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Claus Pias Der Auftrag Kybernetik und Revolution in Chile »Wie erfüllt man einen unbekannten Auftrag.« (Heiner Müller) In jener ebenso zufälligen wie schicksalhaften Weise, wie sie allen kalendari- schen Daten eigen ist, fällt diese Tagung über »Politiken der Medien« mit einem Jubiläum zusammen, das exemplarisch vom Scheitern und vom Erfolg, vor allem aber von den Ambitionen politischer Steuerung durch avancierte Medientech- nologien erzählt. Genau dreißig Jahre nämlich liegen jene Ereignisse in Chile zurück, von denen derzeit die Feuilletons und Fernsehprogramme voll sind: der Putsch Pinochets und die unrühmliche Rolle der CIA, der Selbstmord Salvador Allendes und die vielen enttäuschten Hoffnungen. Grund genug also, hier und heute eine andere und unbekannte Geschichte dieser Revolution zu erzählen – eine Geschichte aus der Perspektive der elektronischen Medien und das heißt, eine Geschichte des Zusammentreffens von Revolution, Chile und Kybernetik. 1 Es mag sein, dass diese Begebenheiten sich »wie das Gekräusel von Wellen in den Strömungen anderer Grundentscheidungen« verlieren, wie Stafford Beer, der Held dieser Erzählung, später einmal schrieb (Beer 1962: 166). Dennoch zeichnet sich in ihnen eine Revolutionierung von Revolutionen selbst durch neue Medien ab – eine Umwälzung, die an ihrem Gipfel das Ende ihrer selbst denkt und zum Menetekel für die Zukunft der Revolutionen wird. I. Die Regierung der Kybernetik Die Geschichte des Scheiterns der Kybernetik ist so alt wie diese selbst, nur dass die Götter wechseln. In der Antike, als die Kybernetik sehr konkret die Steuer- mannskunst bezeichnete, war Palinurus, der Steuermann des Æneas, ihr wohl berühmtester Vertreter. Allerdings ist sein Schicksal nur zum Teil eine Empfeh- lung, denn »Palinurus war in einem Sturm, den ihm die Götter schickten, während er das Schiff lenkte, auf mysteriöse Weise ins Meer gestürzt. Morpheus hatte zuvor seine Augen mit einigen Tropfen vom Wasser der Lethe benetzt und dadurch bewirkt, daß er während des Steuerns vom Schlaf übermannt und von den Wellen über Bord gespült wurde. Æneas stieg später in den Hades hinab und begegnete dort Palinurus wieder. Er befragte ihn über Einzelheiten des Unfalls und erfuhr, daß sein damaliger Steuermann zum Augenblick des Unglücks den Ruderbaum fest umklammert und bei seinem Sturz ins Meer das Ruder 1. Dieser Text bezieht sich nur auf das wenige publizierte Material. Sebastian Vehlken (Bochum) wird im Sommer 2004 eine Magisterarbeit vorlegen, die viele zusätzliche Quellen erschlossen und Zeitzeugen befragt hat.

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Claus Pias

Der AuftragKybernetik und Revolution in Chile

»Wie erfüllt man einen unbekannten Auftrag.« (Heiner Müller)

In jener ebenso zufälligen wie schicksalhaften Weise, wie sie allen kalendari-schen Daten eigen ist, fällt diese Tagung über »Politiken der Medien« mit einemJubiläum zusammen, das exemplarisch vom Scheitern und vom Erfolg, vor allemaber von den Ambitionen politischer Steuerung durch avancierte Medientech-nologien erzählt. Genau dreißig Jahre nämlich liegen jene Ereignisse in Chilezurück, von denen derzeit die Feuilletons und Fernsehprogramme voll sind: derPutsch Pinochets und die unrühmliche Rolle der CIA, der Selbstmord SalvadorAllendes und die vielen enttäuschten Hoffnungen. Grund genug also, hier undheute eine andere und unbekannte Geschichte dieser Revolution zu erzählen –eine Geschichte aus der Perspektive der elektronischen Medien und das heißt,eine Geschichte des Zusammentreffens von Revolution, Chile und Kybernetik.1

Es mag sein, dass diese Begebenheiten sich »wie das Gekräusel von Wellen inden Strömungen anderer Grundentscheidungen« verlieren, wie Stafford Beer,der Held dieser Erzählung, später einmal schrieb (Beer 1962: 166). Dennochzeichnet sich in ihnen eine Revolutionierung von Revolutionen selbst durchneue Medien ab – eine Umwälzung, die an ihrem Gipfel das Ende ihrer selbstdenkt und zum Menetekel für die Zukunft der Revolutionen wird.

I. Die Regierung der Kybernetik

Die Geschichte des Scheiterns der Kybernetik ist so alt wie diese selbst, nur dassdie Götter wechseln. In der Antike, als die Kybernetik sehr konkret die Steuer-mannskunst bezeichnete, war Palinurus, der Steuermann des Æneas, ihr wohlberühmtester Vertreter. Allerdings ist sein Schicksal nur zum Teil eine Empfeh-lung, denn »Palinurus war in einem Sturm, den ihm die Götter schickten, während er das Schiff

lenkte, auf mysteriöse Weise ins Meer gestürzt. Morpheus hatte zuvor seine Augen miteinigen Tropfen vom Wasser der Lethe benetzt und dadurch bewirkt, daß er während desSteuerns vom Schlaf übermannt und von den Wellen über Bord gespült wurde. Æneasstieg später in den Hades hinab und begegnete dort Palinurus wieder. Er befragte ihn überEinzelheiten des Unfalls und erfuhr, daß sein damaliger Steuermann zum Augenblick desUnglücks den Ruderbaum fest umklammert und bei seinem Sturz ins Meer das Ruder

1. Dieser Text bezieht sich nur auf das wenige publizierte Material. Sebastian Vehlken(Bochum) wird im Sommer 2004 eine Magisterarbeit vorlegen, die viele zusätzliche Quellenerschlossen und Zeitzeugen befragt hat.

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und einen Teil der Reling mitgerissen hatte. Außerdem erklärte Palinurus, daß der vonden Göttern gegen ihn gerichtete Anschlag nicht das Ziel verfolgt hatte, die von Apollonergangene Weissagung zu vereiteln, die besagte, daß Æneas unbeschadet sein Ziel errei-chen sollte.« (Mühlmann 1998: 106)Diese Episode ist schon deshalb erinnernswert, weil sie besagt, dass man den

Steuermann umbringen muss, um ans Ziel zu kommen. Ein Ziel von größterpolitischer Bedeutung übrigens, denn das Schicksal des Æneas ist geradezu iden-tisch mit dem Schicksal Roms, das wiederum das Schicksal der Welt ist. Umsobemerkenswerter also, dass erst einmal der beste Steuermann scheitern muss, umden weiteren Verlauf der Ereignisse zum Erfolg zu führen. Oder, mit den Wor-ten Heiner Mühlmanns: »Palinurus’ Sturz ins Meer ist die Geschichte von derSteuerungskunst, die den günstigsten Verlauf der Entwicklung gefährdet unddeshalb eliminiert werden muss.« (a.a.O.: 108) So jedenfalls ist es um die Kyber-netik in einem Zeitalter bestellt, in dem die Götter noch eine Geschichte plan-ten, die nicht über Kontingenz ausgesteuert wird. Darüber hinaus hat die Geschichte des Palinurus selbstredend eine technikhis-

torische Hälfte, angesichts derer sich Peter Galisons Diktum von der »Ontologiedes Feindes« (Galison 2001) schon gut zwei Jahrtausende früher bewahrheitet.Mit Kriegsschiffen vom Typus der Triere war es nämlich dem antiken Athenmöglich geworden, seine Hegemonie im östlichen Mittelmeer zu errichten unddamit eine Ahnung davon zu vermitteln, was »eine agressive Marktwirtschaft […] zu leisten vermag. […] Der taktisch operative Ein-

satz der Triere setzte von Steuermann und Kommandanten die Beachtung mehrererVariablen voraus: Es mußte, abgestimmt auf die Handlungen eines intelligenten Feindes,die Leistungsfähigkeit des eigenen Schiffes kalkuliert werden, um jenen Punkt anzusteu-ern, an dem das feindliche Schiff mit dem Rammsporn am Bug getroffen werden konnte.Das Schiff war also ein gelenktes Projektil, vom kybernetes in den Feind gesteuert. Dieäußerst wichtige Variable Geschwindigkeit des Schiffes hing im wesentlichen von der Trok-kenheit des Rumpfes und von der Ermüdung der Mannschaft ab, die vor dem Rammstoßeine möglichst hohe Beschleunigung des Schiffes zu errudern hatte. Man wird also eine ge-wisse Ähnlichkeit mit dem Problem von Norbert Wiener entdecken, welcher versuchte dasProjektil einer Luftabwehrkanone an den Punkt zu steuern, wo es das feindliche Flugzeugtreffen würde. Insofern auch er mit einem intelligenten Feind rechnen mußte, welcher alsPilot versuchte, dem Flakfeuer durch Änderung des Flugverhaltens auszuweichen und alsoden Rechner der Flak nötigte, Richtung und allenfalls auch Detonationszeit des Projektilsentsprechend zu ändern. Ähnlich mußte der kybernetes einer Triere seine Steuerung denAusweichmanövern des feindlichen Schiffes anpassen, um es möglichst mitschiffs zutreffen.« (Pircher 2004).Vor allem aber sollte man sich im Blick auf die Ereignisse in Chile daran erin-

nern, dass Kybernetik eben nicht nur Mythologie und Technikgeschichte, son-dern Politik selbst ist – wenn auch unter historisch wechselnden Technologien.Seit Platons Politeia heißt Politik die »Kybernetik des Menschen«, und seit Aris-toteles’ Politika bedeutet Kybernetik schlicht die göttliche Weltregierung. DasChristentum verschmilzt dann gewissermaßen Gottesmacht mit Militärwissen,wenn Christus als »Kybernet« nicht nur Regent, sondern zugleich auch Steuer-

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Der Ablaufplan zur kybernetischen Rettung Chiles durch das Projekt »Cybersyn«

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mann ist, der das Schiff der Christenheit sicher über den stürmischen Ozean steu-ert, wie der Kirchenvater Hippolyt schreibt. Eine göttliche Intervention wie beiden Palinurus’schen Steuerungen kann also fortan entfallen, denn wer GottesNachfolge antritt, wird immer auch selbst zum Kybernetiker. So rechnet derErste Korintherbrief die Gemeindeleitung, die »Kybernesis« also, zu den Gna-dengaben Gottes, und Thomas von Aquin wird die gute Regierung eines gutenRegenten folgerichtig gubernatio nennen. So oder so ähnlich jedenfalls ist diekybernetische Tätigkeit als jene politische Tätigkeit in die Neuzeit gekommen,als die sie sich noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei dem französi-schen Elektrophysiker André-Marie Ampère findet. Bei diesem nämlich über-nimmt der Staat die Funktion eines allgemeinen Regulators und die Kybernetikwiederum die Zuständigkeit für ein Feld, das eine Gesamtheit von Regierungs-aufgaben versammelt. Dazu gehört etwa die Erhaltung öffentlicher Ordnung, dieVerwaltung der Individuen und die Optimierung ihres Verkehrs. Dabei sind esdrei Aspekte, die diese cybernétique zur ›allgemeinen Steuerungs- bzw. Regie-rungskunst‹ (art de gouverner en général) machen. »So zielt sie erstens auf eine umfangreiche Erhebung von Wissen, mit dem sich der Staat

als Datenbank für die Besonderheiten eines Landes, seiner Bevölkerung und der komple-xen Relationen von Menschen und Dingen definiert. Jede Regierungskunst beruht dem-nach auf einem Informationssystem und verfolgt den Ausbau eines politischen Wissens, indem sich eine Art Selbsterkenntnis des Staates manifestiert. Zweitens ist Ampères Kyber-netik eine Interventionsform, eine Aktions- und Reaktionsweise, mit der man Störungenbeseitigt und Verbesserungen verfolgt. Dabei geht es weniger um Rechtsprechung undSanktion als um jenes indirekte Regieren, mit dem der Staat den Austausch und die Lageder Leute ordnet und organisiert. Drittens schließlich ist das Maß dieser Lenkung durchdie Koordinate eines Wohlstands gegeben, an der sich die ›allgemeinen Verhaltensregeln‹(règles générales de conduite) des Staates orientieren. Eine ruhelose behördliche Aufmerk-samkeit (attention) verbindet sich hier mit der Idee einer kontinuierlichen Steuerung unddiese wiederum mit einem Kurs, der sich auf die Einhaltung eines individuellen wie allge-meinen Wohls – was immer das sei – verpflichtet.« (Vogl 2004)Die ›modernen‹ Cybernetics erster Ordnung, die kurz nach dem Zweiten Welt-

krieg entstanden, verstanden sich selbst (ihre lange politische Geschichte anfangseher vernachlässigend) als Schwelle einer neuen Epoche unter ganz anderen Vor-zeichen. In der Zusammenführung von Neurologie und Computerbau, vonInformations- und Feedbacktheorien träumte diese neue Kybernetik zwei Jahr-zehnte lang einen Versöhnungstraum, dessen treuer Sohn die Artificial Intelli-gence und dessen verlorener vielleicht die Informatik ist. Ihr großes Experimentbegann damit, die ontologische Trennung zwischen Lebewesen und Maschinenauszulösen und beide in einer weiteren, ›metatechnischen Sphäre‹ (Max Bense)des Seins wieder zu finden. Von hier aus sollten sich die universalwissenschaft-lichen Ansprüche der Kybernetik entspinnen, eine gemeinsame Theorie derRegulation, Steuerung und Kontrolle zu entwickeln, die für Lebewesen ebensowie für Maschinen, für ökonomische ebenso wie für psychische Prozesse, fürsoziologische ebenso wie für ästhetische Phänomene zu gelten beanspruchte. Eswar ein epistemologisches Experiment, das die notorischen Grenzen zwischen

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Geistes- und Naturwissenschaften, Philosophie und Technik, Gestaltung undTheorie überwinden sollte, und so blieb in den tausenden Publikationen bisAnfang der 1970er Jahre kein Wissensbereich unberührt von der Kybernetik. Andiesen Visionen von gestern, irgendwo zwischen science fiction und science fact, lässtsich ablesen, was diese Zeit der Kybernetik einmal geträumt hat. Während jedoch die Diskrepanz zwischen Steuerungsphantasien und ihrer

technisch-materiellen Gestaltung immer größer wurde und während die west-lichen Technologien schon aufgehört hatten, die kybernetische Poesie zu skan-dieren und stattdessen eine prosaische Informatik gegründet hatten (Coy 2004),sollte Chile diese Phantasien konkret besetzen. Unsere eigenen Träume sollten,exportiert in eine ferne Welt, als Realfiktion enden.

II. Leben und Überleben

Stafford Beer, der Held der folgenden Erzählung, wurde am 25.9.1926 als Sohneines britischen Statistikers geboren. Er studierte während des Krieges Psycho-logie und Philosophie in London, war kurz nach dem Krieg im Rang eines Cap-tain in Indien als Armeepsychologe tätig und begann danach seine steile Karriereals Industrieberater. Beer, der 2002 verstarb, war eine jener Gestalten, die dazutaugten, die wissenschaftliche Phantasie der 50er und 60er Jahre zu beflügeln –eine Figur ›larger than life‹, wie es in einem Nachruf heißen sollte. Als Mischungzwischen sozialistischem Dandy und schwärmerischem Ingenieur reiste er durchGroßbritannien, Jugoslawien, Israel oder Südafrika, rationalisierte dort Stahl-und Werft- oder Eisenbahnbetriebe, malte nebenbei in Öl und dichtete unsterb-liche Zeilen wie das Lied von der Kosten-Nutzen-Rechnung. Beer gründete und lei-tete Mitte der 50er Jahre das weltgrößte zivile Operations-Research-Institut undprogrammierte als Erster einen Computer (einen Ferranti Pegasus) für Manage-mentprobleme. In den 60er Jahren war er Entwicklungschef der InternationalPublishing Corporation (IPC), des damals weltgrößten Verlagskonsortiums. SeineForschungsabteilung stellte eines der ersten computerisierten Satzsysteme vorund beschäftigte sich bereits mit Telepublishing und Telemessaging (Compu-taprint Ltd.). 1966 entwickelte er das Stockbroker Computer Answering Network(SCAN), den ersten kommerziellen Datendienst, der mehr als 100 Börsenmaklerin England über Computerterminals verband und nannte dies (Jahrzehnte vorAl Gore) einen »Data Highway«. Über seine Firma SIGMA (Science in GeneralManagement) war er als Industrialisierungsberater in Mexico, Uruguay und Vene-zuela tätig – und eben in Chile. Als Salvador Allende dort 1970 Präsident wurde, war die Lage bekanntermaßen

kritisch. Eine Agrarreform erlaubte keinen Grundbesitz von mehr als 80 Hektarund Großgrundbetriebe wurden in Genossenschaften umgewandelt. Die Ge-schwindigkeit der politischen Veränderungen hatte die Bevölkerung unruhiggemacht: Banken wurden verstaatlicht, die lokale Bürokratie arbeitete schlep-pend und unsicher, Lebensmittelknappheiten entstanden, ausländische Anleger

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und hoch qualifizierte Arbeiter verließen das Land, Terrorgerüchte breiteten sichaus, ein Run auf die Rücklagen begann, die Uhr der Inflation tickte. Hinzu kameine Import-Blockade für Maschinenteile, die Landwirtschaft, Industrie undTransportwesen traf, und eine Export-Blockade für Kupfer, das vormals 80% desAußenhandelsumsatzes ausmachte. Allendes Koalition hatte nur 36% und war insich uneins, so dass nahezu jede Entscheidung in Senat und Kongress verhindertwerden konnte. Es herrschte also eine extrem instabile politisch-ökonomischeLage, die genau wegen ihrer Labilität ausgezeichnet für eine kybernetische Inter-vention geeignet schien. Es bedurfte gewissermaßen einer Revolution, die dieRevolution beendet. Und so schrieb Fernando Flores, Präsident des InstitutoTechnológico de Chile, selbst Kybernetiker, Professor für »Management Science«an der Universität von Santiago und späterer Wirtschaftsminister, im Sommer1971 einen Brief an Stafford Beer, der der Einladung folgte und Anfang Novem-ber in Santiago eintraf. Binnen weniger Tage war man sich einig, dass ein »fried-licher Weg zum Sozialismus« (Beer 1981: 248)2 nur in der kybernetischenSteuerung der Volkswirtschaft durch elektronische Medien zu finden sei. Diegemeinsamen Thesen dazu tragen den Titel Cybernetic Notes on The Effective Orga-nization of the State (Beer 1981: 249). Was war damit gemeint? Schon 1959 hatte Stafford Beer, nach der Lektüre der Macy Conferences on

Cybernetics, der Schriften britischer Kybernetiker wie Ross Ashby oder GordonPask sowie der neurophysiologischen Forschungen aus dem Umkreis Warren S.McCullochs, sein Buch Kybernetik und Management geschrieben. Dessen Thesebestand schlicht darin, dass die menschliche Intelligenz heute nicht mehr in derLage sei, ihre sozialen und wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Gestützt wurdesie durch eine kulturhistorische Diagnose und ein biologisches Modell. Die kulturhistorische Diagnose besagt, dass technische Zivilisationen vor allem

auf Verstärkern beruhen, und man mag darin eine Linie ausmachen, die von der

2. Übersetzung, wie auch im Folgenden, von C.P.

Porträt des Künstlers als junger Manager (Stafford Beer in den 60er Jahren)

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Das Lied von der Kosten-Nutzen-Rechnung

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Technikphilosophie eines Ernst Kapp über die Prothesentheorie SigmundFreuds bis hin zu den Extensions of Men bei Marshall McLuhan führt. In der zuEnde gehenden ›Epoche der Energie‹ waren dies – so Beer – vor allem Kraft-verstärker, für die neue ›Epoche der Information‹ müsse man nun jedoch »Intel-ligenzverstärker« erfinden. Wenn das Computerzeitalter ebenso erfolgreichwerden solle wie das Industriezeitalter, das die Kraft eines einzelnen Arbeitersvon 0,1 auf 1000 PS erhöhte, dann stünden uns – so immer noch Beer – Maschi-nen mit einem IQ von 1 Million bevor. Und nur diese seien noch in der Lage,die komplexe Kombinatorik der Probleme und Entscheidungen der Gegenwartzu lösen.Und so entwickelt der zweite Strang der Argumentation ein Modell des Unter-

nehmens als Organismus, der – kybernetisch gedacht – eben nicht nur Fleischund Blut und Biologie, sondern auch ein Informationssystem ist. Das Nerven-system bilde die Kommunikationskanäle und das Management das Gehirn einesUnternehmens, und beide zusammen befänden sich ohne elektronische Medienevolutionsbiologisch »auf der Stufe eines Schwammes« (Beer 1962: 160). Wäh-rend das hergebrachte Operations Research einem Chirurgen gleiche, der sich nurum einzelne Organe kümmert, brauche der Körper der Wirtschaft eine ganz-heitliche Therapie, die nur Kybernetik heißen könne. Denn das Ziel jedes Orga-nismus sei das Überleben, auch wenn die kurzfristigen Wege dorthin allemal»widersprüchlich« sind (a.a.O.: 162). Die Natur – so Beers Sprung vom Exem-plar auf die Spezies – sichere dieses Überleben durch eine verschwenderischeVarietät von Mutation und Anpassung. Schon weil Ökonomien sich dieseGroßzügigkeit nicht leisten können, muss ihr Management zu seinem eigenenMutationsberater und Selektionsverstärker werden. Die künstliche Intelligenz-verstärkung durch Computer gerät zum number crunching der Varietät und dieWahrscheinlichkeitsrechnung zum »Nachdenken« über Leben und Überleben(a.a.O.: 169). In den Black Boxes der Elektronengehirne verkörpert sich eine»Anpassungsmaschine« (a.a.O.: 176), die Rechenarten praktiziert, die den Todmaximieren, um zugleich und dadurch erst das Leben zu optimieren. Das Gehirndes Unternehmens (so ein späterer Buchtitel Beers) »greift […] die unerschöpflicheUnbestimmtheit seiner[!] sich entfaltenden Geschichte auf, indem es dieseWahrscheinlichkeiten heranzieht und sortiert.« (a.a.O.: 179) Leben und Tod sindentscheidungs- und zugleich zeitkritisch. Und damit wären wir wieder bei jenerUnbestimmtheit der Geschichte im Chile des Jahres 1971, wo die Zeit drängteund Entscheidungen (über)lebenswichtig wurden.

III. Die Echtzeit des Staates

Wer den Bus noch kriegen will, so Stafford Beer, braucht ein Gehirn, das nichterst nach einer Stunde Rechenzeit die erforderlichen Anweisungen für Adrena-lin und Herz, für Lunge und Muskulatur ausgibt. Chile braucht, mit anderenWorten, ein Gehirn und ein Nervensystem, einen Informationsverstärker undein Kommunikationsnetz, das den neuen Geschwindigkeiten des Staates gerecht

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wird. Die kybernetische Revolution muss bei der medientechnischen Infrastruk-tur beginnen, denn das Wissenscorpus, in dem sich die Seinsweise des Staates(vielleicht seit Leibniz) immer wieder aufs Neue manifestiert, trägt ein Haltbar-keitsdatum. Vorkybernetische Erhebungs-, Verwaltungs- und Präsentationsfor-men dieses Wissens – wie etwa Zählung, Buchführung und Statistik – seien,besonders in Zeiten der Revolution, viel zu langsam. Zum Beleg referiert Beerauf nationalökonomische Modelle wie die von Robert Malthus oder JosephSchumpeter, denen zufolge die Wirtschaft zyklisch verläuft, und abstrahiert siezu Sinuswellen. Dadurch nun, dass papierne Wirtschaftsdaten (information) erstein halbes oder ganzes Jahr nach den Ereignissen verfügbar sind (the fact) und dieWelt sich unterdessen verändert hat (lag), sind diese Daten nicht bloß zu spät,sondern haben oft genug katastrophale Entscheidungen zur Folge (danger limit).Im schlimmsten aller Fälle verhält sich die Statistik wie der Cosinus zum Sinusund tritt mit einer Phasenverschiebung von 180° auf. Sie empfiehlt Verstärkungdort, wo Dämpfung und Dämpfung dort, wo Verstärkung nötig wäre. So ent-stehen normalerweise Revolutionen, sagt der Sohn des Statistikers.Für eine kybernetische, autoregulative Regierung müssen also Lektüre und

Intervention in ein zeitkritisches Verhältnis zueinander treten, das wiederum nurdurch elektronische Medien hergestellt werden kann. Der Staat braucht neueHard- und Software, wenn das Zeitalter der Statistik endet und das der Real TimeControl anbricht.3 Dessen Mediensysteme suchen selbsttätig ausgeglicheneZustände, wobei wechselseitig Teile des Systems die Fähigkeit anderer Teile auf-

3. Solche decision support systems wurden in den kybernetikbegeisterten 60er Jahren natürlichauch in Deutschland diskutiert. So äußert etwa Pierre Bertaux 1963 in einer hochkarätig undinterdisziplinär besetzten Runde (u.a. Arnold Gehlen, Karl Küpfmüller, Arthur Koestler, Fried-rich Bauer und Heinz Zemanek): »Das entscheidende Problem der Statistik ist ihre Aktualisie-rung. Die schlüssigen Informationen, auf Grund derer Entscheidungen getroffen werden,müssen so up to-date wie nur möglich sein. Diese Aktualisierung, die ein Hauptschlüssel zurVermeidung von Wirtschaftskrisen in der industriellen Gesellschaft ist, kann nur auf Grundeiner ungeheuren Investition in Computers, in Rechenmaschinen und in der Form einer Neu-gestaltung des ganzen Regierungsapparates erreicht werden, also durch eine Staatsmaschine.Dazu ein französisches Sprichwort, das sagt: ›Gouverner c’est prévoir.‹ Die Kunst des Regierensist die Kunst des Voraussehens. Die Dimension der Zukunft ist aber für die Menschen, für ihrorganisches, cérébrales Denken, für das Denken mit Worten schwer zu erfassen, weil es demGehirn nicht möglich ist, die zahllosen Elemente, die auf das Geschehen einwirken, auf einmalzu übersehen. […] Der Mensch ist von Natur aus zukunftsblind. Diesem Faktum kann durch dieMaschine abgeholfen werden.« Maschine – Denkmaschine – Staatsmaschine, 9. BergedorferGesprächskreis, Protokoll vom 25.02.1963. Bertaux war Mitherausgeber der Reihe Welt imWerden (S. Fischer Verlag), in der auch Beers Kybernetik und Management erschien.

Kritik und Krise: Konjunkturzyklen und das Wissen um sie als zeitlich versetzte Schwingungen

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fangen, das Ganze aus der Fassung zu bringen. Eine permanente Unruhe oderDestabilisierung im System bildet den produktiven Kern dessen, was durcheffektive Selbststeuerung oder Intervention zugleich immer wieder aufgefangenund ausbalanciert wird. Kybernetik steht damit (und wahrscheinlich nicht nurfür Beer) jenseits der Dogmen von Zentralisierung oder Dezentralisierung, jen-seits der Doktrinen von freier Marktwirtschaft oder Planwirtschaft und jenseitsder Expertisen von Bürokratie oder Vetternwirtschaft. Doch wie sah dies nunkonkret aus?Der kybernetische Umbau der chilenischen Volkswirtschaft teilte sich in zwei

Aufgaben: erstens bedurfte es eines zentralen Computersystems namens Cybersyn(Cybernetic Synergy), das alle wissenswerten Daten über die Wirtschaft des Landessammelt, zusammen›denkt‹ und den Regelungsbedarf im Hinblick auf einbestimmtes Gemeinwohl oder Ziel ermittelt. Zweitens bedurfte es aber einerTelekommunikationsstruktur namens Cybernet, die (gleich einem Nervensys-tem) jeden einzelnen Wirtschaftsbetrieb mit dem ›Gehirn‹ verbindet. DieseSterntopologie von zentralem Großrechner und dezentralen Terminals wartypisch für die Computernetze jener Zeit und schmiegte sich zugleich der Topo-graphie Chiles an: Nördlich und südlich Provinz und in der Mitte eine literate,konstitutionelle Bevölkerung – die Männer »frank and friendly«, die Frauen»gorgeous and gay« (Beer 1973). Dementsprechend kam der Zentralrechner (ein

Die typische Sterntopologie eines (militärischen) Netzwerks

Zentral zusammenlaufende Telefonleitungen im SAGE-Frühwarnsystem

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Burroughs 3500) in Santiago zur Aufstellung – und zwar ausgerechnet in den ver-lassenen Räumen der Reader’s Digest-Redaktion, die sich ja ebenfalls mit einerForm der Datenauslese beschäftigt hatte. Und eigens die requirierten Telex- undFunkverbindungen verbanden ihn mit Betrieben von Arica bis Puerto Montt. Etabliert war auch die Technik des sogenannten »Polling«, also der regelmäßi-

gen Abfrage von Daten durch einen entfernten Rechner.Die Domäne solcherVerfahren waren die gigantischen Frühwarnsysteme des Kalten Krieges wieSAGE (Semi Air Ground Environment), die kontinuierlich über Telefonleitungeneinlaufende Radardaten sammelten und auswerteten. Ebenso wie sich die Daten-leitungen solcher militärischer Netze seit zwei Jahrzehnten von Küste zu Küsteerstreckten, eine zentrale Recheneinheit ununterbrochen mit Berichten über die›Lage‹ versorgten und für militärische Entscheidungsträger auf Screens darstell-ten, sollten sich nun Datenleitungen in alle Industrie- und Agrarbetriebe Chilesentspinnen, sollten das Elektronengehirn in Santiago ununterbrochen über die›Lage‹ informieren und sie für angeschlossene ›Politiker‹ grafisch präsentieren.Stafford Beer hatte sich die Erfahrungen solcher Systeme schon bei SCAN, sei-nem Computersystem für Stockbroker, zunutze gemacht. Feinde, Aktienkurseund Produktionsziffern fallen schlicht in die gleiche Problemklasse. Sogar bei derSoftware griff Beer auf ein Paket namens Dynamo zurück, das von keinemgeringeren als Jay Forrester, einem der Väter der US-Frühwarnsysteme stammte.Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der neue Regierungssitz miteinem militärischen Begriff bezeichnet wurde. Er hieß Operations Room, war dasWerk eines chilenischen Teams von Gestaltern unter der Leitung von GuiBonsiepe, und bildete die Benutzeroberfläche des gesamten Systems.

IV. Der Opsroom

Es ist eine merkwürdige Ausstrahlung, die dieser neue Opsroom in Santiago hat.Er ist menschenleer, und obwohl er eine gewisse Verlassenheit ausstrahlt, scheintdoch alles wie vorbereitet für eine chymische Hochzeit von Mensch undMaschine. Das Ambiente des Opsroom ist eine Mischung von Büro und Raum-schiff, von Lounge und Maschinenraum, die eine gewisse Traumdichte besitzt.Auffällig ist, dass nirgendwo eine rote Fahne hängt und dass auch sonst keinepolitischen Insignien auszumachen sind. Es herrscht eine Abwesenheit des Sym-bolischen, die selbst symbolisch zu sein scheint. Wenn die Kybernetik ein Ver-söhnungstraum war (von Arbeit und Kapital, von Leuten und Regierung, vonLebewesen und Maschinen, usw.), dann ist dies ihr Versöhnungsraum. Die Sesselsind nicht hierarchisch, sondern erlauben viele Perspektiven auf gleicher Augen-höhe, und überall sind ›freundliche‹ Interfaces eingelassen. Würde man das Fotozum ersten Mal sehen, man würde wahrscheinlich das Set eines Science-Fiction-Films vermuten. Kubricks 2001 lag nur drei Jahre zurück, Faßbinders Welt amDraht sollte im nächsten Jahr folgen – beides Filme übrigens, in denen Computerdie Regierung übernehmen oder bereits übernommen haben. Science fiction und

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science fact bewegen sich auf gewisse Weise im gleichen Inventar. Und man magso weit gehen, dass Chile vielleicht noch nicht fern genug jener Welt war, diein einem solchen Raum geträumt werden soll. Wenn Stafford Beer späterschreibt, dass die Umwelt Chiles (d.h. konkreter: USA, CIA usw.) der Grunddes Scheiterns von Cybersyn war, dann mag man sich diesen Regierungs-Raumtatsächlich abgesprengt in die einsamen Weiten des Weltalls vorstellen.Auf Erden hatte der Opsroom jedenfalls zwei Aufgaben und damit Gestaltungs-

richtlinien: Erstens galt es, Informationen zu filtern. Denn wie sonst sollte manmit der unüberschaubaren Menge des täglich, stündlich oder minütlich erho-benen Wissens umgehen? Die Daten mussten auf (möglichst experimental-psychologisch ermittelte) »menschliche Proportionen« geschrumpft werden(a.a.O.: 21). Das Tagwerk eines einzelnen Arbeiters interessiert zwar das System,nicht unbedingt aber auch dessen wechselnde Beobachter. So wird eine Artinformatische Zoomfunktion erforderlich, die es erlaubt, notfalls alles zu wissen,aber meistens das Meiste zu vergessen. Die neue Computer-Politik fordert alsoeine forcierte Gestaltung von Nicht-Wissen, um überhaupt arbeitsfähig zu sein. Zweitens galt es, die Benutzeroberflächen so zu entwerfen, dass sie sowohl von

Ministern als auch von Arbeitern ›intuitiv‹ begriffen werden können. »Ichwollte«, so schreibt Stafford Beer, »dass die Minister eine direkte Erfahrung, eineplötzliche Erfahrung, eine experimentelle Erfahrung haben. Und was auf dereinen Ebene für Minister funktioniert, funktioniert auf anderen Ebenen auch für

Der Opsroom in Chile

Radar-Opsroom im Zweiten Weltkrieg

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Manager der Volkswirtschaft, der Industrie und kleinerer Betriebe. […] WennPartizipation irgendeinen Sinn haben soll, dann darf niemand ausgeschlossenwerden, weil er den Jargon, die Bilder oder die hochgestochenen Rituale nichtbeherrscht. Die Arbeiter selbst müssen unbeschränkten Zugang zu allem haben«(a.a.O.: 20) – und die Minister sollen nicht mehr sofort nach einer Sekretärinrufen, die zwischen ihnen und der Maschine vermittelt (a.a.O.: 22). Man magsich dabei an Otto Neuraths ähnlich sozialutopisch geprägte Gestaltung der›Wiener Methode‹ der Bildstatistik erinnern – und auch daran, dass wir uns nocheinige Jahre vor den Testserien bei XEROX bewegen, die mit einigem Aufwandjene Normalität des Screendesigns erfanden, die heute in der DIN-Norm fürBenutzeroberflächen als ›intuitiv‹ bezeichnet wird.Die vier Bildschirme ganz rechts bilden das älteste Element der Installation und

finden sich schon in den etwas ungelenken Entwürfen, die Stafford Beer selbst

Die (analoge) Datenbank des Opsroom; oben in der Gestaltung durch Gui Bonsiepe, unten im Entwurf Stafford Beers

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anfertigte. Dies ist die Datenbank des Systems. Sie enthält Fotos, Diagramme undTexte, auf die die Anwesenden bei Diskussionen und Präsentationen zugreifenkönnen. Denn der Opsroom ist, so Beers Worte, »eine Entscheidungsmaschine,in der Menschen und Equipment in einer symbiotischen Beziehung stehen, umihre unterschiedlichen Kräfte zu verstärken und in einer neuen Synergie erwei-terter Intelligenz zu vereinen. Sie müssen reden und ihre Entscheidungen treffen.Zu diesem Zweck brauchen sie Hintergrundinformation, und ich muss wohlnicht lange erklären, dass es hier keine Akten, Berichte oder Memos der letztenBeratungen gibt. Papier ist von diesem Ort verbannt.« (a.a.O.: 21) Das Archiv dieses (vielleicht ersten) ›papierlosen Büros‹ wurde von Electrosonic

Ltd. (London) gebaut und besteht aus vier Rückprojektionen hinter denen sichje 5 Diaprojektoren mit 80er-Karussells befanden. Von Fernsehschirmen wurde(so Gui Bonsiepe) wegen Flackerns und zu geringer Auflösung Abstand genom-men. Die Beschränkung auf 1.200 Dias ergab sich aus informatischen und ergo-nomischen Gründen, denn der Zugriff sollte über Indices erfolgen. Auf demHauptbildschirm waren maximal 30 Begriffe lesbar darzustellen, was knapp 5 BitInformation entspricht. Ausgewählt wurden diese über das Drücken einer Kom-bination von fünf Knöpfen, die in der mittleren Reihe der Armlehnen eingelas-sen waren. Durch zwei aufeinanderfolgende Klicks waren also schon 10 bit =32x32=1024 Bilder adressierbar. Die oberen drei Knöpfe der Sessel dienten derAuswahl des Arbeitsbildschirms, mit den unteren beiden konnte ein ausgewähl-

Typische »displays«: links ein Index, rechts unten ein Balkendiagramm, das Gegenwart und Zukunft vergleicht. Man beachte den Aschenbecher und die Mulde zum Abstellen von Cocktails im Kontrollsessel

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tes Bild auf den großen Hauptbildschirm geschaltet werden. Die Gestaltung dereinzelnen ›Folien‹ erinnert doch einigermaßen an PowerPoint.Auf einer dieser Folien (die im Gegensatz zu ihren Enkeln noch tatsächlich sol-

che sind) lässt sich ein typisches Balkendiagramm ausmachen, das auf BeersUnterscheidung von Aktualität (actuality) und Potentialität (potentiality) verweist.Aktualität verweist auf das, was beispielsweise eine Fabrik gerade leistet und leis-ten könnte (genannt ›Realität‹/reality und ›Fähigkeit‹/capability), Potentialitäthingegen auf das, was diese Fabrik leisten könnte, wenn auch der letzte Quadrat-meter optimal genutzt wäre, wenn die Arbeiter das Beste geben würden usw.Der leibnizianische Klang dieser Unterscheidung ist kaum zu überhören. Denndiese beste Welt, und sei sie auch so klein wie Chile, bemisst sich an einer Öko-nomie, die die meisten Möglichkeiten ausschöpft und in Aktualität zu über-führen weiß. Sie ist, gegenüber allen anderen, gleichmöglichen Welten dieDichteste und zugleich Reichste – nur dass 1972 eben kein Gott mehr die Poten-tialitäten vorrechnet, die zu verwirklichen uns Menschen obliegt, sondern eingottlos-elektronischer Großrechner sie in Echtzeit erst ermittelt. Mit dem Ein-satz elektronischer Medien entsteht somit eine Doppelbewegung, in der diebeste Welt entrückt und gerade deshalb zugleich greifbar nahe wird. In derUmschrift von »Potencial« in »Futuro« wird sie auf eine Zeitachse aufgetragen,und diese Verzeitlichung nennt man seit der Romantik Utopie. Denn währendbei Leibniz noch die wirkliche Welt mit der besten zusammenfiel, verlegt dieTechno-Utopie der Kybernetik sie ins Futur. Sie wird zum Ziel, das man ›onthe fly‹ immer im Blick hält. In den allgegenwärtigen Flussdiagrammen ist dieseutopische Differenz zwischen Aktualität und Potentialität, zwischen der gegen-wärtigen und der besten Welt wie ein Füllstand eingetragen. Dies führt nun gera-dewegs zu dem großen zwei Meter hohen Schirm auf der linken Seite desRaumes. Das Grundmodul in Stafford Beers Denken ist das sogenannte »viable System«

– ein Ausdruck, den der philosophische Konstruktivismus (etwa bei Ernst vonGlasersfeld) zu übernehmen wusste. Seine Viabilität oder ›Gangbarkeit‹ bestehtdarin, dass es auf Homöostase, auf ein dynamisches Gleichgewicht ausgerichtetist und diese durch einen verborgenen Mechanismus herstellen kann. Es wirdalso ab einer bestimmten Schwelle undurchsichtig, aber – und das ist das Ent-scheidende – es funktioniert. In diesem Sinne kann – so Stafford Beer – das Systemeines Landes als eine verschachtelte Struktur vieler viabler Systeme und Subsys-teme beschrieben werden.(Abb.18) Diese rekursive Struktur weist im Größtenund im Kleinsten die gleichen Informations-, Rückkopplungs- und Steuer-schleifen auf; sie beinhaltet den Staat selbst, darin das Wirtschaftssystem, darinden Industriesektor als System, darin die Firma als System, darin die einzelneFabrik als System, darin den Arbeitsbereich als System, darin den Arbeiter als Sys-tem und in dessen Körper zuletzt ein neurophysiologisches System. Und all dieseSysteme haben die gleiche Struktur und bilden auf wechselnden Ebenen immerwieder nur rückgekoppelte Systeme (und damit sich selbst) ab. Die kybernetischeWelt ist fraktal. Der große Bildschirm zur Linken zeigt eine solche Verschach-

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telung von fünf viablen Systemen, die – eben weil sie fraktal ist – jeden beliebigenAusschnitt von ›Welt‹ darstellen kann. Das Verhältnis von Aktualität (rot) undPotentialität (grün) ist auch hier wie Füllstände in Gläsern dargestellt. Cyberstride rechnete nun nicht mit einzelnen Daten, sondern fasste verschiedene

Aspekte zu Indices zusammen, die Börsenkursen ähneln, und kontrollierte dieseselbsttätig. Umso unruhiger die Kurven dieser Indices sich fortspannen, umsosensibler und aufmerksamer wurde das Programm. Sollte es zu Ausfällen oderbesonderen Erregungen in einem Subsystem kommen, schickte dieses eineNachricht an den entsprechenden Manager (z.B. den Leiter einer Fabrik). Dann

Oben ein Flußdiagramm zu Aktualität und Poten-tialität; rechts die rekursive Struktur viabler Systeme

Entwurf zu einer interaktiven Simulationsumgebung für das »Future System«

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ermittelte der Rechner eine Dämpfung (delay time) aufgrund der Wichtigkeitund der geschätzten Reaktionszeit vor Ort und startete eine Uhr (clock daemon).Und wenn diese abgelaufen war, informierte der Rechner automatisch die nächsthöhere Ebene (also z.B. den Mutterkonzern). Beer selbst nennt dieses Signal»algedonisch«, bezeichnet es also mit dem medizinischen Begriff für einSchmerzsignal und spricht von »physiological recovery time« (Beer 1981, 276).Solche Signale werden auf dem Display als rot blinkende Pfeile dargestellt. Derobere gelbe Kreis, der wie eine Sonne über dem Diagramm schwebt, diente hin-gegen zur Visualisierung möglicher Trends, die Cyberstride aus dem Verlauf derIndices errechnete. Die Technik (Technomation Ltd., GB) ist rührend hybrid: DenScreen bildet eine bedruckte Scheibe, hinter der sich ein Küchenregal mit Pro-jektoren verbarg, vor denen sich mit Spiralen bedruckte Folien drehten, wie sieaus den Schaufenstern von Apotheken bekannt sind. Die roten Schmerzsignalewaren allerdings Lämpchen, die digital vom Rechner angesteuert wurden. Diegelbe Scheibe war eine Folie, die vermutlich vom Rechner über Schrittmotorenbewegt wurde. Zur Ergänzung dienten die beiden Schirme in der Mitte mitvergrößerten und höher auflösenden Indices bzw. Aktualitäts/Potentialitäts-Anzeigen, die wahrscheinlich digital angesteuert wurden.Ganz links ist zuletzt das unverwirklichte und wohl ambitionierteste Gestal-

tungsdetail zu erkennen. Diese Schirme sollten zusammen mit einem (nie gebau-ten) Hybridrechner das sog. Future System bilden und interaktive Simulationenerlauben. Auf dem linken Schirm sollte es möglich sein, neue Flussdiagramme(bspw. für den Ablauf von Produktionsprozessen, für Handelsbeziehungen,Transportsysteme usw.) einzugeben. Man sollte magnetische Elemente auf denSchirm kleben und die Verbindungen möglicherweise mit einem Lightpenzeichnen können. (Abb.19) Auch Grafiktabletts waren in der Diskussion. Dieentstandenen Diagramme sollten jedenfalls in Echtzeit ausgewertet und auf demrechten Schirm als Computergrafik ausgegeben werden. Unschwer sind hier dieAhnherren heutiger CSCW-Experimente4 und natürlich aller Arten von Com-puterspielen auszumachen, in denen es um den Aufbau und Erhalt von Ökono-mien, Gesellschaften oder Staaten geht. Nur dass in Chile eben das Reale insZeitalter des Experimentierens (oder Computerspielens) gerät, wenn das Wissendes Staates die Simulationsalgorithmen des Möglichen durchläuft um anschlie-ßend ins Wirkliche übersetzt zu werden. Nun gehört es jedoch zu Beers sozialutopischem Konzept, dass die Regierten

nicht nur Spielfiguren sind, sondern dass sie auch selbst zu Mitspielern werden.Und das heißt mehr als nur – wie nebenbei geplant – eine Fabrik für Opsroomszu eröffnen und diese den Betrieben und Gewerkschaften zur Selbstoptimierungzu übereignen (a.a.O.: 270).

4. Computer Supported Cooperative Work.

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VI. Massen und Medien

Wenn die »Revolution der Regierung« bei jedem Einzelnen beginnen soll, wiees die letzte Seite von Beers Broschüre Towards Good Government hoffnungsvollverkündete, bedarf auch dies einer medientechnischen Infrastruktur. Diesewurde zwar nie implementiert, aber immerhin detailliert beschrieben und nahmmit den Mitteln von 1970 vorweg, was heute als e-government oder Suche nachSuperstars wieder Konjunktur hat. Im Zusammenspiel von Volk, Fernsehen undRegierung eröffnet sich das, worauf Beer selbst als »Psycho-Kybernetik« hoffteund was Andere vielleicht ›totalitär‹ genannt hätten. Denn in die hergebrachtenVerfahren der Varietätsbeschränkung (parlamentarische Repräsentation), derVarietätsverstärkung (Bürokratie) und der Zeitdämpfung (Wahlperioden) inter-venieren neue Technologien wie Fernsehen oder Radio, indem sie die Illusioneiner Rückkopplungsschleife erzeugen. Es entsteht ein »falscher Dialog« (Beer1981, 280), und die Unmöglichkeit der Antwort in den Massenmedien behin-dert – so Beer – nicht nur die Homöostase des Staates, sondern führt zu Demon-strationen, zu Agitation, Gewalt und Revolte. Sein Brecht’scher Vorschlag der›Umwidmung‹ lautet, den verschlossenen Rück-Kanal der elektronischenMedien zu öffnen und Repräsentation durch Echtzeit-Feedback zu ersetzen.Auch das Volk bekommt einen Index, an dem die Aktualität seiner Befindlich-keit instantan abgelesen werden kann, und der schwankt zwischen »happy« und»unhappy«.Das wiederum ist eine unverschleierte Adaption der sog. »like/diskile«-Sche-

mata jener Radio-Untersuchungen, die Paul F. Lazarsfeld Ende der 30er Jahredurchgeführt hatte und bei denen sich die Sympathie für Propagandasendungenoder Waschmittelwerbung auf dem Prüfstand befand: »In investigating the radio listeners’ reactions to a program, it is often desirable to know

their attitude to specific items in that program. Does the variety show listener like the›gags,‹ the skits, the music, or perhaps the voice of one of the actors? And why? To whatextent is one radio commercial more disliked than another, and for what specific reasons?Which parts of an educational program that features dramatizations and commentators aremost liked (or disliked) by radio audiences, and what are the reasons for such reactions?«(Peterman 1940: 728)5

Statt Amerikanern, die einem Radioprogramm von commercials, gags und musicfolgen, ist es nun eine chilenische Bevölkerung, die einem kybernetischenRegierungsprogramm ihre Sympathie durch geneigte Annahme bekunden soll.Auch technisch gleichen sich die Systeme: Paul Lazarsfeld und der spätere CBS-Präsident Frank Stanton hatten seinerzeit eine kleine Apparatur gebaut, eine

5. Vgl. dazu den Beitrag von Dominik Schrage in diesem Band. Lazarsfeld war auf den Grün-dungskonferenzen der Kybernetik anwesend und seine Methode war so universell einsetzbar,dass sie zur gleichen Zeit auch bei vietnamesischen Kriegsgefangenen eingesetzt wurde (dazuauch: Pias 2004).

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»reaction-recording machine« (Peterman 1940: 728), die Sympathie- undUnmutsbekundungen unauffällig während des laufenden Programms aufzeich-nen konnte. Bis zu elf Versuchspersonen bekamen dazu einen roten Knopf indie linke Hand und einen grünen in die rechte und konnten nun zuhörend ihrenlikes und dislikes diskreten Ausdruck geben. Das gemittelte Ergebnis ließ sichdann auf einer Zeitskala nebst einem Inhaltsprotokoll auftragen. (Abb.21) Unterdiesen Bedingungen kontrollierter Erfahrung schien es möglich, eine »ProgramClinic« zu eröffnen (Hollonquist/Suchman 1979: 274.), um schwächelnde Pro-gramme durch experimentelle Validierung auf maximale Wirksamkeit hin zubehandeln. So und nicht anders stellte Beer sich die Partizipation elektrifizierter Politik und

die Echtzeit-Validierung des staatlichen Programms vor: Noch während dieLeute den Parlamentsreden am heimischen Fernseher folgen, drehen sie ihren(diesmal analogen) Glücksknopf in den roten oder grünen Bereich. Über dasTelefonnetz werden die wechselnden Spannungen übertragen, gesammelt,gemittelt und sofort als Balkendiagramm in das Fernsehbild und auf dem Moni-tor des Redners eingeblendet. Ein Kreisschluss beginnt: Der Politiker weiß, dassdie Leute wissen, dass er weiß – und die Leute wissen, dass der Politiker weiß,dass die Leute wissen, dass er weiß… – und so weiter. Gute Politik ist fortan die,die dem Volk ein gutes Gefühl gibt – ein Gefühl im grünen Bereich, falls es schonFarbfernseher besitzt. Regieren und »instant market research« (Beer 1981: 284)fallen in dieser neuen Öffentlichkeit schlicht zusammen. Die glückliche Bevöl-kerung ist ein glücklicher Kunde, der wegdrehen darf, was ihm nicht gefällt. Einesolche Struktur organisiere (so Beers Fazit) ganz neue Verhältnisse von Einzel-nem und Ganzem, von individueller und kollektiver Entscheidung, von Freiheit

Regierung und Regulation zwischen »Happy« und Unhappy« (Entwurf Stafford Beers)

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und Funktionieren. Freiheit, so Beer, ist keine normative Frage, sondern »eineberechenbare Funktion von Effektivität« (Beer 1973: 6): »die Wissenschaft dereffektiven Organisation, die wir Kybernetik nennen, [reicht] dem Recht derfreien Wahl, das wir Politik nennen, die Hand« (a.a.O.: 23).Die Echtzeit der elektronischen Medien, die dieses neue Feld der psycho-

kybernetischen Regierung von Gesellschaft markiert, lässt damit so etwas wie›Staatlichkeit‹ brüchig werden. Sie führt eine Entgrenzung des Politischen herauf– eine extensive, wellenförmige Registratur des Gegenüber und einen Willenzum Wissen, der kein Gebiet auslässt und keinen Haltepunkt des Interesses kennt.Das »Occasionelle« (Carl Schmitt) wird zum Zentrum des Politischen. Unnötigzu betonen, dass die Diagramme des Glücks live in den Opsroom übertragen undsolche Feedbackschleifen auch in Fabriken installiert werden sollten, damit dieArbeiter sich selbst, die Chefs die Arbeiter, die Arbeiter die Chefs und die Chefsdie Chefs hätten beobachten können.6 Dieses Spiegelkabinett der Beobachtun-gen, diese ununterbrochene Beziehungsbewirtschaftung, die andernorts (aber zurgleichen Zeit) »Kontrollgesellschaft« genannt wurde (Deleuze 1993: 254–262),war für Beer ein Glücksversprechen. Der eudämonistischen Ethik eines Benthamoder Mill folgend, war es das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl,das es einzurichten galt, auch wenn der Staat selbst sich dabei auflöste.

6. Damit wäre nebenbei auch die zentralistische Struktur des einen Opsrooms in Santiago durch-brochen und man hätte sich fragen müssen, welche Synergieeffekte und Emergenzen aus derVernetzung enstanden sein würden.

Radio-Analyse eines »public-affairs«-Programms nach der Methode von Lazarsfeld und Stanton

Indirektes Regieren durch Organisation zur Selbstorganisation (aus einem populären Kybernetik-Lehrbuch der 70er Jahre)

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VII. Schluss

Gleichwohl der Opsroom noch von Allende eingeweiht werden konnte undeinige Zeit in Betrieb war, gingen all’ diese Bemühungen bekanntlich nicht soglücklich aus wie in der Zeichnung Stafford Beers, sondern endeten blutig. DasEnde war militärisch und nicht autopoietisch, war hierarchisch und nicht kyber-netisch. Stafford Beer verzichtete 1974 auf materiellen Besitz und lebte ein Jahr-zehnt lang als Eremit in einer steinernen Hütte in Mid-Wales. In Heiner Müllers Stück Der Auftrag, das vom scheiternden Export einer ande-

ren Revolution handelt, ist es eine namenlose und gehetzte Stimme auf dem ver-zweifelten Weg zu ihrem Chef (den sie »Nummer Eins« nennt), der zuletzt dieNicht-Frage entweicht: »Wie erfüllt man einen unbekannten Auftrag.« (Müller1988: 438) Wenn das eine Allegorie auf die kybernetischen Anstrengungen Staf-ford Beers in Chile ist, dann gehört zu dieser auch die Seite der Nummer Eins,die ihren Auftrag kennt. Die USA nämlich waren sich über ihre interventions-politischen Ziele völlig im Klaren und hatten ein mindestens so großes Interessean der Kybernetik als einer Macht der kleinen Eingriffe mit großen Wirkungen.Wenn Behörden wie die CIA oder ARPA, Special Operations Research Office oderRAND Corporation wirtschaftliche und soziale Prozesse als berechenbare simu-lieren, geht es weniger um ein allemal unscharfes Gemeinwohl oder eine schwerpräjudizierbare ›happyness‹, sondern konkret darum, Aufständen systematischentgegenzuwirken oder sie gezielt zu forcieren. So war es das Ziel eines mitDaten der American Anthropological Association gefütterten, kybernetisch inspirier-ten Projekts namens Camelot, »to predict and influence politically significantaspects of social change in the developing nations« (Horowitz 1967: 47; vgl. dazuauch Holl 2004). Und kaum dass Salvador Allende an der Macht war, wurde Pro-ject Camelot in Gang gesetzt und sammelte seine Daten über wenige Angestellte

Oben: die Utopie der kybernetischen Regierung (Zeichnung zu der nie gedruckten Broschüre »Towards Good Government«), rechts: Stafford Beer nach der Vertreibung aus Chile

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unter den vielen Helfern und Unterstützern ein, die mit den Peace Corps nachChile fuhren: »It was not necessary to have many agents in the Peace Corps – just in the right places

and with access to all information which was generated. Unknowingly, thousands of U.S.youths, most thinking that they were helping the Chileans, were instead gathering data forthe now undercover Project Camelot. [...] During the sixties, nearly one thousand studentsand professors travelled to Chile. Some consciously worked for the Agency, but even thosewho had no ties to the Agency would find their doctoral theses and research work integratedinto the CIA’s computer files at a later date.«7

Auch diese Daten landeten – ähnlich denen Stafford Beers – in einer Com-putersimulation, die nicht nur ausgerechnet den Namen Politica Game trug, son-dern deren algorithmische Ratio lautete, dass auch ein amerikanisches Attentatauf Salvador Allende allemal bedenkenswert sei (Herman 1998: 118). Auch so kann Palinurus ins Meer stürzen.

7. »Under the Cloak and Behind the Dagger«, in: Latin America and Empire Report, July/August1974, S. 6-8 (zit. n. Horowitz 1967).

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