klar

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definiertes Beratungssetting (3) und ein hohes Maß an Verlässlichkeit der beteiligten Personen gewährleistet sein.

3.4 Die personalen Voraussetzungen

Die notwendigen personalen Voraussetzungen betreffen also den Berater und den Klienten. Verlässlichkeit auf Seiten des Klienten ist genauer als Engagement für das Gelingen der Maßnahme zu verstehen. Indikator für dieses Engagement ist die Mitwirkung des Klienten, operationalisiert durch folgende Kriterien:

- Erscheint pünktlich zu allen Sitzungen

- Wirkt an ihnen mit

- Erscheint nicht unter Einfluss von Alkohol oder Drogen

- Erfüllt zusätzliche vereinbarte Aufgaben

Die Liste der personalen Voraussetzungen des Beraters ist umfang-reich:

- Abschluss eines Hochschulstudiums als Diplompsychologe

- Verkehrspsychologische Ausbildung an einer Universität ...

- Erfahrungen in Verkehrspsychologie ...

- Teilnahme an einem vom Berufsverband Deutscher Psychologin-nen und Psychologen e.V. anerkannten Qualitätssicherungssystem, soweit der Berater nicht bereits ein anderes, vergleichbares Qualitäts-sicherungssystem einbezogen ist.

- Mindesterfordernis:

o Nachweis der Teilnahme an einem Einführungsseminar über Verkehrsrecht von mindestens 16 Stunden o Regelmäßiges Führen einer standardisierten Beratungsdo-kumentation über jede Beratungssitzung o Regelmäßige Kontrollen und Auswertung der Beratungsdo-kumente o Nachweis der Teilnahme an einer Fortbildungsveranstaltung oder Praxisberatung von mindestens 16 Stunden innerhalb je-weils von zwei Jahren

- Alle 2 Jahre Bescheinigung über erfolgreiche Teilnahme an der Qualitätssicherung

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- Amtlich anerkannter verkehrspsychologischer Berater

Dieser Anforderungskatalog gewährleistet auch Spezialkenntnisse der Berater in Straßenverkehrsrecht in Verbindung mit Verwal-tungsverfahrensrecht und Kenntnisse an der Schnittstelle verkehrs-psychologische Beratung und Intervention.

4 Zwischenbilanz

Bis hierher sind die notwendigen QM-Bestandteile im Handbuch klar und überzeugend dargestellt. Ihr Zielbezug ist offenkundig. Es scheint nicht, dass Faktoren übersehen wurden, die auf die Ergebnisqualität wesentlichen Einfluss nehmen könnten. Man könnte sich vielleicht fragen, ob der Umfang der Maßnahme tatsächlich hinreichend ist, um das Beratungsziel zu erreichen. Aber diese Frage sollte vernünftigerweise erst dann aufgeworfen werden, wenn die Evaluationsergebnisse Handlungsbedarf anzeigen. Die Fragen und Bedenken der Workshopteilnehmer bezogen sich auch nicht auf die bisher erörterten Teile des QM-Systems, sondern ausschließlich auf die Dokumentation.

5 Die Dokumentationen E und F

Ein QM-System muss als notwendige Bestandteile haben

- Instrumente zur Prozesslenkung und Prozessdokumentation,

- Instrumente zur Dokumentation der Prozessergebnisse

Ganz in diesem Sinne verlangen Gesetzestext und Leitfaden:

- Ein Protokoll, aus welchem die Hauptbedingungen für die Verstöße und die erarbeiteten Lösungsformen hervorgehen (§ 4 StVG)

- mindestens erforderlich sind (Leitfaden Vers. 5, S. 8):

- regelmäßiges Führen einer standardisierten Beratungsdokumentati-on über jede Beratungssitzung

- regelmäßige Kontrollen und Auswertung der Beratungsdokumente

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- Regelmäßige Beratungsdokumentation über jede Beratungssitzung. Sie dient allein dem Nachweis der anforderungsgerechten Leistungs-erbringung, der Qualitätssicherung und Evaluation, sowie der Supervision im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Fortbil-dungsveranstaltung bzw. Praxisberatung im zweijährigen Abstand (§ 71 FeV Abs. 2 Nr. 4 b, Leitfaden Vers. 5, S. 10).

Dass diese Dokumentationen alle notwendig sind, erkennt man sehr deutlich, wenn man sich ihre Funktion im Rahmen der Evaluation vergegenwärtigt. Die Frage ist also nicht: benötigen wir diese Dokumentationen, sondern vielmehr: erfüllen die Anhänge E und F diese Anforderungen an Prozess- und Ergebnisdokumentationen? Die Antwort sei vorweggenommen: Sie tun es nicht. Das lässt sich an der Evaluation seht gut nachweisen.

In wenigen Worten ausgedrückt ist Evaluation zielbezogene-Abweichungs-Ursachen-Analyse. Ihre bestimmenden Bestandteile sind demnach

1. Qualitätsziel 2. Prozessergebnis 3. Verfahren des Vergleichs von Qualitätsziel und Prozessergebnis 4. Verfahren zur Ermittlung der Ursachen von Zielabweichungen

Einige Anmerkungen zu diesen vier Bestandteilen:

1. Die Ziele der Beratung, Einstellungsränderung und Motivation zur Verhaltensänderung, sind abstrakt und nicht direkt beobachtbar. Das haben sie mit den allermeisten Qualitätszielen gemeinsam. Evaluati-on ist daher nur möglich, wenn die Ziele durch konkrete, beobacht-bare Kriterien operationalisiert werden. Kriterien können mit dem Ziel in der logischen Form einer notwendigen oder einer hinreichen-den Bedingung stehen. Wir können uns also fragen: Was muss notwendigerweise vorliegen, damit wir davon ausgehen können, dass die beabsichtigte Veränderung stattgefunden hat und was ist hinreichend? Im Wesentlichen haben wir zwei Kriterien, die uns darüber Informieren, ob das Ziel erreicht wurde oder nicht:

1. Die Mitwirkung des Klienten 2. Das Faktum, dass der Punktestand des Klienten nach dem Punkterabatt nicht wieder ansteigt.

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Man kann die Mitwirkung des Klienten durchaus als notwendige Voraussetzung für das Beratungsziel auffassen, indem man schluss-folgert: Wer nicht aktiv mitwirkt, wird auch sein Bewusstsein nicht verändern und keine Motivation zur Verhaltensänderung aufbauen. Der Punkterückgang ist ein hinreichendes Kriterium für das Erreichen des Beratungsziels. Denn man kann argumentieren: ((Keine Bewusstseinsränderung / keine Veränderungsmotivation ? kein Punkterückgang) ( Punkterückgang) (r) Bewusstseinsänderung und Veränderungsmotivation. Von diesen beiden Kriterien ist lediglich das zweite objektiv und direkt beobachtbar. Das erste muss aus der Prozess- und Ergebnisdokumentation erschlossen werden.

2. Um die Evaluation durchzuführen, muss das Prozessergebnis so vorliegen, dass der Vergleich mit dem Qualitätsziel durchgeführt werden kann.

4. Liegen Zielabweichungen vor, hat die Prozessdokumentation die notwendigen Informationen zu liefern, um die Ursachen der Zielabweichungen festzustellen. Leistet sie das nicht, dann ist sie eigentlich nutzlos.

Es wird zu fragen sein, ob die Anhänge E und F hinreichend genug über das Prozessergebnis informieren, damit a) der Abgleich mit dem Ziel möglich ist und b) im Falle der Zielabweichung der Beratungs-prozess nachverfolgt werden kann. Fragen wir also der Reihe nach:

5.1 Welche Informationen enthalten die Anhänge E und F?

Anhang E besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil (Nachweis der Beratungsergebnisse) wird vom Berater ausgefüllt. Er enthält unter anderem die Dokumentation zu folgenden Themen:

- Die Beratungstermine - Ursachen des Fehlverhaltens - Lösungsformen und Empfehlungen - Besonderheiten

Der zweite Teil (Nachweis der Durchführung der Beratung) enthält Informationen, die dem Datenschutz unterliegen, also bei der Evaluation nicht verwendet werden dürfen:

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- Die Bestätigung der Kenntnisnahme des Nachweises der Beratungs-ergebnisse mit den gemeinsam erarbeiteten Lösungsvorschlägen und Empfehlungen

Anhang F (Jahresbericht) enthält unter anderem folgende Informati-onen:

- Durchgeführte Beratungen

- Anzahl der Fahrproben

- Eine persönliche (subjektive) und summarische Erfolgsbewertung durch den Berater, nach folgenden Gesichtspunkten:

- Erkenntnisgewinn - Verhaltensänderung - Prognostische Beurteilung - Akzeptanz der Maßnahme und Motivationslage des Klienten

- Häufigkeit und Art von Beschwerden oder Einsprüchen durch Klienten oder Sachbearbeiter in den FE-Behörden oder in Pressebe-richten

- Sonstige Besonderheiten oder Probleme im Zusammenhang mit der Durchführung der verkehrspsychologischen Beratung.

5.2 Welche Informationen liefern die Anhänge E und F über die Mitwirkung des Klienten?

Das QM-Handbuch zählt folgende Indikatoren für Mitwirkung auf:

- Erscheint pünktlich zu allen Sitzungen - Wirkt an ihnen mit - Erscheint nicht unter Einfluss von Alkohol oder Drogen (0,0-Regel) - Erfüllt zusätzliche vereinbarte Aufgaben

Von diesen Indikatoren ist nichts dokumentiert, weder in Anhang E noch in Anhang F. Aber selbst, wenn sie dokumentiert wären: Kann man sagen, es handelt sich um eine verlässliche Information über die Mitwirkung des Klienten? Erfahrungen in der Verkehrstherapie belegen, dass das primäre Ziel der meisten Klienten die Wiedererlan-gung der Fahrerlaubnis ist. Dementsprechend kann man hier

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vermuten: Das Hauptziel des Klienten ist die Punktereduktion. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass der Klient diesem Ziel zuliebe alle vier Kriterien erfüllt, aber keineswegs seine Einstellungen und seine Motivationslage verändern will. Also handelt es sich hier nicht um eine verlässliche Information über die Mitwirkung des Klienten. Fazit:

- Wir haben über die Beteiligung des Klienten keine verlässliche dokumentierte Information. Wir können also anhand der Anhänge E und F nicht nachweisen, dass diese notwendige Voraussetzung für Bewusstseinsänderung und Aufbau einer Veränderungsmotivation erfüllt ist.

5.3 Welche Informationen liefern die Anhänge E und F, die über Bewußtseinsänderung und Motivationsaufbau informieren könnten?

In Anbetracht der zuvor genannten vermutlichen primären Motivationslage vieler Klienten kann man nicht davon ausgehen, dass ihre Unterschrift in Anhang E valide über eine Bewusstseinsän-derung oder eine Veränderungsmotivation aussagt. Der sicherlich validere Eindruck des Beraters ist für den Einzelfall nicht dokumen-tiert, sondern nur summarisch in Anhang F.

Die Erfolgsbewertung des Anhangs F ist wie gesagt summarisch und subjektiv, also eine Art "Mittelwert" über alle Klienten des Beratungszeitraums. Sie gibt deshalb wahrscheinlich noch weniger valide Auskunft über Motivationsaufbau als die Aufzeichnungen des Anhangs E. Objektiv und verlässlich sind Häufigkeit und Art von Beschwerden oder Einsprüchen durch Klienten oder Sachbearbeiter in den FE-Behörden oder in Pressestellen - vorausgesetzt, sie kommen beim Berater an. Aber informieren die eher über Bewusst-seinsveränderung der Klienten oder eher über die Arbeitsqualität der Berater? Fazit:

- Wir haben über Bewusstseinsveränderungen und den Aufbau einer Veränderungsmotivation der Klienten keine verlässliche dokumen-tierte Information. Wir können anhand der Anhänge E und F nicht nachweisen, dass diese Qualitätsziele erreicht wurden.

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5.4 Welche Informationen liefern die Anhänge E und F über den Beratungsprozess?

Die relevanten Teile des Anhangs E beinhalten lediglich die Aufstellung der (tatsächlichen oder vermeintlichen) Ursachen und der Maßnahmen. Ein Prozess (wie kam man auf diese Ursachen, wie war die Beteiligung des Klienten bei der Ursachenanalyse, gab es Widersprüche, warum wurden diese Maßnahmen und keine anderen empfohlen, ... ?) wird daraus nicht ersichtlich. Anhang F liefert nur summarische Informationen über die vermuteten Wirkungen der Beratungen eines Jahres und über Beschwerden. Fazit:

- Weder Anhang E noch Anhang F enthält Informationen, die im Falle einer Zielabweichung helfen könnten, den Beratungsprozess nachzuvollziehen und zu verbessern.

Fragen wir also zum Schluss:

5.5 Welchen intendierten Zweck haben die Dokus E und F?

Die Fragen und Antworten beim Workshop ließen die Vermutung aufkommen, sie haben eine Doppelfunktion. Sie sollen einerseits helfen, den Zielerreichungsgrad zu prüfen, was sie nicht leisten, wie wir nachgewiesen haben, andererseits - und das gilt besonders für Anhang E - sollen sie Hinweise darauf geben, wie sorgfältig die Berater arbeiten und ob sich hinter der Beratung in Wahrheit Therapie verbirgt.

Der zweite Zweck ist durchaus qualitätsbezogen und daher legitim, denn die Sorgfalt und Qualität der Beratung ist eine notwendige Voraussetzung für die Zielerreichung: Ohne sorgfältige Beratung keine Bewusstseinsänderung und kein Motivationsaufbau. Also eine Prüfung des Prozesses und des Prozessergebnisses auf dem Umweg über die Prüfung der Sorgfalt des Beraters? Dass es möglicherweise nur oder auch um die Kontrolle des Beraters geht, steht jedoch nicht im QM-Handbuch und bleibt dem Berater daher verborgen, bzw. kann von diesem nur gemutmaßt werden. Wie es scheint, ist das Hauptproblem mit Anhang E gerade diese Doppelfunktion: Einerseits soll damit die Mitwirkung des Klienten erzielt oder dokumentiert werden, andererseits soll die Qualität der Beratung damit kontrollierbar gemacht werden. Stellen wir also gegenüber

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Kann man aber diesen beiden Funktionen gleichzeitig gerecht werden, indem man verlangt, die maßgeblichen Ursachen und die Lösungsformen und Empfehlungen aufzuschreiben, dabei aber Formulierungen verbietet, die subjektive Erklärungsmodelle des Klienten und analytische Erklärungsmodelle des Beraters zum Ausdruck bringen (Änderungsreport zur Fassung 5 des Leitfadens)? Wenn man beides nicht schreiben darf, was soll man dann schreiben? Viele Fragen beim Workshop lauteten: wie soll ich es schreiben, was soll ich schreiben. Für die Mitarbeit des Klienten kann es genügen und hilfreich sein, wenn Schlagwörter erarbeitet werden, die eine ganz spezielle Bedeutung als Kürzel für Hauptursachen des problematischen Verhaltens haben oder für bestimmte Maßnahmen, die nun im Straßenverkehr zu ergreifen sind. Für die Qualitätsprü-fung durch den Controller genügen solche Kürzel natürlich nicht. Ihm geht es um die Nachvollziehbarkeit des Zusammenhangs zwischen Ursache und Maßnahme, um die Gewährleistung der Sorgfalt bei der Beratung und um die Gewährleistung des Engage-ments der Klienten. So kann durch die Zwitterfunktion des Anhangs E eine Unvereinbarkeit in der Diktion bestehen, die den Berater ebenso beeinträchtigt wie den ernsthaft Ratsuchenden.

Zusammenfassung und Vorschläge zur Veränderung der Dokumentation

Das QM-System der Beratung nach § 71 ist nach Überzeugung des Autors dieses Beitrags in den Punkten 1 bis 4 zweckmäßig und überzeugend. Gefährdend für die Funktionalität des gesamten Systems sind die Anhänge E und F als Instrumente der Prozess- und Ergebnisdokumentation. Darauf sollten sich die Verbesserungsbe-mühungen konzentrieren. Die folgenden Vorschläge dienen lediglich zur Anregung, über Verbesserungen nachzudenken:

1. Die Bedenken und Einwände legen es nahe, auf die Erfolgsbewer-tung laut Anhang F gänzlich zu verzichten und anstatt dessen eine

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Evaluation am harten Kriterium des Punktestandes nach dem Punkterabatt vorzunehmen. Die ersten konkreten Schritte hat der derzeitige Vorstand der Sektion unternommen.

2. Die Informationen über Beschwerden sollte eine unabhängige Qualitätsstelle sammeln und auswerten, die vom Sektionsvorstand einzurichten ist.

3. Die Beratungsprozessdokumentation in Anhang E sollte so ausgebaut werden, dass einerseits die Mitarbeit des Klienten mehr gewährleistet ist als bisher und dass andererseits der Zusammenhang zwischen Ursachen und Maßnahmeempfehlungen (z.B. auch hinsichtlich ihrer Durchführbarkeit) deutlicher nachvollziehbar wird als bisher. Diese Dokumentation könnte z.B. so aussehen:

- Stufe 1 des Prozesses: Angaben des Klienten zu den Ursa-chen, seine subjektive Sicht - Stufe 2: Rückfragen des Beraters und seine Interpretation der Angaben des Klienten - Stufe 3: Einigung auf die tatsächlichen Ursachen - Stufe 4: Handlungsalternativen, geordnet nach ihrer Erfolgs-wahrscheinlichkeit

Unterschrift des Klienten

1 Die Maskulinform steht für beide Geschlechter.

2 s. Abschnitt 2.2 des vorliegenden Textes.

3 S. Abschnitt 2.2 des vorliegenden Textes Dipl.-Psych. Dr. Harald Meyer

Universität Bamberg und PRO-NON e.V. Erlenweg 1 96120 Bischberg Tel: 180-1338899 E-Mail: [email protected] www.pro-non.de

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Dr. Peter Klepzig

Zur Praxis der Verwendung von bereits vorliegenden medizinisch-psychologischen Gutachten in der Fahreig-nungsuntersuchung

Abstract: Es ist überwiegend praktizierte Verfahrensweise in der Fahreignungsbegutachtung, von Probanden die Vorlage von zuvor entstandenen Gutachten zu erwirken, um diese als zusätzlichen Befund zu verwenden. Diese Verfahrensweise wird dennoch immer wieder kontrovers diskutiert. Auf der einen Seite wird - von gutachterlich tätigen Kollegen - argumentiert, dass die Vorlage von Vorgutachten ein unabdingbares Zeichen der aktiven Mitwirkung des Probanden, damit ein wichtiges Indiz für die Erstellung einer positiven Prognose darstellt; andererseits bei der Verweigerung der Vorlage die Vermutung nahe liegt, dass hier möglicherweise - darin enthaltene - wichtige Fakten verschwie-gen werden sollen, was wiederum Indiz für eine negative Prognose sein sollte. Auf der anderen Seite nehmen Probanden und teilweise auch therapeu-tisch tätige Kollegen ein vorliegendes Fahreignungsgutachten mit negativer Prognose mitunter als schweren Eingriff in ihre Persönlich-keitsrechte wahr. Sie befürchten im Falle deren Vorlage bei einer erneuten Fahreignungsuntersuchung eine Vorverurteilung im Sinne einer von ihnen angenommenen unzureichenden Würdigung der eigenen Entwicklung vom Zeitpunkt der Entstehung des negativen (Vor-)gutachtens bis zur erneuten Untersuchung. Wird dennoch massiv in Richtung der Vorlage insistiert oder darauf sogar bestanden - da sonst ein (positives) Votum nicht möglich sei - entsteht ein Machtgefälle, kann sich das ohnehin oft empfundene Machtgefälle in der subjektiven Wahrneh-mung der betreffenden Probanden so verstärken, dass eine vertrauensvol-le Atmosphäre in der Exploration nicht entsteht.

Anlässlich eines kollegialen Austauschs von BNV-Mitgliedern aus der Region Berlin-Brandenburg und gutachterlich tätigen Kollegen eines in Berlin vertretenen Trägers einer Begutachtungsstelle für Fahreignung (AVUS) wurde das vorgenannte Thema kontrovers diskutiert. Ein therapeutisch tätiger Kollege berichtete von der

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regelmäßig praktizierten Auffassung eines gutachterlich tätigen Kollegen, wonach - sinngemäß - eine positive Prognose zu erstellen ihm nicht möglich sei, wenn der Proband seiner Pflicht zur aktiven Mitwirkung an der Begutachtung nicht in der Weise nachkomme, dass er sich bereit erkläre, ihm nicht aktenkundige Gutachten vorzulegen. Der Gutachter begründete diese seine Auffassung damit, dass in nicht aktenkundigen Gutachten relevante Fakten (z.B. eindeutige Empfehlungen für Verhaltensänderungen) enthalten sein könnten, deren Erfüllung nicht überprüft werden kann, wenn die Empfehlungen selbst nicht bekannt werden.

Damit ist die Ausgangssituation für die hier zu behandelnde Problemlage bereits annähernd skizziert und kann wie folgt zusammengefasst werden:

* Es liegen ein oder mehrere Gutachten mit negativer Prognose vor (Vorgutachten).

* Diese(s) Gutachten sind nicht aktenkundig.

* Es steht eine erneute Fahreignungsbegutachtung (MPU) an.

Wie stellt sich nun die Situation nach meiner - in mittlerweile langjähriger Tätigkeit - kasuistisch gewonnenen Erfahrung in der subjektiven Sichtweise der Probanden/Klienten vor Beginn einer (Einzel-)Intervention dar? In Abhängigkeit von der Ausprägung der Fähigkeit zu Selbstreflexion und Selbstkritik sind folgende Gefühls-zustände häufig zu konstatieren:

* Gefühl der erneuten Bestätigung der allbekannten und immer wieder kolportierten Verschwörungstheorien á la "alles nur Abzocke", was nicht selten in eine diffuse "Kampfbereitschaft" (Rechtsanwalt "alarmieren", Presse "einschalten") mündet

* Gefühl der Hilflosigkeit, z.T. mit der Tendenz zu resignieren

* Gefühl, dass mit dem negativen Ergebnis nun definitiv eine weitere Strafe ergangen sei

* erneute Aktivierung von ohnehin seit dem - für den Fahrerlaubnis-entzug ursächlichen - Ereignis auftretenden Schuld- und Schamgefüh-len

* Das negative Ergebnis führt zu einer - bereits nach dem Fahrer-laubnisentzug eingesetzten - Überprüfung und Korrektur bisheriger

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eigener Einstellungen und damit einhergehender Verhaltensweisen bzw. löst diese aus.

Wie erlebe ich häufig die subjektiven Sicht- und Verhaltensweisen der gutachterlich tätigen Kollegen?

Am wichtigsten erscheint mir hier, dass die routinemäßige Informa-tion der zu Untersuchenden (neuerdings häufig "Kunden" genannt) über die Möglichkeit des "Nachgesprächs" nach erfolgter MPU regelmäßig vermieden wird. Der eher kurzfristige Vorteil für die gutachterlich tätigen Kollegen liegt hierbei auf der Hand: Es werden ein erhöhter Arbeitsaufwand sowie unangenehme und nicht unkomplizierte Gesprächssituationen dadurch vermieden.

Zugleich ergeben sich hieraus jedoch erhebliche Nachteile, deren Bedeutung in der Situation zunehmender Konkurrenz unter den Trägern von Begutachtungsstellen für Fahreignung wachsen dürfte:

* Es wird einer weiteren Verfestigung destruktiver Vorurteile zu Untersuchender gegenüber der MPU ohne Not Vorschub geleistet.

* Empfehlungen hinsichtlich möglicher Wege einer Problemlösung (z.B. Aufsuchen eines niedergelassenen Verkehrspsychologen mit nachgewiesener Qualifikation) werden nicht erteilt.

Häufig suchen hierdurch unzufriedene Betroffene bei einer nachfolgender MPU einen anderen Träger von Begutachtungsstellen für Fahreignung auf, wodurch letztendlich dem die Vorbegutachtung durchführenden Träger ein Kunde "verloren geht".

Hinsichtlich der Sichtweisen der therapeutisch tätigen Kollegen sind unterschiedliche "Bewältigungsstrategien" anzutreffen:

* "Schwamm-drüber-Strategie"

Diese Kollegen ignorieren die Vorgutachten häufig; dem Klienten wird empfohlen, diese(s) doch einfach "zu vergessen". Unter diesen Kollegen greifen oft Vorurteile: vor allem dann, wenn aufgrund jahrelanger Erfahrungen mit konkreten gutachterlich tätigen Kollegen erst mal geschaut wird, welcher "Untersucher" tätig war und dann - oftmals wohl schon automatisiert - der Gedanke greift, dass es ja dann auch gar nicht verwunderlich sei, dass das Gutachten mit einer negativen Prognose endete. Solche Vorurteile erstrecken

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sich in einigen Fällen - bundesweit betrachtet - anscheinend auch auf ganze Begutachtungsstellen. Nicht selten wird dann auch dem Klienten bedeutet, bei der "falschen" Begutachtungsstelle gewesen zu sein. Wie so kritisches Problembewusstsein gefördert werden soll, bleibt dann allerdings fraglich. Der mit dieser Eingangshaltung ausgestattete therapeutisch tätige Kollege läuft vielmehr Gefahr, in die Rolle eines "Anwalts des Klienten" zu geraten.

Aus folgenden Gründen halte ich diese Verfahrensweise für kontraproduktiv:

Es ist im Sinne des Bewirkens einer angemessenen Einstel-lungs- und Verhaltensänderung prinzipiell kontraproduktiv, wenn sich therapeutisch tätige Klienten leichtfertig über die gegebenen Empfehlungen der gutachterlich tätigen Kollegen hinwegsetzen. Ein typisches Beispiel dafür, wie sehr sich dies selbst in entscheidenden Aspekten auswirken kann, ist der Umgang mit konkreten Empfehlungen, welche im Falle von Eignungszweifeln wegen Alkoholauffälligkeiten gegeben wer-den. Hier meine ich vor allem die bedeutsame Frage der für den Klienten möglichen Strategie für den zukünftigen Um-gang mit alkoholischen Getränken. Es ist ein therapeutischer Fehler, den vom Gutachter vorgeschlagenen Weg nicht gründ-lich gemeinsam mit dem Klienten in der Intervention zu hin-terfragen, sondern diesen schlicht zu ignorieren. Mir scheint, dass es sich hier stets um einen Fall von Überheblichkeit bei therapeutisch tätigen Kollegen handelt, wenn so verfahren wird. Zugleich sei hier betont, dass nicht der ungeprüften Ü-bernahme der vom Gutachter vorgeschlagenen Strategie das Wort geredet werden soll. Schließlich wird niemand bestrei-ten, dass die diagnostische Basis der in Gutachten gegebenen Empfehlungen manchmal sehr schmal ist. Insofern kann der - oft nur aus dem Gefühl heraus vielgeäußerte - laienhafte Zwei-fel von Betroffenen "Wie kann mich der Gutachter in 30 - 50 min überhaupt einschätzen?" nicht immer fundiert ausge-räumt werden.

Die diagnostische Basis ist m.E. nicht selten tatsächlich schmal, weil die Erhebung anamnestischer Daten aus verständ-lichen zeitökonomischen Erwägungen auf das wesentliche be-schränkt werden muss und damit die Wahrscheinlichkeit

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wächst, dass Einzeläußerungen entweder über- oder unterbe-wertet, schlimmstenfalls fehlinterpretiert werden. Beispiels-weise kann allein aus der Äußerung eines Probanden in der gutachterlichen Exploration "Ich habe früher ohne Kontrolle getrunken" ohne weitere Vertiefung keine Aussage über die vorhandene oder nicht vorhandene Fähigkeit zum dauerhaften und konsequenten mäßigen Alkoholkonsum abgeleitet wer-den.

* "Druck-Strategie"

In diesem Falle wird das Vorgutachten vom therapeutisch tätigen Kollegen - zumeist bereits im Eingangsgespräch - dazu benutzt, die - oft ohnehin bestehende - Verunsicherung des Klienten noch zu verstärken und sich dann als "Retter in der Not" anzubieten, indem eine fertige Lösung des Problems in Form der Intervention und des damit einhergehenden Therapievertrages "verkauft" werden soll.

* "Abhol-Strategie"

In diesem Falle verhält sich der Therapeut im Eingangsgespräch zunächst zurückhaltend, um möglichst ungefiltert einen ersten Eindruck zu gewinnen, welche Sichtweise der Klient tatsächlich auf seine Problemlage hat, zugleich wird das Gutachten regelmäßig im Verlaufe der Einzelintervention - jeweils themenbezogen - einbezo-gen.

An dieser Stelle sei kurz begründet, aus welchen Gründen ich die zuletzt genannte Verfahrensweise bei der Durchführung von Interventionen unbedingt praktiziert werden sollte:

* Ob und wie ein Klient an bisherige - negativ verlaufene - Untersu-chungen herangegangen ist, ist nicht ohne diagnostische Relevanz dafür, welche Strategie er auch sonst im Leben bisher bevorzugt hat, um vergleichbare Probleme zu lösen.

* Die vom Klienten in vergleichbaren Situationen gewählte Strategie wird dann sehr wahrscheinlich auch seine Herangehensweise in der Einzelintervention mitbestimmen.

* Es gilt - ausgehend davon -, diese Beobachtungen in Beziehung zu wesentlichen bio-graphischen Daten, die im Rahmen einer gründli-

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chen Anamnese zu erheben sind, zu setzen und auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen, d.h. die Entwicklung und Überprüfung des im individuellen Fall vorliegenden "Störungsmodells" vorzunehmen.

Es bleibt - dies sei hier angemerkt - zu befürchten, dass die zu Beginn des kommenden Jahres geplante Aufhebung der Gebührenordnung für Fahreignungsbegutachtungen, welche mit Sicherheit eine weitere Verschärfung des Wettbewerbs mit sich bringen wird, den Zeitdruck auf die Gutachter noch weiter verstärken und - damit einhergehend - die Qualität der gutachterlichen Diagnostik sich verschlechtern wird.

Daraus jedoch abzuleiten, dass eine auch langfristige Einbeziehung von Gutachteninhalten in die Planung von Interventionen nicht sinnvoll sei, wäre dennoch kontraproduktiv.

Welchen subjektiven Stellenwert nehmen Gutachten für Proban-den/Klienten ein?

* Eine negative Fahreignungsprognose stellt einen schwerwiegenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen dar. Bekannter-maßen beeinflusst die Nichterlangung der Fahrerlaubnis die weitere individuelle Lebensplanung nachhaltig - nicht zuletzt in Zeiten andauernder Massenarbeitslosigkeit.

* Derjenige, der solch einen Eingriff im Interesse der Allgemeinheit vorläufig hinnehmen muss, hat ein Recht darauf, diese Entscheidung hinreichend begründet zu bekommen.

* Es ist auch Aufgabe der therapeutisch tätigen Kolleginnen und Kollegen, die in den Gutachten enthaltenen Begründungen ggf. den Klienten nachvollziehbar zu machen.

* Häufig gelingt Klienten das eigenständige Nachvollziehen der negativen Prognose aus verschiedenen Gründen nicht: Hier spielt nicht zuletzt große Enttäuschung aufgrund unrealistischer Erwar-tungen hinsichtlich des Gutachtenergebnisses eine große Rolle. Teils werden solche Erwartungen auch von therapeutisch tätigen Kollegen geschürt, teils entstehen sie bei den Betreffenden aufgrund selbst- und fremdauferlegten Drucks (Arbeitgeber, Angehörige, existentielle Lage) auch selbst.

Auch eingeschränkte intellektuelle und damit auch sprachliche Fähigkeiten, welche mit der noch immer anzutreffenden Verklausu-lierung durch die übertriebene Anwendung psychologischen

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Vokabulars durch Gutachter kollidieren, sind hier nicht ohne Einfluss. Es wird nicht selten übersehen, dass Überzeugungskraft weniger aus der Verwendung von Fachjargon als vielmehr aus solider Datenerhebung und -verarbeitung im Einzelfall resultiert.

Fazit:

* Gutachten sind bei allen bestehenden Problemen eine gute Arbeitsbasis in der verkehrspsychologischen Rehabilitation, jedoch kann die Vorlage von Vorgutachten nicht dadurch erzwungen werden, dass bei Nichtvorlage a priori von der Unmöglichkeit einer positiven Prognose ausgegangen wird. Hierfür existiert weder eine sachliche noch eine rechtliche Grundlage

* Die vom therapeutisch tätigen Kollegen unbeeinflusst vorgefunde-ne Haltung des Untersuchten zum Vorgutachten hat eine hohe Aussagekraft, sowohl hinsichtlich der Ausgangssituation des Klienten, als auch hinsichtlich des Grades der Verfestigung bestehender Vorurteile und bezüglich der Art und Weise, wie der Klient wahrscheinlich sonst im Leben Problemlösungen initiiert bzw. sich u.U. dabei selbst blockiert. Deshalb sollten Vorgutachten in den Rehabilitationsprozess einbezogen werden.

* Klienten sollten - wann immer dies sinnvoll erscheint - zur Vorlage von Gutachten im Falle einer wiederholten Fahreignungsuntersu-chung ermutigt werden.

Dipl.-Psych. Dr. Peter Klepzig Verkehrspsychologische Praxisgemeinschaft Thomasstr. 27 12053 Berlin Tel: 030-68893225 E-Mail: [email protected] www.kraftfahreignung.de

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Wolfgang Müller Verkehrstherapeutische Einzelmaßnahmen und ihre gerichtliche Anerkennung bei der Sperrzeit-Verkürzung

Im §69 des Strafgesetzbuch (StGB) wird bestimmt, daß neben einer Geldstrafe einem Verkehrsteilnehmer die Fahrerlaubnis zu entziehen ist, wenn er sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen hat. Dies ist in aller Regel dann der Fall, wenn jemand zum Beispiel vorsätzlich oder fahrlässig eine Trunkenheitsfahrt mit einer BAK von 1,1 ‰ oder mehr begeht. Zugleich bestimmt der Richter gemäß §69a StGB die Dauer der gegen den Betroffenen verhängten Fahrerlaubnisentziehung (Sperrfrist). Je nach Sachlage bzw. Schwere der Tat ergeht der Richterspruch durch Strafbefehl oder durch Urteil nach voran gegangener Gerichtsverhandlung.

Hierbei ist zu beachten, daß - im Unterschied zur ausgesprochenen Geldstrafe - die Entziehung der Fahrerlaubnis ebenso wie die Verhängung der Sperrfrist für die Wiedererteilung keine Strafe im Sinne des Gesetzes ist, sondern (lediglich) zu den "Maßregeln der Besserung und Sicherung" gehört. Das bedeutet, daß der Grund für die Sperrfrist dann nicht mehr fortbesteht, wenn der Betroffene sich gebessert hat. Eine solche Besserung wird nach gängiger Rechtspre-chung immer häufiger dann angenommen, wenn der Betroffene zur Wiederherstellung seiner Kraftfahreignung und Vorbereitung auf die MPU-Begutachtung zum Beispiel an einer verkehrstherapeutischen Einzelmaßnahme bei einer niedergelassenen Verkehrspsychologin bzw. Verkehrspsychologen teilgenommen hat. Sodann erfüllt er i. d. R. also auch die Voraussetzungen, ihm durch den zuständigen Amtsrichter die gegen ihn verhängte Sperrzeit nach §69a VII StGB zu verkürzen.

Die erfolgreiche Teilnahme an einer verkehrstherapeutischen Einzelmaßnahme stellt für den entscheidenden Richter also einen triftigen Grund für die Eignungsvermutung dar. Die Entscheidung über die konkrete Geeignetheit des Betroffenen trifft ohnehin die Verkehrsbehörde. Hierauf sollte der Verkehrspsychologe seinen Klienten ausdrücklich aufmerksam machen, denn die Praxis zeigt, daß die beteiligten Rechtsanwälte die Klienten auf diese Möglichkeit

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der Sperrzeitverkürzung in aller Regel gerade nicht oder nur sehr mangelhaft hinweisen. Den Fachanwalt für Verkehrsrecht gibt es nach wie vor nicht.

Zur Begründung seines Antrags auf Verkürzung der gegen ihn verhängten Sperrzeit verweist der Betroffene auf seine erfolgreiche Absolvierung der verkehrstherapeutischen Maßnahme, über die er einen Therapie-Bericht des behandelnden Verkehrspsychologen dem Antrag an das zuvor befasste Gericht beifügt.

Bei einem solchen Antrag ist insbesondere zu berücksichtigen, daß bei der Antragsbegründung nur solche (neuen) Tatsachen und Umstände maßgebend sind, die zum Zeitpunkt der Urteilsfindung noch nicht bekannt waren. Soweit diese bei der Urteilsfindung bereits bekannt waren, wurden sie bei der Strafzumessung aber auch der Bemessung der Sperrfrist bereits berücksichtigt.

An dieser Stelle darf nicht unerwähnt bleiben, daß nicht nur Rechtsanwälte, sondern leider auch nicht selten die hier tätigen Amtsrichter und Staatsanwälte nicht über die ausreichende Sachkompetenz verfügen, so daß der hier tätige Verkehrspsychologe sich auf (unglaubliche) Überraschungen einstellen muß. So ist es sehr hilfreich aber auch ausdrücklich empfehlenswert, in dem Antrag an das Gericht auf entsprechende Urteile bzw. die einschlägige Rechtsprechung zu verweisen, ggf. sogar unter Angabe des Aktenzeichens und der Fundstelle. Nützlich bei der Antragsbe-gründung sind auch die einschlägigen Kommentare zum Strafrecht ("Dreher-Tröndle" oder "Schönke-Schröder"), die alle Juristen kennen (sollten). Hier finden sich auch die zur Sache ergangenen Urteile. Als Begründung regelmäßig unberücksichtigt bleiben allerdings (in der Regel) berufliche oder wirtschaftliche Nachteile (das hat der Betroffene vorher gewußt) oder allein der zeitliche Ablauf (man kann auch untätig und ungeläutert die Zeit verbringen).

Bei diesem Instrument der Sperrzeitverkürzung muß in Erinnerung gerufen werden, daß mit der Reduzierung der Mindestsperrzeit von ursprünglich sechs auf nunmehr drei Monate (vgl. §69a, Abs. 7, StGB) der Gesetzgeber schließlich bezweckte, dem verurteilten Verkehrsteilnehmer auch ausdrücklich einen Anreiz zur Teilnahme an einem verkehrspsychologischen Aufbauseminar zu bieten (konstruktive Nutzung der Sperrfrist).

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Die Praxis zeigt leider, daß die verkehrspsychologische Klientel gar nicht oder nur sehr mangelhaft über die Möglichkeiten einer Sperrzeitverkürzung informiert ist. Hier ist der behandelnde Verkehrspsychologe in besonderer Weise gefordert. Auf diese Weise trägt der so tätige Verkehrspsychologe gleichzeitig dazu bei, daß die Bedeutung seiner Dienstleistung herausgestellt wird und hierüber auch die gerichtliche Anerkennung findet und damit langfristig ihre normative Kraft entfaltet (Vertrauensschutz).

Dipl.-Psych. Wolfgang Müller GRG Landau, BNV Vorstand Rupprechtstr. 1 76829 Landau/Pfalz Tel: 06341-53613 E-Mail: [email protected] www.grg-landau.de

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Karl-Heinz Opper

Jahrgang 1933. Therapeutische Interventionen bei älteren Menschen. Ein Fallbeispiel

Die demographische Entwicklung in der BRD ist, wie in den meisten anderen modernen Staaten auch, gekennzeichnet durch einen Bevölke-rungsrückgang und eine sich verändernde Alterspyramide infolge steigender Lebenserwartung. Die Generation, die in der Nachkriegszeit erwachsen wurde und die den wirtschaftlichen Aufschwung als junge Erwachsene erlebte, hat ein besonderes Verhältnis zum Auto als Statussymbol, als sichtbares Zeichen individuellen Wohlstands und als Vehikel mobiler Unabhängigkeit. Vermutlich wird der Anteil älterer Menschen in verkehrspsychologischen Beratungsstellen und Praxen ebenfalls zunehmen. Bei jeder therapeutischen Intervention muss daran gedacht werden, welche existentielle Krise der Entzug der Fahrerlaubnis für diese Personengruppe verursacht: "Ich bin in 40 Jahren nicht ein einziges Mal angehalten worden! Warum werde ich jetzt wie ein Schwerverbrecher behandelt, nur weil ich einen Fehler gemacht habe?" Solche und ähnliche abwehrende Äußerungen stehen oft am Beginn der Arbeit. Therapeut und Therapeutin haben sich auf heftige Widerstände einzustellen, wenn sie eine selbstkritische Auseinandersetzung mit deliktträchtigem Verhalten einfordern. Entscheidend für den Erfolg wird sein, wie gut die spezifische biographische Situation berücksichtigt und behutsam mit altersbedingten Einschränkungen umgegangen wird. Der Beitrag versucht, an einem Fallbeispiel exemplarisch zu entwickeln, wie ein historisch fundierter Zugang aussehen kann, damit Veränderungs-prozesse eingeleitet und strukturiert und auch über den Abschluss der Therapie hinaus begleitet werden können.

"Ich hasse diese Stadt" sagte neulich, während einer Radtour ein Freund, Redakteur der Lokalzeitung, über eine Bäderstadt in Lippe. Meine Entgegnung, bei einem Besuch als Externer gewinne man doch eher den Eindruck von Beschaulichkeit, veranlasste ihn zu der heftigen Erläuterung, das sei es ja gerade. "Überall in der Stadt riecht es nach welkem Fleisch: im Café, beim Einkauf. Und dann

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behindern die alten Säcke mit ihren dicken Autos noch die Leute, die arbeiten und für ihre Rente schuften müssen."

Was sich in diesem kurzen Gesprächsausschnitt als polemische Zuspitzung zeigt, scheint Teil eines gesellschaftlichen, mittlerweile etablierten Diskurses zu sein, wonach die Senioren alle Defizite einer spätkapitalistischen Gesellschaft verschulden oder die offenkundigen Übel zumindest verschärfen. Von einem Methusalem-Komplott schwadroniert ein FAZ-Herausgeber in seinem Bestseller, wobei er seinen Spekulationen die ungünstigste Modellvariante zugrunde legt; Altwerden erscheint als Starrsinn, als Terrorismus, der die Profitma-ximierung erschwert. So nimmt es nicht wunder, wenn Politnach-wuchs- Rüpel zynisch begrenzte Leistungen der Krankenkassen für Alte ins Gespräch bringen, um eine Radikalisierung der Selektions- und Ausgrenzungsdebatte weiter voranzubringen.

Zwar hört man auch heutzutage noch bei Kirmes-Festen und ähnlichen organisierten Besäufnissen den Klassiker "Wir versaufen uns´rer Oma ihr klein´ Häuschen und die erste und die zweite Hypothek", doch scheint das Empfinden gegenüber älteren Menschen eher von dem Schreckensbild geprägt, dass die Omas und Opas ihrem Enkel sein klein´ Häuschen verprassen.

Ohne Zweifel gibt es deutliche demographische Veränderungen, auch wenn dies für historische Zeitabschnitte immer wieder festgestellt wurde. So verschiebt sich das Verhältnis von Personen im Erwerbsalter (15 - 65) zu denjenigen im Rentenalter (älter als 65) in den nächsten Jahrzehnten vermutlich von 4 zu 1 auf 2 zu 1 (1). Die Mitglieder-Zeitschrift der Deutschen Verkehrswacht titelte unlängst (2): „7 Prozent mehr Getötete bei der Generation 65plus“. Während der Anteil dieser Gruppe an Verunglückten im Jahre 2003 bei 9% lag, betrug der Anteil an Todesopfern 20%. Bemerkenswert die Ergänzung, dass fast jeder zweite getötete Fahrradfahrer und Fußgänger dieser Altersgruppe angehörte. Eine Forschergruppe Rechtmedizinischer Institute gelangte bei der Analyse der Straßen-verkehrsdelinquenz bei Senioren in einem 10-Jahres-Zeitraum zu der Einschätzung, dass zwar eine Bedeutungszunahme älterer Kraftfahrer bei Verkehrsdelikten offenkundig sei, jedoch sowohl hinsichtlich des Deliktschwerpunkts Alkohol als auch hinsichtlich des Delikt-schwerpunkts Medikamente und Betäubungsmittel Handlungsbedarf am ehesten in Richtung präventiver Beratung gegeben sei. (3)

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Die eindeutige Schwachstelle aller Szenarien und Vorschläge ist die Akzeptanz eines durch Konkurrenz und Potenzgehabe geprägten, menschenverachtenden, individuellen Verkehrsverhaltens, diktiert von einer mächtigen Automobil-Lobby, die seit Jahrzehnten erfolgreich notwendige Maßnahmen blockiert, etwa generelle Geschwindigkeitsbegrenzungen.

Die angesprochenen demographischen Veränderungen sind weder neu, noch bedrohlich. Bei den Horrorszenarien, Argumentations-grundlage für die Zerschlagung des Sozialstaats und die Auslöschung der Solidarfinanzierung, wird nämlich konsequent die enorme Steigerung der Produktivität ausgeblendet. An Systemgrenzen stößt lediglich ein auf Profitproduktion ausgerichtetes Wirtschaftssystem.

In einer empirischen Untersuchung zu den "Erfolgschancen durch Werbung für ältere Zielgruppen" (4), in der allerdings die heterogene Kohorte der "Über-49-Jährigen" gebildet wurde, zeigte sich u.a. großes Interesse dieser Gruppe an Autos und Autozubehör, an Reisen und Urlaubszielen. In der Lebens- und Konsumeinstellung ließen sich vier Typen beschreiben, die sich in Verhalten und Erleben deutlich unterschieden und die für therapeutische Interven-tionen von Interesse sind: Aktive Ältere, Aufgeschlossene Ältere, Zufriedene Ältere, Passive Ältere (5).

Bei der Mitgliederversammlung der BDP-Landesgruppe Mecklen-burg- Vorpommern referierte ein Mitarbeiter des Max-Planck- Instituts für demographische Entwicklungen über die zu erwarten-den Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur und skizzierte neue Herausforderungen für die therapeutische Praxis (6). Schließlich zeigen die Unfallzahlen des Statistischen Bundesamts für 2003 (7) den bekannten Zusammenhang, dass ab dem 65. Lebensjahr das Unfallrisiko zunimmt, Kompensation von Leistungsabbau weniger gut möglich ist. So liegt es nahe, freiwillige Leistungsüberprüfungen, stärkere Nutzung des öffentlichen Verkehrs und rechtzeitigen Ausstieg aus dem aktiven Autofahrerleben zu diskutieren (8).

In meiner eigenen Praxis steigt der Anteil von älteren Personen über 65 Jahre in den Bereichen Alkohol und Punkteabbau kontinuierlich. Allerdings liegt der Anteil noch erheblich unter 18,6%, dem Anteil an der Gesamtbevölkerung im Kreis Lippe, meinem vorwiegenden Einzugsgebiet (9).

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Vor diesem Hintergrund gilt es, einige Besonderheiten der Therapie mit Senioren herauszuarbeiten.

Herr P. ist 1933 geboren, hat 1955 eine Fahrerlaubnis erworben und war bis Dezember 2002, abgesehen von kleinen Parksünden, verkehrsrechtlich nicht in Erscheinung getreten. Ab seinem 14. Lebensjahr bis zur Verrentung 1993 arbeitete er ohne Unterbrechung in verschiedenen Berufen und Firmen. Seit 1960 war er verheiratet, Ende der 80er Jahre bezog er mit seiner Frau eine Eigentumswoh-nung in ländlicher Gegend. Im Verlaufe vieler Jahre reduzierten sich die sozialen Kontakte auf ein Minimum, Besuche von Verwandten und Freunden wurden immer seltener, zu den Nachbarn gab es im Höchstfall Grüßkontakte, die Eheleute genügten sich in ihren durch Arbeitszeiten strukturierten Lebenszusammenhängen vollkommen. Alles Wünschen und Sinnen war auf den gemeinsamen Lebensabend nach dem aktiven Berufsleben gerichtet. "Dann können wir uns endlich alles leisten, was wir wollen", hätten sie früher oft gesagt, berichtete Herr P. nicht ohne Wehmut. Alkohol, meistens Bier, hätte er seit seiner frühesten Jugend getrunken, allerdings nicht viel und auch nicht regelmäßig. "Mal nach der Gartenarbeit, mal beim Grillen, eine oder zwei Flaschen Bier." Schnaps habe er eher selten getrunken. An Besäufnisse mit Filmriss und Kater könne er sich nur aus der Zeit vor der Heirat erinnern. Sicher habe er auch das eine oder andere Mal zu viel getrunken, das sei aber doch sehr selten gewesen.

Im Dezember 2002 verursachte Herr P. einen leichten Blechschaden. Der geschädigte Nachbar bestand darauf, die Polizei einzuschalten. Nach einem Alkotest wurde Herrn P. die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen. Die Analyse hatte 1,76 Promille ergeben.

Was war geschehen?

Kurz nach dem Eintritt in das Rentenalter, dem Ziel vieler Wünsche, erkrankte Frau P. an Krebs und starb 1994. Herr P. war allein, unglücklich und hilflos. Er musste sein Leben völlig verändern und einen neuen Lebensplan entwickeln. Diese Notwendigkeit konnte er zwar sehen, war aber letztlich ohne Hilfe überfordert. Herr P. saß zu Hause und haderte mit seinem Schicksal, beklagte die Ungerechtig-keit und hatte häufig Suizidgedanken, ein erfülltes Leben ohne seine Frau schien ihm unmöglich. Jeder Gegenstand in der Wohnung barg Erinnerungen und ließ ihn den Verlust immer wieder spüren. "In

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dieser Zeit", beschrieb Herr P. in der Rückschau, "habe ich nicht mehr richtig auf meine Kleidung geachtet, habe mich nicht richtig gewaschen und selten rasiert, obwohl ich eigentlich auf solche Sachen großen Wert lege. Es war mir egal, was andere über mich denken konnten. Oft habe ich überlegt, ob ich überhaupt aufstehen soll; ich habe Bild gelesen, aber es hat mich nichts richtig interessiert, der Fernseher lief, und ich habe gar nicht richtig hingeschaut, auch bei Volksmusik-Sendungen, die wir früher immer gemeinsam angesehen haben. In dieser Zeit habe ich angefangen, regelmäßig zu trinken und es wurde auch immer mehr. Wenn ich betrunken war, was oft vorkam, war es mir leichter, konnte ich besser einschlafen und musste an nichts mehr denken. Ich war oft wie im Tran." In den letzten Monaten vor Entzug der Fahrerlaubnis habe er oft schon zum Frühstück Dosenbier getrunken, das sei dann den ganzen Tag so weitergegangen.

Herr P. machte zu Beginn der Therapie einen sehr niedergeschlage-nen Eindruck. Er ging gebeugt, gehandicapt durch eine Hüftoperati-on, benutzte einen Knotenstock zum Laufen. In seiner schlichten, altmodischen Kleidung, mit ungepflegtem dichtem, grauem Haar, wirkte er eher wie jemand, der sich vom Leben nichts mehr erhofft. Herr P. hatte mit sichtlicher Ablehnung die Beratungsstelle aufgesucht. Er berichtete, er sei nur gekommen, weil ihm dies von der Fahrerlaubnisbehörde angeraten worden sei.

In dieser ersten Phase unserer Zusammenarbeit ging es vorrangig darum, eine Skepsis zu überwinden, die sich speziell gegen psycho-therapeutische Interventionen, in besonderer Weise aber gegen Psychologen richtete. Diese Beratungs- und Therapieferne ist offensichtlich bei älteren Menschen weit verbreitet. Zusätzlich zu den Aufgaben im Zusammenhang mit der selbstkritischen Aufarbei-tung des Trinkproblems wurde Herrn P. aufgetragen, sich umzuse-hen, wo er sich neue Kleidung kaufen könnte. Als erste Therapie- Ziele wurden gemeinsam formuliert: Veränderung der Trinkge-wohnheiten, Aufspüren von neuen, interessanten Lebensinhalten. Bevor mit der Aufarbeitung der Hintergründe der problematischen Trinkentwicklung begonnen wurde, absolvierte Herr P. eine lange Probefahrt mit einem erfahrenen Fahrlehrer. Dessen Beobachtungen und Einschätzungen waren als Abbruchkriterium oder als Grundlage für ermutigende Rückmeldungen gedacht.

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Nach Abschluss der Therapie wurde Herr P. positiv begutachtet. Mittlerweile, wieder im Besitz einer Fahrerlaubnis, sucht er Käufer für seine Eigentumswohnung, um in die eingangs erwähnte Stadt zu ziehen, in die Nähe des Grabes seiner Frau, vor allem aber möchte er einen einfacheren Zugang zu Angeboten für Senioren haben. Herr P. hat neuen Lebensmut entwickelt und sieht sein Leben nicht als Last und Mühsal, sondern als Chance für Erlebnisse und Erfahrungen.

Einzelne Elemente des therapeutischen Prozesses sollen hier noch einmal benannt werden:

1. Beziehungsaufbau, mit besonderer Berücksichtigung der historisch-spezifischen Erfahrungen (Faschismus, Nachkriegs-zeit, Wirtschaftswunder, Fresswelle);

2. Überprüfung der Fahreignung (Fahrverhaltensprobe); 3. Analyse des Alkoholproblems; 4. Therapie mit Aufgaben zur Erweiterung des Handlungspielraums; 5. Vereinbarung von Kontakten nach Wiedererwerb der Fahr-

erlaubnis.

Es kommt in der Therapie in besonderer Weise darauf an, subjektive Welterfahrung, die sich in überdauernden Gewohnheiten und Einstellungen verdichtet hat, und gesellschaftlich normative Vorgaben wieder in Übereinstimmung zu bringen. Therapie, speziell mit älteren Menschen, die auf eine subjektwissenschaftliche, dem Individuum verpflichtete Begründung Wert legt, muss die Verhal-tensweisen des Individuums - einschließlich seiner devianten, normverletzenden Anteile - als Versuche begreifen, in unterschiedli-chen Lebensbezügen handlungsfähig zu bleiben. Diese Sichtweise kann vor Arroganz und herrschaftswissenschaftlicher Verblendung schützen. Therapie kann dann auch nur das Ziel haben, dem Individuum zu helfen, mehr als bisher gesellschaftlich-normative Bezüge zu erkennen und eigene adäquate Handlungsmöglichkeiten zu finden. Damit ist nicht eine herrschaftsförmige Disziplinierung und Zurichtung, eine Unterwerfung der subjektiven Bedürfnisse und Wünsche unter gesellschaftliche Vorgaben gemeint, vielmehr geht es um die Anbahnung neuer Erfahrungen und die Eröffnung neuer Lebensperspektiven gemeinsam mir anderen Individuen: Es geht um die tendenzielle Einheit von Selbsterkenntnis und Welterkenntnis als dynamischer, als historischer Prozess. Die erlebten Widersprüche und Misserfolge werden nicht auf individuelle Defizite allein

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zurückgeführt, als eine Schuld, die lediglich anerkannt und für deren Begleichung Buße getan werden muss. Der Klient erkennt vielmehr auch Elemente der gesellschaftlichen Überformung individueller Unzulänglichkeiten. In der Therapie mit älteren Menschen kommt der Akzeptanz ihrer Lebenserfahrungen und dem einfühlsamen Umgang mit diesen besondere Bedeutung zu. Nicht selten berichten sie von Diskriminierungserfahrungen, hervorgebracht und reproduziert von einem Klima der Ausgrenzung und Selbstaufwer-tung (Jugendkult, Sozialdarwinismus), die ihren Niederschlag in Defiziten des Selbstwertgefühls, der Handlungs- und Planungssicher-heiten finden. In der Therapie geht es um ein verändertes Denken über die eigene Individualität, die eigene Verantwortung und über die anderen Individuen, ein prinzipiell offener Prozess, in dessen Verlauf Widersprüche und Blockaden auftauchen. Ohne therapeuti-sche Unterstützung ist dieser Prozess häufig zum Scheitern verurteilt, wenn Selbstblockaden und gesellschaftliche Rahmenbe-dingungen nicht reflektiert werden. In einer funktional-historischen Analyse subjektiver Erfahrungen werden objektive Bezüge aufgedeckt (Isolation, Arbeitsstress) und damit die Möglichkeit geschaffen, sie zu bearbeiten, neue Erfahrungen zu ermöglichen. Handlungsfähigkeit kann dann begriffen werden als Überwindung der Beschränktheit individueller Lösungsmuster hin zu kollektiv zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben. Damit rückt die Gestaltung sozialer Beziehungen in den Mittelpunkt (10). Eine solche Therapie geht vom Individuum aus und endet bei ihm, sie ist humanistisch und emanzipatorisch und birgt ein Quäntchen Utopie, weil das Ende aller Geschichte noch lange nicht erreicht ist.

1 Vgl. Eicker-Wolf, Kai. Bürgerversicherung versus Kopfpauschalen. Zur Diskussion um die Reform der Gesetzlichen Krankenversiche-rung. In: Forum Wissenschaft 21/2004/2, pp. 49-53

2 Mobil und Sicher. Das Verkehrswachtmagazin. 52/2004/3, pp. 5 f.

3 Grellner, W. et al. Zur Straßenverkehrsdelinquenz durch psychotrope Substanzen bei Senioren in drei Regionen Deutschlands. Teil I: Alkohol. In: Blutalkohol 41/2004/2, pp. 105-116 Heinemann, A. et al. Zur Straßenverkehrsdelinquenz durch psychotrope Substanzen bei Senioren in drei Regionen Deutschlands. Teil II: Medikamente und Betäubungsmittel. In: Blutalkohol 41/2004/2, pp. 117-127

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4 Wild, C. In: Media Perspektiven. 35/2004/6, pp. 251-260

5 Ebenda. pp. 252 f.

6 In: Report Psychologie. 29/2004/4, pp. 225 f.

7 Statistisches Bundesamt. Bevölkerung Deutschlands bis 2050. 10. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung. Presseexemplar. Wiesbaden 2003

8 Das Risiko der späten Jahre. In: Süddeutsche Zeitung. 21.8.2004, p. 2

9 Leider gibt es keine genauen Daten über Fahrerlaubnisinhaber und Verkehrsauffälligkeiten.

10 Die Kritische Psychologie hat für diese Vorgehensweise den Begriff der "sozialen Selbstverständigung" geprägt.

Dipl.-Psych. Karl-Heinz Opper Verkehrspsychologische Beratungsstelle e.V. Moltkestr. 14 32756 Detmold Tel: 05231-300714 E-Mail: [email protected]

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Yvonne von Mutzenbecher & Rosemarie Butzmann

Ressourcenorientierte Therapie mit verkehrsauffälligen Kraftfahrern

1. Der Beginn einer jahrelangen Freundschaft

Bevor wir den Entschluss fassten, die Werkstatt Verkehrstherapie zu gründen, hatten wir schon jahrelang in den Arbeitsfeldern Nachschu-lungskurse für verkehrsauffällige Kraftfahrer und der Fahreignungs-Begutachtung gearbeitet. Wir hatten die teilweise erschöpfenden Folgen dieser Arbeit kennengelernt und wir beide waren auf der Suche nach neuen Wegen, wie diese Arbeit weniger zermürbend zu bewältigen und zu gestalten sein könnte.

Ungefähr im Jahr 1995 lernten wir einen jungen, ehrgeizigen Kollegen kennen, der gerade sein Psychologiestudium in Amerika beendet und dort G.A. Marlatt kennen und schätzen gelernt hatte. Er erzählte uns, dass Marlatt und Kollegen schon in den 80er Jahren mit neuen Therapie-konzepten für die Arbeit mit alkoholkranken Menschen in der amerikanischen Fachwelt für Aufregung gesorgt hatten.

Uns war von diesen Gesprächen - neben vielen interessanten Anregungen - ein Aspekt nachdrücklich in Erinnerung geblieben: Marlatt bezeichnete den oder die Rückfälle, die laut Statistik ganz offensichtlich zu jeder "Karriere" eines Alkoholkranken gehören, wie der Regen zu Hamburg, nicht mehr als Rück- sondern als Vorfälle. Damit provozierte Marlatt auch bei uns das erste Mal eine Drehung im Kopf: Das, was so unvermeidbar und daher als extrem problembeladen angesehen wurde, bewertete Marlatt als positiv. Er beschrieb den "Vorfall" als ein Ereignis, aus dem jeder Suchtkranke und sein Behandler mit neuen Erkenntnissen und wichtigen Informationen über Erfolg und Scheitern hervorgehen könnte.

Unser nächster Schritt, der zu den Büchern von De Shazer, Kim Berg, Scott Miller und anderen Autoren führte, war folgerichtig und setzte einen Lernprozess in Bewegung, der bis zum heutigen Tag andauert.

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Das Arbeiten mit dem ressourcen- oder lösungsorientiertem Ansatz hat sich als sehr entlastend herausgestellt. Er kann aber aus unserer jetzt mehrjährigen Erfahrung im täglichen Arbeitsalltag hinter der zur Gewohnheit gewordenen Routine des Starrens auf die Defizite schnell wieder verloren gehen.

Dieser "Vorfall" unsererseits in alte therapeutische Muster ist - bei Aufmerksamkeit für die eigene Befindlichkeit - auch am Grad der eigenen Erschöpfung zu erkennen. Der mühsame Versuch, sich selbst zum Experten für die Probleme des Anderen zu machen, führt unseres Erachtens häufiger zu den gefürchteten burn-out-Gefühlen als wenn es uns gelingt, unser Gegenüber als kreativ, kompetent und fähig zur Selbsthilfe zu sehen.

In diesem Zusammenhang ist eine Untersuchung erwähnenswert, in der es um den Therapieerfolg von Therapeuten geht: als signifikanter Parameter für den Therapieerfolg mit persönlichkeitsgestörten Delinquenten wurde der "Therapie - Optimismus" der Therapeuten festgestellt. Je mehr sie davon überzeugt waren, daß ihre Klienten in der Lage sind, künftig ein deliktfreies Leben zu führen, um so erfolgreicher war die Therapie. Demzufolge stellten sich die Therapeuten als weniger effektiv heraus, die an Entwicklungsmög-lichkeit und Veränderungsbereitschaft ihrer Klienten und damit an ihrem therapeutischen Erfolg zweifelten.

2. Theorie der ressourcenorienten Therapie

Zum besseren Verständnis der ressourcenorientierten Therapie ist es hilfreich, einige Grundannahmen zu verdeutlichen:

1. Eine erste Grundannahme liegt in der Überzeugung des Therapeu-ten, es mit einem auf vielen Gebieten intakten und lebensklugen Menschen zu tun zu haben, der in seinem Leben bereits viele Fähigkeiten entwickelt und Probleme gelöst hat. Die Annahme, es mit einem schwer gestörten Menschen zu tun zu haben, dessen Problematik nur durch eine tiefe, schwerwiegende Pathologie zu erklären ist, führt oftmals zu einer Festschreibung und Chronifizie-rung des Problems. In unserer therapeutischen Arbeit mit dem ressourcenorientierten Ansatz wird der Fokus vielmehr auf die "gesunden" Verhaltensmuster gelegt (z.B. wann schafft er es, keinen Alkohol zu trinken). Anstatt sich in die zähe und wenig erfolgver-

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sprechende Analyse seines Trinkens zu begeben, wird daran gearbeitet, wie kann er die Situationen des Nichttrinkens vermehrt herstellen.

2. Eine weitere Grundannahme besteht darin, dass es sinnvoll und unterstützend ist, den Klienten dahin zu führen, sich seiner Fähigkeiten, Ressourcen und "gesunden" Eigenschaften bewußt zu werden und diese als nächsten Schritt angemessen und gezielt einzusetzen. Vielen wird hier das berühmte Beispiel der Steinsuppe bereits bekannt sein, die schon ohne Zutaten nahrhaft und gut ist, die aber durch das Hinzutun von einigen Zwiebeln, Gewürzen etc. durchaus noch schmackhafter zu gestalten ist.

3. Bei unserer dritten Grundannahme vertrauen wir darauf, daß Veränderungen geradezu unvermeidlich sind, sie daher im therapeu-tischen Prozeß nur genutzt werden sollten. Ähnlich wie unter Punkt 1) wenden wir uns der Möglichkeit des Nichtauftretens eines Problems zu und nicht dem Auftreten eines Problems, dessen Dynamik dem Klienten bereits hinreichend bekannt ist.

4. Eine vierte Grundannahme beleuchtet unseren Blickwinkel als Therapeuten: die Frage nach dem "Woher" führt uns zwar zu vielen Informationen über Erfolge, Irrwege, Versuche, Verharren und Bewegungen des Klienten. Die Frage nach dem "Wohin" aber ermöglicht dem Klienten, sich sowohl mit den Zielen, Wünschen und Lösungsansätzen seines zugrundeliegenden Problems als auch mit seinen konkreten Fähigkeiten zu beschäftigen, um diese zu erreichen. Eine Gegenwarts- und Zukunftsorientierung ist in unserer Therapie der hilfreichere Ansatz als der Blick in die Vergangenheit.

5. Als fünfte Grundannahme läßt sich eine ressourcenorientierte Therapie nicht erfolgreich ohne eine wirkliche Kooperationsbereit-schaft durchführen. Gerade in den diversen Alkoholtherapien erschien bisher ein gehöriges Maß an Konfrontation ("Du mußt erkennen, daß Du zu viel trinkst") als heilsam; der Appell an den sonst eintretenden Ruin der Gesundheit hilfreich. Was aber kann der Therapeut tun, wenn gerade dieser Aspekt dem Klienten ziemlich "schnuppe" ist? Hier wird deutlich, daß nur die Kooperationsbereit-schaft von beiden Seiten weiterhilft. Erst, wenn Klient und Therapeut gemeinsam herausfinden, welche Ziele der Klient wirklich verfolgt, wird es auch möglich sein, einen Weg vom Alkohol weg zu beschreiten.

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6. Der Blickwinkel auf die Zeitachse beinhaltet bei der 6. Grundan-nahme die Frage nach den eigentlichen Zielen des Klienten. Oft ertappen wir uns in unserer Therapeutenrolle dabei, bei den von den Klienten genannten Problemen sehr schnell unsere Vorstellungen möglicher Lösungen und Ziele bereits parat zu haben. Dieser Versuchung sollten wir widerstehen: zum Glück stellt sich irgendwann heraus, daß der Klient meist andere Ziele hat, ob sie bereits deutlich geworden sind oder nicht. Ohne Zielformulierung gibt es eben auch nichts zu therapieren, gleichgültig, ob wir unsere Vorstellungen einbringen oder es dem Klienten überlassen, sie zu formulieren.

Wir fassen zusammen: Im Rahmen unserer ressourcenorientierten Therapie mit alkoholauffälligen Kraftfahrern liegt die "Konfrontati-on" darin, die Klienten zu ihren zwar vorhandenen aber meist verlorengegangenen Zielen, Wünschen und Sehnsüchten, ihren Ressourcen, Fähigkeiten, ihren Möglichkeiten zur Selbsthilfe und eigenen Kompetenzen zurückzuführen. Dieses therapeutische Vorgehen soll nicht heißen, dem Klienten wohlmeinend auf die Schulter zu klopfen nach dem Motto "Das wirst Du schon allein schaffen," es ist vielmehr ein genauer, immer wieder nachfragender und versichernder konkreter Behandlungsplan aufzustellen, der sich präzise an den individuellen Zielen und Fähigkeiten des Klienten orientiert.

Neugierde und die Kunst des Fragens hat sich hierbei als wesentlich sinnvoller erwiesen als das Dozieren und Vortragens des eigenen Wissens.

3. Unser Klientel

Aus den vielfältigen Untersuchungen zum Alkoholmißbrauch /Alkoholismus ist bekannt, dass sich hinter dem Symptom des mißbräuchlichen Trinkens verschiedene Störungsbilder verbergen.

Die am häufigsten auftretenden neurotischen Störungen sind depressive Verstimmungen, Zwangs- oder Angsteinstellungen sowie hysterische Einstellungen. Mit diesen Störungsbildern einhergehend ist in der Regel eine ausgeprägte Selbstwertproblematik zu diagnosti-

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zieren. Ein "kreativer" Ansatz der Klienten, diesem Gefühl der Wertlosigkeit zu begegnen, ist beispielsweise, sich als Opfer zu sehen oder ein überhöhtes Ich-Ideal zu entwickeln. Bei den oben beschrie-benen Störungsbildern kann auch Alkoholmissbrauch als ein wesentlicher Selbstheilungsversuch gesehen werden, der oft jahrelang verhindert, dass der innere Konflikt virulent wird.

Alkohol hilft dem Depressiven, dem Zwanghaften, dem Ängstlichen, dem Hysterischen:

- seine Stimmung aufzuhellen, - sich befreit zu fühlen, - die Zwänge zu mildern, - aus der Enge herauszukommen, - die Ängste zu reduzieren, - mutiger zu werden, - die hysterischen Tendenzen zu verstärken, - noch mehr auf der erwünschten Bühne - oder im Mittelpunkt zu stehen usw. usw..

Diese klassischen diagnostischen Begriffe wie Depression, Angstein-stellung usw., die wir benutzt haben, dienen in der Eingangsdiagnos-tik der ressourcenorientierten Arbeit als Orientierungshilfe und nur so erfüllen sie ihren Zweck. Keineswegs sollten sie als Festschreibung der Symptomatik dienen. Sie helfen uns im therapeutischen Prozess nicht wirklich weiter.

Der Verlust der Fahrerlaubnis lässt das mühsam aufgerichtete Kartenhaus zusammenfallen und der Klient befindet sich erneut in dem schwer zu ertragenden Spannungsfeld zwischen Wertlosigkeit und seinem Bemühen um narzistische Aufwertung. Das bisher erfolgreich verdrängte eigene Unvermögen wird jetzt durch den Verlust der Kontrolle über den Alkohol zumindest an diesem Punkt offensichtlich und als Demütigung erlebt. Hieraus läßt sich am ehesten die bei unserem Klientel zu beobachtende große Scham erklären. Als Bewältigungsstrategien dieser zugrundeliegenden Schamgefühle können die in der Regel sehr ausgeprägten Bagatellisie-rungs- und Verharmlosungstendenzen gesehen werden.

Der ressourcenorientierte Ansatz erschien uns daher aus folgenden Aspekten gerade für dieses Klientel sinnvoll:

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- Da sich unsere Klienten in der Situation des Verlustes der Fahrerlaubnis als gescheitert, als defizitär bewerten, fällt es ihnen außerordentlich schwer, auf ihre Fähigkeiten zu kreativen, zielorientierten und aktiven Lösungswegen zurückzugreifen. In der ressourcenorientierten therapeutischen Arbeit liegt der Schwerpunkt auf dem Wiederentdecken genau dieser Fähigkeiten. Wie oben beschrieben gehen wir von der Annahme aus, dass jeder Mensch seine ihm eigenen Möglichkeiten zur Problembewältigung besitzt. In der Verkehrstherapie gilt es, sich gemeinsam mit den Klienten auf die Suche nach den aus seiner Sicht nie besessenen oder verloren gegangenen Potentialen zu begeben. Stellen wir weiterhin die Defizite in den Vordergrund, sind wir in Gefahr, die Selbstbestra-fungstendenzen der Klienten fortzusetzen und die Widerstände zur Rettung des erhöhten Ich-Ideals zu verstärken.

Wir alle wissen aus Erfahrung, dass es sogenannte "Knackpunkte" in unserer Arbeit gibt, die man in den Nachschulungskonzepten durch Konfrontation zu lösen versucht.

Zu diesen schwierigen Themen kann u.a. - die präzise Analyse der genauen Trinkgewohnheiten vor dem Delikt, - die Einsicht in die Notwendigkeit einer radikalen Verände-rung im Umgang mit Alkohol und - die Erarbeitung der Trinkmotive gesehen werden.

Bei diesen Themen zeigt sich die Tendenz zur Verharmlosung und Bagatellisierung und die zugrundeliegende Scham besonders deutlich. Als Erfolg wurde gewertet, wenn sich der Kursteilnehmer rückhalt-los als Problemtrinker "outete" oder sich als jemand zu erkennen gab, der beispielsweise nicht die Fähigkeiten besessen hatte, seine krisenhafte Lebenssituation mit Tatkraft, Energie und Kreativität zu meistern, sondern die Flucht in den Alkohol und in die Isolation angetreten hatte.

Wir werden im Folgenden versuchen, anhand unseres Therapiekon-zeptes zu zeigen, wie diese "Knackpunkte" mit dem ressourcenorien-tierten Ansatz zu lösen sind, ohne den Klienten noch weiter zu beschämen, als er es ohnehin schon selbst macht.

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4. Konfrontation: Widerspruch oder Ergänzung zur Ressourcen-orientierung

Das Wort Konfrontation kommt laut Duden aus dem Lateinischen und bedeutet Gegenüberstellung.

Die Grundannahmen der ressourcenorientierten Therapie waren oder sind immer noch eine Konfrontation oder Gegenüberstellung, wenn man sie mit den herkömmlichen Therapiekonzepten in der Verkehrstherapie vergleicht:

Auf der einen Seite befindet sich der traditionelle Ansatz mit der Annahme:

Der Klient unterschätzt sein Problem

und auf der anderen Seite der ressourcenorientierte Ansatz mit der Annahme:

Der Klient unterschätzt sein Können.

Im ersten Fall steht auf der einen Seite der Klient mit seiner Neigung, das Problem zu unterschätzen, zu bagatellisieren, zu verleugnen; ihm gegenüber gestellt ist der Experte, der ihm im Idealfall beibringt, was er alles nicht weiß, nicht kann, nicht erkennt, was er falsch einschätzt usw., usw..

Im zweiten Fall steht auf der einen Seite der Klient mit seiner Neigung, sich abzuwerten, zu schämen, sich als gescheitert zu erleben und ihm gegenüber gestellt ist der Berater als Partner, der ihm hilft, seine Ziele zu formulieren, seine Fähigkeiten wieder zu entdecken, selbst initiierte Lösungswege zu finden und Selbstkontrol-le zu gewinnen.

Unseres Erachtens stellen beispielsweise die Fragen nach den Zielen des Klienten, die in unserem Konzept am Anfang der Therapie stehen, eine besonders wirkungsvolle Konfrontation dar. Wir implizieren bei diesen Fragen, daß der Klient bereits alle Fähigkeiten besitzt, dieses Ziel oder diese Ziele zu erreichen.

Zu unserer anfänglichen Verwunderung hat sich gezeigt, dass sich die formulierten Ziele in einem Rahmen bewegen, der sich als durchaus realisierbar und erreichbar herausstellt und auf dem Hintergrund der Biografie des Klienten immer einen Sinn ergibt.

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Hierbei können Fragen hilfreich sein, die beispielsweise lauten:

* Was möchten Sie erreichen? * Was wäre der erste kleine Schritt in Richtung dieses Zieles? * Woran würden Sie merken, auf dem richtigen Weg zu sein? * Woran würden Sie merken, daß Sie sich auf das Ziel zu bewegen? * Woran würden Sie merken, wenn Sie sich von dem Ziel weg bewegen? * Woran würden andere merken, wenn Sie sich auf das Ziel zu- bzw. davon weg bewegen? * Was würde man in einem Film "Damals - Heute" als Unterschied wahrnehmen? * Wie werden Sie herausbekommen, reif für eine Entscheidung zu sein? * Woran werden Sie bemerken, erfolgreich zu sein? * Welche Chance sehen Sie auf einer Skala von 1 bis 10, Ihr Ziel zu erreichen? * Wo auf dieser Skala befinden Sie sich jetzt? * Was können Sie tun, um auf dieser Skala von 3 auf eine 4 zu kommen? * Wodurch unterscheidet sich 3 von 6? Usw. usw.

So werden große, abstrakte Zukunftsvisionen in kleine sehr konkrete Teilziele zerlegt.

Das Ziel "Ich möchte im Lotto gewinnen", beginnt beispielsweise nach unserer Fragestellung mit dem ersten Teilschritt "Ich muss 5 Euro für einen Lottoschein verdienen".

Eine weitere Konfrontation kann darin liegen, dass wir uns mit den Klienten detailliert die Situationen betrachten, in denen er nie Alkohol getrunken hat. Hier liegt die Konfrontation darin, dass wir ihm zutrauen, sich immer wieder neu entscheiden und sein Verhalten ändern zu können. Erzählt uns der Klient beispielsweise, dass er nie Alkohol trinkt, wenn er mit seinen Kindern etwas unternimmt oder wenn er am nächsten Tag einen wichtigen Termin hat, so steht hinter dieser Entscheidung ein Selbstkonzept ("ich bin ein guter Vater oder ich bin ein zuverlässiger Arbeitnehmer"). Dieses Konzept hilft ihm, in bestimmten Situationen

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problemlos auf Alkohol verzichten zu können. Hier kann also das Selbstkonzept die Ressource sein, die er nutzen kann, um die Entdeckung zu machen, ich kann mich je nach Situation und Selbstbewertung aktiv entscheiden.

Daneben existieren auch Selbstkonzepte, die die Basis für das Alkoholtrinken bilden wie "Ich habe nur noch Frust und muss mal abschalten" oder das von der Werbung erfolgreich genutzte "Man gönnt sich ja sonst nichts". Ein Ziel der therapeutischen Arbeit ist es, diese sehr powervollen unbewußten Selbstkonzepte klarer hervortre-ten zu lassen und damit einer Überprüfung durch die Klienten zugänglich zu machen.

Dieser Blick auf die Situationen des Nichttrinkens macht unter anderem den in früheren Nachschulungskonzepten zentralen Baustein der Deliktanalyse, die explizit das Herausarbeiten der Defizite des Klienten zum Thema hatte, überflüssig.

Ein weiterer wichtiger Aspekt unserer Arbeit ist - wie Sie alle wissen - die Klärung mit unseren Klienten, dass sie unter bestimmten Voraussetzungen nur mit einer dauerhaften und möglichst auch noch zufriedenen Abstinenz eine Chance haben, den Führerschein wieder zu erlangen. Oft kommen sie mit dem Wunsch oder der Hoffnung zu uns, kontrolliert trinken zu können. Die aus unserer Sicht notwendige Abstinenz basiert also oft nicht auf einer freiwilligen Entscheidung. Wie können wir diese Situation, die Klienten mit dem Ausmass ihrer Alkoholproblematik und den weiteren Anforderun-gen bei einer medizinisch - psychologischen Untersuchung konfrontieren zu müssen, ressourcenorientiert gestalten?

1. Einerseits können wir den Klienten helfen, die zuvor erarbeiteten Ziele so attraktiv wie möglich zu gestalten, so dass die Abstinenzfor-derung als ein zwar schwerer aber notwendiger und machbarer Schritt in einer Kette von Einzelschritten und Teilzielen erscheint.

2. Andererseits können wir die Erfahrungen unserer Klienten nutzen, die sie schon früher mit den oftmals als Trinkpause deklarierten Abstinenzphasen gemacht haben. In diesen Situationen war es ihnen gelungen, ihre Selbstkonzepte wie beispielsweise ein oben zitiertes "Ich habe nur noch Frust und muß mal abschalten" in

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ein Konzept "Ich kann jederzeit mit dem Alkohol aufhören" zu verändern.

3. Für die Erarbeitung der Trinkmotive ergibt sich folgendes:

Sind die Ziele erst einmal ausreichend konkret erarbeitet und erste Schritte in Richtung dieser Ziele formuliert, so kann der Klient Erfahrungen mit seinen individuellen Ressourcen machen. In der Regel gelingt ihm, sie auszubauen, eventuell mit unserer Hilfe zu modifizieren und er ist später aufgrund dieser Erfahrungen in der Lage, den Veränderungsprozess auch in einer medizinisch-psychologischen Untersuchung in Worte zu fassen.

Last but not least

Ein Wort zum Samstag

Unsere augenblickliche Gesundheitspolitik zeichnet sich dadurch aus, dass immer kürzere und vermeintlich effektivere Therapie- und Behandlungsmethoden favorisiert werden. So wird beispielsweise ernsthaft darüber diskutiert, Patienten mit Angststörungen ausnahmslos an Verhaltenstherapeuten zu verweisen.

Hinter diesem an der Oberfläche verkauften "Zum Wohle der Patienten", ist mehr oder weniger deutlich das Interesse an der Kostenreduzierung zu erkennen.

Vor diesem Hintergrund erscheinen auch die ressourcenorientierten Kurzzeittherapien in einem ambivalenten Licht. Sie verlieren zwar in diesem gesellschaftspolitischen Kontext nicht an Bedeutung, es ist aber eine Situation entstanden, in der wir Therapeuten neben den Angeboten an lösungsorientierten Therapien mit wenigen Sitzungen auch die Berechtigung von tiefenpsychologisch fundierten und psychoanalytischen Ansätzen verteidigen müssen. In Zeiten, in denen unseren Patienten Angebote offeriert und Wunderheilungen versprochen werden, sie von ihren Phobien und Ängsten durch ein- oder zweimaliges Berühren bestimmter Energiepunkte zu heilen, sollten wir nachdrücklich unser Wissen verteidigen, dass wir es in unserer therapeutischen Praxis oft mit Patienten zu tun haben, die mit schwersten Krankheitsbildern zu uns kommen und oft jahrelanger Unterstützung und Förderung bedürfen.

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Einerseits ist die Erwartung an uns Therapeuten groß, dass wir uns dem gesellschaftliche Druck zur Kostensenkung anpassen. Anderer-seits hat auch der Klient den berechtigten Wunsch nach einer schnellen Problemlösung. Dieser doppelten Klammer zu widerste-hen, fällt nicht leicht. Das zeigen die unzähligen mehr oder weniger dubiosen Versprechungen auf schnelle Erfolge, mit denen wir auch in der Verkehrstherapie Bekanntschaft machen und die sich auf lange Sicht gesehen oft alles andere als kostensparend herausstellen.

Ich erlaube mir, einen kleinen, eher nebensächlichen Aspekt unseres Alltagslebens herauszugreifen, um einen Zusammenhang zu verdeutlichen. Augenblicklich sind Kinderwagen modern und werden massenhaft gekauft,

die das Kleinkind und die Mutter zwingen, auf den bei den alten Kinderkarrenmodellen möglichen Blickkontakt zu verzichten. So wird die vielleicht viel zu frühe Trennung und Selbständigkeit des Kindes gefördert und es erscheint uns nicht überinterpretiert, die gleichzeitig vehement propagierte Idee der Ich-AG als weitergedachte Konsequenz dieser scheinbar harmlosen Modeerscheinung zu sehen. Vor den knappen öffentlichen und privaten Haushaltskassen verändert sich die Solidargemeinschaft schleichend und der Slogan "Jeder ist seines Glückes Schmied" gewinnt zunehmend an Bedeutung. Inzwischen kann er schon als Forderung an jeden Bürger verstanden werden.

Was hat das mit unserem Thema zu tun, können Sie sich zu Recht fragen.

Dieser gesellschaftspolitische Hintergrund spielt unseres Erachtens insofern eine Rolle, als dass er eine schon länger bestehende Problematik noch einmal verschärft, die bei jedem missbräuchlichen Umgang mit Drogen, also auch mit Alkohol, eine Rolle spielt.

Neben vielen anderen Aspekten, auf die wir hier nicht eingehen wollen, können wir bei unseren Verkehrsklienten deutlich wahrnehmen, wie sich aus einem falschen Ideal der Selbständigkeit ein "Ich schaff das allein" entwickelt hat. Dieses überhöhte Ich-Ideal ist besonders bei Männern so sehr verinnerlicht, dass für eine gewisse Zeit nur noch der Alkohol als trügerischer Partner in ihrer Ich-AG zur Verfügung stand.

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In einem zugegebenermaßen idealistischen Sinne kann von daher die ressourcenorientierte Arbeit auch als ein Ansatz verstanden werden, die eigenen Fähigkeiten zu aktivieren, sich aus der Isolation und der Abhängigkeit zu befreien und sich rechtzeitig verlässliche Partner suchen zu lernen, unter anderem uns Verkehrspsychologen.

Wir danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Literaturliste:

Berg, Insoo Kim/Miller, Scott D. ,"Kurzzeitherapie bei Alkohol-problemen", Heidelberg, 1993

Berg, Insoo Kim/Miller, Scott D., "Die Wunder-Methode", Modernes Lernen Borgmann

De Shazer, Steve, "Wege der erfolgreichen Kurzzeitherapie", Klett-Cotta 1999

De Shazer, Steve, "Der Dreh"; Überraschende Wendungen und Lösungen in der Kurzzeittherapie, Heidelberg 1989, korr. Aufl. 1992

Peter Fiedler, "Ressourcenorientierte Psychotherapie bei Persönlich-keitsstörungen", Psychotherapeutenjournal 1/2004, S. 4 - 11

Joachim Körkel, "Der Rückfall des Suchtkranken", Springer Verlag 1992

Jalia A. Tucker, G.A. Marlatt, Dennis M. Donavan, "Changing Addictive Behavior", Guilford Press, U.S.

Dennis M. Donavan, G.A. Marlatt, "Assessment of Addictive Bahavior", New York, Guilford Publications

G.A. Marlatt, Judith Gordon, "Relapse Prevention: Maintenance Strategies in the Treatment od Addictive Beahviors", Gruilford Pres U.S.

Wolf-Detlef Rost , "Psychoanalyse des Alkoholismus", Klett-Cotta 1992

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Dipl.-Psych. Yvonne von Mutzenbecher Dipl.-Psych. Rosemarie Butzmann Werkstatt Verkehrstherapie Max-Brauer-Allee 45 22765 Hamburg Tel: 040-3905863/68 E-Mail: [email protected] www.werkstatt-verkehrstherapie.de

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Dr. Karl-Friedrich Voss

Die Ergebnisse der Befragung der Teilnehmer des 1. BNV-Kongresses 2004 in Kassel

Der Fragebogen, den J.M. SOHN entwickelt hat, besteht aus zwei Teilen, einen mit offenen Fragen (Teil II) und einen mit standardi-sierten (Teil I).

I. Der Fragebogen enthielt 13 standardisierte Gesichtspunkte der Kongresszufriedenheit:

(1) Kongressort (2) Tagungshotel (3) Information im Vorfeld des Kongresses (4) Zeitliche Struktur des Kongresses (5) Themen des Kongresses insgesamt (6) Auswahl der Referenten (7) Höhe des Teilnehmerbeitrags (8) Organisation auf dem Kongress (9) Die Atmosphäre auf dem Kongress (10) Praxisrelevanz der Referate (11) Wissenschaftliches Niveau der Referate (12) Didaktik der Referate (13) Der Kongress insgesamt

Diese Gesichtspunkte wurden umgeben von einer Feststellung (mit dem <Gesichtspunkt X> bin ich...Y zufrieden). Für Y sollte der Teilnehmer das Ausmaß seiner Zufriedenheit einsetzen. Dazu war eine 5-Punkt-Skala vorgegeben mit den Polen "sehr zufrieden" und "sehr unzufrieden".

Insgesamt haben 72 Teilnehmer den Fragebogen vollständig ausgefüllt und abgegeben. Zur Auswertung werden die Daten nach dem Gesichtspunkt (13) der Zufriedenheit mit dem Kongress insgesamt geordnet. Danach sind 23 Teilnehmer "sehr zufrieden", 36 Teilnehmer sind "fast zufrieden" und 10 sind "zufrieden" und 3 eher unzufrieden. Wirklich unzufrieden war keiner. Mithin sind über 80 % der Teilnehmer sehr zufrieden oder fast zufrieden. Den Daten zu den einzelnen Skalen wurden folgenden Zahlen zugeordnet.

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1 - Sehr zufrieden 2 - fast zufrieden 3 - zufrieden 4 - eher unzufrieden 5 - sehr unzufrieden

Zu jedem Gesichtspunkt wurden nun Mittelwerte errechnet, jeweils einen für drei Abstufungen der Zufriedenheit, die nennenswert vertreten waren. Bei den drei Teilnehmern, die eher nicht zufrieden waren, ist teilweise nicht klar, ob sie die Orientierung der Skala (links zufrieden, recht unzufrieden) richtig wahrgenommen haben, so dass die Daten von diesen drei Teilnehmern hier unberücksichtigt bleiben.

Die Zufriedenheit mit den einzelnen Gesichtspunkten des Kongres-ses (Mittelwerte), untergliedert nach dem Gesamteindruck der Befragten

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Zu den einzelnen Gesichtspunkten

1. Mit der Wahl des Kongressortes Kassel sind die meisten Teilneh-mer einverstanden. Zufriedene Teilnehmer sehen das nicht ganz so, aber sehr groß ist der Unterschied nicht zu den beiden anderen Gruppen.

2. Beim Tagungshotel ist Ergebnis ähnlich, wenn auch die Zufrie-denheit nicht ganz so stark ausgeprägt wie bei der Frage nach dem Ort des Kongresses.

3. Die Informationen im Vorfeld des Kongresses waren für alle, die mindestens fast zufrieden waren, offenbar mehr als ausreichend, während die übrigen hiervon deutlich abweichen. Vermutlich sind nicht alle Teilnehmergruppen in gleicher weise informiert worden.

4. Bei der zeitlichen Struktur des Kongresses treffen sich alle drei Gruppen etwa beim Wert 2 (fast zufrieden). Gemeint war hier offenbar der Beginn am späten Vormittag an einem Freitag, eine Übernachtung und die Fortsetzung der Tagung bis zum Nachmittag.

5. Bei den Themen des Kongresses gehen die Meinungen im Sinne der "Zufriedenheit insgesamt" weit auseinander.

6. Das Ergebnis aus Frage (5) gilt sinngemäß auch für die Auswahl der Referenten. Hier ist die Zufriedenheit allgemein schwächer ausgeprägt als bei Frage (5) nach der Auswahl der Themen des Kongresses.

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7. Die Höhe des Teilnehmerbeitrags trägt relativ wenig zur Zufriedenheit bei. Allerdings nimmt die Bereitschaft zur Akzeptanz der Höhe des Teilnehmerbeitrags mit der allgemeinen Zufriedenheit zu.

8. Von der Organisation des Kongresses sind die meisten Teilnehmer beeindruckt, wenn auch die Zufriedenen hier etwas zurückhaltend sind.

9. Mit der Atmosphäre auf dem Kongress ist es ähnlich wie bei Frage (8); offensichtlich konnten die "nur Zufriedenen" wenig damit anfangen.

10. Bei der Frage der Praxisrelevanz nähern sich die Urteile der "fast zufriedenen" denen der "nur Zufriedenen" an. Möglicherweise gibt es verschiedene Vorstellungen von Praxisrelevanz, die nicht gleicher-maßen erfüllt werden konnten.

11. das wissenschaftliche Niveau der Referate halten praktisch alle Teilnehmer für ausbaufähig. Dieser Ansicht sind besonders die "nur Zufriedenen", aber auch die anderen Teilnehmer sehen hier Handlungsbedarf.

12. In bezug auf die Didaktik der Referate sind sich fast alle Teilnehmer einig darin, dass die gebotene Didaktik relativ viel zur Unzufriedenheit beigetragen hat.

II. Der zweite Teil des Fragebogens enthielt drei Aufforderungen zur Abgabe von offenen Rückmeldungen:

Anzahl der Rückmeldungen

Gut gefallen hat mir: 25 Gestört hat mich: 20 Für das nächste Mal rege ich an: 19

Dieser Aufforderung sind 52 Teilnehmer gefolgt und 20 haben darauf verzichtet.

Zur besseren Übersicht werden die freien Rückmeldungen den schon vorgestellten Gesichtspunkten aus dem standardisierten Teil des Fragebogens zugeordnet.

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Insgesamt haben sich Teilnehmer 20mal zur Didaktik der Referate geäußert. Es folgen Themenvorschläge für den nächsten Kongress, und acht Bemerkungen werden zur Atmosphäre auf dem Kongress gemacht. Schließlich werden die Beiträge von sechs Referenten lobend erwähnt.

Im folgenden werden Rückmeldungen, geordnet nach der Liste oben dargestellt.

1. Kongressort Dazu gibt es keine Bemerkungen

2. Tagungshotel Einem Teilnehmer hat die Verpflegung und die Getränke gefallen; ein anderer beklagt sich über die "Unflexibilität des Hotelpersonals".

3. Information im Vorfeld des Kongresses Ein Teilnehmer hat eine geeignete Anfahrtskizze vermisst. Drei Teilnehmer wünschen eine Erhöhung der Stundenzahl, denn "die Fachgespräche in den Pausen und Abendstunden, während des Mittagessens, Frühstück bilden auch weiter"; mindestens 16 Std. möchte ein anderer attestiert haben. Ein Teilnehmer fragt, ob mit Einverständnis der Referenten die Referate im Mitgliederbereich der BNV- Seite (www.bnv.de) veröffentlicht werden können.

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4. Zeitliche Struktur des Kongresses Ein Teilnehmer lobt den straffen, gut geführten zeitlichen Rahmen; einem anderen hat der "2. Tag" gefallen, und einer schlägt vor, den 2. Kongresstag eine halbe Stunde später beginnen zu lassen.

5. Themen des Kongresses insgesamt Ein Teilnehmer beklagt sich über die graphische Darstellung der Themen. Elf Teilnehmer machen Vorschläge für den nächsten Kongress:

* Mit den Fahrerlaubnisbehörden ins Gespräch kommen * Die Fahrerlaubnisbehörden bzw. die Aufsicht sollten mehr einbezogen werden, FEB hatten keine Kenntnis vom Kongress * Referenten, Leiter und Mitarbeiter von Straßenverkehrsämtern einladen * Noch mehr Basisreferate, auch zu den theoretischen Strukturen der Verkehrspsychologie * Mischung von fachbezogenen und berufspolitischen Themen * Ausländer in der MPU * Kulturelle Unterschiede in bezug Trinkgewohnheiten, Trinkkultur * Einsatz eines notebooks/ Gesprächsführung in der MPU * Kulturelles Miteinander * Mehr zum Thema Betäubungsmittel * Auseinandersetzung mit Recht und europäische Ebene

6. Auswahl der Referenten

Sechs Teilnehmer haben die Vorträge von folgenden Autoren besonders gefallen: o Eröffnungsreden von Rothenberger und Sohn o Referate von Rüdiger Born, Sohn, Anita Müller, Ruth Sarah Born o Referat Ruth Sarah Born/ Hansen o Der Vortrag von Herrn Skulteti o Referenten aus den BfF's o Workshop mit Frau Müller

7. Höhe des Teilnehmerbeitrags Ein Teilnehmer hat eine seine Unzufriedenheit mit der Höhe des Tagungsbeitrags mit seinem Gesamteindruck (zufrieden) verbunden.

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8. Organisation auf dem Kongress Zwei Teilnehmer hat der "pünktliche Beginn der Veranstaltungen" gefallen und das Bemühen der Organisatoren, alles und alle "unter einen Hut" zu bringen.

9. Die Atmosphäre auf dem Kongress Dazu haben sich sieben Teilnehmer geäußert und damit folgendes hervorgehoben: * Humor bei Referenten/ Humor mit Substanz * Kollegialer Umgang und Austausch * Nette Leute * Austausch, das Essen, das Wetter, der Bergpark und neue Möglichkeiten * Positive Einstellung zum Kongress und die engagierte Teilnahme * Die Überschaubarkeit angesichts einer nicht zu grossen Teilneh-merzahl= gute Atmosphäre * die Offenheit des Kongresses Ein Teilnehmer regt für das nächste Mal ein gemeinsames Rahmen-programm an.

10. Praxisrelevanz der Referate Ein Teilnehmer hebt den "konstruktiven Austausch zwischen Gutachtern und Therapeuten" hervor; ein anderer betrachtet "die gemeinsame Diskussion mit Gutachtern auf der Grundlage klarer Aufgabentrennung" als nützlich. Ein Dritter sieht die Praxisrelevanz als wesentliches Merkmal des Programms.

11. Wissenschaftliches Niveau der Referate Ein Teilnehmer bescheinigt den Referenten "fachliche Kompetenz"; einem anderen ist aufgefallen, dass manche Referate das Thema nur bedingt erfasst hätten, z.B. der Beitrag zur Drogentherapie am Freitag sei wenig relevant gewesen. Schließlich wird der Beitrag zur Evaluation als eine "unkritische Selbstevaluation des BNV" angesehen.

12. Didaktik der Referate Elf Teilnehmer haben folgende Beobachtungen gestört: - Schlechte Akustik im großen Saal - Referenten zu leise - Zu wenig Zeit für die Vorträge der Referenten - Zu wenig Diskussionszeit

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- Zwischenfragen, andauernde Diskussionen innerhalb der Vorträge - Diskussionsdominanz der Macher (teilweise), Beispiel: Vielleicht sollte erst dem Publikum die Möglichkeit zur Nachfrage und Anmerkung gegeben werden, bevor ein BNV- Oberer das Wort ergreift. - Unterschiedliches didaktisches Niveau - Manchmal zu wenig Zeit zum Vertiefen einzelner Gedankengänge - Ablesen des Vortrags - 1/2 Std. Referat + 1/4 Std. Diskussion wäre besser - In einer persönlichen Situation (Abschied Herr Sohn) so auf die Zeit zu achten fand ich etwas blind, das braucht auch mal Zeit! Beim nächsten Mal sollte zur Förderung der Didaktik folgendes beachtet werden: * Mehr Kleingruppenarbeit; intensivere Diskussionsmöglichkeiten einzelner Themen bei mehr Zeit und kleineren Kreisen * Längere Zeitintervalle * Weitere Öffnung und Publikation der Kongressinhalte * Mikrofone!!! * Mehr Zeit für die einzelnen Vorträge einplanen * Längere Diskussionszeiten * stärkere Praxisrelevanz * An alle: weniger "Fusseln reden". Klarer, deutlicher und weniger drumrum reden

13. Der Kongress insgesamt Einem Teilnehmer ist "das Verhalten gegenüber anderen Berufs-gruppen als Psychologen, von der Führungsriege ausgehend" aufgefallen; ein anderer bringt mit dem Aufruf "Weiter so!" seine Zufriedenheit mit dem Kongress zum Ausdruck.

Die rege Beteiligung an dieser Fragbogenaktion und der große Anteil der Rückmeldungen im II. Teil des Fragebogens sprechen dafür, dass er eine wesentliche Informationsquelle für den nächsten BNV-Kongress sein kann.

An dieser Stelle sei allen Teilnehmern, die den Fragebogen ausgefüllt haben, für ihre Arbeit gedankt. Ein Dank geht auch an Isabell Schwarz, die im Rahmen ihres Praktikums an der Auswertung der

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Daten beteiligt war und an Jörg-Michael Sohn, der den Fragebogen konzipiert und hergestellt hat.

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Die Kongressorganisatoren

in alphabetischer Reihenfolge

Rüdiger Born, Hamburg

Ruth Sarah Born, Hamburg

Dr. Hans-Joachim Hellwig, Essen

Dr. Bernd P. Rothenberger, Esslingen

Jörg-Michael Sohn, Hamburg

Dr. Karl-Friedrich Voss, Hannover

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