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ZWEITES KAPITEL. DIE BUCHROLLE. U nsere Kenntnis des griechischen und römischen Buch- wesens fließt aus zwei wesentlich verschiedenen Quellen, aus Überlieferung und aus Anschauung, Die erste bieten uns die Äußerungen antiker Schriftsteller, die andere ver- danken wir in der Hauptsache den großen Papyrusfunden der letzten Jahrzehnte. Beiden gemeinsam ist der Zufall, von dem sie abhängen; die alten Autoren haben uns nicht schildern wollen, wie das Buch zu ihrer Zeit aussah, sondern nur gelegentlich eine Andeutung darüber gemacht, und die neueren Funde beschränken sich fast ausschließlich auf den Boden Ägyptens, der unter anderen Überresten des Altertums auch die Reste antiker Bücher hier und da bewahrt hat. Sind wir nun auch in der Lage, manche Bemerkung der Schriftsteller besser zu verstehen, seitdem wir Proben alter Bücher vor Augen haben, so wird uns doch keineswegs ein vollständiger Überblick über die Entwicklung des Buch- wesens gewährt. Denn die Überlieferung stammt zum weitaus größten Teile erst aus später Zeit, etwa von Ciceros Tagen an, und gilt daher genau genommen nur für das Buchgewerbe des römischen Zeitalters, in dem griechische und römische Buchtechnik kaum noch Unterschiede auf- weisen. Die Anschauung aber reicht wenig über den Anfang des 3. Jahrhunderts v. Chr. zurück und steckt der erhofften Belehrung wiederum eine zeitliche und örtliche Grenze. Wie es vorher ausgesehen hat, welche äußere Gestalt die klassischen Werke der griechischen Literatur zur Zeit ihrer Entstehung gehabt haben, dafür geben uns die spärlichen Andeutungen bei einigen Schriftstellern und die ältesten Papyrushandschriften nur sehr geringen Anhalt, Will man versuchen, sich ein Bild davon zu machen, so ist man auf Rückschlüsse angewiesen; es versteht sich von selbst, daß hierbei die größte Vorsicht geboten ist, weil wir nur unsicher beurteilen können, wie weit das, was wir kennen, auf ältere Vorbilder zurückgehen mag; was uns etwa Brought to you by | University Library at Iupui (University Library at Iupui) Authenticated | 172.16.1.226 Download Date | 7/12/12 5:59 PM

Das Buch bei den Griechen und Römern Volume 4 (Eine Studie aus der Berliner Papyrussammlung) || ZWEITES KAPITEL: DIE BUCHROLLE

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ZWEITES KAPITEL.

DIE BUCHROLLE.

Unsere Kenntnis des griechischen und römischen Buch-wesens fließt aus zwei wesentlich verschiedenen Quellen,

aus Überlieferung und aus Anschauung, Die erste bietenuns die Äußerungen antiker Schriftsteller, die andere ver-danken wir in der Hauptsache den großen Papyrusfundender letzten Jahrzehnte. Beiden gemeinsam ist der Zufall,von dem sie abhängen; die alten Autoren haben uns nichtschildern wollen, wie das Buch zu ihrer Zeit aussah, sondernnur gelegentlich eine Andeutung darüber gemacht, und dieneueren Funde beschränken sich fast ausschließlich auf denBoden Ägyptens, der unter anderen Überresten des Altertumsauch die Reste antiker Bücher hier und da bewahrt hat.Sind wir nun auch in der Lage, manche Bemerkung derSchriftsteller besser zu verstehen, seitdem wir Proben alterBücher vor Augen haben, so wird uns doch keineswegs einvollständiger Überblick über die Entwicklung des Buch-wesens gewährt. Denn die Überlieferung stammt zumweitaus größten Teile erst aus später Zeit, etwa von CicerosTagen an, und gilt daher genau genommen nur für dasBuchgewerbe des römischen Zeitalters, in dem griechischeund römische Buchtechnik kaum noch Unterschiede auf-weisen. Die Anschauung aber reicht wenig über denAnfang des 3. Jahrhunderts v. Chr. zurück und steckt dererhofften Belehrung wiederum eine zeitliche und örtlicheGrenze. Wie es vorher ausgesehen hat, welche äußereGestalt die klassischen Werke der griechischen Literaturzur Zeit ihrer Entstehung gehabt haben, dafür geben unsdie spärlichen Andeutungen bei einigen Schriftstellern unddie ältesten Papyrushandschriften nur sehr geringen Anhalt,Will man versuchen, sich ein Bild davon zu machen, soist man auf Rückschlüsse angewiesen; es versteht sich vonselbst, daß hierbei die größte Vorsicht geboten ist, weilwir nur unsicher beurteilen können, wie weit das, was wirkennen, auf ältere Vorbilder zurückgehen mag; was uns etwa

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Die Buchrolle, 27

ein vereinzelter technischer Ausdruck oder ein hingeworfenesWort verrät, setzt uns beständig der Gefahr des Mißver-ständnisses aus, weil uns die Anschauung mangelt. Mankann daher nur in unbestimmten Linien ein Bild des altenBuchwesens bis zum Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. zuzeichnen versuchen.

Im vorigen Kapitel haben wir das Schreibmaterialseiner Beschaffenheit nach kennen gelernt. Es fragt sichnun, ob die verschiedenen dort beschriebenen Stoffe stetsneben einander her gegangen sind, oder ob wir sie in einez e i t l i c h e R e i h e n f o l g e einzuordnen vermögen. Damitverknüpft sich die zweite Frage, welche Form das Buchder Griechen in seinen Anfängen gehabt hat. Schondie ältesten Notizen bei griechischen Schriftsteilern, diedas Schreibmaterial erwähnen, setzen den Gebrauch desLeders, der zubereiteten Tierhaut, voraus. Der Geschichts-schreiber Herodot erzählt uns, bei seinen ionischen Lands-leuten nenne man die bybloi »Häute« (diphtherai), vonalters her. Das komme daher, daß man einmal, alses an bybloi (Bast, Schilf usw.) mangelte, Häute vonZiegen und Schafen verwendet habe. Aber mit HerodotsErklärung können wir uns nicht zufrieden geben, dennwenn er selbst sagt, daß das Wort »Haut« seit alter Zeiteingebürgert sei, so ergibt sich daraus im Gegenteil: dasWort H a u t war das alte, und byblos = Bast das neue.Es ist sehr begreiflich, daß man die alte Bezeichnung bei-behielt, als das Material sich änderte und die Tierhautmehr und mehr durch Pflanzen Stoffe verdrängt wurde. Eineandere Frage ist es, ob man aus dem uralten Gebrauchder Tierhaut bei den loniern ohne weiteres dasselbe fürdas eigentliche Griechenland, sagen wir kurz für Athen,folgern dürfe. Es scheint nämlich, als sei die Tierhaut fürschriftliche Aufzeichnungen besonders in Vorderasien beliebtgewesen. Der griechische Arzt Ktesias, der lange Zeit amHofe des persischen Großkönigs lebte, hat dort in Erfahrunggebracht, daß die Perser die Taten der Alten, d. h. wohlihre Geschichte, auf Tierhäute aufgezeichnet haben; mannannte diese Chroniken »königliche Häute«. Wenn manwill, mag man daraus entnehmen, daß die lonier, bei denenasiatische Einflüsse naturgemäiä stärker sich geltend machten,auch die Benutzung der Tierhaut von ihren Nachbarn undspäteren Gebietern übernommen hatten. Auf der anderenSeite nötigt uns nichts, diese Sitte auf die lonier zu be-schränken, denn daß sonst in der Literatur des 5. Jahr-hunderts sich kein Hinweis auf die Tierhaut f indet , istohne Belang, wird doch überhaupt nur an ganz wenigenStellen etwas über das Schreibmaterial verraten. Ja, es

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spricht sogar manches dafür, bei den Griechen der altenZeit im allgemeinen die Tierhaut vorauszusetzen. Umetwas Uraltes zu bezeichnen, pflegte man zu sagen, es seiälter als die T i e r h a u t , und wenn ein späterer Schriftstellerden Zeus sich lange in die Häu t e vertiefen läßt, so siehtman deutlich, daß die Tierhaut als Buch- und Schreibmaterialdem Bewußtsein des Volkes uralt erschien. Jedenfalls istsie auch den Griechen wohl bekannt gewesen, und zwarwahrscheinlich in der Gestalt der Lederrolle. Für diesenGebrauch paßte sie vorzüglich, und ganz abgesehen davon,daß man im Mittelalter das Pergament als Rolle hand-habte, sehen wir die Möglichkeit der Lederrolle noch vorAugen in erhaltenen Exemplaren ägyptischer Texte, dievor dem Beginne einer griechischen Literatur auf Leder-rollen geschrieben worden sind. Auch die römischenJuristen, denen es gerade auf die Form, ob Rolle oderCodex, ankam, rechnen das Leder zu den Stoffen, die alsRolle verwendet werden können. Und noch in einer weitspäteren Zeit gab es Lederrollen wie das Prachtexemplarin der Bibliothek des Kaisers Konstantin, das die homerischenGedichte in Goldschrift enthielt. Die geringe Zahl dererhaltenen Beispiele spricht nicht dagegen und erlaubtkeinen Rückschluß auf die der Papyrusrolle vorausliegendeZeit. Vielmehr scheint es wiederum eine alte Sitte zuverraten, wenn man auf der Insel Cypern den Schreiblehrerbezeichnete als »den, der die Haut salbt«, wobei freilichunsicher bleibt, ob gemeint ist, er bestreiche sie mit Fettoder öl, um sie geschmeidig und brauchbar zu machen,oder er »lösche die Haut aus«, d. h. er korrigiere die aufLeder geschriebene Arbeit des Schülers durch Auslöschen.Jedenfalls ist solch ein Name keine späte Erfindung, sondernein altes Herkommen; dies Beispiel ist ebenso zu beurteilenwie die altionische Benennung des Schreibmaterials. Jaes scheint, als sei die Tierhaut geradezu das wichtigsteBuchmaterial gewesen: nicht nur Herodots Bericht überdie eigentümliche Benennung des Bastes oder Buches beiden loniern, sondern auch der überlieferte Ausdruck »eherneHäute« spricht dafür, denn in diesem Falle zeigt die Ver-mengung der Begriffe, daß das Wort »Tierhaut« in sehrweitem Sinne gefaßt werden konnte und unter Umständennieht mehr das Material sondern die Form oder den Inhalt,wahrscheinlich also ganz allgemein das »Buch« bezeichnete.

Verhältnismäßig oft finden wir die Schreibtafel erwähnt;wie weit hinauf ihr Gebrauch reicht, bleibt freilich dunkel.In der Zeit der Perserkriege war sie längst geläufig: Pigres,der Verfasser des dem Homer zugeschriebenen komischenHeldengedichts vom Kriege der Frösche und der Mäuse,

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kennt sie ebenso wie der Tragiker Aischylos, und zwarnicht nur das einfache Holzbrett, sondern auch das ausmehreren Tafeln zusammengesetzte Schreibheft; Herodoterwähnt ausdrücklich die Wachstafel. An sich konnte siesowohl für Notizen als auch zur Aufzeichnung literarischenInhalts verwendet werden, und im praktischen Leben hieltman gewiß diese beiden Zwecke ebensowenig auseinander,wie wir es heute tun; es ist durchaus wahrscheinlich, daßein Aischylos seine dichterischen Entwürfe solchen Tafelnanvertraut hat. Überhaupt spielt die Schreibtafel bei denTragikern eine große Rolle: ihre »Klappen«, eine charakte-ristische Bezeichnung, die nur auf sie paßt, bringt Aischylossogar in direkte Verbindung mit dem Worte byblos. Dasbedeutet, daß ihm ein »Buch« in der Form der Schreib-tafel immerhin denkbar erschien. Dabei ist freilich zubeachten, daß gerade im Drama der Stoff selbst einenaltertümlichen Charakter hatte und die Möglichkeit bietet,die » Klappen der bybloi « als einen beabsichtigten Archaismuszu verstehen. Ein wirkliches Buch konnte die Schreibtaielnicht sein, und wenn die »Werke und Tage« des Hesiodauf Bleitafeln zu sehen waren, wenn der erste Apollohymnusauf einem weißen Brette in Delos stand, wenn Euripidesdie Gesänge des Orpheus auf »thrakischen Brettern« auf-gezeichnet sein läßt, so sind alle solche Niederschriftenmehr als öffentliche Monumente aufzufassen; der literarischeInhalt macht sie noch nicht zum Buche, ebensowenig wiedie eherne Tafel aus dem Grabe der Alkrnene bei Haliartosin Bootien, die nach Plutarch mit uralten unverständlichenZeichen nach der Art ägyptischer Hieroglyphen bedecktwar. Für die Überlieferung literarischer Werke hat sie ohneFrage eine Bedeutung gehabt, aber ein Buch im eigentlichenSinne ist sie niemals gewesen.

Am spätesten tritt in der Überlieferung der Papyrusauf. Man ist von vornherein geneigt, ihn auch für dieälteste Periode bis zum Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr.als Buchmaterial bei den Griechen vorauszusetzen, weil erspäter durchaus das Übergewicht über alle Vorgänger undRivalen besitzt. Und wenn es an klaren Zeugnissen fürseinen Gebrauch fast völlig mangelt, so darf man daraufin diesem Falle nicht mehr Gewicht legen als sonst.Immerhin kann es auffallen, daß der Papyrus als solcherüberhaupt nur zweimal genannt wird. Eine Steininschriftüberliefert uns die amtliche Abrechnung über den Bau desErechtheusheiligturns in Athen und führt unter den Aus-gaben auf: »es wurden 2 PapyrusbJätter (chartai) gekauft,auf welche wir die Abschriften geschrieben haben« mitAngabe des Preises, Der Zusammenhang läßt erkennen.

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3 O Zweites Kapitel.

daß diese Papyrusblätter für die Abschrift der Rechnungbestimmt waren, während das Original auf Holztafeln ge-schrieben wurde. Wahrscheinlich wurde der Papyrus alsdas bequemere Material vorgezogen, wenn es sich darumhandelte, Abschriften für die staatlichen Archive anzufertigen.Ob an dieser Stelle einzelne Blätter oder ganze Rollengemeint sind, können wir nicht entscheiden. Ganz ähnlichund ebenso unbestimmt wird der Papyrus auf einer ins4, Jahrhundert gehörigen Inschrift aus dem Peloponneserwähnt. Das Wesentliche ist nur, daß man im 5. Jahr-hundert in Athen Papyrus kaufen konnte und an seineVerwendung gewöhnt war. Dem gegenüber steht die merk-würdige Tatsache, daß Herodot in seiner BeschreibungÄgyptens zwar viele andere aus Papyrus hergestellte Gegen-stände erwähnt, über das Papyrusblatt aber kein Wort ver-liert. Man sollte meinen, gerade dies müßte ihm vor allemanderen bemerkenswert gewesen sein; er? der soviel zusehen und zu hören verstand, müßte wenigstens in Ägyptenselbst Papyrusrollen zu Gesicht bekommen oder davon er-fahren haben. War das aber der Fall, so lag es ihm sehrnahe, etwas davon zu erzählen, besonders wenn die Papyrus-rolle in seiner Heimat, in Griechenland überhaupt, unbekanntoder selten war. Mir scheint sein auffallendes Schweigenimmer noch am ehesten verständlich, wenn dies Materialden Griechen nicht nur bekannt, sondern ganz geläufigwar. Vielleicht ist für ihn überall, wo er das Wort byblos,das ja eigentlich einen weiteren Sinn hat, anwendet, diePapyrusrolle die selbstverständliche Voraussetzung; dannwäre seine oben besprochene Notiz über den Sprachgebrauchder lonier so zu verstehen, daß die Papyrusrolle bei ihnenaus alter Gewohnheit Haut hieß. Indessen wird man dasnicht sicher ausmachen können; hier kommt es nur daraufan, daß Herodots Schweigen nicht unbedingt als ein Beweisgegen den Gebrauch der Papyrusrolle aufgefaßt werdenmuß. Immerhin geben uns die vereinzelten Bemerkungender Schriftsteller kein Recht, uns die Schriften jener Zeitausschließlich als Papyrusrollen zu denken; wir müssenmit anderen Stoffen, vor allem mit der Lederrolle alseinem sehr wohl möglichen Materiale rechnen. Auf deranderen Seite ist es von Bedeutung, daß die Papyrusfundeder letzten Jahre uns ein paar literarische Handschriftenaus Ägypten gebracht haben, die wahrscheinlich noch im4. Jahrhundert und vor der Ausbildung des alexandrinischenBuchgewerbes geschrieben worden sind. Man darf siefreilich nur mit Vorsicht verwerten, denn so viel auchdafür spricht, daß diese Exemplare eine Gewohnheit,griechische Texte auf Papyrus zu schreiben, voraussetzen,

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Die Buchrolle. -JI

so können wir doch nicht mit Sicherheit erkennen, wieweit diese Gewohnheit zurückreicht. Wenn wir aber im5. Jahrhundert den Papyrus als ein gebräuchliches Schreib-material in Athen kennen gelernt haben, so werden wirohne allzu große Kühnheit auch annehmen dürfen, daßman schon damals auch für das Buch die Papyjusrollebenutzte. 'Die damals schon regen Beziehungen zu Ägyptenwerden den Griechen dies Material ohne besondere Schwierig-keiten zugänglich gemacht haben, wozu auch das obenerwähnte merkwürdige Schweigen Herodots zu stimmenscheint. Sicher sind wir dagegen, daß die Forin der Rolleden Griechen des 5. Jahrhunderts die eigentliche Buchformwar, denn Xenophon gebraucht von dem Leser den Aus-druck, er rolle die Bücher auf. Indessen schafft der Gebraucheines Schreibmaterials und seine Benutzung für einenliterarischen Inhalt noch kein Buch im technischen Sinne.Dazu gehört vielmehr die Bestimmung für die Öffentlichkeitund als ein Mittel zu diesem Zwecke die Vervielfältigung.Aus Gründen, die genauer im 4. Kapitel dargelegt werdensollen, glaube ich annehmen zu dürfen, daß die Entstehungdes Buches bei den Griechen spätestens in das 6. Jahr-hundert v. Chr. zu verlegen ist. Das Aufblühen der Prosa-literatur muß in dieser Richtung lebhaft fördernd gewirkthaben; wir haben daher das Recht, im 5. Jahrhundert einewirkliche Buchtechnik vorauszusetzen und die zuvor ge-wonnenen Ergebnisse dafür zu verwerten.

Wie aber sah das griechische Buch des 5. und 4. Jahr-hunderts aus? Für die Beantwortung dieser Frage stehenuns nur sehr geringe Hilfsmittel zu Gebote, aber seit kurzemist uns, wenn auch in bescheidenem Maße und mit vielenEinschränkungen, die Möglichkeit gegeben, uns eine An-schauung davon zu verschaffen. In den letzten Jahren sind ausÄgypten wie schon gesagt einige Papyrushandschriiten zu Tagegetreten, die an Alter alle früher gefundenen übertreffen undauch bei vorsichtigster Beurteilung in eine Zeit gerückt werdendürfen, die der Entstehung der alexandrinischen Bibliothekund der von ihr ausgehenden Umwandlung des Buchwesensvorausliegt. Als den wichtigsten, vielleicht auch den ältestenVertreter dieser Gruppe betrachte ich den T imotheos -p a p y r u s und gehe deshalb näher auf sein Aussehen ein;wer sich genau darüber unterrichten will, findet eine Be-schreibung in der Textausgabe von Wilamowitz und einevollständige Abbildung in den Veröffentlichungen der Deut-schen Orientgesellschaft vom Jahre 1903.

Auf dem Begräbnisplatze von Abusir in der Nähe vonKairo ist dieser Papyrus gefunden worden. Er lag zu-sammengerollt neben einer Mumie, die an den sonstigen

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32 Zweites Kapitel.

Beigaben als Leiche eines griechischen Mannes erkanntwerden konnte. Alles, was man in der Umgebung aus demBoden herausgeholt hat, weist auf das 4, Jahrhundert v. Chr.hin, sodaß man kaum anders kann als auch die Schriftrollein diese Zeit zu setzen. Die altertümlichen, steifen Schrift-züge, die den Buchstabenformen der Steininschriften nahestehen, würden für sich allein ihr Alter noch' nicht be-stimmen. Nachdem wir aber durch einen glücklichen Fundin den Besitz einer aus dem Jahre 311/0 v, Chr. datiertenUrkunde gelangt sind, haben wir ein Mittel zum Ver-gleichen in der Hand, Und da der Timotheospapyrus inden Formen der Buchstaben ungefähr auf derselben Stufesteht wie diese Urkunde, zugleich aber selbst ihr gegenübernoch etwas altertümlich aussieht, so brauchen wir nichtmehr daran zu zweifeln, daß er wirklich den letzten Jahr-zehnten des 4. Jahrhunderts angehört. Es ist nicht dieganze Rolie, die neben der Mumie lag, sondern das Ende,aber doch ein so beträchtlicher Teil, daß man ihn etwaauf die Hälfte der vollständigen Rolle abschätzen kann.Als ein Verwandter oder Freund dem Toten dies Buch insGrab legte, war es jedenfalls schon verstümmelt; vielleichtwar kein besseres Exemplar zur Hand, oder der Lebendeglaubte dem Toten auch mit einem schadhaften ExemplarGenüge zu tun. Der Papyrus selbst ist gut gearbeitet; dieeinzelnen Blätter, aus denen die Rolle zusammengeklebtist, haben eine Breite von 22 cm und eine Höhe von 19 cm.Die Klebungen sind sorgfältig ausgeführt, sodaß die Schriftohne Anstoß darüber hinweg gehen kann. Der Textsteht in fünf recht gut erhaltenen Schriftreihen oderKolumnen vor uns; jede dieser Kolumnen hat ungefähr27 Zeilen, deren oberste und unterste den Rändern sehrnahe kommen. Die Länge der Zeilen ist bei ihm wie beieinigen seiner Altersgenossen so ungleich, wie es späterkaum einmal in literarischen Handschriften vorkommt, undda sie mitunter sich bis zu 23 cm ausdehnt, so machtdie Kolumne im Verhältnis zur Höhe des Papyrus einenaußerordentlich breiten Eindruck. Auf der letzten Kolumnestehen nur noch vier Zeilen; der Schluß des Textes isterreicht, und der Rest wird ieer gelassen. Bei größerenSinnabschnitten wird die begonnene Zeile nicht ausgefüllt;unter ihr steht ein wagerechter Strich, und der neue Gedankesetzt mit der nächsten Zeile ein. An der Stelle, wo der eigent-liche Inhalt beendet istund eine persönliche Bemerkung desVer-fassers folgt, steht am Rande noch ein seltsames vogelgestaltigesZeichen, das ich an andrer Stelle näher besprechen werde.

Diese merkwürdige Rolle enthält den Schluß einesdithyrambischen Gedichtes, als dessen Verfasser sich auf

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Die Buchrolle. 33

der vorletzten Kolumne Timotheos von Milet bekennt.Die Schilderung einer Seeschlacht, die wir hier finden,macht es unzweifelhaft, daß von dem Siege bei Salamisdie Rede ist, obwohl kein Name genannt wird. Wir kennenauch aus Zitaten den Titel des ganzen Gedichts und wissen,daß »die Perser« das berühmteste Werk des Timotheoswar. Für eine Festaufführung ist es im Anfange des4. Jahrhunderts gedichtet worden, und wenn die Papyrus-rolle so datiert werden darf, wie oben gesagt ist, so ist sievon der Zeit des Dichters nur um Jahrzehnte entfernt,Dürfen wir uns nun das griechische Buch des 4. Jahr-hunderts nach diesem Exemplare vorstellen? Zunächstkönnte man einwerfen, der Papyrus stamme aus Ägyptenund zeige daher wohl die Schreibweise der dort wohnendenGriechen, aber nicht die ihrer Heimat, nicht das BuchAthens. Indessen glaube ich, dem nicht viel Gewicht bei-messen zu können. Denn die Griechen, die schon vor demstarken Zustrom in den Tagen des großen Alexander sichdort angesiedelt haben, werden ebenso wie die, welchemit der makedonischen Eroberung eindrangen, ihre Gewohn-heiten aus der Heimat mitgebracht haben. Wollten sieeine Buchrolle schreiben, so mußten sie dem folgen, wassie von Hause aus gewohnt waren, weil es gar kein anderesVorbild gab, denn die ihnen unverständlichen, wahrscheinlichauch sehr wenig bekannten ägyptischen Papyrusrollen konntenihnen kein Muster sein. Nehmen wir an, daß die Papyrus-roile im 5. und 4. Jahrhundert in Griechenland üblich war,so folgt daraus ohne weiteres, daß ihre Form auch für diein Ägypten ansässigen Griechen den Maßstab bildete. Manhat im Hinblick auf orthographische Eigenheiten des Textesund auf die Form der Buchstaben geglaubt, der Timotheos-papyrus sei in Kleinasien, etwa in Milet, der Vaterstadtdes Dichters, geschrieben worden. Diese Annahme istaber überflüssig; gerade von der kleinasiatischen Küste wievon den Inseln des ägäischen Meeres sind so viele Griechenals Söldner oder Kaufleute in das Niltal gekommen, daßes gar kein Wunder ist, wenn wir dort ihre Besonderheitenwiederfinden, Die Timotheosrolle darf also ruhig als einVertreter griechischer Schreibweise gelten; wenn ein Unter-schied zwischen dem athenischen und dem milesischenBuche bestand, was wir nicht wissen, so käme sie allerdingsvornehmlich für das letztere in Betracht. Sehen wir nunaber diese 5 Kolumnen genauer an, so regt sich doch einBedenken, ob wir es hier wirklich mit einem mustergültigenExemplare zu tun haben. Die meisten Buchhandschriftenund gerade solche von hohem Alter zeigen eine viel größereRegelmäßigkeit und Sorgfalt der Schrift, ein deutliches

S c h u b a r t , Das Buch. ?

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Zweites Kapitel.

Bestreben, den Zeilen der Kolumne nach Möglichkeit gleicheLänge zu geben, bestimmte und nicht zu kleine Abständezwischen den Kolumnen einzuhalten und oben wie unteneinen erheblichen freien Raum übrig zu lassen. Sie sollenaugenscheinlich nicht nur bequem zu lesen sein, sondernauch ein gutes Aussehen haben. Die Hand, die denTimotheostext schrieb, entspricht keiner dieser Anforderungen.Sie ist zwar des Schreibens gewohnt und bildet die Buch-staben im Ganzen gleichmäßig, aber ohne das Bemühen,schön zu schreiben; sie ist deutlich, aber nichts wenigerals elegant. Wie ungleich die Länge der Zeilen ist, habeich schon erwähnt; da aber der Schreiber hierin nicht demVersmaße folgt, hatte er sehr wohl eine gleichmäßig aus-sehende Kolumne herstellen können, wenn es ihm daraufangekommen wäre. Die Kolumnen sind, wie sich aus derUngleichheit der Zeilen ergibt, nicht durch bestimmteZwischenräume von einander getrennt, ja besonders langeZeilen reichen manchmal bis dicht an die nächste Kolumneheran. Kurz, das ganze Buch ist nichts weniger als schön.Wären die Griechen in der Herstellung der für den Verkaufgeschriebenen Exemplare über die Güte der Timotheos-handschrift nicht hinausgekommen, so könnte man nichtgerade eine hohe Meinung von dem griechischen Buch-gewerbe gewinnen und müßte den Aufschwung, der vonAlexandrien im 3. Jahrhundert ausgegangen ist, als einevollständige Umwälzung ansehen. Es ist freilich derBeachtung wert, daß gerade die der Schrift nach demTimotheospapyrus verwandten Handschriften einige seinercharakteristischen Merkmale, die Ungleichheit der Zeilen,den völligen Mangel metrischer Gliederung und das niedrigeFormat, mit ihm gemein haben. Deshalb darf man denSchluß, dies seien Kennzeichen der voralexandrinischenBuchtechnik, nicht völlig von der Hand weisen. Auf deranderen Seite wissen wir nicht genug über den EinflußAlexandriens, um die Regelmäßigkeit und Schönheit mancherder ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts angehörigen Beispieleohne weiteres auf seine Rechnung setzen zu dürfen. Oben-drein gelten für die Timotheosrolle besondere Rücksichten.Sie ist geschrieben von einem leidlich gebildeten Griechen,aber schwerlich von einem gewerbsmäßigen Buchschreiber.Vielleicht war der Tote, bei dem sie gefunden worden ist,ein wandernder Sänger, der die berühmte patriotischeDichtung und Komposition seinen Landsleuten im fremdenLande vorzutragen pflegte; vielleicht hatte er selbst denText aufgeschrieben oder sich aufschreiben lassen; dasändert nichts an der Sache, Daß die Noten fehlen, scheintmir unwesentlich; wer solch ein Lied berufsmäßig sang.

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Die Buchrolle. 35

wußte die Melodie auswendig ebenso wie den Text. Ihmseine Glanznummer ins Grab zu legen, paßt durchaus zuantiken Gewohnheiten, Privatabschriften hat es sichervorher und nachher in großer Menge gegeben, und es liegtkein Grund vor, diese Rolle, die man wohl dazu rechnenwürde, wäre sie um hundert Jahre jünger, wegen ihreshohen Alters anders zu beurteilen, Ob ein Angehörigeroder Freund ein richtiges Buchhändlerexemplar, das dochGeld kostete, dem Toten abgetreten hätte, ist schließlichauch noch sehr fraglich. Gleichgültig bleibt es, ob wirdie Rolle als Privatabschrift oder als Beispiel einer billigenAusgabe ansehen, denn solche hat es neben den eigentlichenmustergültigen Büchern vielfach gegeben. Wir könnendaher dieser ältesten Handschrift und der wenigen ändern,die ihr ungefähr gleich stehen, nicht entbehren, wenn wiruns von der Buchrolle des 4. Jahrhunderts ein Bild machenwollen; ob sie aber ein vollgültiges Beispiel für die TechnikAthens und anderer Mittelpunkte des literarischen undbuchhändlerischen Lebens bieten, ob wir uns nach ihremMuster die besten Ausgaben des Platon oder des Isokratesvorstellen dürfen, muß bis auf weiteres dahingestelltbleiben,

Nur wenig läßt sich für das Buch des 5, und 4. Jahr-hunderts aus anderen Quellen gewinnen. Daß z. B. dieBuchrolle auch damals einen Titel irgend welcher Formbesaß, ist so selbstverständlich, daß man nicht erst in einemBruchstücke aus einem Lustspiele des Alexis zu sehenbraucht, wie der Schüler Herakles an der Aufschrift denInhalt der Bücher erkennt. Zu den unsicheren Vermutungenaber gehört es, wenn man gemeint hat, in jener Zeit habees Rollen von ganz gewaltigem Umfange gegeben, Rollen,die z. B. das gesamte Geschichtswerk des Thukydides ent-hielten. Es ist allerdings richtig, daß die Einteilung inBücher, die wir jetzt in den Ausgaben des Thukydides undaller anderen finden, von den Verfassern nicht herrührt.Sie haben ihre Werke als ein ganzes geschrieben; erstspäter hat man das Bedürfnis gehabt, den großen Stoffauch äußerlich zu gliedern. Rechnet man aber den ganzenThukydides als eine Buchrolle, so ergibt sich ein Riesen-exemplar von etwa 80 m Länge, weit mehr, als selbst diegrößten uns erhaltenen griechischen Rollen zeigen. Ansich war es natürlich möglich, solche Rollen herzustellenund zu beschreiben, wer aber eine Vorstellung davon hat,wie solch ein Ungeheuer aussehen müßte, wird doch Be-denken tragen, daran zu glauben. Zum mindesten wärediese Rolle höchst unbequem für den Leser, der sie kaumhandhaben könnte; sie wäre außerdem schon beim Beschreiben

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36 Zweites Kapitel.

eine wahre Qual für den Schreiber und fortwährend inGefahr zu zerreißen oder sonst beschädigt zu werden. Ichsehe nicht ein, weshalb wir den Alten etwas so Unpraktischeszutrauen sollen. Es lag doch viel näher, Rollen von mäßigemUmfange zu nehmen, den Text darauf zu verteilen und siemit Nummern zu bezeichnen. Daß jede Rolle auch inhaltlichein Ganzes sein müsse, ist ein Gedanke, der in spätererZeit allerdings vorhanden, aber auch da nicht allgemeindurchgeführt ist. Ihn ohne weiteres für das 5. Jahrhundertvorauszusetzen, haben wir gar keinen Anlaß, Die manchmalsehr großen Rollen ägyptischer Texte sind dafür nicht maß-gebend, denn ich glaube nicht, daß man in Athen vieldavon gewußt haben wird. Schließlich gibt doch nichtirgend ein Prinzip, sondern die Praxis in solchen Dingenden Ausschlag; wo man nicht klare Beweise hat} ist dasHandliehe und Brauchbare immer wahrscheinlicher als dasUnpraktische, mag es noch so sehr durch wissenschaftlicheGesichtspunkte empfohlen werden. Damit will ich nichtausschließen, daß gelegentlich einmal eine ungewöhnlichgroße Rolle beschrieben worden sei, um einen ganzenSchriftsteller aufzunehmen. So scheint z. B. der JuristUlpian eine den ganzen Homer begreifende Rolle fürmöglich zu halten; »wenn jemand, sagt er, den ganzenHomer in einer Rolle besäße, so rechnen wir nicht 48 (ein-zelne) Bücher, sondern die eine Homerrolle hat als (ein)Buch zu gelten«. Jedoch ist das im Grunde nur einschwacher Beweis, denn es kommt dem Juristen nur daraufan, auszudrücken, daß im juristischen Sinne Rolle gleichBuch ist, ohne Rücksicht auf die Länge. Er hat einBeispiel gewählt, das ihm als das äußerste erschien; ob erwirklich solche Rollen kannte, läßt sich aus seinen Wortennicht entnehmen. Jedenfalls besagen sie nichts über dieuns beschäftigende Zeit und nichts über die herrschendePraxis. Ebensowenig ist mit dem berühmten Ausspruch.des alexandrinischen Bibliothekars Kallimachos anzufangen,das große Buch sei gleich dem großen Übel. Man hatgemeint, darin das Programm der alexandrinischen Buch-reform erblicken zu dürfen; Kallimachos habe die bisherüblichen Riesenrollen verurteilt und ein besser brauchbaresFormat damit empfohlen, Aber tun wir mit dieser Er-klärung nicht dem alten Dichter und Gelehrten unrecht,hat er sich wirklich so viel dabei gedacht? Mir kommtes natürlicher vor, seine Äußerung, deren Zusammen-hang wir nicht kennen, als einen Scherz aufzufassen; erhat wohl nur sagen wollen, es gebe nichts Schlimmeresals ein umfangreiches Buch; und in einer Zeit der Viel-schreiberei wäre solche Kritik durchaus verständlich.

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Die Bucbrolle. 37

So bleibt als sicher für die ältere Periode nur zweierleibestehen: man kannte außer anderen Schreibstoffen auchdie Papyrusrolle und war gewöhnt, sie anzuwenden; manhatte aber auch im Laufe einer regen schriftstellerischenTätigkeit bestimmte äußere Formen für das in den Handelkommende Buch ausgebildet und hatte einen erheblichenbuchhändlerischen Betrieb entwickelt, wie allein schon ausden später zu besprechenden, sehr hohen Beständen deralexandrinischen Bibliothek hervorgeht. Alles Nähere istuns unbekannt und wird es voraussichtlich immer bleiben,

Ehe wir diese Periode verlassen, ehe wir aus dem vor-geschichtlichen Zeitalter des antiken Buchgewerbes in diegeschichtliche Zeit hinübertreten, müssen wir noch einenkurzen Blick auf die Ursprünge des römischen B u c h w e s e n swerfen. Freilich darf man davon nur mit einer entscheidendenEinschränkung sprechen: die Literatur lateinischer Sprache,die wir kennen, ist von vornherein abhängig von griechischenEinflüssen und deshalb auch irn Äußerlichen, im Schreib-material und in der Buchform, unselbständig. Wie dieältesten einheimischen Aufzeichnungen, denen man kaumden Charakter von Literaturwerken zusprechen kann, ver-öffentlicht worden sind, können wir aus den Bemerkungenspäterer Schriftsteller nicht entnehmen, denn sie gebrauchendafür die ihnen geläufigen Ausdrücke und hätten schwerlichsagen können, ob diese Wörter den ursprünglichen Formenangemessen waren. Man darf wohl im allgemeinen dasselbevoraussetzen, was für die älteste Periode des griechischenSchrifttums gilt, zumal da es auch in jenen Tagen, vordem 3. Jahrhundert v. Chr., keineswegs an Berührungen mitgriechischem Wesen gefehlt hat. ^Ein kurzer Hinweis, dereine wirkliche Kenntnis zu verraten scheint, begegnet unsbei dem Geschichtsschreiber Livius, der sich wiederum aufden älteren Chronisten Licinius Macer beruft. Er erzählt,im Tempel der Moneta seien l e i n e n e B ü c h e r aufgefundenworden, und zwar B ü c h e r der B e h ö r d e n , also amtlicheAnnalen aus alter Zeit. Auch Augustus habe, als er einenalten Tempel des Jupiter wieder herstellen ließ, dort solchein Leinwandbuch entdeckt. Daß die Leinwandrolle ansich ein brauchbares und auch wirklich gebrauchtes Materialwar, haben wir oben gesehen. Wir können uns also diealten römischen Aufzeichnungen rechtlichen und kirchlichenInhalts, die oft erwähnt werden, mit einer gewissen Be-rechtigung als Leinwandrollen denken. Dazu tritt abernoch ein zweiter Gesichtspunkt. Die Anführungen derLeinwand als eines Schreibmaterials stammen fast alle ausrömischen Schriftstellern, Sie werden bei ihnen ganz all-gemein hingestellt, aber die Vermutung liegt nahe, daß

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diese Notizen auf solchen Nachrichten beruhen, wie sieLivius aus dem Werke des Licinius Macer entnommen hat.Wenn also Varro, der Gewährsmann des Piinius, wennspäter der Jurist Ulpian von Leinwandrollen, spricht, sodarf man vielleicht weniger an griechische als an römischeund italische Verhältnisse denken, ohne den Griechen denGebrauch des leinenen Buches abzusprechen. Der Beginneiner wirklichen römischen Literatur fällt in eine Zeit, dieschon dem alexandrinischen Einflüsse offen stand; diePapyrusroile wird damals, im 3. Jahrhundert, auch in Romgeherrscht haben. Und als im Jahre 181 v. Chr. der Versuchgemacht wurde, Schriften juristischen und philosophischenInhalts als uralte Weisheit unterzuschieben, war der Be-trüger nicht in "der Lage oder nicht schlau genug, auchaltes Material dafür zu nehmen; so wie Livius und Piinius,der sich auf Cassius Hernina beruft, diese Bücherbeschreiben,scheinen sie Papyrusrollen gewesen zu sein, Sie sahenganz neu aus, sagt Livius, und das gilt wohl nicht alleinvon der Schrift und ihrer guten Erhaltung, sondern auchvon ihrem Stoffe. Die Römer ließen sich denn auch nichttäuschen; nach manchem Hin und her brachten die Be-hörden sie in ihre Hand und ließen sie als religionsfeindlichverbrennen.

Mit dem Beginn des 3. Jahrhunderts v, Chr. gewinnenwir zum ersten Male einen sicheren Boden: von da an be-sitzen wir Reste antiker Bücher, die uns das Buchwesender Alten in greifbare Nähe rücken. Für uns bildet diePeriode, die durch erhaltene Papyrushandschriften vertretenwird, ein Ganzes gegenüber der Vorzeit, wenn wir auchversucht haben, aus den^ältesten dieser Zeugen dies undjenes für das 5. und 4. Jahrhundert abzuleiten; erst mitdieser Periode tritt an die Stelle der Vermutungen trotzaller Schranken des Wissens eine wirkliche Kenntnis.Äußerlich betrachtet hängt das Recht, die neue Zeit alsdie geschichtliche von der vorangehenden zu sondern, aneinem Zufall, den Papyrusfunden der letzten Jahrzehnte;allein der Zufall fällt zusammen mit einer tiefgreifendenUmwandlung des Buchwesens. Erst durch die EroberungÄgyptens und seine Eingliederung in das Reich Alexanderswird das Papyrusland den Griechen völlig erschlossen;denn so rege auch seit Jahrhunderten die Beziehungenzwischen Griechenland und Ägypten waren, sie sind nichtzu vergleichen mit dem Verkehr, der sich nun in dasNiltal lenkte. In Ägypten aber faßt ein starkes Königtumalle Kräfte der hineinströmenden Griechen in einer Weisezusammen, die bis dahin unmöglich gewesen war. Und inderselben Zeit tut der griechische Geist den Schritt von

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der lebendigen Literatur zur Gelehrsamkeit. Diese dreiVorgänge, die unter einander in ursächlicher Verbindungstehen, haben auch für das Buchwesen eine außerordentlicheBedeutung erlangt.

Wir haben uns davon überzeugt, daß schon vor denTagen Alexanders des Großen die Papyrusrolle in Griechenlandnicht nur begannt, sondern auch verbreitet war. Es istaber nicht zweifelhaft, daß sie von nun an zunächst beiden einwandernden Griechen und weiterhin in Griechenlandselbst eine viel größere Rolle spielt als zuvor. Durchzahllose persönliche Verbindungen schlägt sich eine Brückevon Ägypten hinüber zu allem, was griechisch redet undgriechisch gebildet ist, und der Handel gewinnt freienSpielraum für die Vermittlung des ägyptischen Schreib-materials an die ganze griechische Welt. Diese Beziehungenwerden absichtlich gefördert von den neuen griechischenHerrschern Ägyptens, deren Stütze niemand anders als dasgriechische Element ihres Gebietes sein konnte. Wenn beidem ersten der Ptolemäer noch die äußere Politik und diemilitärische Sicherung des neuen Besitzes im Vordergrundestanden, so konnte sein Sohn, der zweite Ptolemaios, sichden Aufgaben der Kultur mit allen Kräften zuwenden. Erwar es, der nicht nur griechische Soldaten mit Landbesitzausstattete und in Ägypten dauernd ansiedelte, sondernauch die Vertreter griechischer Wissenschaft und Literaturin die Hauptstadt Alexandrien zu ziehen suchte. Dasgeschah vor allem dadurch, daß ihnen in Alexandrien eineStätte der Wirksamkeit bereitet wurde, wie sie damalssonst nirgends zu finden war. Die großen Mittel desKönigs boten hier ganz andere Unterstützung für das Auf-blühen geistiger Arbeit, als sie im griechischen Mutterlandegewährt werden konnte. Allerdings nicht auf jedem Ge-biete; was recht eigentlich griechischer Natur entsprang,was eines freien und gebildeten Publikums bedurfte, konnteschwerlich den Boden Athens verlassen. Die Komödieblieb dort heimisch und gedieh in den Werken einesMenander und Poseidippos zu neuer Blüte; die Philosophieließ sich ebensowenig verpflanzen, und die Schüler desPlaton wie die des Aristoteles sahen in Athen auchweiterhin ihren Mittelpunkt. Wo es aber auf wissen-schaftliche Unternehmungen ankam, konnte Alexandrienleicht den Vorrang gewinnen. So wandten sich denn imAnfang des 3. Jahrhunderts viele griechische Gelehrte derneuen Stadt und der königlichen Gunst ihres Beherrscherszu. Hier fanden sie Einrichtungen, die ihnen ein sorgen-freies Leben im Dienste der Wissenschaft ermöglichten undein weites Feld der Tätigkeit eröffneten. Der neu gegründete

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Tempel der Musen, das Museion, wurde ihr Mittelpunkt.Als Diener und Priester der Musen in der Art einesreligiösen Vereins verbunden, genossen sie hier die be-deutendsten Vorteile. Sie bekamen ihren Unterhalt, indemsie in Nachahmung griechischer Vorbilder gemeinsam dieMahlzeiten auf Kosten des Königs einnahmen; sie warenvon Steuern befreit und erhielten, wenn nicht alle, so dochzum großen Teile, recht ansehnliche Gehälter. Daß manauch freie Wohnung gewährte, jedenfalls in Gebäuden, diedem Museum angeschlossen waren, ist sehr wahrscheinlich.Mag nun auch jeder aus diesem Kreise, den man in vielemunseren wissenschaftlichen Akademien vergleichen kann,die Freiheit gehabt haben, seinen Studien nach eignerWahl zu leben, so ergab es sich doch von selbst, daßgerade die hervorragendsten unter ihnen ihre Arbeit derzweiten wissenschaftlichen Gründung des Königs, dergroßen Bibliothek, zuwandten. Es waren eigentlich zweiBibliotheken; die eine, welche man die innere nannte, lagbei dem königlichen Palaste und stand in Verbindung mitdem Museum, die andere befand sich in dem ÄgypterviertelRakote bei dem Sarapisternpel und hieß deshalb die äußere.Die größten Gelehrten des 3. und des 2. Jahrhunderts be-trachteten es als höchste Auszeichnung, mit dem Amtedes Bibliotheksvorstehers betraut zu werden. Ihre Tätigkeiterstreckte sich sowohl auf die Ordnung der angesammeltenBücherbestände als auch auf kritische Untersuchungen übereinzelne Schriftsteller. K a l l i m a c h o s widmete sich vorallem den Bücherkatalogen und stellte in umfangreichenBüchern genaue Verzeichnisse der Schriftsteller mit ihrenWerken nach sachlichen Gesichtspunkten auf. Seine Werke,die er »Tafeln« (Pinakes) nannte, sind uns zwar nicht er-halten, aber wir haben doch noch eine Reihe von Notizendaraus, die uns lehren, wie er die Sache anfaßte. Auf dieAngabe der Literaturgattung folgte der Name des Schrift-stellers, sodann die Anfangsworte des Buches, die vielfachals Titel dienten, endlich die Zahl der Zeilen. Später hatman seine Verzeichnisse oft so verstanden, als böten sieeine Auswahl der Klassiker, deren Lektüre besondersempfohlen werden sollte. Allein der Begriff einer klassischenLiteratur mußte dem Kallimachos und seinen Nachfolgernziemlich fern liegen, während es auf der anderen Seitewohl begreiflich ist, daß später die von ihm notiertenSchriftsteller als klassisch galten, Die alexandrinischenBibliothekare haben sich jedenfalls an das gehalten, wassie in der Bibliothek vorfanden, ohne eine Auswahl zutreffen. Deutlich ist dies z. B. bei den alten griechischenLyrikern. Die spätere Zeit kannte ihrer neun, aber nicht,

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weil die Gelehrten Alexandriens diese neun aus der Mengeder übrigen ausgewählt hatten, sondern weil die Bibliothekeben nur von ihnen vollständige Exemplare hatte auftreibenkönnen. Andere Gelehrte und Vorsteher der Bibliothekrichteten ihre Aufmerksamkeit vorwiegend auf die Fragender Echtheit; denn auch damals wurde viel gefälscht, undweil die Bibliothek für Werke alter Schriftsteller hohe Preisebezahlte, versuchte man neue Bücher unter altberühmtenNamen einzuschmuggeln. Vor allem aber haben dieseMänner sich ein bleibendes Verdienst erworben, indem siedie Werke früherer Schriftsteller kritisch untersuchten,sachlich erläuterten und in gereinigter Gestalt neu heraus-gaben. Den Spuren ihrer Arbeit begegnen wir überall, vorallem in den Homerischen Gedichten, denen sie eine be-sondere Aufmerksamkeit zuwandten.

Hand in Hand mit der großen Bedeutung deralexandrinischen Bibliothek für die Überlieferung derLiteratur geht nun ihr Einfluß auf das Buchwesen, auf dieHerstellung und Ausgestaltung der Bücher. Man hat all-gemein diesen Einfluß sehr hoch eingeschätzt; man hatgeglaubt, erst durch sie sei die Papyrusrolle in dergriechischen Literatur wirklich eingebürgert worden, durchsie seien aber auch neue Grundsätze in der schriftstellerischenTätigkeit eingeführt worden. Versuchen wir uns zunächsteinmal klar zu machen, wie denn überhaupt die Bibliothekihre sehr hohen Bestände — die äußere soll 42800, die inneresogar 490000 Rollen enthalten haben — zusammengebrachthaben kann. Offenbar war man darauf angewiesen, imganzen Umkreise des griechischen Kulturgebietes Hand-schriften zu sammeln, im eigentlichen Griechenland, inKleinasien, in Sizilien usw. Überall wird die Bibliothekihre Agenten gehabt haben, die mit Geld hinreichend ver-sehen sein mußten. Daß diese Tätigkeit nicht nach be-stimmten, vorher aufgestellten Gesichtspunkten erfolgt seinkann, versteht sich eigentlich von selbst, wenn man bedenkt,daß dieses Unternehmen in solchem Umfange das ersteseiner Art war, und daß Gesichtspunkte, wie etwa der einerklassischen Literatur, damals kaum vorhanden waren. Manhat also gekauft, was irgend zu haben war, bedeutendeund unbedeutende Werke, gute und schlechte Exemplare,und hat weder vermeiden können noch wollen, daß einund dasselbe Werk gelegentlich in vielen Abschriften er-worben wurde. Denn eine Übersicht war erst möglich,nachdem das Material in der Bibliothek angelangt war.So erklären sich die großen Zahlen, die uns für dieBestände der Bibliothek überliefert werden. Nimmt manauch an, daß die erworbenen Werke im Durchschnitt

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mehrere Rollen ausgefüllt haben werden, teilt man auchjene Zahlen etwa durch zehn, so ergibt sich doch immernoch eine Summe, die weit über die wirkliche Schrift-stellerei der vorausgehenden Jahrhunderte hinausgeht, wennman nicht voraussetzt, daß vieles in einer Menge vonExemplaren einging. Auf der anderen Seite ist es wahr-scheinlich, wo nicht gewiß, daß so manches Werk- trotzaller Bemühungen nicht mehr aufzutreiben war, so daßselbst die alexandrinische Bibliothek sich nicht rühmenkonnte, die gesamte griechische Literatur zu besitzen.Neben dieser Sammelarbeit, die natürlich Jahre oder Jahr-zehnte beanspruchte, ging nun ohne Zweifel eine zweiteTätigkeit her, die nicht weniger bedeutsam war. Erlangteman nur schlechte Abschriften, die äußerlich beschädigtwaren oder einen entstellten Text enthielten, so lag esnahe, möglichst bald ein neues, wirklich brauchbaresExemplar herzustellen. Selbst bei den berühmtesten

Abb. 4, Geschlossene Bolle.

Werken der griechischen Literatur muß es schwer gehaltenhaben, in den Besitz zuverlässiger Handschriften zu kommen.Auch von den Dramen der drei großen Tragiker Aischylos,Sophokles und Euripides gab es in der alexandrinischenBibliothek anfänglich nur Exemplare zweifelhaften Wertes.Deshalb entlieh der dritte Ptolernaios gegen ein Pfand von15 Talenten (gegen 70000 Mark) das Normalexemplar, dasdie Stadt Athen aufbewahrte; man wollte danach einemaßgebende Abschrift für die Bibliothek herstellen. Freilichwar die Absicht des Königs nicht ehrlich; denn die Vor-liebe für alte, wertvolle Bücher bestimmte ihn oder diedamaligen Bibliothekare, das Pfand verfallen zu lassen unddas athenische Original zu behalten. Die Athener wurdenmit einer in Alexandrien gefertigten Abschrift abgespeistund konnten die Rückgabe ihres Eigentums trotz aller An-strengungen nicht erreichen. Stand es nun schon bei denTragikern so, so wird es mit den Schriften weniger bekannterund hervorragender Autoren sicherlich noch schlimmerausgesehen haben. Wir dürfen uns, ohne in grundloseVermutungen zu geraten, vorstellen, daß die Bibliothek

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eine erhebliche Anzahl von Abschreibern beschäftigt unddadurch zugleich die Rollenfabrikation befördert hat.Denn in Ägypten war der Papyrus das gegebene Material;insofern ist es also richtig, wenn man von jetzt an diePapyrusrolle als die allgemein geltende Buchform hinstellt.Je mehr aber die Vorräte sich anhäuften, je mehr Ab-schriften verlangt wurden, um so mehr mußte sich in derHerstellung der Rolle und in der Schreibarbeit eine festeRegel ausbilden, deren Grundlage durch die beständigwachsende Übersicht über das literarische Material gegebenwurde. Dazu kam auch als ein gewiß nicht unwesentlichesMoment die Rücksicht auf Ordnung und Handlichkeit derBücher, denn bei einer so gewaltigen Masse konnte manohne eine gewisse Gleichmäßigkeit im Äußeren nicht aus-kommen.

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Abb. s. Offene Bolle.

So fand sich denn von selbst durch die Praxis das Be-streben, zunächst bei der L ä n g e der R o l l e n die Wi l lkürdes Papyrusfabrikanten und die des Abschreibers zu be-schränken. An sich konnte natürlich die Rolle durch An-kleben immer neuer Blätter zu jeder beliebigen Länge aus-gedehnt werden; daß man dabei auch in früheren Zeitendie Handlichkeit nicht ganz vergessen haben kann, ist schonberührt worden. Jetzt wird man aber, um ein bereitsbesprochenes Beispiel heranzuziehen, es als unbequemempfunden haben, wenn das Geschichtswerk des Thukydidesauf mehrere Rollen willkürlich und vermutlich in ver-schiedenen Exemplaren verschieden verteilt vorlag. DerGedanke, das Ganze in Abschnitte zu gliedern, die inhaltlichetwas Selbständiges darstellen konnten und zugleich imUmfange nicht allzusehr von einander abwichen, war deshalbeine nahe liegende Folgerung. Daraus ergab sich, wennauch nicht gleich im Anfange, so doch jedenfalls unterdem Einflüsse der Bibliothek, die der alten Zeit fremdeGliederung großer Werke in Bücher mäßigen Umfanges,wie sie uns später in den Handschriften begegnet. Gerade

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hier sehen wir aber auch, daß man nicht mechanisch geteiltund eine einzige normale Rollengrööe zum Maßstab ge-nommen hat, denn die Bücher des Herodot, des Thukydid.esusw. sind einander an Umfang keineswegs gleich. Mansuchte eben auszugleichen, soweit es der Inhalt zuließ,Schwankungen konnten dabei nicht ausbleiben; eine Ein-teilung, die dem einen gut schien, mag einem anderenmißfallen haben; aber der Grundsatz, auf Gleichmäßigkeitder Rollengröße und damit des Buchumfangs hinzuarbeiten,ist damals aus der Praxis der Bibliothek erwachsen. Eineeinfache Überlegung zeigt ferner, daß ein einziges Normal-format nicht genügen konnte, denn dazu waren die Lite-raturwerke viel zu ungleich. Nicht alle großen Werkeließen sich, um ein Beispiel zu nennen, nach der mittlerenBuchlänge des Thukydides einteilen, und viele anderereichten wiederum längst nicht hin, um dies Format zufüllen. Daraus ergab sich, daß man verschiedene Größenzulassen mußte, aber doch Größen, die nach einer Regelherzustellen waren. Wenn die Bibliothek das Papyrus-material für ihre Abschriften beziehen wollte, so mußte siedem Papyruslieferanten eine Anweisung geben, wie langdie anzufertigenden Rollen sein sollten. Wenn man dieuns erhaltenen, technisch gut gearbeiteten Exemplare be-trachtet, so sieht man ohne weiteres, daß die Klebungenvon sehr geübten Arbeitern hergestellt sind, denn meistenssind sie nur für das erfahrene Auge sichtbar. Die guteBuchrolle war nicht eine Gelegenheitsarbeit jedes Beliebigen,sondern das Werk einer fabrikmäßigen Übung. Ebensowenigkann man die verschiedene Höhe der Papyrusblätter ausder Willkür erklären; die Papyrusfunde zeigen uns deutlich,daß es mehrere bestimmte Größen gab, die nur unwesentlicheSchwankungen erkennen lassen. Wir müssen also damitrechnen, daß mehrere nach Höhe und Länge bestimmteFormate den Fabrikanten in Auftrag gegeben worden sind;wie hätten sie sonst dem von der Bibliothek ausgehendenund sich fortpflanzenden Bedürfnisse entsprechen können?Wie weit sich dies an den auf uns gekommenen Rollenund Bruchstücken bestätigt, werde ich weiter unten aus-führen. War ein Werk zu klein, um auch das be-scheidenste Format zu füllen, so fügte man ein andereshinzu; das sehen wir an mehreren erhaltenen Stückennoch mit Augen, und was uns von der alexandrinischenBibliothek berichtet wird, beweist, daß schon sie so ver-fahren ist. In ihren Bücherbeständen unterschied man»einfache« und »gemischte« Rollen; nachBirts einleuchtendemGedanken sind die letzteren nichts weiter als Mischrollen,d. h.' solche, die mehrere kleine Werke enthielten. Daß

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man hierbei nach Möglichkeit Zusammengehöriges verband,versteht sich von selbst, obgleich das nicht immer erreichbargewesen sein wird. Sicher aber lernen wir aus dem Vor-handensein der Mischrollen, daß es zum mindesten einkleinstes Rollenformat gab, unter dessen Länge man nichthinabgehen mochte. Die »einfachen« Rollen sind natürlichsolche, die von einem Schriftsteller oder einem Abschnitteseines Werkes ausgefüllt wurden,

Wenn nun in dieser Weise der Einfluß der alexandri-nischen Bibliothek sich geltend machte, wenn man auspraktischen Gründen umfangreiche Werke zu teilen strebteund in der Rollenfabrikation auf eine festere Regel hin-wirkte, so konnte diese Bewegung sich nicht auf die eigeneTätigkeit der Bibliothek beschränken, Ein Unternehmen vonsolcher Bedeutung nötigte, wenn nicht sofort, so doch mit derZeit alle, die mit dem Buchgewerbe in Berührung standen, sichjenen Grundsätzen anzupassen. Man wird ohne Übertreibungbehaupten dürfen, daß die Bibliothek und die von ihrbestimmten Kreise damals und wohl lange Zeit hindurchdie besten Kunden der Papyrusfabrikanten waren und da-durch einen maßgebenden Einfluß auf das ganze Gewerbeausübten. Von der Praxis der Fabriken konnten aber auchdie Schriftsteller nicht unberührt bleiben, und ebensowenigkonnten sie auf die Dauer dem neuen Prinzip widerstehen,daß nach Möglichkeit das Buch sich mit der Rolle zudecken habe, ein inhaltlich geschlossenes Ganzes also auchäußerlich sich als selbständig, als Rolle darstellen müsse.Wüßten wir es nicht aus anderen Quellen, so müßte manaus der Sachlage selbst schon diesen Schluß ziehen. Derneue Grundsatz war so einleuchtend, so praktisch, daß derSchriftsteller nur in seinem eigenen Interesse handelte,wenn er darauf Rücksicht nahm. Freilich nicht in sosklavischer Weise, wie manche geglaubt haben. Eine ziem-lich große Freiheit gewährten an sich schon die verschiedenenNormalformate, unter denen man wählen konnte. Und wennder Inhalt sich keinem von ihnen fügen wollte, so ist zubedenken, daß die Rollenfabrikation denn doch nicht einunverbrüchliches Gesetz befolgen mußte. Abweichungenblieben nach wie vor möglich. Aber sie begegneten jeden-falls einigen Schwierigkeiten, sie widersprachen der sichallmählich durchsetzenden alexandrinischen Regel undwaren deshalb nicht gerade empfehlenswert. In dieserRichtung wird auch die wissenschaftliche und literarischeTätigkeit der Bibliothekare und ihrer Kreise einen Einflußgeübt haben. Denn ihre kritischen Ausgaben alter Schrift-steller und ihre sonstigen gelehrten wie poetischen Werkehaben gewiß in der äußeren Form die in der Bibliotheks-

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arbeit gewonnenen Grundsätze befolgt und sie durch dieBedeutung ihrer Leistungen in die gesamte literarische Welthinausgetragen. So hat es geschehen können, fast möchteman sagen geschehen müssen, daß die von der Bibliothekausgehende Reform auf die gesamte schriftstellerische Tätig-keit eingewirkt hat, solange überhaupt die Papyrusrolle fürliterarische Werke benutzt worden ist. Die Papyrusfundeselbst geben uns allerdings hierfür so gut wie gar keineBelege; das kann aber nicht auffallen, wenn man bedenkt,daß keine einzige ganze Buchrolle auf uns gekommen ist.Wo man jedoch die Länge einer Rolle ungefähr abschätzenkann, findet man ein Maß von 20 bis 30 FuÜ kaum über-schritten; nicht wenige sind erheblich dahinter zurück-geblieben. Im übrigen ist unser Material gerade hierfürviel zu dürftig, um uns etwas anderes zu lehren, als wassich aus anderen Erwägungen ableiten läßt. Da wirtrotz aller Abweichungen im einzelnen bei den literarischenPapyrustexten eine feste Praxis in der Schreibweise und inder gesamten Ausstattung finden, dürfen wir ruhig annehmen,daß es auch in bezug auf die Rollenlänge sich ähnlichverhalten haben wird. Diese Praxis gilt für die vorchrist-liche Zeit ebenso wie für die römische Periode. Man kannalso unbedenklich das, was Schriftsteller der späteren Jahr-hunderte uns gelegentlich verraten, als den Ausdruck derseit dem 3. Jahrhundert v. Chr. begründeten Gewohnheitbetrachten. Was wir oben als den neuen alexandrinischenGrundsatz erkannt haben, scheint fast wie ein Programmvon dem Historiker Diodor ausgesprochen zu werden:»In allen Geschichtswerken«, sagt er, »ziemt es den Schrift-stellern, in den Büchern die Geschichte von Städten oderKönigen vollständig von Anfang bis zu Ende zu umfassen.«Das würden wir in unserer Redeweise etwa so wiedergeben:der Historiker soll jedes Buch zu einem selbständigenAbschnitt der Geschichte machen. Darin liegt zugleichder Gedanke, daß ein Inhaltsganzes nicht aus einem Buchein das andere übergreifen dürfe. Was Diodor von demHistoriker fordert, gilt natürlich auch für den Philosophenund jede andere literarische Arbeit, So haben denn dieSchriftsteller auch wirklich darauf gesehen, groß angelegteWerke in einzelne inhaltlich abgeschlossene Bücher zu zer-legen. Daß sie deswegen nicht genötigt waren, immer dengleichen Urnfang einzuhalten, beobachten wir überall. Beidem Geschichtsschreiber Polybios z. B. ist die Länge derBücher recht ungleich; er hatte also die Freiheit, seineBücher auf Rollen verschiedener Länge zu berechnen, aberdas Bestreben, dem Ganzen des Buches das Ganze derRolle entsprechen zu lassen, ist vorhanden. Aus diesem

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Grundsatze ergab es sich auch von selbst, daß er und mitihm viele andere am Anfange eines neuen Buches den Inhaltdes vorhergehenden kürz zusammenfassen, denn das neueBuch war eine neue Rolle. Der Leser wurde dadurchveranlaßt, seine Lektüre da zu unterbrechen, wo die Dar-stellung einen Einschnitt hatte; begann er das nächste Mal mitder nächsten Rolle, so mußte ihm eine Übersicht über dasvorige Buch willkommen sein. Natürlich stellte der geltendeGrundsatz eine nicht geringe Anforderung an die Kunst desSchriftstellers. Nicht allen gelang es, den Stoff so zu ordnen,daß auf eines der üblichen Rollenformate auch wirklichein abgerundeter Inhalt kam. Namentlich in allen Gebietenaußerhalb Ägyptens mag der Zwang des Formats stärkerfühlbar gewesen sein. Selbst in Rom, einem Mittelpunktedes literarischen Betriebes in der Kaiserzeit, hatte man dieRollenfabrikation nicht so in der Hand wie in Ägypten.Man wird von dort das Material bezogen haben und mußtesich nach dem richten, was geliefert wurde. Der Schrift-steller konnte nicht ohne weiteres ein Format nach seinenWünschen erhalten, da eine Bestellung bei den ägyptischenFabriken nicht nur viel Zeit, sondern auch Geld kostete.Und selbst wenn die römischen Buch- and Papierhändlersich aus Ägypten nur die einzelnen Papyrusblätter kommenließen, um dann die Herstellung von Rollen selbst auszu-führen, so werden sie schwerlich von der ägyptisch-alexan-drinischen Praxis ganz unabhängig gewesen sein, zumal daauch sie aus geschäftlichen Gründen nicht eine unbegrenzteZahl von Formaten vorrätig halten konnten. Es ist daherwohl verständlich, daß unter solchen Verhältnissen die üb-lichen Formate manchmal wirklich die Freiheit des Ver-fassers beschränkten. Nicht selten wird das in Schlußbe-merkungen angedeutet; es klingt wie eine betrübliche Klage,wenn wir z. B. lesen: »Mein Stoff ist freilich so reich, daßer sich nicht in diesem Buche beschließen läßt. So maghier die vorliegende Rolle ihr Ende haben, in den folgen-den werde ich fortfahren.« Daß an sich nicht eine be-stimmte Rollenlänge für das Literaturwerk maßgebendgewesen ist, haben wir gesehen; es war eben die Not be-sonderer Umstände und oft genug wohl auch das Unge-schick des Schriftstellers, die solche Bekenntnisse hervor-gebracht haben. Denn wie sehr der Buchumfang im Grundevom Inhalte abhing, zeigt uns die Bemerkung des spätenSchriftstellers Isidor, für Gedichte und Briefliteratur sei einkleineres Format oder ein kleinerer Umfang üblich als fürGeschichtswerke. Das lag in der Natur der Sache, und esentsprach nur dem, was die Praxis ergeben hatte, wenn inder Regel das Poesiebuch in einer kleineren Rolle Platz

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fand als das Prosabuch. Ob auch diese Gewohnheit schonvon der Bibliothek in Alexandrien ausgegangen ist, könnenwir nicht wissen; jedenfalls entspricht sie den Grundsätzen,die von ihr ins Leben gerufen worden sind. Wenn dieseim Laufe der Zeit viele Wandlungen erfahren haben, wennz. B. die im 3. Jahrhundert v. Chr. üblichen Rollenlängennicht ohne weiteres auch für das kaiserliche Rom voraus-gesetzt werden dürfen, so blieb doch, soweit wir urteilenkönnen, der leitende Gedanke davon unberührt.

Die von der alexandrinischen Bibliothek ausgehendePraxis wird ihren Einfluß auch sonst in der ganzen innerenund äußeren Ausstattung des Buches geltend gemacht haben.Waren wir aber für die Frage nach der Länge der Rollenauf die vereinzelten Notizen alter Schriftsteller und auf Er-wägungen allgemeiner Natur angewiesen, so haben wir beider Untersuchung über alle anderen Seiten des Buchwesensein nicht geringes Material an erhaltenen Überresten antikerRollen vor Augen und können deshalb mit größerer Sicher-heit darüber urteilen. Wie weit nun alles das, was wir be-obachten können, von dem Beispiele der Alexandriner ange-regt ist, läßt sich nicht entscheiden, ist aber auch verhält-nismäßig gleichgültig. Was uns erhalten ist, gehört inseiner Masse in eine Zeit, die auf die Ausgestaltung deralexandrinischen Bibliothek folgte, und darf im großen undganzen als einheitlich angesehen werden. Wir können alsodas vorhandene Material ohne wesentliche Einschränkungenbenutzen.

Noch mehr als durch die Längenausdehnung wird dasFormat der Buchrolle durch die Höhe der B l ä t t e r bestimmt,aus denen die Rolle sich zusammensetzt. Daß diese Höhegleichmäßig ist, daß also nur Blätter derselben Höhe zueiner Rolle vereinigt werden, ist selbstverständlich und be-darf nicht der Bestätigung, die uns alle Bruchstücke litera-rischer Handschriften liefern. Die gleichmäßige Breite dieserBlätter ist demgegenüber von geringerer Bedeutung, da Ab-weichungen nicht in die Augen fallen und auch für dasBeschreiben der Rolle keine Schwierigkeiten bieten. Sehenwir nun in den erhaltenen Stücken auf die Höhe der Blätter,so beobachten wir die allerverschiedensten Formate. Esgibt Rollen, deren Höhe über 30 cm hinausgeht, undsolche, wo die Höhe noch nicht 5 cm erreicht, und da-zwischen eine große Anzahl verschiedener Maße. Jedochwerden die vorhandenen Möglichkeiten keineswegs in gleicherMenge durch unser Material vertreten. Die Zahl derjenigen,die 30 cm überschreiten, ist nur gering; darunter befindensich Handschriften, die auch in allen übrigen Beziehungenvornehm und anspruchsvoll ausgestattet sind, aber auch

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solche von geringerer Güte und Schönheit. Im allgemeinenscheint eine Höhe von ungefähr 30 cm das stattlichste For-mat darzustellen, das in der Praxis üblich war. KleineUnterschiede von i bis 2 cm fallen hierbei kaum ins Ge-wicht, da in den meisten Fällen gerade die Ränder derPapyrusrollen etwas beschädigt sind und alle diese Maßan-gaben einen gewissen Spielraum zur Voraussetzung haben.Eine Höhe von 30 cm finden wir z. B, in der mustergültigenHandschrift eines Kommentars zu Platons Theaitetos, vonder eine Probe auf Abb. 6 wiedergegeben ist, ebenso aberin dem halb kursiv und mit vielen Abkürzungen geschrie-benen Didymospapyrus der Berliner Sammlung. Um einBild davon zu gewinnen, muß man sich klar machen, daßin den heutigen Büchern eine Blatthöhe von 25 cm schonsehr stattlich aussieht, und daß Blätter von 30 cm Höhe fürunsere Begriffe ein außergewöhnlich großes Format dar-stellen. Eine zweite, sehr zahlreiche Gruppe bewegt sichzwischen 30 und 20 cm Höhe. Innerhalb dieser Grenzenkommen so ziemlich alle Maße vor; man könnte allenfallszwei Klassen bilden, von denen die eine sich etwa um25 cm Höhe hält, die andere sich mit geringen Abwei-chungen auf 20 cm bestimmen läßt. Indessen reicht unserMaterial doch nicht hin, um zwei solche Maße als regel-mäßig befolgt hinzustellen, denn für den Widerspruch gegendiese Gruppierung läßt sich ebensoviel anführen wie fürihre Richtigkeit Jedoch das Eine sieht man ohne weiteres:die große Mehrzahl der erhaltenen Rollenfragmente gehörtin eine Gruppe, deren Höhe zwischen 20 und 30 cm liegt;diese Formate sind augenscheinlich am gebräuchlichsten ge-wesen, und zwar durch das ganze Zeitalter der Papyrusrollehindurch. Auch ein paar der ältesten Bruchstücke gehörenhierhin und beweisen, daß schon dem Anfang des 3. Jahr-hunderts v. Chr. solche Formate bekannt waren. Die Mehr-zahl der frühesten Texte, wenn man bei einer Gesamtsummevon höchstens 20 Exemplaren so rechnen darf, bleibt frei-lich dahinter zurück und bewegt sich z. T. um ein Maßvon 19 bis 20 cm, z. T. um 15 bis 17 cm. Zu der erstge-nannten Klasse gehört auch der Timotheospapyrus- mit19 cm, der freilich ebenso wie seine Altersgenossen über-haupt eine besondere Stellung einnimmt. Sehen wir aufsGanze, so ist die Zahl der Handschriften, deren Höhe sichan 20 cm annähert, etwas geringer als die der darüberhinausgehenden Stücke; immerhin aber bilden sie einedeutlich erkennbare Gruppe. .Mit einer gewissen Sicherheitergibt sich sodann ein kleines Format von etwa 12 bis 15 cmHöhe, denn obwohl wir nur wenige Beispiele besitzen,darunter solche frühester Zeit, stimmen diese doch so gut

S c h u b a r t , Das Buch. *

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Zweites Kapitel.

Abb. S, Zwei Kolumnen aus der Theätetrolle. Papyrus. Original 30 cm hoclt.

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Die Buchrolle,

zueinander, daß eine Regel sich nicht verkennen läßt. Derbekannteste Vertreter dieser Gruppe ist der im BritischenMuseum befindliche Herodaspapyrus, der die Mimiambendieses hellenistischen Dichters enthält. In der BerlinerSammlung zeigt eine im 2. Jahrhundert v. Chr. geschrie-bene Anthologie, die Lob und Tadel der Frauen in denWorten der Tragiker und Komiker zusammenstellt, ungefährdasselbe Format. Unter diese Grenze scheint man nichthinabgegangen zu sein. Die oben erwähnte winzige Rolle,deren Höhe noch nicht 5 cm beträgt, steht ganz allein,so weit meine Kenntnis reicht; es ist wohl kein Zufall,daß dies Taschenformat in kleiner und zierlicher Schriftelegante Epigramme enthält. Solch ein Büchlein" konntedie feine Dame unbemerkt im Bausch des Kleides ver-schwinden lassen, wenn sie bei der Lektüre nicht über-rascht werden wollte. Im übrigen sind die Handschriften,denen für die Höhe des Formats etwas zu entnehmen ist,nur ein Teil der erhaltenen Papyrus; die Mehrzahl ist un-vollständig und kann uns keine Fingerzeige geben. Es istfreilich möglich, auf Grund der sicher bestimmbaren Rollen-bruchstücke durch Beobachtung, der Zeilenlänge, der Zwi-schenräume zwischen den Kolumnen und der etwa sicht-baren Teile des obefen oder unteren Randes annähernddas Format zu erraten, aber diese abgeleitete Erkenntnismuß hier beiseite gelassen werden, da sie doch nur ausden oben erörterten Voraussetzungen gewonnen werden kann.

Bildet die Höhe der Papyrusrolle an und für sich dienatürliche Grenze der Schreibfläche, so wird sie doch nichtvöllig von der Schrift eingenommen. Schon die praktischeRücksicht, den Text vor Beschädigungen zu behüten, nötigtdazu, oben und unten einen freien Raum zu lassen. Wennbei unseren modernen Büchern der Text auf die Seite sogesetzt werden muß, daß er beim Beschneiden der Blätterdurch den Buchbinder unverletzt bleibt, so lag bei derPapyrusrolle die Gefahr in der Brüchigkeit des Materials,das gerade an den Rändern am leichtesten bestoßen werdenkonnte. Allein diese Rücksicht ist für die Alten ebensoselbstverständlich gewesen wie für uns; nicht sie ist cha-rakteristisch für die Anordnung der Schrift auf der Schreib-fläche, sondern das Bestreben, einen gefälligen Eindruckfür das Auge hervorzurufen. Denn das Aussehen des Bucheswird sehr wesentlich durch die Breite des oberen und desunteren Randesbestimmt, durch das V e r h ä l t n i s der Sch r i f t-k o l u m n e zu der Schre ib f läche . Wo das Material nachMöglichkeit ausgenutzt wird, entsteht ebenso wie im modernenBuche der Eindruck der Enge und der Ärmlichkeit, währendeine verschwenderische Behandlung vornehm und elegant

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2 Zweites Kapitel.

aussieht. Dies gilt aber doch nur innerhalb gewisserGrenzen, denn wollte man nur einen kleinen Bruchteil derSchreibfläche ausfüllen, so würde nicht ein wohltuendes,sondern ein lächerliches Bild entstehen. In den Papyrus-rollen beobachten wir zwar große Unterschiede, aber inihnen doch eine Regel; es sind ziemlich feste Höhenver-hältnisse, die immer wiederkehren. In vornehm ausgestattetenHandschriften beträgt die Höhe der Kolumne nicht seltennur zwei Drittel der Gesamthöhe; von diesem günstigstenVerhältnis geht es abwärts zu drei Vierteln, vier Fünftelnund fünf Sechsteln der Rollenhöhe. Dies letztere bildetungefähr die Grenze dessen, was in einer Buchhandschriftzulässig erscheint, und bedeutet schon eine sehr starke Aus-nutzung des Materials, die von Schönheit des Aussehensweit entfernt ist. Die angegebenen Zahlenverhältnisse sindabgerundet und schließen eine Reihe kleiner Abweichungenein, genau so wie im Buch von heute die Höhe des Satz-spiegeis hinter der Seitenhöhe in verschiedenem Maße zu-rückbleibt. Da im allgemeinen ein hohes Format an sichschon kostspieliger ist als ein niedriges, so darf man er-warten, bei Rollen von großer Höhe auch eine verhältnis-mäßig geringe Höhe der Kolumne zu finden. So begegnetuns denn auch das günstigste Verhältnis von 2:3 fast nurin der Gruppe, die eine Hohe von ungefähr 30 cm hat.Die den Kommentar zu Platons Theätet enthaltende Rollegibt wiederum ein gutes Beispiel, denn einer Gesamthöhevon 30 cm entspricht hier eine Kolumnenhöhe von 20,5 cm,so daß wir ziemlich genau zwei Drittel als Verhältnis voruns haben. Um ein bekanntes modernes Buch zum Ver-gleiche heranzuziehen, nenne ich für Bismarcks »Gedankenund Erinnerungen« die entsprechenden Zahlen: die Blatt-höhe belauft sich auf 23 cm, der Satzspiegel ist 16,5 cmhoch. Diese Ausfüllung der Seite erscheint uns, wenn nichtluxuriös, so doch durchaus anständig, obwohl sie dasZahlenverhältnis der Theätetrolle noch nicht erreicht. Wiees aussieht, wenn die Schrift drei Viertel der Gesamt-hohebedeckt, kann man sich an Mommsens Römischer Geschichtedeutlich machen. Unsere Reklamausgaben, die in der Blatt-höhe ziemlich genau dem oben besprochenen kleinen Rollen-format unter 15 cm Höhe gleichen, haben einen Satzspiegelvon 11,5 cm, also immer noch nicht fünf Sechstel desGanzen, wie es in Papyrusrollen vorkommt. Wenn nun irnallgemeinen die Gesamthöhe der Rolle einen gewissen Maß-stab für die mehr oder weniger elegante Ausfüllung derFläche abgibt, so liegt darin doch keineswegs ein Gesetz,denn auch ein großes Format wird gelegentlich bis aufsÄußerste ausgenutzt, während umgekehrt bisweilen gerade

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Die Buchrolle. 53

eine niedrige Rolle durch eine kleine Schriftkolumne einvornehmes Aussehen gewinnt,

Die Höhe der K o l u m n e wird bedingt durch die Zahlder in ihr enthaltenen Zeilen; die Größe der Schrift undder Abstand der Zeilen von einander lassen hier einen weitenSpielraum, so daß man ein festes Verhältnis der Kolumnen-höhe zur Zeilenzahl nicht suchen darf, wenn auch natur-gemäß ein niedriges Format die Zeilenzahl enger begrenztals ein hohes. Bei einer Rollenhöhe von 30 cm haben dieKolumnen im Kommentar des Didymos zu Demosthenesungefähr 70 Zeilen und dürften damit ziemlich allein stehen.Die Zeilen folgen hier dicht auf einander, die Schrift hatviele Abkürzungen und neigt zu kursiven Formen, die ganzeRolle ist trotz ihres stattlichen Formats kein Musterexemplareines Buches. Aber 50 Zeilen und mehr finden sich auchin eleganten Handschriften; als Beispiel mag wiederum derTheätetpapyrus dienen oder eine schöne Menanderhandschrift,die sich in England befindet. Mehr als 30 Zeilen kommenoft vor, die große Masse bleibt zwischen 20 und 30. Unter20 sinkt die Zeilenzahl nur selten bei niedrigem Format derRolle, so in den Gedichten des Herodas, wo sie zwischen15 und rQ schwankt. Damit sind wir zugleich bei demoben besprochenen kleinen Rollenformat angelangt. Daßdie winzige Rolle von 4 bis 5 cm Höhe, die einige Epigrammeenthält, trotz ihrer kleinen Schrift nur etwa sieben Zeilen inder Kolumne unterbringt, gibt ihr auch in dieser Beziehungeine besondere Stellung außerhalb des uns sonst vorliegendenMaterials. Wenn ich früher darauf hingewiesen habe, daßdie ältesten Rollen nur eine mäßige Blatthöhe besitzen, soist jetzt hinzuzufügen, daß auch ihre Zeilenzahl sich zwischen20 und 30 hält; die hohen Ziffern wie 50 und darüber ge-hören alle einer späteren Zeit an. Aber weit charakteristischerals diese absoluten Zahlen ist es, daß innerhalb einer undderselben Rolle die Kolumnen recht erhebliche Unterschiedeaufweisen. Wenn eine Iliashandschriftin der längsten Kolumne63, in der kürzesten nur 42 Zeilen hat, so ist das freilichein Abstand, der auch das Aussehen stark beeinflußt undnicht als normal gelten kann. Jedoch Schwankungen vonfünf bis acht Zeilen sind nichts Seltenes und stören denGesamteindruck kaum in merklicher Weise. Der Schreiberhielt eben nicht immer den gleichen Zwischenraum inne,und kleine Verschiebungen summieren sich namentlich beigroßer Zeilenzahl zu beträchtlichen Ziffern. Gerade hierist es ganz deutlich, daß für die anständig auszustattendeRolle nicht eine bestimmte Zeilenzahl vorgeschrieben war,sondern daß das Gleichmaß als das erstrebenswerte Zielgalt. Im Grunde versteht sich das von selbst, aber es ist

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54 Zweites Kapitel,

nicht überflüssig, das zu betonen, weil man leicht allzuvielWert auf die absoluten Zahlen legen könnte. Daß es mit-unter dem Schreiber doch nicht gelingt, die gleiche Höheder Kolumnen einzuhalten, ist sehr begreiflich, wenn mansich klar macht, daß es efeen geschriebene Texte sind; auchwir erreichen das beim Schreiben nur, wenn wir durch Linienunterstützt werden. Dazu kommt, daß oft gegen das Endeder Rolle der Schreiber flüchtiger wird und mehr an denAbschluß als an das gute Aussehen denkt. Dadurch wirdauch die Weite der Schrift und damit die Zahl der Zeilenbeeinflußt, wie denn z. B. im Didymospapyrus die letztenKolumnen eine ständige Zunahme der Buchstabengröße undeine Abnahme der Zeilenzahl aufweisen. Trotzdem bleibtdie Höhe der Kolumne ungefähr dieselbe; man erkennt, wieselbst in dieser unschönen Handschrift der Inhalt nachMöglichkeit so verteilt wird, daß ein leidliches Aussehengewahrt bleibt. Das Verhältnis der Kolumnenhöhe zurKolumnenbreite ist so verschieden, daß man darauf ver-zichten muß, feste Regeln zu erkennen. Nur soviel laßt sichsagen, daß fast immer die Höhe größer ist als die Breite,und daß bei einer Zeilenbreite von 10 bis 15 Buchstabendie Höhe bedeutend überwiegt, wenn auch nicht immer sostark', wie in dem Musterbeispiel der Theätetrolle. Natür-licherweise hängt das Verhältnis der Höhe zur Breite nichtlediglich vom Willen des Schreibers ab, sondern auch vondem Format der Rolle und von dem Texte, Sollten z. B.in eine Rolle von etwa 20 cm Höhe Homerverse geschriebenwerden, so fiel die Kolumne von selbst sehr breit aus. DieProsa bot mehr Freiheit, und schon die ältesten Hand-schriften zeigen in diesem Punkte so erhebliche Unterschiede,daß man hierin zeitlich bestimmbare Moden nicht erkennenkann. Nur die schmälsten Kolumnen nach Art der Theätet-rolle sind der vorchristlichen Zeit fremd.

Von einem meßbaren Verhältnis der beiden Kolumnen-ausdehnungen kann man nur unter der Voraussetzungsprechen, daß die Kolumne von oben bis unten die g l e i c h eBrei te bewahrt. Sie muß sich als eine fest begrenzte Einheitvon der Papyrusfläche abheben, wenn die Rolle, die jaSeiten im Sinne des modernen Buches nicht haben kann,als ein regelmäßig gegliedertes Ganzes erscheinen soll.Daher ist es in den meisten literarischen Handschriften alsRegel durchgeführt, daß die Zeilen, aus denen die Kolumnesich zusammensetzt, die gleiche Länge haben. Es warleicht, die Zeilenanfänge in eine senkrechte Linie zubringen, dagegen nicht ganz so einfach, die Zeilen auchgleichmäßig abzuschließen. Denn hierbei durften dieGrundregeln der Worttrennung nicht gänzlich vernachlässigt

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Die Euchrolie. 55

werden; oft genug bietet sich kein passendes Wort oderkeine entsprechende Silbe am Ende der Zeile, so daß derSchluß manchmal über die durchschnittliche Länge etwasübergreift, manchmal auch etwas dahinter zurückbleibt.Durch welche Mittel man dem abzuhelfen suchte, werdenwir noch sehen. Außerdem ist es auch rein äußerlich fürdas Auge schwerer, das Ende der Zeilen in eine geradeLinie zu bringen als den Anfang, den man mit dem Linea]ausrichten konnte. Das scheinen freilich die Schreibernicht immer oder nicht sehr sorgfältig getan zu haben,denn selbst in schön geschriebenen Exemplaren weichendie Schriftkolumnen häufig etwas von der Senkrechten abund neigen sich in ihrem unteren Teile nach links; dasebenmäßige Bild, das die gedruckte Seite zeigt, dürfen wirhier nicht verlangen. Die für sorgfältige Buchschrift geltendegleiche Breite der Kolumne beruht auf dem Maße, nichtauf der Buchstabenzahl, denn die Buchstaben besitzen auchbei sehr regelmäßiger Schrift eine verschiedene Ausdehnung.Wie nun die Höhe der Kolumnen je nach der Höhe desPapyrusformats und nach dem Zwecke der Abschrift ungleichist, so gibt es auch für ihre Breite kein allgemeines Gesetz,ja hier noch weniger feste Praxis als dort. Man hat gemeint,die Breite der einzelnen Papyrusblätter, aus denen die Rollebesteht, sei eine natürliche Grenze für die Ausdehnung derZeilen gewesen. Allein diese Ansicht läßt sich heute, wowir eine Menge solcher Handschriften überblicken können,nicht aufrecht erhalten. Die Schrift geht über die Klebungeneinfach hinweg und kann sie unbeachtet lassen, weil dieseKlebungen in allen wirklichen Buchrollen so gut ausgeführtsind, daß sie der Feder kein Hindernis entgegenstellen.Wenn der Schreiber die fertige Rolle erhielt, so war siefür ihn ein Ganzes, dessen Bestandteile er nicht zu berück-sichtigen brauchte. Mehr Beachtung verdient eine andereauf gute Gründe gestützte Theorie, die das Durchschnitts-maß der Zeile in der Länge des Hexameters, des home-rischen Versmaßes, erblickt. Dieser hat ungefähr 35 Buch-staben, die in geschriebenem Texte allerdings einen be-trächtlichen Raum einnehmen. Es wäre an sich nicht un-glaublich, daß das Maß des verbreitetsten Schriftstellersallgemein zur Norm geworden sei, daß man vielleicht zuerstin Alexandrien diese Lange von den Homerausgaben auchauf andere Werke übertragen habe. So ließe sich verstehen,daß die Zeile schlechthin »epischer Vers« (epos) genanntworden ist. Indessen wollen unsere Papyrustexte sichdieser Regel durchaus nicht anpassen. In tadellosen Buch-handschriften, von denen wir Proben genug besitzen, findetsich nicht diese angenommene Normalzeile, sondern eine

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6 Zweites Kapitel,

wesentlich kürzere, und zwar auch in sehr alten Exemplaren.Es wäre mehr als sonderbar, wenn die alexandrinischePraxis, die sonst so nachhaltig gewirkt hat, in keiner unsererPapyrusrollen erkennbar geblieben wäre. Eine unbefangeneBetrachtung des Tatsächlichen nötigt uns, jene Hexameter-zeile als Normalzeile aufzugeben und anzuerkennen, daßauch die Ausgaben der alexandrinischen Grammatiker nichtin ihr vervielfältigt worden sind,

Bei poetischen Schriften konnte die metrische GliederungBerücksichtigung verlangen und hat sie in der Tat erfahren.Wir sehen schon in den ältesten Texten und von da andurchweg in allen Papyrusrollen, daß jeder Hexameter eineZeile für sich bildet und nicht minder jeder iambischeTrimeter, d, h. der Vers des Dialogs im Drama. Dieneuesten Entdeckungen beweisen dies für Handschriften,die spätestens im Anfang des 3. Jahrhunderts v. Chr.entstanden sind, z. T. wohl noch ins 4. Jahrhundertgehören. Wir haben es also bei diesen beiden Versen nichtmit einer Neuerung der Alexandriner zu tun, sondern miteiner längst vorhandenen, im übrigen selbstverständlichenGewohnheit, Das Prinzip der Zeilengleichheit kam hierüberhaupt nicht in Betracht oder nur insofern, als die Verseihm wegen ihres gleichmäßigen Baues im allgemeinen vonselbst entsprachen. Die Schreiber haben sich nicht darumbemüht, und gerade die Homertexte enthalten deshalb häufigeund beträchtliche Überschreitungen der Durchschnittsmaße.Anders steht es mit solchen Dichtungen, die aus metrischungleichen Gliedern zusammengesetzt sind, vor allem mitden Texten der alten griechischen Lyriker und den Chor-partien in der Tragödie und Komödie. Unser Material istvielleicht zu gering, um darüber Klarheit zu schaffen, verdientaber doch besprochen zu werden, weil es auffallende Ver-schiedenheiten bietet. Unter den Lyrikern stehen dem Alternach an der Spitze die Timotheosrolle und eine nicht wesent-lich jüngere Handschrift, die spruchartige, ganz ungleicheVerse enthält. Beide sind ohne jede Rücksicht auf diemetrische Gliederung in langen und ungleichen Zeilen ge-schrieben. In weitem Abstände folgt ihnen zunächst einziemlich langes Stück aus Alkman, das metrisch geordnetist, sodann die schön geschriebene Rolle, die uns denBakchylides bekannt gemacht hat. Auch hier ist metrischgegliedert ohne Rücksicht auf Zeilengleichheit. Vielleichtaus derselben Zeit, jedenfalls nicht viel jünger, sind dreiverschiedene Stücke aus Pindars Gedichten, die ebenfallsmetrisch geschrieben sind. Sodann drei Bruchstücke ausden Liedern des Alkaios und der Sappho, von denen dasspäteste etwa ins 3. Jahrhundert n. Chr. gehört. Sie befolgen

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. Die Buchrolle, 57

deutlich die metrische Gliederung. Das umfangreichste Bruch-stück, die Berliner Pergamenthandschrift der Sappho, stimmtdamit überein, fällt aber wegen seines späten Datums nichtins Gewicht. Endlich sehen wir in einem nicht unerheblichenFragmente aus einer Korinna-Rolle beide Methoden nebeneinander: das eine Gedicht beachtet die metrischen Gliedernicht, freilich die Zeilengleichheit ebensowenig, das andereist metrisch geschrieben. Und in einem Gedichte, das ineleganter Buchschrift der ersten Kaiserzeit überliefert ist,scheint nur die Zeilengleichheit maßgebend zu sein. Überdie lyrischen Abschnitte der Tragödie sind wir durch Papyrus-handschriften fast gar nicht unterrichtet. Zwei Proben etwaaus dem Anfange des 3. Jahrhunderts v. Chr. zeigen Chor-partien aus Euripides das eine Mal in langen, das andereMal in kurzen Zeilen, aber in beiden Fällen ohne erkennbareHervorhebung des Versmaßes. In einer noch vorchristlichen,sorgfältig geschriebenen Probe aus dem Phaethon des Euri-pides sind die metrischen Glieder nicht als Zeilen behandelt;sie werden innerhalb der Zeile nur durch wagerechte Strichevon einander getrennt. Dagegen scheint in einem anderenFragment aus Euripides wieder der Vers, nicht die Gleich-heit der Zeile maßgebend zu sein. Ganz deutlich erkenn-bar ist dies Verfahren in dem Berliner Bruchstücke ausder „Achäerversammlung" des Sophokles, wo die vornstehenden zehn Chorzeilen nach rechts eingerückt und alsmetrische Glieder geschrieben sind. Auch die „Kreter" desEuripides darf man als Zeugen dafür heranziehen, dennobwohl der Text auf einem Blatte aus einem Pergament-kodex steht, gehört er doch wegen seines hohen Alters ineine Reihe mit den Papyrusrollen. Wenn man also etwasaus diesen Tatsachen entnehmen will, so kann es nur dassein, daß die Praxis schwankt. Die ältesten Beispiele stimmenin der Vernachlässigung des Metrums überein; später scheintfür die Lyriker die Versteilung überwiegend zu gelten, währendman in der Behandlung der Chorpartien unsicher bleibt.

Die alexandrinischen Grammatiker haben sich mit denLyrikern des 7., 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. kritisch be-schäftigt und wenn nicht von allen, so doch von mehrerenneue Ausgaben veranstaltet. Es ist demnach von vornhereinwahrscheinlich, daß das in den erhaltenen Papyrushand-schriften beobachtete Verfahren auf diese Ausgaben zurück-geht und uns ihre Anordnung im großen und ganzen über-liefert. Was die lyrischen Partien des Dramas betrifft , sosieht man weniger klar. Die Unsicherheit der metrischenGliederung, die in den Handschriften des Mittelalters herrscht,spricht nicht gerade dafür, daß es alte Exemplare gab, derenmetrische Gliederung sich von alexandrinischen Ausgaben

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58 Zweites Kapitel.

und ihrer Autorität herleitete, und die angeführten Beispieleaus Papyrusrollen können ebenso gedeutet werden. Wiedie athenischen Normalexemplare der Tragiker, die man inder alexandrinischen Bibliothek aufbewahrte, sich in diesemPunkte verhielten, können wir nicht wissen. Vermutlichfehlte für die Chorpartien ein maßgebendes Vorbild, sodaß man sie noch lange Zeit einfach als Prosa behandelte;die Schwierigkeit der Gliederung mag auch dazu beigetragenhaben. Dazu kommt, daß das Drama in der BuchausgabeLeseliteratur war und der Rücksicht auf Gesang und Melodienicht so dringend zu bedürfen schien.

Bei Prosawerken übt weder Inhalt noch Satzbau einenZwang auf die Zeileneinteilung aus, zumal da die Altenkeinen besonderen Wert auf die äußere Abgrenzung derSinnabschnitte gelegt haben. Hier konnte die Regel derZeilengleichheit ohne Schwierigkeit durchgeführt werden, wiees in der Tat geschehen ist. Sie gilt also von Hause ausnur für Prosatexte und kann für Poesie nur dann in Betrachtkommen, wenn sie ohne metrische Gliederung, d. h. alsProsa, geschrieben wird. Der epische Vers und der Dialogvershaben ihr eigenes Recht; als gleichartige Gebilde aber fügensie sich verhältnismäßig leicht der Zeilengleichheit, wennder Schreiber im Interesse des guten Aussehens danachstrebt. Insofern nehmen sie eine Mittelstellung zwischenPoesie und Prosa ein. Daß aber in dem Prinzip der Zeilen-gleichheit in der Tat etwas Neues aufgekommen ist, machenein paar im Alter dem Timotheospapyrus wenig nachstehendeProsafragmente mit ihrer auffallenden Ungleichheit der Zeilensehr wahrscheinlich, und der Timotheostext selbst als einnach Art der Prosa geschriebenes Gedicht stimmt mit ihnenüberein. Wer das Aussehen dieser Texte prüft, begreiftvollkommen, daß eine Ordnung der Schreibweise, vor allemeine gleichmäßige Begrenzung der Zeilen, das Ziel einerReform zu werden vermochte, die wir den alexandrinischenGelehrten und Bibliothekaren als ihr Verdienst anrechnendürfen.

Da die Klebungen in der Rolle der Rohrfeder keineSchwierigkeit bieten, kann die Zeile an sich jede beliebigeLänge erreichen; in Wirklichkeit ist ihre Ausdehnung nichtunbeschränkt, weil ein Übermaß das Lesen erschwert. DieAlten haben das offenbar auch empfunden, denn sie be-obachten in literarischen Handschriften fast immer die Grenze,die durch die mittlere Länge eines epischen Verses gegebenwird. Insofern hat die Hexameterzeile in der Tat eine all-gemeine Bedeutung gewonnen. Sie ist das Maximum desZulässigen. Freilich kommen noch längere Zeilen vor, abernur in den ältesten Handschriften, wie im Timotheosgedichte,

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Die Buchrolle. 59

und in solchen, die nach Inhalt oder Form von geringerGüte sind. Sie nähern sich darin einer Reihe von Urkunden,bei denen die Länge der Zeilen bisweilen außerordentlichgroß ist; Beispiele dafür gibt es aus allen Zeiten. Geradedie ältesten griechischen Urkunden, an ihrer Spitze eineaus dem 4. Jahrhundert v. Chr., zeichnen sich durch dieungewöhnliche Länge ihrer Zeilen aus. Bei einem Inhaltvon verhältnismäßig geringem Umfange, wie es die Urkundein der Regel ist, konnte man danach streben, auch äußer-lich sie als ein ungeteiltes Ganzes darzustellen. Für dieMehrzahl trifft das auch zu, aber es gibt von ptolemäischerZeit an zahlreiche Abweichungen, in denen der Urkunden-text ohne erkennbare Veranlassung auf mehrere Kolumnenverteilt ist. Die oft viele Kolumnen umfassenden amtlichenSchriftstücke, Gesetze, Verordnungen usw. können dabeinoch unberücksichtigt bleiben, weil sie der Buchrolle naheverwandt sind, ebenso große Rechnungen, deren Umfangeine Gliederung nötig machte. Die Länge der Urkunden-zeilen ist überhaupt viel weniger an Regeln und Grenzengebunden als die literarischer Texte, so daß wir von hier auskeine Aufschlüsse über die Buchrolle erwarten dürfen. Jedochstimmen die Urkunden, wenn sie sorgfältig geschrieben sind,mit ihr in dem Streben nach Zeilengleichheit überein.

Unterhalb des durch die Hexameterzeile gegebenenMaximums sind viele Abstufungen zu verzeichnen. Sehrschöne Handschriften haben oft nur 10 bis 15 Buchstabenin der Zeile, wie z. B. der schon mehrfach herangezogeneKommentar zu Platons Theätet, Vielleicht ging man inder Regel etwas darüber hinaus, und es scheint, als seieine Zeile von 20 bis 25 Buchstaben besonders häufig; alleinunser Material bietet keine genügende Grundlage, um be-stimmte Regeln daraus abzuleiten. Deshalb sei auch nurnebenbei erwähnt, daß die kurze Zeile in den uns erhaltenenStücken auffallend oft für Texte philosophischen Inhaltsverwendet wird, auch bei historischen Schriften ist sie zubemerken, aber keineswegs als Norm. Natürlich ist dieAnzahl der Buchstaben ein relatives Maß je nach der Weiteund Größe der einzelnen Schriftzeichen, Das Wesentlicheist die gleiche Länge der Zeilen, also die mit dem Maßstaboder nach dem Augenmaß bestimmte gleiche Breite derKolumnen; die Zahl der Buchstaben kommt nur insofern inBetracht, als sie dem Schreiber eine freilich nicht zuverlässigeHilfe an die Hand gibt.

Wie das Größenverhältni.s der beschriebenen Fläche zurHöhe der Rolle den Gesamteindruck wesentlich beeinflußt,so ist auch die Breite der Kolumnen in ihrem Verhältnis2u den sie rechts und links begrenzenden leeren Flächen dafür

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6o Zweites Kapitel.

nicht gleichgültig. Jedoch liegt hier ein charakteristischerUnterschied der Rolle von unserer Buchform vor; denn wäh-rend auf unsern Buchseiten die Ränder lediglich zu e inemSchriftsatze, zu e i n e r Schriftkolumne gehören, kommensie in der Rolle jedesmal für zwei Kolumnen in Betracht.Sie sind also nicht eigentlich der Rahmen einer beschriebenenFläche, sondern die Z w i s c h e n r ä u m e zwischen je zwei. Derobere und der untere Rand ist wichtiger, wenn man dieeinzelne Kolumne ins Auge faßt, die Zwischenräume be-stimmen mehr den Eindruck der ganzen Kolumnenreiheoder desjenigen Teils, den der Leser gerade vor sich hat. IhreBreite ist je nach der allgemeinen Güte der Ausstattung sehrverschieden und läßt sich eigentlich nur da genau feststellen,wo die gleiche Breite der Zeilen innegehalten wird, alsobei Prosatexten. Breite Zwischenräume gelten offenbar alsZierde einer Handschrift, wie sie ja von vornherein dazubeitragen, sie übersichtlich und bequem lesbar zu machen.Im Timotheospapyrus sind sie überhaupt kaum vorhanden,denn die längsten Zeilen reichen hier bis dicht an die nächsteKolumne heran. Im Didymostexte sind sie schmal, verglichenmit der Breite der Kolumne, in der stattlichen Theätet-handschrift dagegen sehr breit Natürlich gibt auch hierdie absolute Höhe der Rolle ein gewisses Maß, so daß inder kleinen Rolle bei sonst entsprechend eleganter Aus-stattung nicht dieselben Zwischen räume erwartet werdendürfen wie in der großen.

Für die soeben erörterten Fragen ist die G e s t a l t derB u c h s t a b e n ein zu wesentliches Moment, als daß sie ganzübergangen werden dürfte, obwohl ein Überblick über dieEntwicklung der Schrift nicht in den Rahmen meiner Dar-stellung gehört. Es handelt sich hier um die sog. g roßenB u c h s t a b e n , nur mit dem Unterschiede, daß die Schriftmehr gerundete Formen aufweist als unsere Drucktypen;die kleinen griechischen Buchstaben moderner Drucke habensich erst spät aus den großen entwickelt und geben nur inwenigen Fällen, z. B. im € und w, annähernd die Schriftzügeder Papyrusrollen wieder. Wenn auch der Schreiber sichbemüht, die Buchstaben möglichst gleichmäßig zu schreibenund ihnen ungefähr den gleichen Raum zuzuteilen, so bringtes doch das griechische Alphabet wie jedes andere mit sich,daß dies Bestreben sich nicht streng durchführen läßt. Dievon Natur schmalen Buchstaben, vor allem das L, könnennicht so weitläufig sein wie die von Natur breiten, z. B.das u>. Trotzdem gibt es in sorgfältiger Handschrift genugMittel und Wege, um kleinere Unterschiede auszugleichen.Je nachdem man breite oder schmale Schrift erzielen will,lassen sich Querstriche lang oder kurz, Rundungen breit

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oder schmal ausführen und dergleichen mehr. Vielesergibt sich von selbst, wenn man, wie die Alten esin Schönschrift taten, die einzelnen Buchstaben aus meh-reren Strichen zusammensetzt. Ich erinnere daran, daßauch bei uns im Schreibunterricht die Kinder angehaltenwerden, die Buchstaben, namentlich die großen, aus mehrerenStrichen zu bilden. Und diese Kalligraphie der Schulebeherrscht auch die Schreibweise der Papyrusrollen; derSchreiber malt jedes Zeichen für sich und setzt zu denmeisten mehrere Male an. In derselben Richtung wirkt es,daß die alten Kalligraphen und Berufsschreiber weit mehr alswir gewohnt waren, einzelne Striche, besonders die ab-schließenden Bestandteile der Buchstaben, von oben nachunten und von rechts nach links zu führen. Im übrigenwird die Schrift von der wechselnden Methode der Schule,man darf auch sagen von der Mode beherrscht. Diese äußertsich zwar auch in der Art, wie die einzelnen Buchstabengezogen werden, aber weit mehr in der ganzen Buchstaben-reihe, in der Richtung der Schrift, in der geringeren odergrößeren Neigung zu Verzierungen. Will man versuchen,die Menge der uns vorliegenden Schriftarten in bestimmteGruppen einzuordnen, so könnte man etwa so unterscheiden:auf der einen Seite stehen diejenigen, welche die nach untengehenden Striche senkrecht führen oder wenigstens der Senk-rechten annähern, auf der ändern diejenigen, die diesen Stricheneine ausgesprochen schräge Richtung geben. Während dieserGesichtspunkt vornehmlich die aus geraden Linien zusammen-gesetzten Buchstaben ins Auge faßt, ergibt die Beobachtungder aus gebogenen Linien gebildeten Zeichen eine zweiteGliederung der Schriftarten in solche, die zu schmalenFormen neigen, und solche, die breit angelegt sind. Dieletztere Gruppe formt die gebogenen Striche als Teile einesKreises; sie ist im engeren Sinne die Unciale, ein Name,der mit Unrecht vielfach ganz allgemein für die Schriftliterarischer Werke angewendet wird. Jene beiden Teilungs-prinzipien stehen aber nicht einander gegenüber, sondernkreuzen sich fortwährend. Wir erhalten also vier Haupttypen:Neigung zur Senkrechten verbunden mit schmalen Rundungen,senkrechte Strichführung verbunden mit breiten Kreisformen,Bevorzugung der schrägen Linie zusammen mit schmalenRundungen und schräge Striche zusammen mit breiten Kreis-formen, Es liegt auf der Hand, daß je nach der Anwendungdieses oder jenes Typus die Füllung der Zeile verschiedenausfällt. Außerdem spielt auch die absolute Größe derBuchstaben eine Rolle, die von der Mode mindestens eben-sosehr wie von der Willkür des Schreibers oder dem Zweckeder Abschrift abhängt. Besonders der Abstand der Zeilen

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wird dadurch bestimmt, zumal da mehrere Schriftzeichen,besonders in späterer Zeit, nach oben und unten umein Beträchtliches über den Raum hinausragen, den dieändern beanspruchen. Eine gewisse Weite des Zeilenab-standes dient nicht nur der Uebersichtlichkeit, sondern trägtauch zur Eleganz des Aussehens bei, während eng aneinandergedrängte Zeilen von vornherein eine ärmliche Sparsamkeitverraten. Meistens ist in solchen Fällen auch die Schriftvon geringerer Güte und berührt sich mit kursiven Formen,Jedoch ist das Auftreten einzelner kursiver Züge nicht ohneweiteres als ein Zeichen minderen Wertes anzusehen. Dennes gibt im Grunde keinen strengen Unterschied zwischenBuchschrift und Kursive. Die Buchstaben sind dieselben,und die größere oder geringere Sorgfalt beim Schreiben rufthier den Eindruck der Buchschrift, dort den der Kursivehervor. Auch das, was man vor allem als Kennzeicheneiner Kursive bezeichnen möchte, das Bestreben, die einzelnenZeichen zu verbinden, kommt in schön geschriebenenBüchernvor, während wir auf der anderen Seite kalligraphierte Ur-kunden haben, die jeden Buchstaben einzeln hinsetzen. Soweit auch die ausgebildete Hand des viel schreibendenGeschäftsmannes oder Beamten von der Buchschrift einesMusterexemplars wie etwa der Theätetrolle entfernt ist, soerkennen wir doch überall die Verbindungen, die herüberund hinüber gehen. Unsere Drucktypen sind zwar auchaus der geschriebenen Schrift entstanden, erscheinen uns aberjetzt doch als etwas durchaus Selbständiges, Man muß sichhüten, mit dieser unsern Verhältnissen entnommenen Vor-stellung an die Papyrusrollen heranzutreten, und muß sichbeständig bewußt bleiben, daß wir es auch in der Buchrollemit geschriebenen Texten zu tun haben. Damit wird keines-wegs ausgeschlossen, daß auch die Alten die Schrift in be-stimmte Gattungen nach der Güte oder sagen wir nach ihrerStellung zu Schönschrift und Kursive einteilten. UnserMaterial ist reich genug an Verschiedenheiten, um uns diein einem Erlaß des Kaisers Diokletian über Maximalpreisebezeichneten Stufen einer Schrift erster Güte, einer Schriftzweiter Güte und einer Geschäftsschrift anschaulich zumachen. Aber wir dürfen darüber nicht vergessen, daßzahlreiche Übergänge möglich waren und in Wirklichkeitvorkommen.

Literarische Texte nach der Schrift zu datieren, istaußerordentlich schwierig und bleibt ein unsicherer Versuch,wenn nicht die vorkommenden kursiven Formen einen festenAnhalt gewähren. Über die Entwicklung der Kursive sindwir durch eine Menge genau datierter Urkunden hinreichendunterrichtet; die Schönschrift eines vornehm ausgestatteten

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Buches folgt weit weniger der Zeit und bietet als Merkmalihres Alters eigentlich nur das, was ich oben als Mode be-zeichnet habe. Über diese Moden der Kalligraphie aberlaßt sich nicht leicht urteilen, vor allem nicht auf Grundeinzelner Buchstabenformen. Viel eher offenbaren sie sichin dem Gesamteindruck, dieser aber entzieht sich bis jetzteiner sicheren Erkenntnis, die man in Regeln fassenkönnte. Vielleicht wird man später, wenn wir noch mehrliterarische Handschriften besitzen, und wenn ein weitererÜberblick gewonnen sein wird, auch hierin klarer urteilenkönnen. Heute ist auch der Kenner noch sehr erheblichenMißgriffen ausgesetzt.

Wir müssen uns nun einmal klar zu machen suchen, wiedenn solch e ine Ro l l e b e s c h r i e b e n w o r d e n ist. Nehmenwir also den einfachsten Fall: ein geübter Schreiber wirdbeauftragt, eine Abschrift nach einem ihm vorgelegtenOriginale anzufertigen; es ist dafür gleichgültig, ob diesOriginal selbst eine Abschrift oder das Manuskript desVerfassers ist. Es soll ein gut ausgestattetes Buch werden.Zunächst muß das Format bestimmt oder aus dem Vorrat,der erreichbar ist, ausgewählt werden. Darauf muß derAuftraggeber sich mit dem Schreiber im allgemeinen überdie Größe der Schrift, über die Breite der Kolumnen undüber die Ausdehnung der Ränder verständigen. Steht dasSchreibmaterial in unbeschränkter Fülle zur Verfügung, somag hierüber lediglich der Geschmack des einzelnen oderdie Mode der Zeit entscheiden. Wo man aber mit demMaterial haushalten muß, ist es schon bei dieser Erwägungnötig, sich annähernd klar zu machen, wieviel die Rolleaufnehmen soll. Jedenfalls wird der Schreiber, ehe er seineArbeit beginnt, sich einen solchen Überblick verschaffen,sich ausmessen, wieviel Kolumnen vom vereinbarten Umfanger unterbringen könne, und sich berechnen, wieviel Textungefähr auf jede Kolumne entfallen wird. Wollte er ohnesolche Vorkehrungen sich gleich ans Schreiben machen, sokäme er in Gefahr, mit der Rolle nicht auszureichen oderam Ende zuviel Platz frei zu lassen. Diese Abschätzungläßt sich nur so denken, daß durch Abzählen ermittelt wird,wieviel Zeilen der Vorlage auf eine Kolumne der Abschriftgehen; ob die Zeile der Abschrift der der Vorlage gleichtoder nicht, macht keinen nennenswerten Unterschied aus,Natürlich braucht der Schreiber nicht die ganze Vorlagedurchzuzählen; wenn sie nur einigermaßen gleichmäßiggeschrieben ist, kann er sich mit einem kleinen Teilebegnügen und das Ganze danach ausrechnen. Je geübterer ist, desto sicherer wird auch seine Schätzung sein. Einnützliches Hilfsmittel wäre es, in der Vorlage jedesmal da

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einen Strich zu machen, wo nach der Berechnung ungefähreine neue Kolumne in der Abschrift beginnen soll; manerreicht aber dasselbe, wenn man in der Vorlage inbestimmten Abständen die Zahl der Zeilen am Randenotiert, etwa bei jedem Hundert. Auf Grund einer solchenÜbersicht beginnt der Schreiber und kann nun unbesorgtarbeiten, da er sicher ist, den Text richtig auf das Materialverteilt zu haben. Freilich ist selbst bei der größten Sorg-falt immer die Möglichkeit vorhanden, daß im Laufe eineslängeren Textes die Abgrenzung der Kolumnen sich gegenden ursprünglichen Plan etwas verschiebt, und wir habenoben uns davon überzeugt, daß sowohl die Buchstabenzahlder Zeile als auch die Zeilenzahl der Kolumne unbeschadetder Gleichmäßigkeit beträchtlich schwankt. So kann eskommen, daß gegen Ende der Schreiber etwas engerschreiben muß, um mit dem Platze auszureichen, oder dieBuchstaben vergrößern und die Zeilenzahl verringern muß,weil sonst zuviel Papyrus leer bliebe. Das letztere zeigtsich deutlich in den Kolumnen des Didymospapyrus, derenSchrift gegen das Ende hin immer weitläufiger wird. Hierwird jedoch der Schreiber durch die Menge der Abkürzungenentschuldigt, denn diese erschweren die Berechnung außer-ordentlich. Die Z ä h l u n g d e r Z e i l e n in der Vorlage hat abernoch einen ändern ebenso wichtigen Zweck: sie dient dazu,die Arbeit des Schreibers zu schätzen und die Bezahlungzu berechnen, Daß außer der Zeilenzahl auch die Schriftartdafür in Betracht kommt, bedarf keines Wortes. Das Ediktdes Diokletian, dessen ich schon gedacht habe, legt fürden Preis beides zugrunde, indem es Maximalpreise für jezoo Zeilen in drei verschiedenen Schriftarten festsetzt. Anunsern Papyrushandschriften aber sieht jeder auf den erstenBlick, daß zwischen Zeile und Zeile ein großer Unterschiedist. Das kaiserliche Gesetz scheint davon nichts zu wissen,denn es spricht einfach von der Zeile und nimmt sie alsfestes Maß an. In der Praxis wäre es auch sehr lästiggewesen, jedesmal die jeweilige Zeilenlänge für den Preisanzurechnen, weil diese allgemeinen Regeln nicht unter-worfen war. Man bedurfte in der Tat einer Einheit, einerNormalzeile, nicht für die Schreibarbeit selbst, wohl aberfür die Preisberechnung, und hier dürfen wir unbedenklichanerkennen, daß die Theorie von der maßgebenden Geltungder Hexameterzeile eine tatsächliche Grundlage hat. Eslag sehr nahe, für die Preisberechnung als Einheit dieMaximalzeile zu wählen; man wird durch die Erfahrung mitder Zeit dahin gekommen sein. An sich konnte freilichauch jede andere Größe denselben Dienst tun, und inLyrikertexten, die eine selbständige Zeilengliederung be-

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saßen, mag eine andere Norm gegolten haben. Die in einerPindarhandschrift des i, Jahrhunderts v. Chr. erscheinendeZiffer auf eine berechnete Hexameterzeile zurückzuführen,halte ich daher für bedenklich, denn diese metrisch.enGlieder scheinen doch allzu eigenartig, als daß man sieohne weiteres wie die übrigen hätte behandeln können.Der Hexameter ist nur deshalb besonders dazu berufen,eine Norm zu werden, weil er ein höchstes Maß undzugleich eine allgemein bekannte und von dem AnsehenHomers getragene Einheit darstellt. Demnach wird also inder Vorlage, mag sie in Hexameterzeilen oder in andererGliederung geschrieben sein, ein Maß von je 35 Buchstabenals Zeile bezeichnet worden sein; jedes Hundert erhielt amRande die entsprechende Ziffer. Werfen wir nun einenBlick auf unsere Papyrusrollen, so finden wir zwar nichtoft, aber doch in mehreren Fällen am Rande solche Reihen-zahlen, besonders häufig in Homertexten, deren einigedurchweg damit versehen sind. In der Regel sind es nichtdie Zahlzeichen für 100, 200 usw., sondern die griechischenZiffern it 2, 3 und folgende, ganz natürlicher Weise, weilnicht eine fortlaufende Zählung der Reihen, sondern eineZählung der Hunderte beabsichtigt wird. Wenn danebenauch einmal die richtigen Ziffern vorkommen, z. B. dieBuchstaben Sigma für 200 und Tau für 300 in einemmedizinischen Fragmente der Berliner Sammlung, so beweistdas nur, daß man sich des eigentlichen Zweckes nichtimmer bewußt war. In manchen Fällen ist es infolge diesesschwankenden Verfahrens nicht möglich, den Wert derZiffer sicher zu ermitteln, denn ein Beta am Rande wirdzwar in der Regel das zweite Hundert bezeichnen, kannaber auch 2000 bedeuten. Ob in einem Lyrikertexte desBerliner Museums der Buchstabe Alpha das erste Hundertabschließt, ist mir freilich ^ungewiß; an sich kann er alsZahlzeichen gemeint sein, seine Verzierung mit allerhandSchnörkeln will aber zu der sonstigen Gewohnheit nichtrecht stimmen, Bei den Homerhandschriften ergibt sichvon selbst, daß die Bezifferung der Vorlage auch für alleAbschriften zutr iff t ; sie mag hier zugleich auch als Vers-zählung dazu gedient haben, das Auffinden einer Stelle indem arn meisten gelesenen Schriftsteller, in dein wichtigstenSchulbuche, zu erleichtern, so daß man ihre Häufigkeit wohlbegreifen kann. Anders aber steht es mit allen Texten, dienicht in der epischen Zeile geschrieben sind. Die Zeilen-zählung der Vorlage brauchte in ihnen nicht mit denZeilen der Abschrift übereinzustimmen und weicht auchtatsächlich davon ab. Wir können das in den verkohltenBuchrollen, die aus dem verschütteten Herkulanum wieder

S c h o b a r t , Das Buch. c

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zutage gekommen sind, sicher feststellen und gewinnenso einen Beweis, daß der Zählung nicht die Abschrift,sondern eine feste Normalzeile zugrunde gelegen hat;die meisten ändern Fragmente lassen sich nicht darauf-hin prüfen, da sie nur einmal oder zweimal solch eineZiffer aufweisen. Nun wird man aber mit Recht fragen,ob denn alle Texte, in denen wir Reihenziffern sehen,als Vorlagen zu betrachten seien. So gewiß jedes be-liebige Exemplar als Vorlage dienen konnte, so wenigdürfen wir uns bei dieser Erklärung beruhigen. Vielmehrwird oft genug der Schreiber aus Gedankenlosigkeit dieZiffern aus der Vorlage in die Abschrift übernommen haben.Im allgemeinen war es nicht üblich; der kleinen Zahl be-zifferter Texte steht die große Mehrzahl gegenüber, unddarunter die schönsten Buchhandschriften, die nicht diegeringste Spur davon aufweisen.

Indessen scheint der Sinn der Reihenzählung damit nochnicht erschöpft zu sein; man vermutet mehr, wenn in einigenFällen am Schlüsse des Buches der Verfasser selbst davonspricht. So sagt Josephus, der jüdische Politiker und Ge-schichtsschreiber, am Ende seines Werkes über das israelitischeAltertum: »Ich will meine Geschichte des Altertums ab-schließen; sie umfaßt 20 Bücher und 60000 Zeilen.« Aufdasselbe kommt es im Grunde heraus, wenn in einer Reihevon Handschriften am Ende eines Buches die Reihenzahl ange-geben wird, und zwar nicht nur in Pergamentcodices, wo esspäter häufig wird, sondern auch schon in Papyrusrollen.In einer ziemlich umfangreichen Homerrolle lesen wirunter der das 23. Buch der Ilias abschließenden Kolumnedie Zahl 890, nebenbei bemerkt, nicht in den sonst üblichenZiffern, sondern in der alten Schreibweise der Inschriften;ganz entsprechende Vermerke finden sich auch in anderenExemplaren. Manchmal steht auch unter jeder Kolumnedie Zahl ihrer Zeilen. Nicht selten begegnet mansolchen Angaben in den herkulanensischen Rollen, diehauptsächlich philosophische Schriften enthalten. DieserGebrauch ist also schon vor den Zeiten des Josephus vor-handen und erstreckt sich weiter über die ganze Periodedes griechischen und römischen Buchwesens. Man würdees verstehen, wenn die Vorlage solche Ziffern angibt,was sollen sie aber in der Abschrift bedeuten, was will imbesonderen der Verfasser selbst damit sagen? Vielleichtgibt uns das älteste Beispiel der Reihenzählung einen Auf-schluß. Der alexandrinische Bibliothekar Kallimachos hat,wie schon erwähnt worden ist, in seinen Bücherkatalogenauch die Zeilensumme jedesmal hinzugefügt. An eine Hilfefür künftige Abschreiber wird er dabei nicht gedacht haben,

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vielmehr möchte ich glauben, daß er damit ein Mittel andie Hand geben wollte, um ungefähr den Umfang desBuches zu schätzen. Auch heute pflegt der Verlagsbuch-händler bei der Ankündigung eines neuen Werkes dieSeitenzahl mitzuteilen, damit das kaufende Publikum sichein Bild von der Größe des Buches machen könne. Istdamit auch kein absolutes Maß gegeben, so doch ein Hin-weis, den der kundige Leser ungefähr beurteilen kann. Ichmöchte deshalb in der Schlußbemerkung des Josephus nichtsanderes sehen, als einen Überblick über die Größe seinesWerkes. Namentlich da, wo erhebliche Mengen von Büchernvereinigt waren, hatte eine Notiz über ihren Umfang etwasBequemes für den Benutzer, und der Besitzer der her-kulanensischen Rollen mag deshalb so oft die Reihenzahlangemerkt haben. Zugleich aber dient sie zur Kontrolleüber die Vollständigkeit des Kxemplars. Auch wenn mannicht an betrügerische Absicht denkt, die dem Käufer einunvollständiges Exemplar als vollständig anbieten wollte,so lag doch die Gefahr unabsichtlicher Auslassungen nahegenug, um ein Mittel zur Prüfung zu fordern. Ebensowichtig war diese Hilfe für private und öffentliche Bücher-sammlungen, und insofern erhält die Reihenzählung auchin der Abschrift ihren Sinn und Wert. Sie wird also ausden Bedürfnissen der Bibliotheken und des Buchhandelserwachsen sein. Auch in dieser Beziehung standen dieHomerhandschriften in erster Reihe. Ausgeschlossen er-scheint es mir, daß etwa die Summe der Zeilen einen An-halt für die Berechnung des Buchpreises hätte bieten sollen.Denn bei der Rolle wird er nur zum geringen Teile durchden Schreiberlohn bestimmt; die Kosten des Materials undder gesamten Ausstattung fallen erheblich ins Gewicht, umgar nicht davon zu reden, daß der Buchhändler keine Ver-anlassung hatte, dem Käufer einen Bestandteil des Preisesvorzurechnen, der nicht einmal entscheidend war.

Im allgemeinen hat die Reihenzählung nur eine technischeBedeutung und keinesfalls den Zweck, das Z i t i e r e n zuerleichtern. Was uns in Exemplaren aus dem Altertum nochvorliegt, ist in überwiegender Menge, auch die Prosa, geleseneLiteratur, nicht wissenschaftliche Quelle, und eine solchebedarf nicht derjenigen Hilfsmittel für das Zitieren, die demgelehrten Werke unentbehrlich scheinen. Ebensowenig wiewir, wenn wir nicht gerade Fachgelehrte sind, zitieren:Goethe, Römische Elegien XII, 19, sondern einfach: Goethein den Römischen Elegien, so sagen auch die Altennicht: Platon im Staate, Buch xf Reihe y, sondern kurz:Platon im Staate, höchstens wird noch das Buch bezeichnet.Diese unbestimmten Zitate passen durchaus zu dem Mangel

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der Reihenzählung in der großen Mehrzahl der erhaltenenBruchstücke. Außerdem wäre die Zählung der Zeilen vonHundert zu Hundert für das Zitieren wenig brauchbar ge-wesen, selbst wenn man sie auf Grund einer Norrnalzeile inallen Abschriften durchgeführt hätte. Nach modernen Be-griffen müßte daher die Bezifferung der Seiten, also in derRolle die der Kolumnen eintreten, Aber auch damit hätteman nichts erreicht, denn bei einem geschriebenen *Textekonnte die Verteilung auf die Kolumnen nicht so festbleiben wie beim Druck. Selbst wenn ein Werk gleichzeitigin Rollen von gleicher Länge bei gleicher Höhe und Breiteder Kolumnen vervielfältigt wurde, konnte beim bestenWillen völlige Gleichheit niemals erreicht werden; wirhaben oben die Ursachen schon betrachtet. Wenn trotzdemin Buchrollen Zählung der Kolumnen vorkommt, so erklärtsich diese Erscheinung aus der Nachahmung fremder Vor-bilder, nämlich der Urkundenrolle und des Kodex. Eineganze Reihe von Urkunden lehrt uns deutlich, daß in denamtlichen Registraturen die dort aufbewahrten Aktenstücke,nach Gegenständen geordnet, zu Rollen zusammengeklebtworden sind. Eine solche Rolle hieß Tomos und jedesihrer Blätter Ko l l ema , d. h. Klebung, durchaus zutreffend,denn jedes einzelne Aktenstück war auch ein einzelnesPapyrusblatt, Wollte man sich darin zurechtfinden, somußte jeder Tomos seine Nummer erhalten und nichtminder jedes Kollema; nur so konnte der Beamte auf Ver-langen bestimmte Urkunden ausschreiben oder zitieren.Demgemäß wird auch sehr häufig angeführt: Tomos x,Kollerna y. Während diese Aktenrollen, unsern Akten-bänden durchaus vergleichbar, nur die äußere Form mit derBuchrolle gemein haben, stehen ihr die amtlichen Listenüber Einwohner eines Ortes, Steuerbeträge, Grundbesitz usw.schon bedeutend näher. Dort klebte man die Rolle ausselbständigen, bereits beschriebenen Blättern nachträglichzusammen; hier wurde von vornherein eine fertige Rollebenutzt. Natürlich erhielt auch sie eine Nummer, und eswar eine nahe liegende Konsequenz, ebenso die Kolumnenzu beziffern, die indessen durchaus nicht an die einzelnenBlätter gebunden waren, sondern über die Klebungen hin-weg gingen. Was hier recht war, mußte auch für das Buchbillig sein, und so wird man in einer im Grunde zweck-losen Nachahmung gelegentlich auch in literarischen Textenjeder Kolumne ihre Ziffer gegeben haben. Später, alsneben der Rolle sich der Kodex mehr und mehr Geltungverschaffte, konnte auch er bisweilen zum Vorbilde werden.Man darf aber auch einräumen, daß in einer einzelnenRolle der Besitzer sich zu seinem Gebrauche die Ko-

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lumnen numerieren konnte. Das ist dann seine Privat-sache; eine allgemeine Praxis für die Buchausgaben aberist es nicht gewesen, weil es zwecklos war, und nachallem, was die erhaltenen Rollen und Bruchstücke vonRollen zeigen, dürfen wir den Alten etwas Zweckloses nichtzutrauen.

Es gab mancherlei Hilfsmittel, um die als Regelgeltende gleiche Breite der Zeilen auch dann zu erreichen,wenn die Verteilung der Buchstaben und Silben sich demGesetze nicht fügen wollte. Entweder drängte der Schreibergegen das Ende der Zeile die Buchstaben zusammen undbrachte auf diese Weise die notwendige Übereinstimmungvon Zeilenlänge und Worttrennung zustande, oder er ver-mied diesen unschön aussehenden Notbehelf dadurch, daßer schon etwas vor der Grenze abbrach und den leeren Raumdurch Striche oder durch einen kleinen Haken ausfüllte.Dies gilt, soweit ich das Material überblicken kann, nur fürProsatexte; das ist kein Zufall, sondern durchaus verständlich,da ja nur im Prosatexte das Gleichmaß der Zeilen grund-sätzlich durchgeführt werden konnte. Später machte manes sich gern noch bequemer und erlaubte sich, einengrößeren freien Raum durch zwei oder mehr Häkchen aus-zufüllen, so daß schließlich, etwa seit dem 4. Jahrhundertn. Chr., nach Bedarf sogar eine ganze Reihe dieser "Winkelauftreten durfte. Sie stellen sich namentlich am Endeeines Sinnabschnittes ein, weil man es gern vermied, denneuen Gedanken in der Mitte der Zeile anzufangen. Dasrein äußerliche Mittel der Zeilenfüllung erhält dadurch bei-nahe den Wert einer starken Interpunktion und wird z. B.in dem Prachtexemplar eines christlichen Osterbriefes ausdem 8. Jahrhundert, den die Berliner Sammlung besitzt,geradezu in dieser Bedeutung angewendet, jedoch immernur am Ende der Zeile,

Schon recht früh, etwa seit dem 2. Jahrhundert n. Chr.,drang ein anderes Verfahren ein, das im Grunde demselbenZiele der Zeilengleichheit diente, nämlich der Ersatz desle tz ten Buchs t abens durch einen wagerechten Strich überdem vorletzten. Es trifft indessen nur das N am Silbenende,ist aber bei diesem Buchstaben sehr beliebt geworden. Ver-mutlich verdankt dieser Gebrauch seine Entstehung der kur-siven Schreibweise, die schon früh dazu neigt, das Schluß-Nin Gestalt eines flüchtigen Hakens an den vorhergehendenVokal anzuhängen, Während diese Kürzung mit demPrinzip des Zeilengleichmaßes zusammenhängt, nehmen diesonst vorkommenden Abkürzungen eine andere Stellungein. Die Zusammendrängung der Buchstaben, die dieKursive erlaubte, ist zwar in literarische Handschriften

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7O Zweites Kapitel.

mit wenigen Ausnahmen nicht eingedrungen, sie magaber dazu geführt haben, einen Ersatz zu suchen. Dieserbot sich in einem Sys tem von A b k ü r z u n g e n , dassich mit sorgfältiger Ausführung der einzelnen Buchstabenvereinigen ließ. In der kursiven Schrift des täglichenLebens pflegte man vielfach Wörter in der Art abzukürzen,daß man sie nur soweit schrieb, als es das Verständnis desSinnes erforderte, und dann den letzten Buchstaben hochsetzte. Da der Sinn und der Zusammenhang maßgebendwaren, konnte man hier fester Regeln entbehren. Um einBeispiel anzuführen, konnte die Abkürzung mit hoch-gesetztem an sich mehrere griechische Wörter bezeichnen,aber im Zusammenhange einer geschichtlichen Darstellungergab sich die Auflösung in € ( »Krieg« von selbst.Diese Methode ließ sich also ohne weiteres für lite-rarische Texte heranziehen und ist in großem Umfangeangewendet worden. Sodann gab es eine Anzahl kursiverBuchstabenverbindungen, die eindeutig waren und deshalbohne Gefahr zugelassen werden durften. Das Wort» u n d « zeigt in der Kursive sehr oft die Buchstaben at in eineeinzige gebogene Linie zusammengezogen, und dies S-förmigeZeichen wurde für überhaupt beliebt. Was aber demAuge an abgekürzt geschriebenen Texten vor allem auffällt,sind die schrägen Striche über den Buchstaben, die sichbald rückwärts, bald vorwärts neigen. Diese sog. Strich-kürzung stellt sich als ein ziemlich festes System dar, dasin allen uns bekannten Fällen ungefähr gleich ist. Siebetrifft nicht nur kurze Wörter, besonders die gewöhnlichenPräpositionen, sondern auch häufige Silben, sowohl amEnde wie in der Mitte des Wortes. Der Anfangsbuchstabedes Wortes oder der Silbe ergibt je nach der Stellung desStriches und nach dem Zusammenhang verschiedene Be-deutungen, So ist z. B. 6' = b^, bv dagegen = b\a, und' kann am Wortende , in der Mitte aber nur

gelesen werden. Häufige Wörter werden zu Siglen verein-facht, indem man ihre charakteristischen Buchstaben ver-bindet; mit einem mitten hinein geschriebenen p kannnur xpovoc »Zeit« heißen; , in derselben Weise mit p ver-knüpft, ergibt ohne Zweifel » A r t « usw. Die aller-gewöhnlichsten Formen: »is t« , »s ind« und »sein« schreibtman überhaupt nur als Striche, deren Lage sie nach derBedeutung unterscheidet. Damit ist freilich die Reihe derMöglichkeiten nicht erschöpft, und jeder Schreiber hattemancherlei eigene Abkürzungen bei der Hand. Man kann sichvorstellen, wie bunt dies Gewirr von Strichen, hochgesetztenBuchstaben, Siglen und dergl. werden muß, wenn es miteiniger Konsequenz durchgeführt wird; manches Wort besteht

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dann fast nur noch aus solchen Zeichen. Im übrigen habendie Schreiber sich niemals streng daran gebunden, sonderngelegentlich auch Wörter ausgeschrieben, für die ihr Systemeine Kürzung enthielt (vgl. Abb. 8). Auf den Zusammenhangmit der eigentlichen Kurzschrift, deren Gebrauch für das Latei-nische unter dem Namen der tironischen Noten besonders be-kannt ist — Tiro war Ciceros Sekretär — kann ich hier nichteingehen. Nur wenige der uns erhaltenen literarischen Hand-schriften sind ganz und gar abgekürzt geschrieben; außer denherkulanensischen Rollen, deren mehrere zahlreiche Abkür-zungen aufweisen, ist das wichtigste Beispiel die Rolle, welcheauf der Vorderseite den Kommentar des Didymos zu Demo-sthenes und auf der Rückseite die Ethische Elementarlehredes Hierokles enthält. Beide Texte, obwohl von ver-schiedenen Händen, befolgen ungefähr dasselbe System derKürzungen; wer sich genauer darüber unterrichten will,findet in der Ausgabe des Hierokles (Berliner KlassikertexteHeft 4) eine ausführliche Liste. Sonst bemerkt man inliterarischen Handschriften die Kürzungen nur vereinzelt,am häufigsten in Randnotizen und in der Personenbezeich-nung bei dramatischen Werken. Schon damit wird ausge-sprochen, daß die Anwendung der Abkürzungen eigentlichnicht in ein Buch paßt; es ist eine unanständige Sparsam-keit, ein Verzicht auf Schönheit und Regelmäßigkeit desAussehens. Dagegen fügt sich dieser Gebrauch vollkommenin das Bild, das man sich von einer privaten Abschrift odereiner billigen Buchausgabe, die auf wenig Raum möglichstviel Stoff bringen sollte, machen darf. Wie alt die Praxiswar, läßt sich nicht ermitteln; das früheste Beispiel gebendie Rollen aus Herkulanurn, das System aber muß wohlälter sein. Ebensowenig kann man über die Verbreitungurteilen, denn aus der nicht sehr großen Zahl der uns be-kannten Beispiele darf man keineswegs schließen, daß Ab-kürzungssysteme selten gebraucht worden seien.

Eine abgesonderte Stellung nehmen die christlichen Texteein, die Handschriften biblischer Bücher sowie die übrigetheologische Literatur. Sie bedienen sich fast durchweg be-stimmter A b k ü r z u n g e n für die in ihnen häufigen Aus-d r ü c k e von t h e o l o g i s c h e r B e d e u t u n g . Die griechischenWörter für Gott, Vater, Herr, Jesus, Christus, Sohn, Geist,Mensch und die Ableitungen davon haben ihre festen Siglen,die nur geringe Abweichungen zulassen. Das System, das hierherrscht, gibt den Kasus des Wortes hinreichend deutlichan, indem es die Endung bezeichnet: z. B. 6c = Seoc,

= € . Der wagerechte Strich über den Buchstabenmacht das Auge sofort darauf aufmerksam, daß eine Ab-kürzung gemeint ist, was bei dem Fehlen der Worttrennung

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•j 2 Zweites Kapitel,

nicht überflüssig war. Von anderen Abkürzungen kommenin christlichen Texten fast nur der Strich für das Schluß-Nund die Schlangenlinie für vor. Endlich sei erwähnt,daß die umfangreiche lateinische Papyrushandschrift, derwir eine Übersicht über den Inhalt mehrerer verlorenerBücher des Livius verdanken, die römischen Vornamen inder uns geläufigen Weise mit dem ersten Buchstaben undauch einige technische. Ausdrücke wie »Konsul«, »Tr ibus«abkürzt. Durch alle Beispiele aber geht es als gemeinsamerZug hindurch, daß in jedem Falle der Zusammenhang dieAuswahl der Kürzungen und der Zweck der Abschrift denUmfang ihres Gebrauches bestimmt.

In den Buchhandschriften der Alten werden wie in allenihren schriftlichen Aufzeichnungen die Wörter n i c h t abge-te i l t , sondern ohne U n t e r b r e c h u n g reiht sich innerhalbder Zeile ein Buchstabe an den ändern. Daher hatte auch dergebildete Grieche oder Römer beim Lesen manche Schwierig-keit zu überwinden, die uns heute erspart bleibt; er mußteselbst die Reihe zu gliedern wissen. Mochte das nun auch fürden, der in der Sprache lebte, verhältnismäßig leicht sein,mochte es auch durch beständige Übung zur sicheren Fertig-keit werden, so empfand man doch die Unbequemlichkeit undsuchte ihr abzuhelfen. Das war um so notwendiger, jeschwieriger der Text nach Stil und Inhalt war, vornehmlichin poetischen Werken. Die meisten der älteren Dichtungen,sei es lyrische Poesie, Tragödie oder Epos, hat der gewöhn-liche Leser gewiß nicht leichter verstanden als der moderneGelehrte. So ist es nur natürlich, daß gerade in solchenSchriften allerlei Leseze ichen angewandt werden, um denSinn deutlicher zu machen. Der nach unsern Begriffen ein-fachste Weg, nämlich die Wörter zu trennen, lag den Alten ganzfern; nur in verschwindenden Ausnahmefällen begegnen wirhier und da einem Anlauf dazu. In den Schriftstücken destäglichen Lebens, in Briefen und Urkunden, stehen die ein-zelnen Wörter manchmal für sich, weil hier das Bestreben,die Buchstaben mit einander zu verbinden, von selbst dahinführen, konnte, die zusammen gehörigen Gruppen von Buch-staben auch äußerlich zu verknüpfen; freilich hat man nochhäufiger gerade die Wörter zerrissen, weil die bequemeStrichverbindung das mit sich brachte, denn das geschriebeneWort war in den Augen der Alten keine selbständige Einheit.Wie wünschenswert aber eine Hilfe auch bei literarischen Textenwar, zeigt uns eine Schulübung, worin der Schüler eineAnzahl Homerverse aufgeschrieben und durch Striche dieeinzelnen Wörter getrennt hat. Das gewöhnlichste Hilfs-mittel aber sind die A k z e n t e . Es ist beachtenswert, daßdie ältesten erhaltenen Papyrustexte keine Spur davon auf-

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Die Buchrolle. nweisen. Erst im ersten Jahrhundert v. Chr. sehen wir sieverwendet, hier freilich schon häufig und nach gewissenGrundsätzen, so daß man den Ursprung dieses Verfahrensfür älter halten muß. Von da an treffen wir die Akzenteebenso wie die Zeichen für den Hauch, den Spiritus lenisund den Spiritus asper, bis in die späteste Zeit ziemlich oft,

Abb. 7. Aus ein er Horn err olle mit Lesezeichen. Papyrus. Unter der Kolumneist ein vom Schreiber vergessener Vers nachgetragen. Original 13,5X13 cm,

ohne daß man eine erkennbare Zunahme ihres Gebrauchsbeobachten könnte; manche ganz späte Handschriften, wiedie Berliner Sapphofragmente, sind völlig frei davon. Auchdie Sorgfalt der Schrift, die Güte des Textes und diefeine Ausstattung des Äußeren sind nicht maßgebend fürdie Häufigkeit dieser Lesezeichen. \Tielmehr waren es derunmittelbare Zweck der Abschrift und das Bedürfnis desLesers, die darauf hinwirkten. Das spiegelt sich auchdarin wieder, daß oft die Akzente und dgl. von anderer

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JA Zweites Kapitel.

Hand nachträglich hinzugefügt sind, entweder von demKorrektor, der den Text nach Beendigung der Abschriftdurchsah, oder vom Leser, der sich für das zweite Mal dieMühe erleichtern wollte. Begreiflicher Weise kommen dieseZeichen nicht allein in Dichtungen, sondern auch in Prosa-werken vor, z. B. in Handschriften des Demosthenes unddes Platon, die einem Leser in der Kaiserzeit nicht immerbequem zu lesen sein mochten. Was wir an Akzenten undSpiritus vorfinden, verrät ein System, wonach eigentlich jedeSilbe ein Zeichen des ihr zukommenden Tones tragen sollte.Der nach links geneigte Strich, den wir gravis nennen,gehörte den unbetonten Silben, der nach rechts geneigteStrich, der acutus, und der Bogen, der Zirkumflex, denbetonten. Für den Gebrauch aber schien eine strengeGenauigkeit nicht nötig. Man beschränkte sich in derRegel darauf, entweder die unbetonte Silbe als solche zukennzeichnen oder der Tonsilbe ihren Akzent zu geben.Es gibt zwar auch einige wenige Fälle, wo ein Wort aufjeder Silbe den ihr zukommenden Akzent trägt, aber dochnur aus besonderem Anlaß, z. B. bei der Wortbrechung,wo es wichtig war, den Zusammenhang der beiden Wort-teile anzudeuten, wenn jeder Teil als selbständiges Wortaufgefaßt werden konnte. Bindestriche waren ja gänzlichunbekannt. Zusammengesetzte Wörter wurden überhauptmit Vorliebe akzentuiert, aus der begreiflichen Rücksichtauf den Sinn. Das erwähnte vereinfachte Verfahren hatsich nun insofern zu einer neuen Regel ausgebildet, alsder gravis, das Zeichen der unbetonten Silbe, fast nur ver-wendet wird, wenn die letzte Silbe den Ton hat. Dieseerhält dann keinen Akzent. Da es bei längeren Wörternüberflüssig war, jede vorangehende Silbe mit dem gravis zuversehen, so gab man nur den beiden zunächst stehendenoder einer von ihnen ihr Tonzeichen. Viel öfter abersetzte man den Akzent nur auf die Tonsilbe, besonderswenn es nicht die letzte war. Sollte ein Diphthong denAkzent erhalten, so zog man entweder den gebogenenZirkumflex über beide Vokale, oder man schrieb den Akutüber den ersten und nur in Ausnahmen über den zweitenVokal. Besonders häufig scheint man das Bedürfnis nacheiner Angabe des Akzents gefühlt zu haben, wenn eines derschwach betonten Wörter, der im Griechischen zahlreichenEnklitika, folgte. Dann erhielt die unmittelbar voraus-gehende Silbe den Akut, Sonderbarer Weise finden wirgelegentlich auch das dem Zurückwerfen des Akzents genauentgegengesetzte Bestreben, den Akzent kurzer Wörter vor-wärts zu rücken. Ein voll betontes Wort erhält dann dengravis und wird dadurch mit dem folgenden in ein einziges

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Die Buchrolle. y t j

auf der letzten Silbe betontes Wort zusammengefaßt. Daßdiese seltenen Fälle wirklich so zu verstehen sind, wirddurch eine Bemerkung in einem Homerkommentar bestätigt,wo der Erklärer ein Beispiel dieser Art anführt und alsfehlerhaft bezeichnet. Fehler sind ja auch sonst oft genuggemacht worden; nicht jeder Schreiber oder Leser wußtesich Rat in der Anwendung der Tonzeichen. Erst inspäterer Zeit begann man, den gravis irn Zusammenhangedes Satzes so zu setzen, wie wir es gewohnt sind, nämlichauf die sonst mit dem Akut versehene Endsilbe. DerSpiritus, das Zeichen des schwachen oder starken Hauches,wurde sehr unregelmäßig verwendet. Der Spiritus asperziemlich häufig, sogar da, wo wir ihn nicht setzen, in derMitte eines zusammengesetzten Wortes, dessen zweiter Be-standteil für sich genommen mit einem starken Hauchebeginnt. Sehr selten ist der Spiritus lenis; er wird eigentlichnur geschrieben, wenn die Buchstabengruppe, mit demSpiritus asper versehen, eine andere Bedeutung hat.

Es gibt keine Handschrift, die durchweg akzentuiert wäre,es gibt auch keine, die nicht in vielen Fällen von der Regelabwiche. Am häufigsten finden wir diese Lesezeichen inden Homertexten; aus Homer sind verhältnismäßig sehrviel Bruchstücke auf uns gekommen, so daß wir hier einreiches Material überblicken, und überdies war Homer diewichtigste Lektüre für die Schule, das allen bekannte undvon allen gelesene Buch, dessen Schwierigkeiten daher amdringendsten eine Erleichterung forderten. Jedoch auchmanche ändern Texte haben wir in reichlich akzentuiertenExemplaren, vor allem die Rolle, welche die Gedichte desBakchylides enthält. Sie zeigt besonders deutlich, daß derAkzent nur als Hilfsmittel verwendet wird, um einer Ver-wechslung vorzubeugen; wo der Ton auf einer kurzen Silbesteht, während dicht daneben ein langer Vokal tonlosbleibt, wo ein seltenes Wort vorkommt, da pflegt man ihnzu schreiben. So erklärt es sich auch, daß er gern aufEigennamen gesetzt wird, am häufigsten in den kleinenGedichten des Herodas, und daß in einer Sapphohandschriftder vom Gemeingriechischen abweichende Ton des les-bischen Dialekts mehrfach angegeben wird.

Neben Akzent und Spiritus brachte das Bedürfnis desLesers einige andere Zeichen hervor, die im Grunde demselbenZwecke dienten. In der Bakchylideshandschrift und in einpaar ändern werden lange, zusammengesetzte Wörter gelegent-lich an der Fuge mit einem darunter gezogenen Bogen als einsbezeichnet; sie tragen meistens zugleich den Akzent, ebenweil sie nicht ohne weiteres verständlich schienen. Daßman Länge und Kürze einer Silbe nicht selten in unserer

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16 Zweites Kapitel.

Weise durch einen wagerechten Strich und einen Bogenhervorhob, ist bei den griechischen Versregeln in Gedichtenzu erwarten; in Prosa kommt es nur sehr selten vor. Endlichsei noch erwähnt, daß ein alter lateinischer Text in derWeise mancher Inschriften über die langen Vokale einenApex, d, h. einen nach unten geöffneten Winkel, undzwischen den Wörtern Punkte setzt. Als Lesezeichen sindwohl auch die sog. diakritischen Punkte anzusehen, diehäufig auf den Vokalen Jota und Ypsilon erscheinen,ursprünglich, wenn diese Vokale unmittelbar neben einemändern als selbständige Silbe gelesen werden sollten. DasVerständnis für diesen Zweck ist den Schreibern freilichfrüh abhanden gekommen; sie setzten die Punkte auf diebeiden genannten Vokale ohne Wahl, wie es ihnen geradeeinfiel.

Es fehlte auch nicht an Mitteln, um das Wort-gefüge, den Satz, als Ganzes hervorzuheben und zu be-grenzen. Die I n t e r p u n k t i o n ist schon in sehr alten Textennachweisbar und in weitem Umfange angewandt worden.Man unterschied den P u n k t oben in der oberen Randlinieder Buchstaben, den P u n k t u n t e n in Zeilenhöhe und denin der Mit te liegenden Punkt, gebrauchte sie aber ziemlichregellos bald für den stärkeren, bald für den schwächerenEinschnitt. Der D o p p e l p u n k t ist das älteste Zeichen derSatztrennung, hat sich aber nur im dramatischen Dialogbeim Wechsel der Rede innerhalb der Zeile dauernd be-hauptet, während er in der Prosa dem einfachen Punkteweichen mußte und erst ganz spät wieder eindrang.Die Alten haben aber auch einen Anlauf zu dem naheliegenden Verfahren genommen, die Sätze durch einenlee ren R a u m von einander zu sondern, und zwar auffallendoft in den ältesten Buchhandschriften in Poesie und Prosa,ein Gebrauch, der wiederum nach längerer Unterbrechungerst spät von neuem auftritt. Bei größeren Sinnabschnittenwird häufig die letzte Zeile, wenn der Satz sie nicht ganzfüllt , freigelassen, der neue Abschnitt also mit der neuenZeile begonnen. Gleichen Alters ist die Paragraphos , derwagerechte Strich unter dem Anfang derjenigen Zeile, inder der Gedankengang endet. Ihren ursprünglichen Sinnzeigen die frühesten Beispiele: da steht der Strich mittenin der Zeile, allein oder mit dem Doppelpunkt; meistens,aber nicht immer, arn Anfang als Paragraphos wieder-holt, um von vornherein auf den Einschnitt aufmerksam zumachen. Dies gilt sowohl für die Prosa wie für dieGliederung des Dialogs im Drama. Von da an steht sieallein oder in Beziehung auf eine Interpunktion in sorg-fältigen Buchhandschriften fast regelmäßig; die dialogische

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Die Buchiolle. 77

Gliederung bezeichnet sie nicht nur im Drama, sondernauch sonst in ähnlich angelegten Dichtungen, z. B, in denMimiamben des Herodas, und in dialogischer Prosa, z. B. ineinigen Platonhandschriften. Bei strophischer Gliederungim Drama wie in der Lyrik schließt sie naturgemäß dieStrophe ab, Auslassungen und falsche Anwendungen bleibenselbstverständlich auch hier nicht aus. Wollte man denAbschluß eines längeren Gedankenganges bezeichnen, soschien die einfache Paragraphos nicht zu genügen; siewurde dann mit gewundenen Schnörkeln verziert und hießihrer Gestalt entsprechend Koron i s . Eigentlich gehörte sienur ans Ende eines ganzen Buches, »indem sie die letzteWendung bezeichnet als zuverlässiger Grenzwächter für dieSchriftreihen«, und deshalb «thront sie mit ihrer Schlangen-windung am Ziele der Gelehrsamkeit«, wie der Epigramm-dichter Meleager am Schlüsse seines Liederkranzes von ihrsagt. So sehen wir sie auch oft in den erhaltenen Papyrus-texten, z. B, in dem Kommentare des Didymos zu denReden des Demosthenes sowohl am Ende der Rolle vordem Schlußtitel als auch da, wo die Erläuterung der ein-zelnen Reden abschließt. In poetischen Werken begrenztsie die Strophen oder die lyrischen Systeme, wofern sichder Schreiber mit der Paragraphos nicht begnügen will. ImTimotheospapyrus steht vor dem letzten Abschnitte einsonderbares Gebilde, das fast wie ein Vogel aussieht,zugleich aber eine beabsichtigte Verbindung von Buch-staben, eine Art von Monogramm zu sein scheint. Daßdieser angebliche Vogel eine Koronis sei oder gar die Krähedarstelle, deren griechischer Name Korone die Verbindungmit Koronis nahe legen könnte, ist freilich eine unsichereVermutung. Man tut besser, das Zeichen vor der Handunerklärt zu lassen. Jedenfalls ist es hier ganz andersgestaltet als die richtige Koronis, die immer als eineVerzierung der Paragraphos auftritt.

Gelegentlich werden Abschnitte des Sinnes durch Aus-r ü c k e n oder E i n r ü c k e n einer Zeile hervorgehoben. Das-selbe Verfahren wendete man an, um Zitate kenntlich zumachen; das kam natürlich vor allem in Kommentaren zuanderen Schriften vor, wo es galt, die Worte des Klassikersdeutlich von der Erläuterung zu sondern. Oft wurden sieauch durch einen spitzen Winkel am Anfang, selten durcheinen Strich am Ende der Zeile als solche für das Augebezeichnet; daß daneben auch die Paragraphos helfenmußte, versteht sich von selbst. Beginnt das Zitat inner-halb der Zeile, so stehen diese äußeren Hinweise dochimmer an ihrem Anfange. Man bezweckte mit diesenMitteln dasselbe, was wir heute durch gesperrten Druck

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7 8 Zweites Kapitel.

erreichen. Das Ausrücken oder Einrücken der Zeilen spieltnoch mehr als in Prosatexten eine Rolle in Dichterhand-schriften, vornehmlich da, wo eine metrisch anders ge-baute Versgruppe beginnt. Die Chorpartien der Tragödie,die man in kurzen Zeilen zu schreiben pflegte, heben sichvom Dialog schon äußerlich dadurch ab, daß ihre Zeilen etwasweiter rechts beginnen. Und ähnlich wird in Textenlyrischen Inhalts der Beginn einer neuen Strophe bezeichnet.Alle diese Mittel, einen größeren oder kleineren Sinn-abschnitt kenntlich zu machen, dienen der Deutlichkeit undVerständlichkeit. Im allgemeinen regelmäßiger als dieAkzente gebraucht, entstammen sie doch ebenso demnächsten Bedürfnis des Lesers; auch sie werden nichtimmer konsequent gesetzt, nicht immer konsequent miteinander in Beziehung gebracht und geben an sich keinuntrügliches Kennzeichen für die Güte und Sorgfalt einerHandschrift.

Die dramatischen Werke, deren d ia logische Gl ie-d e r u n g äußerer Hinweise besonders bedürfte, haben sichlange mit den genannten Zeichen begnügt. Erst in der Kaiser-zeit begegnen wir der Sitte, die uns geläufig ist, nämlichdie redenden Personen am linken Rande durch ihreNamen in abgekürzter Form kenntlich zu machen; nurausnahmsweise stehen sie am rechten Rande. Allein manverzichtete deshalb keineswegs auf die alten Zeichen, undso sehen wir meistens beide Methoden zu gleicher Zeit ver-wendet. Eine völlige Genauigkeit aber hat man in ihremGebrauche niemals zu erreichen vermocht, da gerade indiesen Dingen am leichtesten dem Schreiber ein Versehenunterlaufen konnte. Daß die Personenbezeichnung durchvorangesetzte Namen eigentlich eine der Sache fremdeZutat war, spiegelt sich in der Abkürzung dieser Namen;sie gehörten nicht zürn Texte und durften auch äußerlichals eine Nebensache behandelt werden. Daher sind auchdie Schriftzüge hier in der Regel kleiner und mehrkursiv als die Buchstabenformen des Textes, manchmalersichtlich erst von einer zweiten Hand hinzugefügt.Die Art der Abkürzung entspricht jedesmal den An-forderungen der Deutlichkeit, und in vielen Fällen genügtenein oder zwei Buchstaben dafür. Nur für den Chor, dieseüberall wiederkehrende Partie des Dramas, scheint sich eineziemlich feste Weise der Bezeichnung ausgebildet zu haben,denn es ist kaum zufällig, daß die drei Buchstabenmeistens über einander geordnet werden, bisweilen so, daß

in der Mitte, o darüber und p darunter steht. Für sichsteht eine Handschrift aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., diefür die Hauptpersonen nicht Abkürzungen, sondern Buch-

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Die Buchrolle. 79

staben, also Ziffern, gebraucht, obwohl diese Personen imTexte selbst mit eigenen Namen angeredet werden. Nebenihnen, die wir bis zur Zahl 7 verfolgen können, finden sichfür die Nebenrollen gewöhnliche Abkürzungen, die ihrenCharakter als » König«, »Weib« usw. angeben. Indessendarf man daraus keine allgemeine Praxis ableiten, wenig-stens nicht für die Handschriften der höheren dramatischenPoesie, sei es Trauerspiel oder Lustspiel. Denn dieses Stück,das in der oberägyptischen Provinzialstadt Oxyrhynchosgefunden worden ist, gibt sich als eine Posse niederenRanges zu erkennen. In seinem Inhalte lehrt es uns, wiediese Tagesliteratur beschaffen war, mag es nun im beson-deren dem Theater von Oxyrhynchos angehören oderanderswoher stammen. Es behandelt den auch in Romanenverwerteten Stoff, daß ein griechisches Mädchen in einfernes Land, hier Indien, verschlagen worden ist und vonseinem Bruder und dessen Genossen wieder aufgefundenwird. Wenn hier der König des Landes und sein Gefolgein ihrer barbarischen Sprache, die der Papyrus wiedergibt,zu reden anfingen, mag das Publikum sich köstlich an demunverständlichen Zeug unterhalten haben, nicht minderan den Spaßen und nicht gerade anständigen Manieren desPossenreißers. Die Personen vertraten hier weniger einenCharakter als einen Menschentypus, und so mochte esgenug sein, sie mit A, B usw. zu bezeichnen. Vielleichtwar das in solchen Werken überhaupt gebräuchlich; diehöhere dramatische Poesie gab und forderte bestimmtereBenennungen.

Auf solche Äußerlichkeiten, wie es die Hinzufügungder Namen ist, Betrachtungen allgemeiner Art aufzubauen,mag bedenklich erscheinen. Wenn wir aber erkannt haben,daß dieses Mittel den ältesten Handschriften fremd istund erst ziemlich spät sich einstellt, so erinnert man sichdoch unwillkürlich daran, daß das Drama aus dem ange-schauten Bühnenvorgange ein Literaturwerk, ein Lesestückgeworden ist. Denn die Tragödie eines Sophokles war vonHause aus nicht darauf angelegt, gelesen zu werden, undgab auch dann, wenn sie wirklich nur gelesen wurde, nochdeutlich genug an, welche Personen den Dialog führten.So oft eine neue Person zum ersten Male auftritt, wird siein einer ganz klaren Weise bezeichnet, meistens sogar mitNamen genannt, vor allem natürlich am Anfang des Stückes,wo der Zuschauer gleich erfahren mußte, wen er vor sichhatte. Man betrachte die Antigone; unter der Voraus-setzung, daß das Publikum im allgemeinen über dendramatisch behandelten Sagenstoff Bescheid weiß, gibt dererste Vers schon zu erkennen, daß Antigone spricht, da

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Ismene als Schwester angeredet wird. Sollte noch jemandzweifeln, so wird er gleich durch die Worte der Ismenedarüber aufgeklärt. Der dann auftretende Chor bedarfkeiner Einführung, da er sich als solcher ohne weiteres demAuge darstellt. Aber mit seinen letzten Worten kündigt erwieder an, daß der aus dem Palaste heraustretende Mannder König Kreon ist. Und wenn nachher der Wächtererscheint, so kennzeichnet ihn, auch abgesehen von derTracht, sofort der erste Satz, den er ausspricht. Dieseder Bühne angepaßte Gewohnheit wird in mannigfaltigenWendungen immer befolgt und macht im Grunde nicht nurfür den Zuschauer, sondern auch für den Leser die Nennungder Person neben dem Texte überflüssig. Und da derDialog sich fast immer nur zwischen zwei Personen bewegt,so wird man auch beim Lesen hinreichend durch Para-graphos und Punkte unterstützt. Treten gleichzeitig mehrPersonen auf, so liegt es schon näher, die Namen an den Randzu schreiben. Wie sehr aber neben dieser neuen Mode dieältere einfache Praxis sich behauptet hat, beweist am bestendie der späteren Überlieferung anhaftende Unsicherheit inder Zuteilung der Reden an die Personen, namentlich inden bewegten Vers urn Vers wechselnden Partien.

Wie es den ältesten Handschriften der Tragödie undder Komödie an der Nennung der Personen fehlt, so man-gelt ihnen auch alles, was wir s z e n i s c h e B e m e r k u n g e nzu nennen pflegen. Kehren wir wieder zu Sophokles zurück.Die Szenerie war hier an sich schon viel zu fest und regel-mäßig, als daß sie besonderer Hinweise bedurft hätte. DerDichter selbst übte die Aufführung ein und konnte allesNotwendige über Auftreten, Gebärden usw. den Schauspielernselbst sagen, soweit nicht auch dies durch überlieferte Ge-wohnheit sich von selbst ergab. Man darf sich überhaupteine solche Aufführung im Athen des 5. Jahrhunderts janicht nach dem Bilde moderner Theatersitte vorstellen;schon das gewaltige Theater nötigte zu einfachem Spielund verbot jede Charakteristik, die nicht weithin sichtbarund ohne weiteres verständlich war. Es ist also keinWunder, daß in der Regel auch unsere Papyrushandschriftenkeinerlei szenische Bemerkungen enthalten. Nur in Ko-mödien, die größere Lebhaftigkeit verlangen, kommen sievor, und nicht vor dem 2. Jahrhundert n. Chr., also untersehr veränderten Theaterverhältnissen. Aber auch hiersind sie im Vergleich zu modernen Stücken sehr kurz,am ehesten denjenigen alter Shakespeare-Ausgaben ver-gleichbar. Wie es in diesen kurz heißt: »exeunt«, so lesenwir in der Perikeiromene des Menander: »tritt auf« und»tritt ab«. Etwas ergiebiger ist wiederum die schon er-

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Die Buchrolle. 81

wähnte Posse aus Oxyrhynciios. Besonders interessantwird diese Handschrift dadurch, daß sie auch musikalische An-weisungen bringt, z. B. »Pauken« , »Pauken f ü n f m a l « ; istein Wort als eine Art von Refrain von allen zu sprechen,so steht dabei »zusammen« und dgl. mehr. Alle dieseNotizen stehen im geschriebenen Texte da, wo sie hinge-hören, also auch mitten in der Zeile, meistens abgekürztoder über die Worte des Dialogs geschrieben. Übrigensfinden sich hier wie in der Menanderhandschrift auch diePersonenbezeichnungen manchmal in der Zeile oder dar-über. Man wird aber aus den wenigen Proben solcherszenischen Bemerkungen nicht folgern dürfen, daß sie inBuchhandschriften sich verbreitet hätten. Das Exemplarjener Posse macht durchaus den Eindruck einer Abschriftvon geringer Güte, die keinen Anspruch auf Schönheiterhob, wie sie denn auch in ungewöhnlich langen Zeilengeschrieben ist.

Das Verfahren der Dialogbezeichnung hat in ein paarFällen vom Drama aus auf andere Literaturwerke überge-griffen, wenn eine ähnliche Gliederung vorlag. So lesen wirschon in einer vorchristlichen Homerhandschrift einmal amRande den Namen des Diomedes, wo dessen Worte an-geführt sind, und ein andermal beim Beginn der Erzählungin Abkürzung: »Der Dichter«.

Die Bezeichnung der Personen und die szenischenBemerkungen im Schauspiel können zwar noch als beab-sichtigte und charakteristische Merkmale dieser Gruppe vonHandschriften betrachtet werden; sofern sie aber durchabgekürzte und mehr kursive Schrift sich in vielen Fällenals nachträgliche Zusätze, mitunter von zweiter Hand, heraus-stellen, leiten sie hinüber zu denjenigen Zügen, die dieBuchhandschrift nach der Vollendung der Abschrift erhaltenhat. Während bei dem gedruckten Buche die K o r r e k t u rdem endgültigen Drucke vorausgeht, ist sie für die ge-schriebene Buchrolle erst dann möglich, wenn die Abschriftfertig vorliegt, Auch der sorgsamste und erfahrenste Schreiberbegeht Fehler, zumal wenn er einen ausgedehnten Textniederzuschreiben hat, der an seine Ausdauer erheblicheAnforderungen stellt. Man darf ohne Übertreibung be-haupten, daß es fehlerlose Buchhandschriften nicht gibt,denn wo wir etwa ein fehlerfreies Bruchstück entdecken,ist eben nur der geringe Umfang des Erhaltenen die Ursachedes günstigen Ergebnisses. Auch die schönsten Buchrollen,wie der schon öfter als Muster hingestellte Kommentar zuPlatons Theater,, weisen viele Versehen und Mißgriffe auf,Diese sind sehr verschiedener Art; man unterscheidet meistensdeutlich die eigentlichen Schreibfehler von den Willkürlich-

S c h u b ar t , Das Buch. 6

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§2 Zweites Kapitel.

keiten, die auf Mißverständnissen beruhen. Je nachdemder Schreiber seine Arbeit rein mechanisch machte odersich etwas dabei dachte, tritt die eine oder die aridere Artbesonders hervor, Oft genug mag das Original Schuld sein;eine unleserliche Hand kann ebenso dazu beitragen, wieetwa eine in Abkürzungen geschriebene oder schon fehler-hafte Vorlage. Demgemäß ist auch die Tätigkeit desKorrektors verschieden; bald richtet sie sich hauptsächlichauf die Verschreibungen, bald mehr auf die orthographischenund sachlichen Mängel der Abschrift. Es ist für uns gleich-gültig, ob Korrektor und Schreiber eine Person sind odernicht. Oft, aber keineswegs immer, gibt uns die Schriftder Korrekturen eine Aufklärung darüber.

Die Schreibfehler äußern sich darin, daß ähnlich aus-sehende Buchstaben verwechselt, Silben, Worte, ja ganzeZeilen ausgelassen, aber auch ganze Buchstabengruppen fälsch-lich wiederholt oder zugefügt werden. Auch die unrichtigeAuflösung einer Abkürzung, die verkehrte Stellung zweierWorte und die falsche Schreibung seltener oder poetischer unddialektischer Ausdrücke kann auf Nachlässigkeit des Abschrei-benden zurückgehen. Wenn überflüssige Buchstaben zu tilgensind, so setzt der Korrektor einen Punkt über jeden, oder erstreicht sie durch, und häufig tut er um der Deutlichkeitwillen beides. Ist etwas ausgelassen worden, so schreibter das Fehlende an der betreffenden Stelle über die Zeile;nimmt jedoch die Verbesserung mehr Platz in Anspruch,so ist er auf die leeren Randflächen angewiesen. DerZwischenraum zwischen den Kolumnen, der nicht breit zusein pflegt, kommt nur für solche Korrekturen in Betracht,die einen mäßigen Umfang haben; namentlich der rechteRand ist dafür beliebt. Bei längeren Auslassungen mußder obere oder der untere Rand aushelfen. Die fehlendeZeile oder der fehlende Satz wird dann über oder unterder Kolumne nachgetragen und erhält ein Zeichen, einengebogenen Strich, ein Kreuz oder dergleichen, das nebendem Texte an der korrekturbedürftigen Stelle wiederkehrt,so daß der Leser sich leicht zurechtfinden kann. Und oftschreibt man noch neben den Nachtrag ein »oben« oder»unten«, dem im Texte ein »un ten« oder »oben« entspricht,(vgl. Abb. 7). Indessen findet sich diese Genauigkeit nichtüberall; man begnügt sich vielfach mit einem dieser Mittel undüberläßt das Weitere dem Leser. Unser Verfahren, eineirrtümlich hinzugefügte Stelle einzuklammern, ist fast un-bekannt, kommt aber doch in ein paar Beispielen vor.Ebensowenig scheint es üblich gewesen zu sein, einen aus-gestrichenen Buchstaben durch einen darunter gesetztenPunkt wiederherzustellen; in solchen Fällen zieht der

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Die Buchrolle. 83

Korrektor es vor, das Richtige darüber zu schreiben, nurim Theatetkommentar sehen wir einmal den Punkt unterdem gestrichenen Buchstaben. Falsely gestellte Wörterbringt man entweder so in Ordnung, daß man kurzerhandsie tilgt und noch einmal schreibt, oder indem man Buch-staben als Ziffern darüber setzt, ganz in unserer Weise. Äußer-lich gleichen die Korrekturen, welche orthographische Fehlerund Mißverständnisse berichtigen, natürlich den vorigen,denn auch für sie gab es nur die genannten einfachen Mittel.Dagegen stellen sie an den Korrektor höhere Ansprüche,denn er muß nicht allein die Vorlage vergleichen, sondernsie auch verstehen und gelegentlich verbessern können.Er wird freilich kaum große Mühe aufgewendet haben, umin zweifelhaften Fällen das Echte zu ermitteln, sondernmeistens nach Gutdünken korrigiert haben. Aber manbemerkt doch bisweilen, daß bestimmte Grundsätze befolgtwerden, wie denn der Korrektor des Theätetpapyrus in derOrthographie ersichtlich von der Vorlage abweicht, undein anderer in einer Thukydideshandschrift das attische 11durch das gemeingriechische s s ersetzt. Es bedarf kaumder Hervorhebung, daß die Verbesserungen fast durchwegflüchtiger geschrieben sind als der Text; daraus darf manaber nicht ohne weiteres entnehmen, sie stammten vonanderer Hand, denn wie die gewöhnliche Schrift desSchreibers aussah, kann uns seine Schönschrift im Textenicht lehren. Dagegen bieten die Korrekturen durch ihreNeigung zu kursiven Formen ein wichtiges Hilfsmittel, umBuchhandschriften zu datieren. Wenn wir einige Maleneben einer korrigierten Zeile ein Kreuz oder ein ähnlichesZeichen bemerken, so liegt die Deutung nahe, daß derKorrektor beim ersten Lesen sich die fehlerhafte Stelle nurangestrichen und nachher erst verbessert habe. Er konnteüberhaupt nicht eine ganze Buchrolle hinter einander korri-gieren, um so weniger, je ernster er seine Aufgabe nahm;die schrägen Striche, die manchmal am linken Rande bei einernicht korrigierten Zeile stehen, mögen anzeigen, wie weiter jedesmal gekommen ist. Es ist kein Wunder, daß auchdem Korrektor vieles entgeht, und daß er umgekehrt aucheinmal etwas ändert, was gut und richtig ist. Denn abge-sehen von der Ermüdung, die jeder kennt, der einmalumfangreiche Korrekturen gelesen hat, ist in der Regelauch die Sachkenntnis des Korrektors nicht viel größerals die des Schreibers, Beide haben ihre Arbeit oft rechtflüchtig und mechanisch getrieben. Immerhin kann dieKorrektur den Wert des Textes nur erhöhen, und damitstimmt es überein, wenn gerade sorgfältige und schöneHandschriften viele Verbesserungen auf weisen. In gewissen

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$4 Zweites Kapitel.

Grenzen gibt deshalb die Zahl der Korrekturen einen Maß-stab für die Güte des Textes und den Wert der Buchrollean die Hand.

Streng genommen besteht die Aufgabe des Korrektorsnur darin, an fehlerhaften Stellen das Richtige einzusetzen,ohne daß in irgend einer Form seine persönliche Meinungzum Ausdruck käme. Allein es war an sich wohl möglich,die Verbesserung in eine selbständige Bemerkung einzu-kleiden, und wo es zweifelhaft schien, was richtig sei, wares zweckmäßig, diese Unsicherheit auch auszusprechen.Wenn wir z. B. im Didymospapyrus eine Korrektur mit»vielleicht« eingeleitet finden, so gehört sie eigentlichschon zu den A n m e r k u n g e n , nicht mehr zu den Korrekturen.In Wirklichkeit läßt sich beides gar nicht streng scheiden;oft genug werden freilich die Anmerkungen nicht vomKorrektor, sondern von einem Leser herrühren. Dem Aus-sehen nach gleichen sie den Korrekturen; auch sie werdenzwischen den Zeilen, an den seitlichen Rändern der Ko-lumne, darüber und darunter angebracht. Sie sind in denuns beschäftigenden Papyrusrollen nicht so sehr häufig,meistens kurz gefaßt und ohne Konsequenz gesetzt. Woder Benutzer des Textes etwas zum Verständnisse bei-zutragen wußte, wo er sich selbst das zweite Lesen durchNotizen über einzelnes wie über den Inhalt ganzer Ab-schnitte erleichtern wollte, da schrieb er eine Bemerkunghin. Diese »Scholien«, wie man sie zu nennen pflegt,betreffen nicht selten den Wortlaut des Textes selbst. Diealexandrinischen Grammatiker hatten solche Untersuchungenmehreren Schriftstellern zugewendet und ein System k r i t i -scher Z e iche n herausgebildet, das mit Strichen und Punktenbestimmte Urteile ausdrückte. So besagte die »dip le« , dernach links gespaltene Strich, daß in grammatischer Beziehungetwas zu erinnern sei, der »Asteriskos«, der Stern, daß dieStelle sonst noch in demselben Werke vorkomme usw.Dieser kritischen Zeichen gibt es eine ganze Menge, ohne daßwir immer über ihre Bedeutung Bescheid wüßten; sie tretenzwar vorwiegend in den Homertexten auf, aber doch auchin ändern, auch in prosaischen Werken. Gewiß sind siezum großen Teile aus den alten alexandrinischen Ausgabenin die Abschriften späterer Jahrhunderte übergegangen undgleich von dem Abschreiber mit eingesetzt worden, jedochwird man im einzelnen Falle schwer entscheiden können,ob ein Strich, ein Sternchen, ein Haken dem Schreiber desTextes zuzurechnen sei oder einem ändern. Bei der Ein-fachheit dieser Zeichen läßt sich nicht einmal eine genaueGrenze zwischen ihnen und den Strichen des Korrektorsziehen. Nur selten geht die Textkritik über solche Symbole

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hinaus; es ist eine Ausnahme, wenn in einem Homertexte dieallgemein übliche Lesart als »koine« (allgemeine) bezeichnetwird, Natürlich gehören alle diese Zeichen an den linkenRand vor die Zeile, und es erscheint deshalb als Unschick-lichkeit, sie mitten in die Zeile zu schieben, wie ein ziem-lich später biblischer Kodex es tut. An sachlichen Er-läuterungen sind die uns erhaltenen Papyrus recht arm;hier und da wird einmal ein seltenes Wort oder eintechnischer Ausdruck erklärt, während Angaben über Ab-fassungszeit eines Gedichtes, wie sie ein kleiner Fetzen auseiner Alkaioshandschrift bringt, leider ganz spärlich auftreten.Das erklärt sich zum Teil aus der vom Zufall abhängigenEntstehung der Randnotizen, zum Teil aber auch daraus,daß man für die sachliche Behandlung wichtiger Schrifteneigene Werke besaß. Unter den erhaltenen Papyrus istein lehrreiches Beispiel dieser Art die Rolle, die denKommentar des Didymos zu Demosthenes enthält. Aberauch Fragmente von Homerkommentaren, von Erläuterungendramatischer Werke treffen wir unter den Papyrusfunden, ganzabgesehen von der sonst überlieferten Erklärungsliteratur.Wenn man will, mag man hierher auch solche Anmerkungenrechnen, die lediglich den Wortsinn angehen. Die Vokabelnund die Wortformen der homerischen Gedichte waren vielenLesern, vor allem den Schülern, keineswegs geläufig, undÜbersetzungen mochten recht nötig sein. Deshalb hat mancherBenutzer zu den poetischen Ausdrücken sich die entsprechen-den prosaischen hinzugeschrieben. Jedoch standen auchdafür eigene Wörterbücher zur Verfügung, und der fleißigeSchüler legte sich auf Wachstafeln Präparationshefte zuHomer an, um nicht wie bequemere Kameraden das Buchselbst zu verunzieren. Für uns besitzen solche Notizen nurdann einen Wert, wenn sie schwierigen Texten beigegebensind. In der Berliner Sammlung befindet sich ein schöngeschriebenes Bruchstück aus den Gedichten der Korinna,das in dieser Weise ausgestattet ist; hier können auch wiraus den Übertragungen einzelner Formen noch Vorteil ziehen,Es bleibt noch eine dritte Gruppe von Anmerkungen übrig,die keinerlei eigenes Wissen zu dem Texte heranträgt,sondern nur dazu dient, die Übersicht zu erleichtern. Manmachte sich, vornehmlich bei längeren Texten, Notizen über denInhalt in der Form von Überschriften über den Kolumnen.In größter Ausdehnung ist dies in dem Didymoskommentarund in der auf der Rückseite desselben Papyrus stehendenEthischen Elementarlehre des Hierokles geschehen. DieÜberschriften sind kursiver geschrieben als der Text, könnenaber allenfalls derselben Hand angehören. Meistens er-halten sie ein Zeichen, das sich an der entsprechenden

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86 Zweites Kapitel.

Stelle der Kolumne wiederfindet, sind also genau so behandeltwie die oben erwähnten Zusätze des Korrektors, Der Buch-rolle an sich sind sie fremd; fortlaufende Seitenüberschriften,wie sie bei uns oft in Büchern zu finden sind, kennt dieantike Buchtechnik ursprünglich nicht. Noch in einemspaten christlichen Kodex, der die Schrift von der Himmel-fahrt des Jesaias enthält, werden sie durch Striche zu derbetreffenden Stelle in Beziehung gesetzt und offenbar alsZutaten, nicht als Bestandteile der Buchhandschrift auf-gefaßt. Es ist aber leicht begreiflich, daß allmählich diesbequeme Hilfsmittel aus dem privaten Belieben einzelnerzu einem verbreiteten Gebrauche geworden ist.

Im allgemeinen spricht unser Material durchaus dafür,daß Anmerkungen von vornherein nicht vorgesehen waren.Da aber im Grunde für die Ausstattung der Buchrolle derjedesmalige Zweck den Ausschlag gibt, dürfen wir unsnicht wundern, ein paar Beispielen zu begegnen, die aufsolche Zusätze angelegt zu sein scheinen. Sie haben auf-fallend breite Zwischenräume zwischen den Kolumnen undzeigen in der Tat ungewöhnlich viel Randnoten. Man magsich vorstellen, daß etwa ein Gelehrter für seinen Gebrauchsich eine solche Abschrift besorgt habe, ähnlich wie wirheute Bücher mit leeren Blättern durchschießen lassen,wenn wir größere Eintragungen beabsichtigen. Ohne Zweifelhat es aber auch gelehrte Buchausgaben gegeben, welchedie durch wissenschaftliche Arbeit gewonnenen kritischenund sachlichen Notizen in der Form von Randnoten ent-hielten. Wenn wir auch unter den Papyrusrollen bishernur wenig Beispiele dafür gefunden haben, so müssen siedoch in Menge vorhanden gewesen sein als notwendigeVoraussetzung für die zahlreichen Handschriften des Mittel-alters, deren »Scbolien« alter Gelehrsamkeit entstammen.

In einer der Herkulanensischen Rollen lesen wir amSchlüsse der Schrift des Philodem über die Redekunst denNamen Poseidon, Sohn des Biton, mit dem Zusätze »selbst«( ). An die spätere Sitte, daß der Schreiber sich am Endenennt, ist nicht zu denken. Noch weniger verständlich istes, wenn in einem Iliaskommentar zwischen zwei Kolumnengeschrieben steht: »ich Ammonios, Sohn des Ammonios,Grammatiker, habe unterzeichnet«, und ebenfalls zwischenzwei Kolumnen einer philosophischen Schrift: »ichMikryloshabe eingetragen«. Es gibt zwar einen Ammonios, derErläuterungen zu Homer geschrieben hat, aber jener Zusatzgehört einer erheblich späteren Zeit an als die Handschriftdes Textes, und der Ausdruck: »ich habe unterzeichnet«macht es unmöglich, an den Verfasser zu denken. Wasendlich Mikrylos »eingetragen« oder »zu den Akten ge-

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nommen« hat, bleibt ganz rätselhaft. Auf der anderenSeite müssen diese Notizen irgend eine Beziehung zumBuchtexte ausdrücken; ihre Einordnung ist zwar sonderbar,kann aber doch kaum damit erklärt werden, daß es sichum Notizen handele, die gar nichts mit dem Buche zu tunhätten, denn dann werden sie völlig sinnlos. Eine Deutungvermag ich nicht zu geben; vielleicht lernen wir in Zukunftaus neuen Beispielen ihren Zweck verstehen.

Daß die fertige Buchrolle einen Ti te l erhalten hat, istvon vornherein klar, wie er aber beschaffen war, scheintbeim ersten Überblick über das uns erhaltene Materialnicht leicht erkennbar zu sein. Denn wir finden Titelsowohl am Ende eines Buches wie am Anfang, bald aus-führlich, bald kurz, und aus den meisten Papyrusrestenkönnen wir überhaupt kein Ergebnis gewinnen, weil eseben nur Bruchstücke sind. Auch die sonst so lehrreicheTheätetrolle läßt uns hier im Stiche, da Anfang undEnde fehlen. Begnügen wir uns mit weniger guten Beispielen,so sehen wir zunächst in mehreren Fällen am Ende desBuches und der Rolle eine Angabe über Verfasser undInhalt, die wir als Titel in unserem Sinne bezeichnenmüssen. Eine ganze Reihe der verkohlten Rollen ausHerkulanum bietet kurze Fassungen wie; Epikur über dieNatur i i , wöbet der Name des Verfassers irn Genitiv steht,weil der Begriff » B u c h « hinzuzudenken ist. Alles Wesent-liche ist damit gegeben, Name des Schriftstellers, Bezeich-nung des Werkes nach seinem Inhalt und Nummer des be-treffenden Buches. Und dieses Schema zeigen noch mehrereandere Handschriften, die zum größeren Teile späterenUrsprungs sind als die dem i. Jahrhundert v. Chr. angehörigenRollen aus Herkulanum. Ich nenne nur noch das wertvolleFragment aus den Kestoi des Ju l ius Africanus, der in seinen»Kasten« tausenderlei gelehrte Notizen zusammengetragenhat; wir lesen da: des Jul ius Africanus Kasten 18, undbefinden uns demgemäß am Ende des 18, Buches seinesGesamtwerkes. Manchmal fällt der S c h l u ß t i t e l aber auchetwas reicher aus, vor allem in dem Didymoskommentarder Berliner Sammlung. Hier lautet er: Didymos (im Genitiv)über Demosthenes 28 der Philippika 3; dann folgen unter-einander die Ziffern 9 bis 12 und neben jeder die Anfangs-worte der betreffenden Rede. Nach Maßgabe der übrigenUnterschriften bedeutet dies, daß wir das 28. Buch aus demKommentar des Didyrnos zu Demosthenes vor uns haben,dafi dieses unter den die Philippischen Reden behan-delnden Büchern Nummer 3 ist und die vier angeführtenReden betrifft, die in der Reihe der Philippika als Nummer 9bis 12 gezählt werden. Es mag nebenher bemerkt werden,

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Abb. 8. Ende der Didymosrolle mit Titel. Etwas verkleinert.

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daß in der Ausgabe des Textes im i. Hefte der BerlinerKlassikertexte eine andere Auffassung vertreten wird, dieich heute nicht mehr als richtig anerkennen kann, Wenneine Homerhandschrift aus dem 4, Jahrhundert n. Chr., diein einem Kodex überliefert ist, am Ende des 2. Buches derIHas den Vermerk trägt; ein Knde hat der llias 2. (Buch),so darf man diese und ähnliche Unterschriften nicht ganzmit den obigen Beispielen gleichstellen; denn obwohl siesachlich dasselbe besagt, ist sie doch in ihrer Abfassungmehr Schlußbemerkung als Buchtitel. Da man den Kodexfür die Praxis der Buchrollen in vielen Beziehungen heran-ziehen darf, gehört hierher auch die Unterschrift unter derGrammatik des Tryphon, die durchaus jenen alten Titelnentspricht. So sehr es uns auffallen mag, daß der Titelam Ende steht, so hat es doch in der Buchrolle einenguten Sinn. Denn da ihr Schluß vor der Zerstörung ambesten geschützt war, so fand hier der für den Leserwesentliche Titel den sichersten Platz. Freilich will eswenig dazu stimmen, wenn wir am Ende einer Rede, diein einer gut geschriebenen Rolle vor uns liegt, gar keinenTitel sehen, obwohl Raum genug dafür vorhanden ist.Augenscheinlich war es noch nicht allgemein üblich, einenTitel in unserm Sinne zu geben und ihn ans Ende zu rücken.Von Hause aus besaß ihn das griechische Buch überhauptnicht, wie unter anderem die schon erwähnten Bibliotheks-kataloge des Kallimachos dartun. Denn sie führen nebendem Namen des Verfassers an Stelle einer Inhaltsbezeich-nung die Anfangsworte des Werkes an. Auch der Timo-theospapyrus, dessen Ende erhalten ist, hat keinen Schluß-titel, dagegen zeigt ihn, freilich in verworrener Form, einevorchristlicher Zeit angehörige Handschrift des astronomischenWerkes, das als »Kunst des Eudoxos« bekannt ist. Wennferner die Herkulanensischen Rollen den Schlußtitel kennen,die Didymosrolle aber die einzelnen Reden des Demosthenesnur mit den Anfangsworten anführt, so erkennt man, daß ererst allmählich und mit vielen Schwankungen sich aus-gebildet hat.

Mit dem Schlußtitel konnte indessen die Buchrollenicht genügend kenntlich gemacht sein, da man ihn ja erstfand, wenn die ganze Rolle aufgewickelt war. Der praktischeGebrauch verlangte unbedingt eine entsprechende Notiz amAnfang. Nun wissen wir freilich gerade über den Anfangder Buchrolle am wenigsten Bescheid; denn da er bei dergeschlossenen Rolle außen lag, war er der Zerstörung ammeisten ausgesetzt und ist nur in ganz seltenen Fällen aufuns gekommen. Um eine Verletzung des Textes nachKräften auszuschließen, ließ man am Anfang ein Blatt frei

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oder klebte nachträglich ein leeres Blatt vorn an die Rolle.Es wäre merkwürdig, wenn man sich dies Blatt nicht zu-nutze gemacht hätte. Daß es in der Tat geschehen ist,zeigt die Rückseite des Didymospapyrus. Sie hat die»Ethische Elementarlehre« des Hierokles aufgenommen, dienatürlicherweise im entgegengesetzten Sinne zum Didymos-texte geschrieben ist. Haben wir beim Didymos den Schluß,so befindet sich auf seinem Rücken beim Hierokles derAnfang, nämlich das leere Schutzblatt. Ungefähr in derMitte steht denn auch der Titel, kursiv geschrieben, mehrein kurzer Hinweis als ein eigentlicher Bestandteil des Buches.Ich nehme an, daß am Ende des Hieroklesbuches der Titelin Form einer sorgfältigen Unterschrift folgte. Daraus würdesich ergeben, daß die vollkommen ausgestattete Buchrolleden Haupttitel am Ende hatte, während vorn auf demSchutzblatte eine flüchtigere Notiz eingetragen war, obgleichman dies Ergebnis einer zweimal benutzten und durchausnicht eleganten Rolle verdankt. Allerlei Abweichungen vondieser Regel werden uns nicht irre machen, wenn wir aufdie Menge der Eigenheiten zurückblicken, die uns bei derBetrachtung der Papyrusrolle schon begegnet sind. Bliebunter der letzten Kolumne kein Platz mehr übrig, so wußteman sich zu helfen und schrieb den Titel über die letzteKolumne, wie wir es in dem Fragment aus der Inhaltsangabedes Dionysalexandros, einer Komödie des Kratinos, be-merken. In diesem Falle zeigt die große feierliche Schriftallein schon, daß es wirklich der Titel ist und nicht etwaeine Kolumnenüberschrift, wie wir sie mehrfach im Didyrnosgefunden haben.

Bestand der auf einer Buchrolle untergebrachte Textaus mehreren selbständigen Abschnitten, so verlangte dieÜbersichtlichkeit, daß sie bezeichnet wurden, und zwar inder Form von Kapitelüberschriften über dem betreffendenTeile. Gedichte haben ursprünglich solche Überschriftennicht gehabt; wenigstens erscheinen im Bakchylidespapyrusdie Bezeichnungen der einzelnen Gedichte als Zutaten, diezum Teil der Schreiber des Textes selbst, zürn Teil eine andereHand beigefügt hat, und ebenso Hegt es bei den Mimiambendes Herodas, Stellte man aber die Dichtungen Verschiedenerzusammen, so durften ihre Namen über ihren Versen nichtfehlen, wie es die erhaltenen Anthologien und Epigramm-sarnmlungen dartun. So gehörte auch in den Homerrollendie Bezeichnung des neuen Buches an seinen Anfang, unddamit ergab sich von selbst, daß ein Titel unter dem vor-hergehenden wegfallen durfte, wofern nicht Ende des Buchesund Ende der Rolle zusammentrafen. Hier war es eigentlichnur eine fortlaufende Bezifferung, die ihrer Natur nach an

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den Anfang gehörte. Daß dichterische Werke mit ähnlichfortschreitender Zählung dabei bleiben mußten, ist selbst-verständlich, und eine in Leipzig aufbewahrte Rolle derPsalmen bestätigt die Praxis auch für die christliche Literatur.Als der Kodex allmählich die Rolle verdrängte, übernahmer von ihr den Gebrauch, den Haupttitel ans Ende zurücken; man hat sich gewöhnt, ihn hier als Subskriptionzu bezeichnen und dem allmählich vordringenden Kopftitelgegenüber zu stellen, aber die Erweiterungen, die er im Laufeder Zeiten erfahren hat, ändern nichts an seinem Zusammenhangmit der bei der Rolle ausgebildeten Gewohnheit. Häufig ent-hält diese Subskription nicht nur den Namen des Schreibersund des Korrektors, die auf diesemWege sich einen Anteil ander Unsterblichkeit sichern wollten, sondern auch die Angabeder Zeilenzahl. Wer sich dessen erinnert, was zuvor überdie Zeilenzählung bemerkt worden ist, könnte vermuten,daß auch dieser Bestandteil dem Schlußtitel der Rolle ent-lehnt sei. Ohne die Möglichkeit bestreiten zu wollen,möchte ich doch darauf hinweisen, daß die uns vorliegendenRollenenden nicht dafür sprechen; die Zeilenzahl mag oftgenug dabei gestanden haben, aber zum Schlußtitel gehörtesie augenscheinlich nicht. In der Rolle hebt sich der amEnde befindliche Haupttitel äußerlich durch eingerückteZeilen und oft durch wagerechte Striche über dem erstenund dem letzten Buchstaben vom übrigen Texte ab; woeine Koronis angebracht ist, verläuft sie in der Regel anseiner linken Seite.

Der beschriebene RolJentitel gab wohl eine ausreichendeBezeichnung für den, der die Rolle zum Lesen in die Handnahm, konnte aber dem nichts nützen, der aus einer Reihegeschlossen aufbewahrter Rollen, etwa aus einer Bibliothek,sich ein bestimmtes Buch aussuchen wollte. Er bedurfteeines sofort sichtbaren Titels; sobald es überhaupt Bücher-sammlungen gab, war ohne ihn nicht durchzukommen.Denn mochten nun die Rollen in den gewöhnlichen topf-ähnlichen Bücherbehältern zu mehreren neben einander stehenoder auf Regalbrettern liegen, in beiden Fällen waren siezum größten Teile unsichtbar. Daher befestigte man ander geschlossenen Rolle einen heraushängenden Streifenmeistens aus Pergament, der unter dem griechischen NamenS i l l y b o s und dem lateinischen I n d e x oder T i t u l u s öftererwähnt wird. Bei dem elegant ausgestatteten Exemplar warer rot oder safranfarbig; darauf stand, wie ein erhaltenesExemplar uns zeigt, der Name des Autors und des Werkes.Dies Exemplar hat nebenbei noch insofern Interesse, als esder kümmerliche Überrest einer Buchrolle ist, die die vonPlaton hoch geschätzten Mimoi des Sophron enthielt. Statt

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einer weiteren Beschreibung lasse ich ein paar Worte des Ovidfolgen, die am besten zeigen, wie der Titulus aussah. Imersten Gedichte seiner Klagelieder aus der Verbannung redeter sein Buch an, das nach Rom gehen soll; »wenn du dort«,sagt er, »dein Haus, den gebogenen Bücherbehälter, er-reicht hast, wirst du deine Brüder der Reihe nach aufgestelltsehen, die alle derselbe Trieb zum Leben erweckt hat.Die übrige Schar wird offen ihre Titel sehen lassen undihre Namen an freier Stirn tragen. Drei aber wirst duabseits im dunklen Winkel lehnen sehen, wenn überhaupt.Sie lehren, was jeder kennt, die Liebe.« Der Dichter denktan seine drei Bücher Amores, die ihren Titel scheu verbergenmüssen, weil sie als unsittlich verrufen waren. Und nichtminder deutlich ist Martials bissige Bemerkung über denReimschmied Fidentinus, der eine Seite eigner Poesie inMartials Buch eingeschmuggelt hat; mit einem kaum über-setzbaren Wortspiele meint er, da sei weder index nochiudex, weder Ansicht noch Einsicht nötig, die Seite verratesich selbst. Schließlich erinnere ich noch an die frühesteErwähnung des Titels in einer Komödie des Alexis,wo der Schüler Herakles die Bücherreihe durchmustert:»Orpheus ist da, Hesiod, Tragödie, Epicharm, Homer« usw.;das alles erkennt er an den heraushängenden Titelstreifen.Dieser ist also die älteste Art, den Inhalt der Buchrollekenntlich zu machen; er konnte nur eine ganz kurze Notizenthalten und auf die Länge allein nicht genügen.

Mit der Erwähnung das Sillybos haben wir eigentlichdie Rolle als Schriftwerk schon verlassen und uns ihrerä u ß e r l i c h e n A u s s t a t t u n g zugewendet, Davon wissen wirfreilich nur wenig, da unsere Zeugen, die erhaltenen Papyrus-rollen, so gut wie gar nichts auszusagen vermögen. Dennder Zufall, der sie auf uns gebracht hat, konnte sie dochnicht vor der Beschädigung ihres Äußeren schützen. Wirsind also im wesentlichen auf verstreute Bemerkungenantiker Schriftsteller angewiesen, die in diesem oder jenemZusammenhange gelegentlich der Buchrolle gedenken, natür-lich ohne diese ihren Lesern bekannten Dinge bis inseinzelne genau zu schildern. So stoßen wir mehrere Maleauf das lateinische Wort frons, die Stirn; bald scheint dieRolle nur eine Stirn zu haben, bald hat sie deren zwei.Lesen wir von den » beiden Stirnen «, so scheint die Erklärungeinfach: die geschlossene Rolle hat oben und unten den-selben spiralförmigen Querschnitt, der das einzige ist, waszweimal mit gleichem Aussehen wiederkehrt, Wo aber die»Stirn« in der Einzahl vorkommt, dürfen wir nicht in einerUngenauigkeit des bildlichen Ausdrucks einen Auswegsuchen. Wenigstens hat Ovid unverkennbar beides, frons

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Die Buchrolle. 03

und frontes, unterschieden und Verschiedenes davon aus-gesagt. Suchen wir nun an der geschlossenen Rolle einenTeil, der mit irgend einem Rechte als »Stirn« bezeichnetwerden konnte, so finden wir, abgesehen von den beidenQuerschnitten, nur eine passende Stelle: den außen liegendenRand, den Anfang der ganzen Rolle. Und vielleicht hatOvid auch an der Stelle, die ich zuvor1 zur Erläuterung desSillybos herangezogen habe, mit der »freien Stirn« ebendiesen Rand gerneint. Dann hätte hier der Titel gestanden;die Stelle war an sich dafür wohl geeignet und entsprichtobenein ziemlich genau dem Platze der Briefadresse, dieman auf die Außenseite des zusammengerollten Briefesschrieb. Es wäre nur natürlich, wenn man bei der Buch-rolle dasselbe fände. Ein frei heraushängender Sillyboswäre damit noch nicht überflüssig gemacht worden, abervielleicht hat man auch diesen Pergamentstreifen an derAußenseite der Rolle angeklebt. Wenigstens deutet einesonst kaum verständliche Bemerkung des Tibull darauf hin:» Pergament soll,« so sagt er, » den äußersten Giebel dem zartenPapyrusblatte vorn anweben, um den Namen anzuzeigen.«Das heißt also: ein Pergamentstreifen für den Titel wirdals äußerster Vorsprung an die Rolle angesetzt, und dasWort »vorn anweben« deutet an, daß dies Ansetzen so zudenken ist, wie das Anweben des Purpurstreifens an dieweiße Toga. Damit sind wir wieder bei dem angelangt,was ich als »Stirn« gedeutet habe; nur hier kann einPergamentstreifen »angewebt« werden. Ein zweiter zunächstunklar erscheinender Bestandteil der geschlossenen Rolle sinddie cornua, die Hörner. Sie sollen sich zwischen den »beidenStirnen« befinden, aber auch an » der Stirn « ihren Platz haben.Überlegt man sich, was an der geschlossenen Rolle miteinem Hörne verglichen werden kann, so ist es nur dieuntere und die obere Ecke des Anfangsblattes, auf keinenFall aber können damit die Querschnitte gemeint sein.Die beiden Randecken erfüllen denn auch, was von ihnengefordert wird; sie gehören zum Rande oder der Stirnseiteund liegen zwischen den frontes, den Querschnitten. Siewurden schwarz gefärbt und hoben sich dadurch von derhelleren Papyrusfarbe ab. Wenn diese letztere ein paarMal weiß genannt wird, so ist das nicht ganz wörtlich zunehmen. Es gab freilich neben dem braunen Papyrus, derunter den Funden weit überwiegt, auch eine sehr helleweißgelbe Sorte. Vielleicht bleichte man auch die Farbedurch das Tränken mit Cedrusöl, wovon öfter die Rede ist.Dies geschah ebenso sehr, um das Aussehen zu verbessern,als um Würmer und Feuchtigkeit fern zu halten; wenigstenserscheint das Cedrusöl immer unter den anderen Ver-

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schonerungsmitteln. Die Ränder der Rolle müssen schondamals, als das Material noch neu war, zum Ausfasern ge-neigt haben, denn die Dichter heben es immer als einwesentliches Erfordernis hervor, daß sie mit Bimsstein glattgemacht werden, und wohl nicht nur die Ränder, sonderndie ganze Außenfläche. Darum werden die »beiden Stirnen«der Rolle, die Ovids Klagelieder aus der Verbannung ent-hält, nicht mit Bimsstein poliert; struppig mit seinen ver-einzelten Haaren soll das Trauerbuch aussehen, das aufalle Schönheitsmittel verzichtet,

Um der Rolle größere Haltbarkeit zu verleihen, wurde amAnfang und am Ende je ein Stab (umbilicus) befestigt, oderman verdickte diese Ränder durch aufgeklebte Papyrusstreifen.Die beiden S täbe , die oben und unten etwas über die Rollehinausragten, pflegte man zu färben, schwarz oder in ganzvornehmer Ausstattung golden (vgl.Abb.4). Ihre Enden kamenbei der geschlossenen Rolle nahe an einander und wurden mitFäden umschlungen, die den Verschluß sicherten. Danachhieß die Rolle in gezierter Sprache kontophoros: Stabträger.Endlich erhielt die Buchrolle einen U m s c h l a g aus Perga-men t , der meistens purpurfarben war. Mit einer passendenÜbertragung konnte man ihn alspaenula, griechisch phainoles,als Reisemantel des Buches, bezeichnen. Etwas Ähnlicheshat sich in Indien bis in die neueste Zeit gehalten: dieBücher aus Palmblättern werden in einem Futteral ausBambusrohr mit einem Überzug aus rotem Stoff aufbewahrt.Ob die roten Riemen, von denen Catull spricht, nur denPergamentumschlag bezeichnen sollen, möchte ich bezwei-feln, da jedenfalls auch die eingewickelte Rolle noch durchBänder irgendwelcher Art zusammengehalten worden ist.Wo jene Stäbe fehlten» waren solche Bänder oder Fädenunentbehrlich; Brief- und Urkundenrollen, die mit Papyrus-bändern umwickelt sind, haben wir noch vor Augen. Von allendiesen Verzierungen und Sicherheitsmitteln der Buchrolle istnichts erhalten geblieben, abgesehen von wenigen durch auf-geklebte Papyrusstreifen verstärkten Rollenrändern und einemeinzigen Exemplar, das noch den Ansatz des Pergaments anden Papyrus zeigt. Es ist dies eine ausgezeichnet erhaltenePapyrusrolle des größten Formats, von etwa 6 m Längeund sorgfältiger Kalligraphie. Sie enthält den Osterbriefeines koptischen Patriarchen von Alexandrien aus dem An-fange des 8. Jahrhunderts und ist somit eines der spätestenBeispiele für die Papyrusrolle. Inhaltlich gehört sie trotzder theologischen Erörterung, die den größten Raum ein-nimmt, zu den Urkunden, denn ihr eigentlicher Zweck ist,für das betreffende Jahr den Termin des Osterfestes sowieder vorangehenden und nachfolgenden Fastenzeiten bekannt

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zu machen. Allein ihre Ausstattung ist so vornehm, daßsie mit vollem Recht als Muster der elegantesten Buchrollebetrachtet werden darf. Der kleine Pergamentfetzen, dersich arn Anfang erhalten hat, kann der Rest der Pergament-hülle sein, die dann angeklebt gewesen wäre; man darfaber auch an den »vorn angewebten« Streifen denken, derfür den Titel bestimmt war. Von den beiden Stäben findetsich keine Spur, uud in diesem Falle ist es sicher, daß dieRolle nie welche gehabt hat. Überhaupt darf man beiallem, was die Schriftsteller uns vorn Aussehen der Buch-rolle erzählen, nicht vergessen, daß ihre Beschreibung nurfür Luxusausgaben gilt, auch dann, wenn es der Zusammen-hang nicht von selbst ergibt. Die große Mehrzahl derRollen hat gewiß weit bescheidener ausgesehen, mögenihnen nun einige der angeführten Zutaten oder alle gefehlthaben. Deshalb sind nicht nur äußere Beschädigungendaran schuld, daß unser Material fast gar keine Belege zuden antiken Schilderungen liefert, sondern vor allem derUmstand, daß so reich verzierte Exemplare ebenso seltenwaren wie heute die Prachtausgaben unter der Masse dergewöhnlichen Bücher.

Dagegen fehlt es uns nicht gänzlich an Beispieleni l l u s t r i e r t e r B u c h r o l l e n , so daß wir uns die gelegentlichenAndeutungen der Alten über diesen Punkt anschaulichmachen können. Unter anderem sind es Werke mathema-tischen Inhalts, die der Zeichnungen nicht entbehren konnten.Außer ein paar Bruchstücken aus den Schriften des Euklidsteht hier wieder der Kommentar zu Platons Theätet voran;zweimal sind darin zur Erläuterung mathematischer Erör-terungen Figuren eingetragen, und zwar innerhalb des Rah-mens der Kolumne. Die Zeichnungen sind mit dem Linealausgeführt bis auf einen aus freier Hand gezogenen Halb-kreis, aber nicht ganz korrekt ausgefallen. Auch bei astro-nomischen Texten ergab sich die Notwendigkeit der Illu-stration; die lange Rolle, die das Werk des Eudoxos enthält,ist reich damit ausgestattet. Aber wie ihre Schrift und dieganze Anordnung der Kolumnen geringe Sorgfalt verrät,so sehen auch die Figuren nachlässig aus und stehen un-geschickt bald in den Kolumnen, bald zwischen ihnen; dieGoldfarbe, die für Sonne, Mond usw. verwendet ist, vermag dieMängel der Ordnung nicht zu verhüllen. Die Illustration kamganz besonders in naturwissenschaftlichen Werken zur Gel-timg; obwohl wir Papyrusrollen dieser Art nicht vor Augenhaben, dürfen wir doch ohne Zweifel viele Abbildungenspäterer Pergamentbücher auf solche Vorbilder zurückführen.Auch das Portrait fand Eingang; Varro illustrierte seineLebensbeschreibungen berühmter Männer mit nicht weniger

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g6 Zweites Kapitel.

als 700 Abbildungen, und das Bild des Verfassers scheintin gut ausgestatteten Buchrollen nichts Seltenes gewesenzu sein. Der Kodex hat sich auch darin an die Rolleangeschlossen.

Was ich über die Einrichtung und Ausstattung derPapyrusrolle gesagt habe, gilt ebenso für die Pe rgament -r o l l e , die uns nur wenig bekannt ist; sie ist in Ägyptennaturgemäß weit seltener gewesen als anderswo, fügt sichaber, abgesehen von der Herstellung des Materials, voll-kommen in die aus der Papyrusrolle abgeleiteten Regeln.

Wir dürfen die Bu.ch.roUe nicht verlassen, ohne uns inaller Kürze zu fragen, wie sie benutzt worden ist, dennihre eigentümliche Gestalt verlangte eine besondere Hand-h a b u n g . Freilich ergibt sie sich eigentlich von selbst; wersie sich vorstellen will, tu t am besten, ein großes BlattPapier, etwa eine Zeitung, zu rollen und selbst zu versuchen,wie man am bequemsten lesen kann. Indessen findet dochjeder gern das, was er durch Erfahrung feststellt, durchklare Beispiele bestätigt. So sei denn zunächst daranerinnert, daß wir mehrere aus dem Altertume stammendeStatuen besitzen, die uns den Gebildeten, den Dichter, denGelehrten, lesend vor Augen führen. Der Leser sitzt undhält die geöffnete Rolle, die auf seinen Knieen liegt, mitbeiden Händen. Was er vor sich hat, ist aber nicht diein ganzer Länge aufgewickelte Rolle, vielmehr ist derAnfang wie das Ende zusammengerollt und wird von derrechten und linken Hand festgehalten. Zwischen diesenbeiden gerollten Teilen liegt in der Mitte nur eine kleineoffene Fläche, der Teil, der gerade gelesen wird (vgl. Abb. 5).So stellt sich auch eine viele Meter messende Rolle in derHand des Lesers als ein kleiner Gegenstand dar, dernicht größer ist als ein modernes Buch. Beim Fort-schreiten der Lektüre zieht die linke Hand die soeben ge-lesene Kolumne an und rollt sie zusammen, während dierechte Hand den in ihr liegenden Zylinder lockert undeine neue Kolumne nach links gleiten läßt. Zum Überflüssesagen es noch einige Schriftsteller ausdrücklich: »er hieltdas Buch in den Händen, das zu zwei (Zylindern) zusammen-gerollt war, und so wollte er einen Teil erst lesen, denändern hatte er schon gelesen« heißt es bei Lukian. Warder Leser am Ende der Rolle angelangt, so hielt er sie alsgeschlossene Rolle in der linken Hand, wobei nun dasEnde sich außen, der Anfang sich innen befand. Das warfreilich ein entschiedener Nachteil dieser Buchform, denn«m die Rolle wieder in ihren ursprünglichen Zustand zubringen, um sie für das nächste Mal überhaupt benutzbarzu machen, mußte der Lesende sie von Neuem so rollen,

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Page 72: Das Buch bei den Griechen und Römern Volume 4 (Eine Studie aus der Berliner Papyrussammlung) || ZWEITES KAPITEL: DIE BUCHROLLE

Die Buch rolle. 97

daß der Schluß nach innen kam. Es mag ihm manchmallangweilig geworden sein, und wie wir wohl ein Buch auf-geschlagen liegen lassen, so mochte er auch die geleseneund verkehrt gewickelte Rolle, wie sie war, in den Bücher-behälter stecken. Jedenfalls hat der, welcher zuletzt denTheätetpapyrus las, es so gemacht, denn als die Rolle imBerliner Museum eintraf, zeigte sich, daß der Anfang sichim Inneren befand. Hatte man einen Tisch vor sich, solegte man selbstverständlich die Rolle darauf, und einunachtsamer Leser konnte den schon gelesenen Teil einfachherunter fallen lassen, ohne ihn mit der linken Hand zu-sammenzufassen, allerdings zum Schaden der Rolle, denndie fallende Last konnte leicht dazu führen, daß der PapyrusRisse bekam. Wer die gelesene Rolle wieder im richtigenSinne wickeln wollte, drückte das Ende unters Kinn, wobeisie natürlich herunter fiel, und rollte sie so zusammen. Dasmeint wohl Martial, wenn er von dem Papyrus spricht,»der vorn rauhen Kinn gerieben nicht zusammenschauert«.

Was ich über die Buchrolle zusammengestellt habe, istim wesentlichen eine Beschreibung ihrer Merkmale, ohnedaß es möglich gewesen wäre, ihre Entwicklung zu ver-folgen. Denn das wenige, was wir von den ältesten Buch-rollen griechischer Herkunft und von dem Einflüsse deralexandrinischen Reformen wissen, gibt uns noch nicht dasRecht, von einer Geschichte der Rolle zu reden. Spätestensmit dem 6. Jahrhundert v. Chr. eindringend, beherrscht siebei Griechen und Römern das Buchwesen eines Jahrtausendsund hat darüber hinaus sich noch Jahrhunderte lang imGebrauche erhalten, als der Kodex neben ihr sich einbürgerteund sie nach und nach verdrängte. Noch im 6. und 7. Jahr-hundert n. Chr. hat sie ihre Vertreter, und der oben be-sprochene Osterbrief, der im Anfange des 8. Jahrhundertsgeschrieben worden ist, beweist durch seine Ausstattung,daß die Buchrolle keineswegs ihre Schönheit und Brauch-barkeit verloren hatte. Freilich können wir sie nicht vielweiter verfolgen, während die Urkundenrolle das Mittelalterüberdauert hat und noch heute in manchen Dokumentenfortlebt, z. B. in unseren Doktordiplomen, die unmittelbareAbkömmlinge der in byzantinischer Zeit aufgekommenenUrkundenform sind. Es scheint aber, daß die Buchrolledoch im großen und ganzen mit ihrem gebräuchlichstenMateriale, dem Papyrus, stand und fiel; als die Papyrus-fabrikation dem arabischen Papier, denn dieses, nicht dasPergament, hat sie abgelöst, weichen mußte, als der Papyrusselbst ausstarb, ist auch die Buchrolle aus dem Gebraucheverschwunden.

S c h u b a r t , Das Buch.

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