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carte blanche 37 Casa Bola Begegnung mit einem Haus, Studienreise Brasilien, Mai 2014

carte blanche 37, Casa Bola

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Begegnung mit einem Haus, Studienreise Brasilien, Mai 2014

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Casa Bola Begegnung mit einem Haus, Studienreise Brasilien, Mai 2014

Nach einer Brasilien Studienreise könnte man zahllose Bilder zeigen zu Bauten, die allseits bestens bekannt sind, von Oskar Niemeyer, João Vilanova Artigas, Paulo Mendes da Rocha, Lina Bo Bardi und wie sie alle heissen, die Vertreter der brasilianischen Moderne und ihre Nachfolger. Bei uns - und offenbar auch sonst in der Welt - kaum wahrgenommen wurde bisher jedoch ein kleines Objekt mitten in Sao Paulo, lediglich 8 Meter in alle Richtungen messend, plaziert auf dem Dach einer anderen Baute. Es handelt sich um eine Wohnzelle, gedacht als Teil einer grösseren Wohnanlage, ein gebauter Prototyp, ganz ähnlich wie der «Pavillon de l‘ésprit nouveau» als Baustein für die «Immeubles villas» Le Corbusiers. Die «carte blanche» bietet nun die Gelegenheit, dieses Schmuckstück, erschaffen vom Archi-tekten Eduardo Longo, zu entdecken.

Rudolf Moser, Zürich 2015

Casa Bola Begegnung mit einem Haus, Studienreise Brasilien, Mai 2014

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Das Wohnhaus, welches der Architekt Eduardo Longo für sich und seine Familie in Sao Paulo gebaut hat, ist in einem lange dauernden Prozess entstanden, der nicht nur aufgrund des Ergebnisses sondern auch aufgrund der abenteuerlichen Entstehungsgeschichte wert ist, er-zählt zu werden.

Der Architekturstudent Eduardo Longo gründet im Alter von 19 Jahren zusammen mit Stu-dienkollegen 1961 ein Büro und schafft es bis zu seinem 29. Lebensjahr rund 30 Bauten zu realisieren. Er konstruiert nicht nur mit Beton wie die meisten seiner Kollegen der Escuela Paulista sondern verwendet auch viele andere Materialien und beschäftigt sich mit irregu-lären Formen. Seine Casa do Mar, erbaut 1964, wird 1967 in der Zeitschrift Domus publiziert.

1971 kauft Eduardo Longo ein Grundstück in Sao Paulo mit Anstoss an zwei parallele Stras-sen. Er baut darauf ein Haus für seine Familie und für sein Büro. Die beiden Hausteile besit-zen dreieckförmige Grundrisse und Schnitte und sind symmetrisch zueinander angeordnet. Das Büro erschliesst sich von der einen Strasse, das Wohnhaus von der anderen. Täglich fin-den in der Liegenschaft Happy Hours statt.

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In dieser Zeit löst das exzessive Leben beim erfolgsverwöhnten, erst 29-jährigen Architekten existenzielle Zweifel aus. Er fragt sich, welches Verhältnis zum Leben, zum Konsum und zum gebauten Raum er pflegt. Anstatt die Räume so zu interpretieren, wie es die gesellschaft-lichen Regeln vorgeben, versucht er sie zunehmend aus seinem rein persönlichen Empfinden heraus zu nutzen und zu transformieren. Er beschliesst, nicht mehr zu bauen, was Wirtschaft und Gesellschaft von ihm erwarten, sondern sich ausschliesslich an dem zu orientieren, wo-ran er selbst glaubt. Ziel ist es, die Ansprüche an den gebauten Raum zu reduzieren. Im Ein-klang mit diesen Vorgaben beginnt er, das eigene Haus zu transformieren.

Die Büroräume werden vermietet er. Mit seiner vierköpfigen Familie zieht er sich in den Mez-zanin des Wohnhauses zurück, wo lediglich 42 m2 Wohnfläche vorhanden sind, entfernt alle Trennwände und das Mobiliar aus dem Erdgeschoss und erklärt es zum öffentlichen Raum. Die Wände überzieht er mit einer psychedelisch anmutenden Malerei, um sie bald darauf mit ei-ner militärgrünen Farbe wieder zu übertünchen. Auch sein Porsche 914 erhält einen solchen Anstrich. In diesem Vorgang beschäftigt er sich mit der Bedeutung, welche den Dingen, die er besitzt, beigemessen wird. In seiner Radikalität entfernt er die WC-Schüssel und benutzt nur noch das Loch des Abflussrohrs im Boden.

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Auf der Heimkehr von einer Reise ans Meer, beim Betrachten der Bäume, kommt ihm die Idee von einer vorfabrizierten Wohnzelle, kugelförmig wie Baumkronen, hoch über dem Bo-den festgemacht an einer Trag- und Erschliessungsstruktur. Als Form verspricht die Kugel grösstmögliche Stabilität bei kleinstem Materialaufwand und geringer Masse. Nach seinen eigenen Angaben entwickelt er diese Idee unabhängig von den Entwürfen der Metabolisten, die er erst später kennenlernt.

Da keine Investoren auszumachen sind, welche ein solches Projekt realisieren wollen, be-schliesst er, selbst einen Prototypen zu bauen – auf dem Dach seines eigenen Hauses. Der Planungs- und Bauprozess dauert fünf Jahre von 1974 bis 1979. Gebaut wird im Wesentlichen mit Stahlrohren und Ferrozement und das alles im Selbstbau. Das Haus besitzt sechs Niveaus, drei Schlafzimmer mit Bädern, ein überhohes Wohnzimmer, ein Esszimmer, eine Küche und eine Waschküche. Die meisten Möbel werden wegen der ungewöhnlichen Geometrie der Räume fest eingebaut. Doch auch das bewegliche Mobiliar ist selbst entworfen und ausgeführt.Die Metamorphose des Baukonglomerats ist damit aber nicht abgeschossen.

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Gleichzeitig mit der Erstellung des Kugelhauses beginnt Eduardo Longo mit der Umgestaltung des Unterbaus zu einem Geschäftshaus mit Läden und Restaurant. Das Haus der ersten Gene-ration ist von Aussen nicht mehr zu erkennen. Etwas später erwirbt er noch ein Nachbargrund-stück. Im Erdgeschoss entsteht eine Parkgarage, auf dem Dach ein Garten mit Wasserbecken.

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Nun, es fasziniert nicht allein die Geschichte des Hauses, sein Architekt, Erbauer und Bewoh-ner, der uns mit seiner ausgedehnten Führung und einem stündigen, enthusiastisch vorgetra-genen Referat in seinen Bann zieht. Vor allem ist die Casa Bola (eigentlich weniger Haus als vielmehr Prototyp einer Wohnzelle für eine grösseren Struktur) letztlich ein ausserordentlich schönes, bewohnbares Objekt. Dies sollen die folgenden Bilder dokumentieren.

Von aussen sieht die Kugel recht bescheiden aus, entwickelt im Innern jedoch eine unerwar-tete Grosszügigkeit und räumliche Komplexität, die sich um die raffinierte Treppenanlage im Zentrum entwickelt. Der Innenausbau mit den fest eingebauten Möbeln verbindet sich formal perfekt mit der Hülle des Hauses, ohne seine Funktionalität dadurch zu verlieren. Küchenkom-bination, Tisch, Leuchten, Lichtschalter: Alles ist eigens für den Bau entworfen. Die Machart (Stahlrohre und Ferrozement) definieren die Form und den Ausdruck. Assoziationen zu Gaudi oder biomechanischen Objekten eines H.R.Gigers klingen bei mir an. Darüber hinaus gibt es überall surreale und humoristische Details zu entdecken, die sich ganz selbstverständlich und beiläufig ins Ganze einfügen: Die Physiognomien in der Fassade, die gelbe <Zunge> (ur-sprünglich Rutschbahn, bei unserem Besuch in einen Brunnen umgewandelt), die Leuchte mit den <Stielaugen> (oder sind es die Fühler eines Käfers?), die Leder-<Pfoten> der Stahl-möbel, welche den Boden vor Kratzern schützen... Das Haus besitzt eine zeitlose Schönheit, die einem gelegentlich glauben lässt, man sei in eine Science-Fiction-Welt geraten. Erst der Anblick der Waschmaschine oder des (diskret weiss verhüllten) Flachbild-TV’s macht wieder klar, in welcher Zeit wir zuhause sind.

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Vielen der Reiseteilnehmer wird das kleine Haus in Sao Paulo lebhafter in Erinnerung bleiben als viele der grossen, berühmten (und ausserordentlich schönen) Bauten der <Escuela Pauli-sta>, die wir aus Architekturbüchern bereits lange vor der Reise kannten. Es scheint, wir tei-len diese Erfahrung mit Rem Koolhaas , der – wie wir nachträglich erfahren haben - das Haus 2011 zusammen mit Gabriel Kogan und Hans Ulrich Obrist besucht hat. Es handle sich um eine der stärksten architektonischen Erfahrungen seines Lebens, soll er sich geäussert haben...

Danksagung

Zu besonderem Dank verpflichtet sind wir Reisenden Eduardo Longo, der uns sein Haus ge-öffnet und seine Absichten in einem Referat erläutert hat. Freundlicherweise hat er mir auch die abgebildeten Pläne und einen Zeitungsartikel zur Verfügung gestellt (Folha de S.Paulo domingo, 10 de dezembro de 2013, Viagem à roda de uma casa, Gabriel Kogan) zum Buch <Sobre Bolas e outros Projetos, Eduardo Longo Arquiteto>, Fernando Sarapião, Editora Pa-ralaxe, 2013). Weiter bedanke ich mich bei meinen Mitdozenten Raul Mera und Kim Sney-ders, die zusammen mit der in der Schweiz lebenden brasilianischen Architektin Andrea Lan-dell die Reise organisiert haben. Zudem hat Andrea Landell mir eine mündliche Übersetzung des Zeitungsartikels aus der portugiesischen Sprache geliefert. Die Studentin Vanessa Rocha schliesslich hat mir erlaubt, die Widmung, welche Eduardo Longo in ihren Reiseführer ge-zeichnet hat, abzubilden.

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Eduardo Longo

1942 * 1961- 65 Studium der Architektur an der Faculdade de Arquitectura Mackenzie1961 erstes Büro zusammen mit Studienkollegen1964 Casa do Mar, 1967 publiziert in Domusbis 1971 ca. 30 realisierte Bauten, vor allem Wohnhäuserab 1967 Einbezug der Anliegen der Contracultura Bewegung 1970 Sinnkrise und Veränderungen der eigenen Lebensgewohnheiten; Etablierung einer neuen Architekturauffassung; nur noch wenige realisierte Bauten1973-82 Konzepte für kompakte, vorfabrizierte Wohnzellen in grösseren Strukturen1974-75 Casa Bola als Prototyp einer Wohnzelle, Realisierung im Selbstbau 1980 Casa Bola Rua Gália, São Paulo1990 Casa C. Berna, letztes realisiertes Wohnhaus ab 1995 diverse städtebauliche Studien und Studien zum öffentlichen Raum2007 Buch «Sobre Bolas e outros Projetos, Eduardo Longo Arquiteto», Fernando Sarapião, Editora Paralaxe

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Abbildungsverzeichnis

Seite 2 - 3 Rudolf MoserSeite 4 - 8 www.eduardolongo.comSeite 9 - 43 Rudolf MoserSeite 44 - 48 Pläne freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Eduardo LongoSeite 49 aus dem Reiseführer der Studentin Vanessa Rocha mit Widmung von Eduardo LongoSeite 50 Rudolf MoserSeite 51 www.eduardolongo.com

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carte blancheIdee dieser Schriftenreihe ist, persönliche Vorlieben von Mitarbeitern der Bauschule einem engeren und weiteren Publikum bekannt zu machen. Die Verantwortlichen publizieren im Rahmen einer vorgegebenen Struktur ihre Beiträge. 12 Exemplare werden als Farbkopien ausgedruckt, zwei gehen in die Bibliothek, die übrigen werden signiert und verteilt. Die Dokumentation wird dann als pdf-Datei auf dem Server öffentlich zugänglich gemacht. c.b. erscheint 4-mal im Jahr.

c.b. 1: Interieurs – Skizzen von Stephan Mäder, Januar 2007c.b. 2: ... da und dort – Fotos von Stephan Mäder, Juli 2007c.b. 3: Aquarium, Einbau in der Halle 180, Oktober 2007c.b. 4: Exterieurs – Skizzen von Stephan Mäder, Dezember 2007c.b. 5: Master of Arts ZFH in Architektur, Januar 2008c.b. 6: Druckgraphiken – Abzüge in Ätzverfahren von Stephan Mäder, April 2008c.b. 7: Neues aus Berlin – Studentenarbeiten und Bilder aus dem Jahr 2007, Juni 2008c.b. 8: Halle 180 – Architekturschule in einer Industriehalle, Oktober 2008c.b. 9: alte Sachen – Stephan Mäder, März 2009c.b. 10: entsorgte Modelle – Mäder + Mächler, Juli 2009c.b. 11: Vorträge «Blauer Montag» – Hubert Mäderc.b. 12: aus einem Weissbuch – Stephan Mäder, November 2009c.b. 13: Libro Nero – Meine Skizzen zu Vorlesungen im Entwurfsunterricht – Peter Quarella, Januar 2010c.b. 14: BCN–Alongside Pere IV – 54 Students–4 Teachers–16 Weeks–Summer 2009, Februar 2010c.b. 15: Extra muros, Bilder von Studienreisen – Stephan Mäder, Juni 2010c.b. 16: Köln–Nordrhein-Westfalen, Dozentenreise 2010 – Toni Winiger, September 2010c.b. 17: Chioggia–Isola dei Cantieri, Das Wesen des Wohnens, Januar 2011c.b. 18: Kvarner Bucht, Kroatien – Stephan Mäder, März 2011c.b. 19: Transformation – Paul Bürki, November 2011c.b. 20: Sofia, Bulgarien – Peter Jenni, Dezember 2011c.b. 21: Japan, Studienreise der HSZ–T – Rudolf Moser, März 2012c.b. 22: 13 ’ manthan [west] – Beat Consoni, Juli 2012c.b. 23: Lange Häuser, 25 lange und ein hohes – Stephan Mäder, Oktober 2012c.b. 24 a/b: Konstruiert ?/ Mathematik verbindet, Doppelnummer – Karl Weber / Martin Huber, Dezember 2012c.b. 25: Vortragsreihe ... «Blauer Montag» – Hubert Mäder, März 2013c.b. 26: Entwerfen im Modell – ARB12 Plenum / Herbstsemester12, Juli 2013c.b. 27: … dort und da – Fotos von Stephan Mäder, September 2013c.b. 28: Eine Reise in den Osten, Orlová – Illnau-Effretikon – Hansruedi Preisig, Dezember 2013c.b. 29: Bergell, Studienreise Dozenten Juni 2013 – Rudolf Moser, März 2014c.b. 30: Belgrad, Eine Studienreise – Tom Weiss, April 2014c.b. 31: Die Kunst des Lernens, Unterrichtsfazit 2004–2013 – Karl Weber / Martin Huber, Mai 2014c.b. 32: Terra incognita, Was tut ein Verkehrsplaner und wieso ? – Jürg Dietiker, August 2014c.b. 33: UPV-ETSAV, Proyectos – Juan Deltell Pastor / Clara Mejía Vallejo, September 2014c.b. 34: still, 12 Fotografien von Heinrich Helfenstein – Heinrich Helfenstein, Januar 2015c.b. 35: Snapshots, Seminarwoche und Langer Tisch HS14 – Oya Atalay Franck, März 2015c.b. 36: „0“, Sabbatical HS2014, Andreas Hofer – Andreas Hofer, April 2015c.b. 37: Casa Bola, Begegnung mit einem Haus, Studienreise Brasilien, 2014 – Rudolf Moser, Mai 2015

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ImpressumHerausgeber: ZHAW Departement Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen Redaktion: Rudolf MoserFotos: Rudolf MoserDruck: CLC, Auflage: 12 ExemplarePublikation: pdf-Datei auf Server: www.archbau.zhaw.ch

Ausgabe: 37 - Mai 2015 | V2