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v o n Z e i t z u Z e i t
d i e Z e i t v e r g e s s e n
Bachelorarbeit von Julia WernerFachhochschule Potsdam
D a s Bü roa l s Zu st an d
Das Büro als ZustandBachelorarbeit 2008Fachhochschule PotsdamFachrichtung Interface Design Julia WernerMatrikelnr.: 6274
Betreut durch: Prof. Boris MüllerLehrgebiet: Interaction Design
Zweitprüfer: Prof. Matthias KrohnLehrgebiet: Digitale Medien
v o n Z e i t z u Z e i t
d i e Z e i t v e r g e s s e n
Bachelorarbeit von Julia WernerFachhochschule Potsdam
Da s Bü roa ls Zusta nd
DankIch bedanke mich für die freundliche
Unterstützung bei:
Prof. Boris Müller, Prof. Matthias Krohn,
meiner Familie, Frau Köller, Amelie, Eva,
Myriel, Dominique, Wilhelm, Esther und
allen anderen, die mich in der Phase der
„Überarbeitung“ unterstützt haben.
6
Die Menschen werden geboren, die Menschen sterben, und die Zeit dazwischen verbringen sie mit dem Tragen der Digitaluhren.Douglas Adams
008 Einleitung
Gegenstand der Untersuchung
Arbeitshypothese und Fragestellungen
Teil Eins
014 Die Eier legende Wollmilchsau
Soft Skills
Leistung
Die Ware Arbeitskraft
023 OFF = ON
Erreichbar statt anwesend
Das Zuhausebüro
Wertewandel
Lebensqualität
038 I love my PC
Wer, wie viel, vie oft:
Krank durch Arbeit
Karoshi
Burnout
Doping fürs Hirn
Teil Zwei
057 Beschleunigung
Vergleichzeitigung oder
„Intensifikation“
Nichtstun nicht können
067 Pause
Sinnvolle Pausen
077 Entschleunigung
Andere Länder andere Sitten
Emailfreie Freitage & Quite Time
088 Fazit und Ausblick
092 Quellenangaben
097 Bildnachweis
098 Versicherung
8
EinleitungDiese Arbeit beschäftigt sich mit der
Fragestellung, warum in unserer heutigen
Gesellschaftsordnung Menschen versuchen,
ihr Lebenstempo an die Taktung ihres Com-
puters anzupassen, und warum die Arbeit
nicht mehr nur Bestandteil unseres Lebens
ist, sondern immer mehr Raum einnimmt.
Was einst Produktbeschreibungen waren,
wie – überall einsetzbar, flexibel, einfach
zu bedienen, kompatibel, schnell, zuver-
lässig, mobil und 24 Stunden erreichbar
– beschreibt heute den Arbeitnehmer.
Doch der Mensch ist keine Maschine und
kann diesem Tempo nicht mehr länger
folgen.
Auf der anderen Seite beschafft gerade dieser
Geschwindigkeitsrausch ein befriedigendes
Selbstwertgefühl: „Ich werde gebraucht.“
Fakt ist: Auf lange Sicht macht diese
Arbeitskultur krank und trotz des
Bewusstseins um diese Gefahr hinterfragen
wir die Non-Stop-Gesellschaft nur ober-
flächlich und unmotiviert und ändern nichts
an den Ursachen.
Durch viel Arbeit erhält der Mensch viel
soziale Anerkennung.
Das Streben nach Erfolg, Respekt
und persönlicher Bestätigung, aber auch die
Angst vor Arbeitsplatzverlust, finanzieller
Abhängigkeit und sozialem Abstieg lässt uns
bis an unsere körperlichen und psychischen
Grenzen arbeiten.
Da unser Leben sich nahezu 24 Stunden im
On-Modus befindet und sich immer hek-
tischer und temporeicher gestaltet, wird die
innere Ruhe zum wichtigsten Gut.
Wer in dieser temporeichen Welt überleben
will, muss ab und an auch Pausen einlegen
und sich erholen. Der körpereigene Akku
muss wieder aufgeladen werden.
Dieser unumstößliche Fakt wird sowohl
von den Arbeitgebern als auch von den
Arbeitnehmern und der Gesellschaft häufig
ignoriert. Wer nicht arbeitet, gilt als faul.
Dank der heutigen Arbeitskultur bietet sich
nahezu niemals die Möglichkeit abzuschal-
ten. Wer kann es sich leisten, „Nein“ zu
sagen? Diese Frage stellt sich unausweichlich
in Zeiten von Existenzangst und befristeten
Verträgen.
Nur wir selber sind für unser Leben ver-
antwortlich. Also sind auch nur wir selber
diejenigen, die etwas ändern können. Doch
schlicht zu sagen: „Jeder weiß doch, wo der
Ausschaltknopf des Rechners ist,“ ist falsch.
Selbsterkenntnis ist zwar der einzige Weg
etwas an dem eigenen Rhythmus zu ändern,
doch dadurch ist die Akzeptanz in der
Gesellschaft noch lange nicht gegeben.
Karl Marx schreibt im Ersten Band des
Kapitals über den arbeitenden Menschen
im Zusammenspiel mit Maschinen:
„Es wird an und für sich ein industrielles
Perpetuum mobile, das ununterbrochen
fortproduzieren würde, stieße es nicht auf
gewisse Naturschranken in seinen mensch-
lichen Gehilfen: ihre Körperschwäche und
ihren Eigenwillen.“ [1]
Adaptiert man diese Aussage in die heutige
Zeit, stellt sich die Frage, ob dieser Eigen-
wille heute überhaupt noch existiert.
Die Körperschwäche wird mittels Drogen
und Aufputschmittel umgangen.
Der Eigenwille scheint verkümmert.
Eine Arbeitskultur, die 24 Stunden Erreich-
barkeit von uns verlangt und wir diese
nahezu bedingungslos liefern, muss hinter-
fragt werden. Eine Arbeitskultur, die krank
macht, ist ungesund, denn sie schädigt
langfristig die Gesundheit.
1 Marx, K. (2005): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie: Das Kapital, Bd.1: Der Produktionsprozess des Kapitals: Bd 1; Berlin: Verlag Dietz, S. 143
10
Gegenstand der Unter-suchungDer Gegenstand meiner Untersuchung
ist die Frage nach der Entstehung und
dem Wandel der heutigen Arbeitskultur.
Bedingt durch Wertewandel und technische
Möglichkeiten entwickelt sich für einen
bestimmten Typus Mensch das Büro zum
Zustand.
Ständige Erreichbarkeit, dauernder Termin-
druck und die Selbstbehauptung vor dem
Arbeitgeber, aber auch vor Kollegen und
Kunden, tragen dazu bei, dass immer mehr
auch gerade junge Menschen unter Überar-
beitung leiden.
Da es heutzutage als Statussymbol gilt,
20 Überstunden die Woche zu machen,
verlieren viele der so genannten „Workaho-
lics“ das soziale Leben aus den Augen und
verwirken so auf kurz oder lang ihre Basis.
Jeder wird Unternehmer seiner eigenen
Arbeitskraft und muss diese 24 Stunden
vermarkten. Wo führt uns diese Kultur hin?
Wieso ist der Widerstand gegenüber dem
gesellschaftlichen Druck so gering?
In den nachfolgenden Kapiteln werde ich
diese Entwicklung der Arbeitskultur in
verschiedenen Themenblöcken beleuchten
und hinterfragen.
Der Wert der Leistung und der Wert des
Einzelnen wird der Erwartungshaltung der
Gesellschaft gegenübergestellt.
Die ständige Erreichbarkeit und die welt-
weite Vernetzung führen zu einer immer
stärkeren Vermischung des Privatlebens
mit dem Berufsleben. Dadurch entstehen
neue Lebensmodelle, die gesundheitlich
und sozial betrachtet keinen längerfristigen
Bestand haben können.
Im zweiten Teil der Arbeit wird der Gegen-
trend zur Non-Stop-Gesellschaft aufgezeigt,
Downshifting genannt. Wie hat sich unser
Zeitempfinden in den letzten Jahren
verändert? Durch Vergleichzeitigung von
Arbeitsabläufen wird scheinbar Zeit gespart,
durch den extremen Stress ist es uns aber
nicht mehr möglich abzuschalten und Ruhe-
pausen einzuhalten.
Im Anschluss daran wird der Umgang mit
dieser Problematik in anderen Ländern
aufgezeigt und ebenso eine Reihe der dort
bestehenden Lösungsansätze genauer
erläutert.
Die Rolle der Entwicklung des Computers
bei dem immer höher werdenden Arbeits-
und Lebenstempo wird hinterfragt und in
Zusammenhang mit der Krankheit „Arbeit-
sucht“ gebracht. Welche Möglichkeiten gibt
es, die Technologie positiv zu nutzen und
mit dieser Entwicklung zu verbinden?
Diese Arbeit beschäftigt sich explizit
mit einer bestimmten Zielgruppe, der so
genannten New Economy, den zwischen
24-45 Jährigen, welche den ersten Internet-
boom um die Jahrtausendwende miterlebt
haben und nun als IT-Fachleute, Kreative,
Projektleiter und Selbständige in die-
sem Metier arbeiten. Die in dieser Arbeit
beschriebenen Problematiken treffen selbst-
verständlich nicht nur auf diese spezifische
Gruppe zu, jedoch bildet sie die Grundlage
meiner Recherche.
Arbeits-hypothese & Fragestel-lungDie meiner Arbeit zugrunde liegende
Annahme, dass der Wandel der Arbeitskul-
tur durch Menschen (Gesellschaftsordnung)
gestaltet wurde, bildet den Ausgangspunkt
für meine Interventionen in der Arbeitsge-
staltung. Der Mensch hat schon immer viel
gearbeitet. Aber noch nie wurden so viele
Leute durch ihre Arbeit krank, waren sozial
verwahrlost und trotzdem in irgendeiner
Form auch seltsam befriedigt und glücklich.
Selten war die Zeiteinteilung der Arbeit so
12
frei wie heute, aber auch noch nie war der
Druck, diese Arbeit so gut und schnell zu
machen, so hoch. Überarbeitung, soziale
Verwahrlosung und Burn-Outs sind die
Folge.
Da Workaholics von der Gesellschaft jedoch
gefördert und sogar bewundert werden, ist
es sehr schwer eine Bewusstseinsschaffung
für die Problematik aufzuzeigen.
Ziel der praktischen Arbeit ist es, durch
gestalterische Mittel humoristisch und hin-
terfragend auf den Umstand Überarbeitung
aufmerksam zu machen. Im Kern jedoch
werden gesellschaftliche Missstände durch
die satirische Interpretation aufgezeigt.
14
Wie sieht der optimale Arbeitnehmer aus?
Ein Blick in die aktuellen Stellenanzei-
gen wirft die Frage auf, wie ein einzelner
Mensch so unzählige Fähigkeiten haben
kann. Oder anders, was die Person, die die
Stellenanzeige verfasst hat, gedacht hat, wel-
che Quantität an Qualitäten realistisch sei.
Wie ist es möglich, mit Anfang 20 einige
Jahre Berufserfahrung zu haben und
nebenbei fließend Mandarin, Japanisch,
Russisch und Englisch zu beherrschen, über
Verhandlungsgeschick, außergewöhnliche
Belastbarkeit und Führungsqualitäten zu
verfügen und einen eigenen Kundenstamm
mitzubringen? Neben der fachlichen Kom-
petenz, versteht sich.
Wieso sind die Formulierungen in Stellen-
anzeigen so utopisch? Die Anzeigen werden
immer länger und schwammiger. Anhand
des geforderten Profils ist abzulesen, wie
sehr sich die Arbeitswelt verändert hat.
Gab es „früher“ noch klare Ansagen wie:
Ich suche XY mit den und den Fähigkeiten,
klingen die Anzeigen heutzutage nach lan-
gen und ungenauen Aneinanderreihungen
von Persönlichkeitsmerkmalen und Kompe-
tenzen.
Es hat den Anschein, dass man nicht mehr
benennen kann, was man sucht – daher:
Von allem etwas, bitte!
Die Eier legende Wollmilchsau.Die utopische Welt der Stellenanzeigen.
14
Soft SkillsGalt in Zeiten des Taylorsystems [2] Eigen-
initiative und Selbständigkeit als schädlich
und unerwünscht, sind diese Soft Skills
heutzutage Grundvoraussetzung.
Dies zeigt eine Untersuchung der
Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV)
aus dem Jahre 2006. In dieser Studie wurden
6000 Stellenanzeigen aus diversen Arbeits-
bereichen auf die Benennung von Soft Skills
durchleuchtet. Insgesamt wurden 4.091
Nennungen gezählt. Die sich anschließende
Liste verdeutlicht anschaulich, welche Eigen-
schaften vom Bewerber gewünscht sind und
welche er mitzubringen hat.
(Die häufigsten genannten Soft Skills werden
fett hervorgehoben)
2 Taylorismus ist eine nach F. W. Taylor benannte wissenschaftliche Betriebsführung, bzw. Methodik zur Steigerung der Arbeitsproduktivität in der industri-ellen Fertigung. Zentrales Element ist die Gestaltung von Arbeitsabläufen auf der Grundlage von Zeit- und Bewegungsstudien und die Aufdeckung von Rationa-lisierungsreserven. Leistungspotenziale werden durch Zerlegung der Gesamtaufgabe in kleinste Arbeits-schritte, Entlastung der Arbeiter von dispositiven Tätigkeiten sowie durch leistungsorientierte Lohn-formen optimiert. Aus: Mayrisches Online Lexikon, Stand 06.09.2008
Kognitive Kompetenz
Vernetzungsfähigkeit 44
Konzeptionsstärke 56
Organisationstalent 253
Kommunikativ
Präsentationskompetenz 23
Kommunikationsfähigkeit 451
Sozialkompetenz
Konfliktlösungskompetenz 23
Entscheidungsfreude 32
Kontaktfreudigkeit 54
Durchsetzungsfähigkeit 68
Soziale Kompetenz (allg.) 76
Verantwortungsbewusstsein 82
Kundenorientierung 88
Verhandlungsgeschick 117
Kooperationsfähigkeit 120
Auftreten 191
Führungskompetenz 196
Teamfähigkeit 648
Persönlichkeitsmerkmale
Diskretion 14
Mobilität 46
Eigeninitiative 88
Eigenverantwortung 92
Leistungsorientierung 102
Selbständigkeit 110
Einsatzbereitschaft 116
Kreativität 184
Belastbarkeit 227
Engagement 263
Flexibilität 327
16
Selbständigkeit (110) und Eigeninitiative
(88) werden nicht so häufig genannt wie
andere Soft Skills. Meiner Meinung nach
bedarf dieses heutzutage keiner konkreten
Nennung im ausgeschriebenen Anforde-
rungsprofil mehr, sondern wird vielmehr als
Grundvoraussetzung statt einer etwa Nicht-
Relevanz für den Job vorausgesetzt.
Auffällig ist die bemerkenswert hohe Nen-
nung von Belastbarkeit (227).
Wer nicht belastbar ist, bzw. wer nicht über-
belastbar ist, kann dem Druck der Arbeit
nicht standhalten. Dass die Arbeit belastend
wird, formuliert sich so schon durch die Stel-
lenanzeige.
Auch der weit gefächerte Begriff der Flexibi-
lität taucht in der Liste unter den Top 5 Soft
Skills auf.
Der Soziologe Richard Sennett diskutiert in
seinem Buch: Der Flexible Mensch [3] die
Notwendigkeit der heutigen Flexibilität. Der
Klappentext des Buches zeigt schon sehr
deutlich wo Sennett die Problematiken sieht:
„Flexibilität ist das Zauberwort des globalen
Kapitalismus. Der Arbeitnehmer muss stän-
dig bereit sein für Veränderungen. Richard
Sennett zeigt, wie der ständige Zwang zum
Neuen den Menschen deformiert. Beruf,
Wohnort, soziale Stellung, Familie; alles ist
den zufälligen Anforderungen der Ökonomie
unterworfen, das eigene Leben wird zum ziel-
losen und undurchschaubaren Stückwerk.“
Die Flexibilisierung beeinflusst nachhal-
tig die Lebensentwürfe und Lebensweisen
ganzer Generationen. Erworbenes Können
und Wissen wird permanent entwertet. Eine
Umorientierung, die man euphemistisch
„lebenslanges“ Lernen nennt.“
3 Sennett, R. (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus; Berlin: Berlin Verlag 4 Kant, I. (1982): Über Pädogogik. Schriften zur Anthropologie,Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2., Band 1; Frankfurt am Main : Wilhelm Weischedel, S. 711
16
Flexibilisierung bietet auf der einen Seite die
Möglichkeit immer Neues auszuprobieren
und das Leben häppchenweise zu konsu-
mieren. Langeweile wird umgangen und
ein gewisser Spannungsfaktor lässt unser
Dasein interessanter erscheinen.
Auf der anderen Seite erfordert Flexibilität
immens viele Entscheidungen von uns.
Da sich alles stetig wandelt und sich der
Arbeitnehmer flexibel den Umständen
anpassen muss, bedarf es einer unentwegten
Hinterfragung des eigenen Lebens.
Dies fängt schon bei nahezu banalen The-
men an: Wie richte ich die Wohnung ein,
sodass ich innerhalb von 12 Stunden wieder
ausziehen kann? Kaufe ich mir ein Auto?
Gehe ich ins Fitnessstudio? Lerne ich Man-
darin? Was bringt mich wie weiter?
Die Frage von Immanuel Kant von vor über
250 Jahren ist also aktueller denn je:
„Wie gelingt die Kultivierung der Freiheit
bei dem Zwange? [4]
18
Seit einigen Jahren taucht vermehrt der
Begriff Quarterlife Crisis auf. Damit wird
ein Zustand der Unsicherheit bei 20-30
jährigen bezeichnet. Was mache ich? Wo soll
ich hin? Was kann ich? Wer zahlt das? ....
Die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten
sind reizvoll, spannend und toll, doch kön-
nen sie auch verwirren, verängstigen und
trotz oder gerade wegen erforderter Flexibi-
lität ermüden.
Eine gewisse Stabilität braucht jeder, denn
diese gibt Halt und vereinfacht ein Stück-
weit, den Entscheidungsstress zu bewältigen.
Die Neugierde und Lust auf Neues wird
dadurch nicht gebremst. „Es gibt keine
Pfade mehr, denen die Menschen im Berufs-
leben folgen können“, schreibt Sennett. [5]
Da die Arbeit aber für viele Menschen die
einzige Konstante im Leben ist und Halt und
Stabilität bieten muss, investieren viele ihre
komplette Energie um eigene Pfade auszu-
bauen und die Stabilität nicht zu gefährden.
Laut einer Umfrage des Manager-Magazins
von 2005 rechnen 58% der (akademischen)
Berufseinsteiger heute mit „den einen oder
anderen“ Berufswechseln. [6]
Robert Sennetts Fazit zur Theorie des fle-
xiblen Menschen fällt wie folgt aus:
„Eine Gesellschaftsordnung, die das Bedürf-
nis des Menschen nach Stabilität so sehr ver-
nachlässigt, kann nicht von Bestand sein.“ [7]
Auch der Soziologe Hartmut Rosa stimmt
dem zu: „[...] flexible Mensch funktioniert
nicht. Aus zwei Gründen. Wenn alle flexibel
werden, haben wir keine Gesellschaft mehr.
Heute haben wir flexible Eliten, die auf sta-
bile Hintergrundbedingungen treffen.
Das geht. Aber wenn alle flexibel sind, wenn
alle jetten, geht nichts mehr. Dann haben wir
rasenden Stillstand.“ [8]
Auf der einen Seite flexibel sein zu müssen,
auf der anderen Seite aber eine Kontinuität
5 Sennett, R. (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus; Berlin: Berlin Verlag, S. 2036 Manager-Magazin (2005): Jugendstudie „Generation 05“. Stand 30.09.2008;Online: http://www.manager-magazin.de/koepfe/kar-riere/0,2828,345522-9,00.html7 Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Klappentext, Berlin Verlag, Berlin 19988 Rosa, H. (2007): „Wir wissen nicht mehr, was wir alles haben.“, Ressort: Gesellschaft, 19.12.2007; Hamburg: Die Zeit
bewahren zu wollen, bedarf großer Anstren-
gungen. Im späteren Kapitel Wertewandel
wird diese Gesellschaftsentwicklung noch-
mals genauer betrachtet.
LeistungIn vielen Stellenanzeigen steht: „Für Ihr
Engagement und Ihre Leistung bieten wir
eine attraktive leistungsbezogene
Vergütung!“ Doch wie muss diese Leistung
aussehen?
9 “Mythos Leistung”, Brandeins, August 200810 Lotter, W. (2008): Wirtschaftsmagazin Brandeins. „Mythos Leistung”; Hamburg: brand eins Verlag GmbH & Co. OHG, S. 5211 Wirtschaftsmagazin Brandeins. „Mythos Leistung”; Hamburg: brand eins Verlag GmbH & Co. OHG, S. 53
Das Wirtschaftsmagazin Brandeins [9] stellt
die Frage nach dem Wert Leistung. Woran
ist Leistung messbar? Bei der Mehrheit der
geistigen Tätigkeiten kann man nicht ohne
weiteres Leistung ablesen und offenkundig
sehen.
„Leistung ist der Weg, den wir bis zum Ziel
zurücklegen,“ schreibt der Hamburger Jour-
nalist Wolf Lotter. [10]
Doch wie dieser Weg aussieht, ist nicht
definiert.
Zum Oberthema Leistungslüge schreibt er:
“Es gibt dazu ein verräterisches Bonmot
über Pablo Picasso, der, von einem Kunst-
freund aufgefordert, etwas für ihn zu zeich-
nen, in drei Sekunden etwas aufs Papier
brachte. Was denn das jetzt koste, fragte der
Kunstfreund. Eine Million Francs, antwor-
tete Picasso. Das sei aber viel für drei Sekun-
den Arbeit, empörte sich der Kunstfreund
nun. Ja, antwortete Picasso, aber ich habe
auch 30 Jahre dafür gebraucht, um für eine
Zeichnung, die ich in drei Sekunden machen
kann, eine Million zu verlangen.” [11]
20
Besteht darin das Problem der Arbeitsfalle?
Nur weil wir kategorisch ausschließen,
dass das, was wir nicht durch harte, lange,
anstrengende Arbeit erreicht haben, nichts
wert sein kann?
“Wir erreichen unser Ziel mit den uns
bekannten Mitteln nicht? Dann erhöhen
wir doch einfach die uns bekannten Mittel!
Ständig wird die Norm angehoben.” [12]
Diese Normanhebung spiegelt sich nicht nur
in den Stellenanzeigen wider. Schon Klein-
kinder werden heute zum Chinesischun-
terricht geschickt, damit sie später auf dem
Markt überhaupt Chancen haben. In den
USA gucken 42% aller Kinder unter zwei
Jahren täglich didaktisch wertvolle Videos.
Fünfzehnjährige gehen zum Karrierecoach
um eine Übersicht für die kommenden Jahre
aufzustellen und ihre Karriere möglichst
frühzeitig zu planen.
Angestellte verbringen ihren Urlaub anstatt
am Meer, um sich zu entspannen, in selbst-
gezahlten Fortbildungen. Am Wochen-
ende werden dann gerne noch Seminare
besucht. Der Resturlaub, in der Regel 3 Tage
im Durchschnitt, wird Ende März dem
Arbeitgeber geschenkt. [13] Es war leider
keine Zeit da Urlaub zu machen. Dass diese
Maßnahmen, neben dem Einschränken der
kindlichen Entfaltung, neben dem orga-
nisatorischen Aufwand, dem Verlust von
Entspannung, auch eine Menge Geld kosten,
steht auf einem anderen Blatt.
Man muss sich schon sehr viel leisten kön-
nen um die geforderte Leistung bringen zu
können.
Der amerikanische Psychologe Mihaly
Csikszentmihalyi veröffentlichte 1990 ein
Buch mit dem Titel „Flow: The Psychology of
Optimal Experience“, in dem er beschreibt,
dass Leistung glücklich macht. Wenn man
einen Flow hat, einen Lauf, dann ist dies ein
„besonders dynamischer Zustand (...), ein
holistisches Gefühl bei völligem Aufgehen in
einer Tätigkeit“. [14]
„Der Leistungstrieb ist, wie jener nach Nah-
rung, Sex, Aggression und Neugier, nicht aus
der Welt zu schaffen.“ [15] schreibt Felix von
Cube in seinem Buch „Lust an Leistung.“
Man guckt nicht mehr auf die Uhr, vergisst
das Essen und das Wochenende und liebt die
Arbeit – und geht völlig darin auf.
Es ist also ein vermeintlich glücklicher
Zustand, dennoch besteht die Gefahr regel-
recht berauscht zu sein.
12 Lotter, W. (2008): Wirtschaftsmagazin Brandeins. „Mythos Leistung”; Hamburg: brand eins Verlag GmbH & Co. OHG, S. 5513 Schrenk, J. (2007): Die Kunst der Selbstausbeutung. Wie wir vor lauter Arbeit unser Leben verpassen; Köln: DuMont , S. 4114 Csikszentmihalyi, M. (2002): Flow: The Psychology of Optimal Experience; London: Rider & Co15 von Cube, F.(1998): Lust an Leistung - Die Naturge-setze der Führung; München: Verlag Piper
Das mag für Tage oder auch Wochen gut
sein, doch was, wenn man nicht mehr
merkt, was gut für einen selber ist?
Wer viel leistet, wird bewundert. Wenn man
es der Person auch noch anmerkt, dass er
hart dafür arbeiten musste, gönnt man ihm
auch Erfolg. Wird die totale Erschöpfung
somit zum Statussymbol?
Der Kampf um Anerkennung ist wahr-
scheinlich auch eines der menschlichen
Grundbedürfnisse, ein Bedürfnis, das früher
phasenweise auftrat und nicht wie heutzu-
tage auf Dauer geschaltet ist. Alles, was bis-
her erreicht wurde, muss permanent getoppt
werden: Höher, besser, schneller, weiter.
Da die Berufsgruppe der „Geistigen Arbeit“
laut einer Studie des Institutes für Arbeits-
markt- und Berufsforschung (IAB) immer
weiter wächst, stellt sich die Frage wie
Leistung bewertet werden kann. Und ist dies
überhaupt möglich, ohne Stückzahlen und
sichtbare Ergebnisse, wie noch vom tayloris-
tischen System gelernt?
Sind nur noch Resultate und Projektab-
schlüsse wichtig? Ist der Weg dorthin egal?
Es ist egal, was du tust oder wie du es tust,
nur sei dabei gewinnbringend.
Die Frage, wie ein Ziel zu erreichen ist, war
noch nie so offen wie jetzt. Aber lag das Ziel
auch schon jemals so hoch wie jetzt? Wie
lassen sich Ziele, Wege und Arbeitszeiten
noch verbinden?
Arbeitszeiten sind reine Formalia.
Die 38,5 Stunden mögen zwar im Vertrag
stehen, doch dies interessiert keinen.
Wer als erster geht, verliert.
Die Ware Arbeitskraft„No one ever got very far by working a
40-hour week. Most of the notable people I
know are trying to manage a 40-hour day“,
sagte der amerikanische Dramatiker
Channing Pollock [16] um 1930 rum.
Und er trifft damit noch heutzutage den
Nerv der Zeit. Wie kann man Ansehen
erlangen, ohne übernatürlich viel zu arbei-
ten? Wie kann man Ansehen erlangen, ohne
übernatürlich viel zu arbeiten?
Der heutige Arbeitnehmer muss sich seine
Stelle selber erwirtschaften. Das heißt im
Klartext, jeder muss bei jedem Projekt neu
beweisen, dass man die gleiche Leistung
nicht irgendwo anders hätte billiger haben
können. Man selber wird zur Ware und
muss diese möglichst gewinnbringend
vermarkten.
22
Wie schon angemerkt, wird es immer
schwieriger, Leistung zu definieren und
somit seine eigene Währung, seinen eigenen
Marktwert zu kalkulieren.
Je mehr Soft Skills, je mehr Kompetenz der
Arbeitnehmer besitzt, desto höher der Wert.
Früher war es der Chef, der einem förmlich
im Nacken saß und zu Überstunden antrieb.
Heute ist man es selbst. Der Markt übt
mittlerweile einen genauso großen Druck
aus. Da sich jeder Einzelne auf dem Markt
behaupten muss, sitzt jeder sich selbst im
Nacken.
Somit hat man nicht nur mit der zu
bewältigen Arbeit umzugehen, sondern
muss nebenbei auch noch seine Fähigkeiten
vermarkten. Man wird ein Unternehmer
seiner selbst. [17]
Denn immer häufiger werden Prämien,
Gewinnbeteiligungen und Provisionen in
den Verträgen ausgehandelt. Das fixe Gehalt
sinkt, kostet den Arbeitgeber somit weniger
und fordert den Arbeitnehmer noch mehr.
16 Amerikanischer Dramatiker, 1880-194617 Pongratz, H-J (2000) Arbeitskraftunternehmer als neuer Leittypus?; Bonn: Deutsches Institut für Erwachsenenbildung (DIE)
OFF = ONDer Stand-by-Angestellte
Von der Erfindung des Rundfunkgerätes
bis zu seiner Verbreitung auf 50 Millionen
Empfänger brauchte es 38 Jahre. Vom ersten
Internetanschluss bis zu seiner Verbreitung
auf 50 Millionen brauchte es 4 Jahre.
Nicht erst seit Internet, Mobilfunk und
Blackberry machen die Leute Überstunden
und arbeiten hart, aber dank WLAN und
Handy wird die ständige Erreichbarkeit
vorausgesetzt und somit auch die ständige
Bereitschaft arbeitsfähig und verfügbar
zu sein. Wer von sich am Ende des Tages
sagen kann: Ohne mich hätten wir das nie
geschafft, fühlt sich gut und festigt gedank-
lich seine Stellung in der Firma.
Die selbstverständliche ständige Präsenz
und die unbedingte, niemals zu hinterfra-
gende Arbeitsbereitschaft ist Grundvoraus-
setzung für ein erfolgreiches Berufsleben.
Ein „Nein“ existiert nicht im Wortschatz
gegenüber Klienten. Denn das Gefühl zu
haben, „Ohne mich geht’s nicht“, „Die
brauchen mich“, stärkt das eigene Selbst-
wertgefühl.
Der Mensch wird geleitet von Eitelkeiten.
Durch die Einführung der permanenten
Erreichbarkeit, bzw. dem Voraussetzen die-
ser, ist ein Stück Freiheit verloren gegangen.
Auf Emails wird eine prompte Reaktion
erwartet, egal wann. In Amerika gilt es als
unhöfliche eine Email länger als 90 Minu-
ten unbeantwortet zu lassen. Das wir für
den Emailempfang noch nicht mal mehr
zuhause oder im Büro sein müssen, sondern
die Textnachricht auf unser Mobiltelefon
24
Habe ich eine SMS versandt, ist bei mir im Kopf ein Haken an der to-do Liste und ich kann mich wieder auf andere Dinge kon-zentrieren. Die dauerhafte Erreichbarkeit der adressier-ten Personen setzte ich damit natür-lich still-schweigend voraus. [18]
geschickt bekommen, macht uns zu 24-
Stunden- Angestellten. Egal wann und egal
wo, es ist uns möglich, dass man uns errei-
chen kann, und es wird von uns verlangt,
dass man auch erreichbar ist.
Das Gehalt wird dadurch zur
Angestellten-Miete: Für eine tariflich
festgelegte oder individuell vereinbarte
Summe darf der Vorgesetzte rund um die
Uhr auf uns zugreifen.
18 Zitat aus einem Interview im Freundes- und Bekanntenkreis zum Thema Arbeitskultur, Sep. 2008
Erreichbar statt anwesendEinige amerikanische Firmen bestehen nur
noch digital. Es gibt keine Büroräume, keine
Kaffeeküche und keinen Konferenzraum,
zumindest nicht „in echt“.
Die Mitarbeiter arbeiten ausschließlich von
zuhause. Die Mitarbeiter treffen sich zu
Besprechungen im „Virtuellen Büro“.
Die Firma Siemens geht davon aus, dass
man zuhause ca. 20 % produktiver arbeitet.
Dies wird nicht soviel mit dem angenehmen
Arbeitsklima zu tun haben, sondern schlicht
damit, dass man der Arbeit nicht mal mehr
physisch entkommen kann. Konnte man
früher wenigstens den Rückweg von der
Arbeit nutzen um im 24h-Kiosk etwas
einzukaufen, kann man dies nun zwar den
ganzen Tag über. Dafür ist das Büro aber
auch von der Fernsehcouch aus immer
26
präsent. Die Erreichbarkeit des Angestellten
ersetzt die Anwesenheit.
Das Statistische Bundesamt zählt in
Deutschland mittlerweile 5 Millionen
Beschäftigte, die von zuhause aus arbeiten.
Wie bereits oben erwähnt, braucht es auch
nicht mehr den Chef, der darauf achtet, dass
man genug tut. Die Heimarbeit mag organi-
satorisch viele Vorteile haben, doch dadurch
wird die permanente Auseinandersetzung
mit der Arbeit neben der psychischen Belas-
tung auch noch eine sicht- und greifbare.
Im Rahmen der TED [19] Konferenz hielt
Kevin Kelly [] , einen Vortrag, wie sich dass
Web in den nächsten 5000 Tagen entwickeln
wird. Kelly beschreibt ein Szenario, welches
er “The Internet of Things” [21] nennt – in
naher Zukunft wird jedes Ding und jede
Sache einen Abdruck im Web haben. Alles
wird eine Information mit sich tragen,
die es, sei es über RFID oder eine andere
Technologie, in Relation zu Personen stellen
kann. Die komplette Welt, jedes Teil, jede
Person wird seiner Prognose nach vernetzt
sein (Interkonnektivität). [22]
Betrachtet man diese Zukunftsprognosen
genauer, werden 24h-ON-Phasen, egal wo
man sich befindet, demnach noch mehr an
Normalität hinzu gewinnen, als sie jetzt
schon praktiziert werden. Eine andere
Arbeitskultur, ein anderer Umgang mit der
Vernetzung, der Erreichbarkeit und dem
AN-sein wird entstehen (müssen).
Doch wie sieht diese aus? Wie sieht eine
Zukunft aus, in der man ständig egal wo
und wie vernetzt ist? Die Vision der Cloud,
der großen einzigen Maschine, die alle
Daten zusammenhält gegen eine Welt, in der
Privatsphäre und Ruhe ein immer höheres
Gut werden?
19 Technology Entertainment Design, Monterey, Kalifornien20 Kevin Kelly, Visionär und „Wired“-Gründer21 Kelly, K. (2008): Predicting the next 5,000 days of the web, Stand: 12.11.2008;Online: http://www.ted.com/index.php/talks/kevin_kelly_on_the_next_5_000_days_of_the_web.html22 Kelly, K. (2003): Kampf den Roboterjobs, Stand: 12.11.2008; Online: http://www.spiegel.de/wirt-schaft/0,1518,249766,00.html
28
Das Zuhause-büroMit der digitalen Vernetzung geht eine dau-
erhafte und ständige Verkettung zwischen
Beruflichem und Privatem einher.
Dieses steht im Gegensatz zu früher, als
diese beiden Lebensbereiche noch strickt
getrennt wurden: Erst kommt die Arbeit,
dann das Vergnügen, hieß es.
So ging man mit Feierabend in den Feiera-
bend. Heutzutage klingt Feierabend wie ein
aussterbendes Wort für ein aussterbendes
Ritual.Gegenwärtig vermischen sich diese
beiden Teile im Leben: Aus Kollegen werden
Freunde und auch am Abend dreht sich das
Gespräch früher oder später doch um die
Firma.
Mehr als 40% der Beschäftigten arbeiten
auch am Samstag, jeder Fünfte muss auch
sonntags noch einmal ins Büro. [23]
Und das am Sonntag, dem einst exklusiven
Familien-Tag, der gesetzlich als Ruhetag
geschützt wird. Als letzte bleibende Insti-
tution zum Schutze der Familienwahrung
wird zu guter letzt noch das heilige Wochen-
ende entweiht.
Dabei wurde erst Ende der 50er-Jahre, auf
dem Höhepunkt des „Wirtschaftswun-
der“-Wiederaufbaus zur Durchsetzung der
5-Tage-Woche mit einer Wochen-Arbeitszeit
von 40 Stunden demonstriert.
„Samstags gehört Papi mir“ hieß die Parole,
die den Weg von den Plakatwänden ins
Arbeitsschutzgesetz fand.
Außer dem Sonntag sollte auch der Samstag
grundsätzlich arbeitsfrei sein. Mehr Lebens-
qualität war das Ziel, mehr Zeit für die
Familie, mehr Zeit für Hobbys und Erho-
lung. [24]
Meine Eltern rufen schon gar nicht mehr an und fra-gen, ob ich am Wochenende komme. [25]
23 Schrenk, J. (2007): Die Kunst der Selbstausbeutung. Wie wir vor lauter Arbeit unser Leben verpassen; Köln: DuMont, S. 4124 Schulz, G. (2003): Der arbeitsfreie Samstag. In Geschichte des Sonntags; Bonn: Herausgegeben von Stiftung Haus der Geschichte25 Zitat aus einem Interview im Freundes- und Bekanntenkreis zum Thema Arbeitskultur, Sep. 2008
Heutzutage, in Zeiten, in denen 50- bis
60- Stunden- Wochen normal erscheinen,
haben viele Arbeitnehmer Probleme damit,
das vertraute Terrain, die Arbeit zu verlas-
sen und sich wieder auf andere Themen und
Menschen einzulassen.
Der eigene Rhythmus, der eigene Kosmos
wird dadurch gestört und statt Erholung
wird das Private zum Stressfaktor.
Um diesen neuartigen Stress zu vermeiden,
bleibt die Gegenwehr des Arbeitnehmers
sehr matt und wirkt beinahe ohnmächtig,
macht- und mutlos.
Der Stress im Büro scheint harmlos gegen-
über Kindergeschrei, Schulproblemen oder
Haushalt. Amerikanische Studien belegen,
dass die Scheidungsrate nach oben schnellt,
sobald sich das Büro zu sehr in den privaten
Raum eindringt.
Die Arbeit entwickelt sich zunehmend zur
Ersatzfamilie. Hier weiß man, dass man
gebraucht wird, was man tun soll und was
von einem erwartet wird.
Und außerdem wird man dafür noch
bezahlt. Der Arbeitnehmer entwickelt eine
Art Stockholm-Syndrom, er verbündet sich
sozusagen mit dem Kidnapper und macht es
somit für Außenstehende noch schwieriger
das „ Ich muss aber...“ zu akzeptieren. [26]
„Alle Zeiten des Lebens, die nicht in Geld
verrechenbar sind, werden unter Druck
geraten,“ [27] sagt der Wirtschaftspädagoge
Karlheinz Geißler in einem Interview der
Süddeutschen Zeitung. Und zeigt damit, wie
auch Richard Sennet, die Problematik auf,
dass Familie und soziales Leben sich mehr
und mehr der Ökonomie unterwerfen (wer-
den/müssen), wenn sich in unserer Arbeits-
kultur nichts ändert.
26 Schrenk, J. (2007): Die Kunst der Selbstausbeutung. Wie wir vor lauter Arbeit unser Leben verpassen; Köln: DuMont , S. 201 ff27 Geißler, K. (2004): Ressort: Job & Karriere: „Wer das ganze Leben leben will, ertrinkt in Hetze“, Interview veröffentlicht am 02.11.2004; München: Süddeutsche Zeitung
30
WertewandelWie verändern sich unsere Werte? Waren
früher ein Haus im Grünen, ein sicherer
Job, ein Eintritt in die wohlverdiente Rente
mit 64 Erstrebens-Werte, werden diese
Vorstellungen heute als utopisch und nicht
mehr realistisch angesehen. Aber wollen
wir überhaupt an diesen Wertvorstellungen
festhalten?
Ist es nicht eher so, dass jemand, der sagt, er
arbeite von neun bis achtzehn Uhr, schräg
angeguckt wird? Belächelt man nicht die
Arbeitnehmer, die über zwei, drei Überstun-
den jammern?
Die vertrauten und alt eingesessen Rituale
und Regeln der Arbeitswelt – Stempeluhr,
geregelte Arbeitszeiten, Gewerkschaft und
die „nine to five jobs“ werden immer mehr
zur Vergangenheit. Lebenslange Beschäfti-
gungsverhältnisse sind passé.
Die Welt ist im Wandel und einst stabile
Werte weichen der Wertedynamik.
Selbstverständliches wie zwei Wochen Som-
merurlaub und pünktliche Lohnzahlung,
Sicherheit und Kontinuität, verändern sich
in Schlagwörtern wie Selbstverwirklichung,
Mobilität, Abenteuer und Spaß.
„Das Wandelbare als selbstverständlich
anzunehmen, bedeutet Öffnung und wird
zur Chance für eine evolutionärsoziale
Gesellschaft.“ schreibt der Soziologe Helmut
Klages in seinem Buch Wertedynamik. [28]
Wie schon im Kapitel Soft Skills beschrie-
ben, gehört heutzutage eine Portion Mut
und Lust auf Veränderung dazu.
Doch sollte man bei all dem Neuen das Alte
nicht aus dem Auge verlieren und dieses
gleichermaßen zu schätzen und zu würdigen
wissen?
Was passiert, wenn die „alten Werte“
belächelt werden?
Wer heute von sich behauptet, nur Dienst
nach Vorschrift zu machen und nicht min-
destens zehn Überstunden die Woche zu
verbuchen hat, gilt als Versager. Wer nicht
völlig ausgelaugt von der Arbeit ist, kann
auch nichts geleistet haben. Je mehr Über-
stunden man macht, umso wichtiger und
gefragter scheint man. Leistung wird erst
anerkannt, wenn man diese auch sieht; oder
wenn zumindest darüber gesprochen wird.
28 Klages, H. (1988): Wertedynamik. Über die Wan-delbarkeit des Selbstverständlichen; Zürich: Edition Interfrom
Indem wir immer mobiler, dynamischer,
flexibler und spontaner werden, fehlt uns ein
Fixpunkt im Leben. Was früher das Zuhause
und die Familie war, ist heute die Arbeit.
Hierher kehrt man immer wieder zurück.
Die Arbeit wird zur (einzigen) Konstante im
Leben und somit immer wichtiger.
Obwohl das WAS der Arbeit sich stetig
verändert, bleibt das Streben nach Erfolg
und das maximale Erbringen von Leistung
unveränderlich.
Der Beruf wird zum Zentrum des gesell-
schaftlichen Lebens und individuellen Seins.
[29]
Dieses Bild wird auch von zahlreichen
Fernsehserien bedient. So darf Ally
McBeal, erfolgreiche und neurotische
Anwältin,Heldin einer ganzen
Frauengeneration, schon 1998 nie das Büro
verlassen. Liebhaber und die Rolle der
besten Freundin wurden durch Kollegen
besetzt. Die Kanzlei-Kantine wird zum
abendlichen Treffpunkt und Zwischen-
menschliches und Berufliches in keiner
Weise getrennt.
Ally McBeal sucht fünf lange Serienjahre
nach Erfüllung im Leben, doch erst als sie
in der Finalstaffel Kanzlei und
Kollegen/Freunde verlässt, findet sie ihr
privates Glück.
Auch die aktuell erfolgreiche Serie Grey s
Anatomy spielt vollends im Berufsalltag.
So müssen nicht mal mehr Nebencharaktere
eingeführt und andere Sets gebaut werden,
da sich die Welt nur um die Klinik und die
Arbeit dreht. Hier vermischen sich Intrigen,
Liebesleben, Arbeit, Leid und Freud – und
Beziehungen zu Nichtkrankenhauspersonal
zerbrechen von Folge zu Folge.
Doch wird diese Einkapselung nicht als
bemitleidenswert interpretiert, sondern als
verständlich und erstrebenswert,schließlich
tun die Ärzte ja etwas Gutes, ebenso wie die
Anwälte, die für Gerechtigkeit eintreten.
Selbst Professor Brinkmann aus der
Schwarzwaldklinik verkörperte bereits in
den 80ern den absoluten selbstlosen Arzt,
dem ein Leben zu retten wichtiger war als
private Belange, doch jeder hatte Verständ-
nis. Nicht anders ging es dem Tatortkom-
missar, der zu jeder Tages- und Nachtzeit
sowie am Wochenende verfügbar zu sein
hatte, wenn es mal wieder um Leben und
Tod ging.
Heutzutage hat sich dieses wirkliche „Wich-
tige“ verändert und diese eine nicht ver-
schickte Mail an den Kunden, dieser eine,
noch nicht fertige Projektabschluss führt
zur Existenzangst. Und diese ist auch etwas
wirklich Wichtiges.
29 Schrenk, J. (2007): Die Kunst der Selbstausbeutung. Wie wir vor lauter Arbeit unser Leben verpassen; Köln: DuMont, S. 13
34
LebensqualitätDie Dunkelziffer der Überstunden in
Deutschland wird auf 2 Millarden getippt.
[30]
Das ist in etwa die gleiche Menge, die die
Deutschen jedes Jahr als Überstunden auch
offiziell aufschreiben.
Eurofound [31], eine Europäische Stiftung
zur Verbesserung der Lebens- und Arbeits-
bedingungen mit Sitz in Dublin, beobachtet
und analysiert die Arbeits- und Lebens-
bedingungen der Europäer und fasst diese
regelmäßig in Reports zusammen.
Laut einer aktuellen Veröffentlichung zum
Thema Arbeitszeitenentwicklung in der EU
(September 2008) belegt Deutschland mit
durchschnittlich 41,1 Wochenarbeitstunden
Platz 4 im EU Vergleich. Nur Arbeitnehmer
in Bulgarien und Rumänien (41,7h) sowie in
Großbritannien (41,4h) und Tschechien (41,
2h) arbeiten länger. Dies sind in Deutsch-
land 3,3 Arbeitsstunden die Woche mehr
als noch 2003. DGB Chef Michael Sommer
warnt vor längeren Arbeitszeiten.
Diese behindern den Beschäftigungsaufbau
und die Entwicklung sei familienfeindlich
und gesundheitsschädlich. Wenn die Arbeit
auf mehrere Schultern verteilt werde, „dann
haben auch mehr Menschen eine Chance auf
einen Arbeitsplatz, ältere Beschäftigte die
Möglichkeit, bis zur Rente durchzuhalten,
und die Lebensqualität steigt.“ [31]
Da jeder einzelne Lebensqualität unter-
schiedlich definiert, ist es nicht möglich
Allgemeinplätze zu formulieren. Zusam-
menfassend kann man jedoch sagen, dass
„Zeit für und mit der Familie“ eine der meist
genannten Faktoren für eine hohe Lebens-
qualität weltweit ist.
Dies spiegelt sich auch in der Studie:
First European Quality of Life Survey: Life
satisfaction, happiness and sense of belon-
ging von Eurofund (2006) [32] wider.
The populations of 25 out of 28 European
countries evaluate [it] family life as the most
satisfying life domain. All in all, despite
country differences and irrespective of the
overall level of life satisfaction, the general
tendency is that time constraints with respect
to family and social contacts, as well as
spending too much time on the job, restrict
subjective well-being across all countries.
30 Deutscher Gewerkschaftsbund (2008): Formen und Folgen psychischer Fehlbelastung, Stand: 12.11.2008;Online: http://www.dgb.de/themen/arbeitsschutz/psych_belastung/formen_folgen/index_html?-C=32 European Foundation for the Improvement of Living and Working (2008): Stress and the workplace, Stand: 12.11.2008; Online: http://www.eurofound.europa.eu/publications/htmlfiles/ef0881.htm31 Die Welt, Wirtschaft, 15. September 2008
In countries where a lot of conflicts between
work and life are perceived and many people
feel they are driven by time pressures, average
life satisfaction outcomes are weaker.
Daher wundert es doch, dass es so vielen
Arbeitnehmern nicht möglich ist, Zeit mit
der Familie zu verbringen oder eine zu
gründen.
Ist der Wunsch, Zeit mit der Familie zu
verbringen vielleicht nur Wunschdenken?
Müssen wir uns nicht vielleicht von unseren
Illusionen verabschieden?
Befriedigt die Arbeit eigentlich nicht genug,
doch zu einem komplett erfüllten Leben
gehört die Familie nun einmal dazu?
Diese Frage stellt sich, wenn man die sich
scheinbar widersprechenden Aussagen hört.
Im Kapitel Wertewandel wurde deutlich,
dass alte Werte wie Familie durch neue
Werte wie Selbstverwirklichung und soziale
Anerkennung ersetzt werden.
Umso irritierender scheint mir, dass der
Verlust der Lebensqualität daher europa-
weit dem nicht ausgewogenem Work&Life
Balance zugesprochen wird.
Es scheint, der Wunsch nach Familie und
Geborgenheit ist da, jedoch die Gestaltung
der Umsetzung und Formulierung dieses
Wertes ist noch unklar. Karlheinz Geißler
benennt Gründe für die Diskrepanz zwi-
schen Wunsch und Wirklichkeit, Idealwelt
und Realität:
„Wir leisten uns weniger Kinder, weil Kinder
Zeit brauchen - und zwar Zeit, die nicht in
Geld verrechenbar ist. Auch Familien werden
unter der beschleunigten Gesellschaft leiden,
weil auch das Familienleben Zeit braucht.“
[33]
Der DGB veröffentlichte eine Studie zum
Thema Glücklichsein im Job. Aus der Studie
geht hervor, dass 34 Prozent der Arbeitneh-
mer mit ihrer Arbeit unglücklich sind. Nur
12 Prozent sind mit der Arbeit zufrieden
und der Rest schwankt innerlich mit Kündi-
gung oder tut Dienst nach Vorschrift. Diese
Umfrage umfasst ein breites Spektrum an
Berufsfeldern und gerade wegen dieser Ver-
allgemeinerung ist das Ergebnis, dass nur
12 Prozent der Menschen mit ihrer Arbeit
glücklich sind, erschreckend.
Wir verbringen soviel Zeit mit unserem
Beruf und sind dabei unglücklich? Oder
müssen wir sagen, dass wir unglücklich
sind, weil wir soviel Zeit mit dem Beruf
verbringen? Obwohl der Beruf Quelle des
Glücks ist? Was wären wir denn ohne ihn?
33 Geißler, K. (2004): Ressort: Job & Karriere: „Wer das ganze Leben leben will, ertrinkt in Hetze“, Interview veröffentlicht am 02.11.2004; München: Süddeutsche Zeitung
36
Das Pro-blem ist doch eigentlich, dass es cool ist viel zu arbei-ten. Viele von den gestress-ten 80- Stun-den-Menschen erzählen doch immer wie-der gerne, wie viel sie arbei-ten - und ich glaube, bei vielen ist da zumindest so etwas wie Stolz dabei... [34]
38
I love my PC„Bis zum Jahre 2025 wird das digitale Netz-
werk unser Leben grundlegend verändern!“
sagte der Zukunftsforscher Edward Cornish
1996.
Recht hatte er. Es braucht nicht bis ins Jahr
2025 um die Welt grundlegend zu verän-
dern.
Tag für Tag, mit jeder neuen Entwicklung,
mit jedem Klick lassen wir uns immer
mehr auf dieses neue Leben ein. Unsere
Verhaltensweisen und Gewohnheiten, unser
Lebensstil hat sich in den letzten 15 Jahren
immens verändert.
1993 wurde die erste Pizza in den USA
online bestellt. Spätestens ab diesem Zeit-
punkt wurde deutlich, dass das WWW
unser Arbeitsleben grundsätzlich ändern
wird. Wenn man sich die Zutaten einer
Pizza per Klick visuell aussuchen kann – hat
man nicht wirklich einen Grund den Rech-
ner mit all seinen Fähigkeiten zu verlassen.
Im selben Jahr ging die erste Webcam der
Welt an der Universität Cambridge online
und zeigte den Füllstand der Kaffeema-
schine des Computer-Labors.
Die Umgang und die Akzeptanz, aber auch
die Notwendigkeit von Computern im
Arbeitsalltag entwickelte sich in den 90ziger
Jahren rasant. Die Taktfrequenzen der Pro-
zessoren erhöhen sich jährlich um ein Viel-
faches ihrer selbst. Dafür wird die optische
Größe Jahr für Jahr immer kleiner.
Amazon [35] und Ebay [36] werden
gegründet, 16 Millionen angeschlossene
Rechner werden 1998 weltweit registriert
und die zweimillionste Domain wird ange-
meldet, der Skandal um Bill Clinton und
Monika Lewinsky wurde im WWW von der
Internet-Klatschspalte Drudge-Report ent-
hüllt und die Welt fürchtet sich vor einem
00-Chaos zur Jahrtausendwende.
Seid 2001 ist in jeder Starbucksfiliale ein
kostenloser Internetzugang, der Übertra-
gungsstandard UMTS setzt sich durch,
Chips erfahren eine 300fache Verkleinerung
und werden vielseitiger und günstiger.
Irgendwie wundert es nicht, dass immer
mehr Mensch immer länger am Computer
sitzen. So kann man doch nur staunen, wie
rasant sich der PC und das ihn umgebende
Netzwerk entwickelt hat und der breiten
Masse zugänglich wurde.
34 Zitat aus einem Interview im Freundes- und Bekanntenkreis zum Thema Arbeitskultur, Sep. 2008 35 1998, Jeff Bezos gründete Amazon.com36 1998, Pierre Omidyar gründete die Online-Auktionsplattform eBay37 Zitat aus einem Interview im Freundes- und Bekanntenkreis zum Thema Arbeitskultur, Sep. 2008
Eine nicht enden wollende Quelle an Infor-
mationen, Spaß, Abenteuer und Kommu-
nikation wird nahezu umsonst angeboten.
Stört man sich nicht an Werbe-PopUps ,
kann man sich im Netz regelrecht verlieren.
Und in die Maschine an sich verlieben. So
bietet sie doch jedem überall Zugang zu
privaten Daten, öffentlichen Daten, Emails,
Bildern oder dem Terminkalender.
Ein 24-Stunden am Tag Alleskönner.
Zudem ist dort jemand der einem bei der
Arbeit hilft. Da man ohne den Rechner die
Arbeit nicht erledigen könnte, fühlt man
sich als Verbündeter, als Team.
Ist das der Grund, warum viele Menschen
nicht mehr von dem Rechner wegkommen?
Weil sie sich bei aller Arbeit geborgen
fühlen?
Bevor ich abends vor der Glotze hänge, arbeite ich lieber, das bringt wenigstens was. Ich mein, was soll ich auch sonst tun? [37]
Wer, wie viel, wie oft: Krank durch ArbeitDie Gefahr von sozialer Vereinzelung durch
neue Formen des Arbeitens ist sehr groß.
Denn Arbeit kann krank machen. Neben
sozialen und zwischenmenschlichen Dis-
krepanzen wie Mobbing, Depression und
Vereinsamung gilt „ Workaholismus “ mitt-
lerweile als ernst zu nehmende Krankheit.
Zwar kann man heute noch mit Stolz von
sich, behaupten ein Workaholic zu sein, und
erfährt dafür allgemeine Annerkennung,
doch erkennen immer mehr Menschen die
Gefahren.
Arbeit kann zur Sucht werden. Das Wort
„Workaholismus“ leitet sich nicht umsonst
von Alkoholismus ab, einer Sucht.
Wer seinen Kollegen erzählt, er trinke
täglich ein paar Flaschen Bier zuviel, wird
sicherlich nicht bewundert, aber einige
Stunden zuviel arbeiten ist legitim und wird
vom Arbeitgeber gerne gesehen. Ein „Work-
aholic“ zu sein, ist in Deutschland mehr
Kompliment als Makel.
Wayne Oates, Professor für Religions-
psychologie, verwendet erstmals den Begriff
38 Poppelreuter, Stefan. „Arbeit ist das ganze Leben“ - Ein empirische Studie zum Thema Arbeitssucht, S. 68ff, Deutscher Psychologen Verlag, 199739 Interview Karlheinz Geißler, Süddeutsche Zeitung, Job&Karriere, 02.11.200440 Ulrike Meißner; Die ‘Droge’ Arbeit: Unternehmen als ‘Dealer’, Peter Lang Verlag, 2005
”Workaholism” 1971 in seinem Buch Con-
fessions of a Workaholic . Dabei handelt
es sich nach seinen Angaben um eine von
ihm selbst geschaffene Wortneubildung in
Anlehnung an den Begriff ”Alcoholism”.
Der Psychologe Stefan Poppelreuter
definiert den Begriff wie folgt:
Der Begriff ”Workaholism” soll ein exzessives
Bedürfnis nach Arbeit kennzeichnen, das ein
solches Ausmaß erreicht hat, dass es für den
Betroffenen zu unübersehbaren Beeinträchti-
gungen der körperlichen Gesundheit, des per-
sönlichen Wohlbefindens, der interpersonalen
Beziehungen und des sozialen Funktionierens
kommt. Die begriffliche Ähnlichkeit zwischen
”Workaholism” und ”Alcoholism” resultierte
aus der Annahme, dass die beiden
Krankheitsbilder eine ähnliche Ätiologie und
Symptomatik aufweisen. [38]
42
Es ist wich-tig und kann frei machen, die neue Tech-nik einzuset-zen. Es macht aber unfrei sich von ihr beherrschen zu lassen. [43]
Doch Workaholics sind nützlich für die
Firma, so lange sie nicht zusammenbrechen
oder grobe Fehler machen.
Der Computer wird nicht müde, wie schon
Karl Marx, im Eingangskapitel zitiert,
feststellte. Die Natur jedoch hat es nun mal
gewollt, dass der Mensch Pausen braucht und
müde wird.
Karlheinz Geißler prognostiziert ein erzwun-
genes Umdenken der Firmen: „Heute wird
verlangt, dass die Beschäftigten möglichst
lange arbeiten. Aber wie viele Fehler entste-
hen dadurch, dass müde Menschen arbeiten?
In dem Moment, wo die Fehler teurer wer-
den als das, was hergestellt wird, wird diese
Entwicklung aufhören.“ [39]
Die Wissenschaftlerin Ulrike Meißner [40]
spricht über die Arbeitssucht wie über jede
andere Sucht.
Viele Unternehmen fördern die Arbeits-
sucht, erklärt sie, das Unternehmen wird
zum Dealer und bietet immer mehr Stoff.
Die Unternehmen gehen da ganz subtil vor.
Zuerst werden hier und da Überstunden
verlangt, dann etwas psychologischer Druck
(„Der Firma geht es nicht gut“, „Wir brau-
chen deinen Einsatz!“ ) und schon arbeite
der Arbeitnehmer freiwillig länger. Denn
für jedes „mehr“ erhält er Anerkennung,
Lob, Geld und das befriedigende Gefühl
gebraucht zu werden.
Mach nicht schlapp! Ohne dich schaffen wir
es nicht! Du bist unersetzlich!
Ohne diese Gefühle kann man irgendwann
nicht mehr leben, dann gehen Familienväter
auch
„freiwillig“ am Sonntag ins Büro.
Sie spricht über die Risiken, die die
Arbeitssucht, nicht nur für den Betroffenen,
sondern auch für das gesamte Unternehmen
haben kann. Bricht ein Mitarbeiter von
einem Tag auf den anderen zusammen und
fällt für Wochen, gar Monate aus, bedarf es
nicht nur der sozialen Vorbeugung, sondern
auch der ökonomischen.
Der Sozialökonom Holger Heide [41] spricht
in seinem Buch Massenphänomen Arbeits-
sucht davon, dass rund 15 Prozent aller
Beschäftigten in einem Arbeitsumfeld leben,
das die Arbeitssucht massiv begünstigt.
Arbeitssuchtprävention kann nur dann
ein Thema sein, wenn die Unternehmens-
führung ein Bewusstsein für das Problem
entwickelt.
Zudem müssen die Betroffenen die Symp-
tome von Arbeitssucht selbst als Leidens-
druck artikulieren und politisieren.
Besonders gefährdet für Arbeitssucht sind
nach Ansicht des Arbeitssoziologen Lothar
Peter die in dieser Arbeit hervorgehobenen
Zielgruppen.
„Arbeitssucht sei in erster Linie ein Problem
derjenigen Beschäftigungsgruppen, die in
neuen Arbeitsformen arbeiten und ausge-
prägte Züge des Arbeitskraftunternehmers
(AKU) aufweisen, grenzt Peter den gefährde-
ten Personenkreis ein.
Den Arbeitskraftunternehmer zeichnet dabei
aus, dass er sich persönlich für die Ergeb-
nisse seiner Arbeit verantwortlich fühlt. Dies
macht ihn anfällig für süchtiges Arbeiten.“
[42]
41 Holger Heide, Massenphänomen Arbeitssucht, Atlantik Verlag, 200242 Holger Heide, Massenphänomen Arbeitssucht, Atlantik Verlag, 2002, Beitrag Lothar Peter43 Leserkommentar zu Soboczynski, A. (2008): „Der Feierabend hat Feierabend.“, Ressort: Gesellschaft, 28.08.2008; Hamburg: Die Zeit
44
Marvin: „I got very bored and depressed, so I went and plugged myself in to its external computer feed. I talked to the compu-ter at great length and explained my view of the Universe to it,“
Ford: „And what happened?“
Marvin:“It committed suicide.“
46
Karoshi – Tod durch ÜberarbeitungIn Deutschland mag Arbeitssucht noch ein
Tabu-Thema sein. In Japan gibt es für den
Tod durch Überarbeitung einen Namen:
Karoshi. Es sterben jährlich ca. 20.0000
Japaner an Karoshi oder Karojisatu, den
Freitod wegen Arbeitsstresses.
Die Todesarten sind unterschiedlich,
hauptsächlich jedoch tritt der Karoshi durch
Herzversagen, Herzinfarkte oder
Hirnschläge ein. Durch die Brisanz und
Dringlichkeit des Themas wurden in Japan
bereits über 350 Behandlungszentren für
Arbeitssüchtige eingerichtet.
Karoshi ist mittlerweile nicht nur juristisch
als haftungspflichtige Todesart anerkannt.
Die landesweite Diskussion um Karoshi
soll Firmen auffordern, ihre Arbeitspolitik
zu ändern. Denn Fakt ist, dass 88 Prozent
der japanischen Firmen fest mit Überstun-
den ihrer Mitarbeiter rechnen und diese
verlangen. So heißt es z.B. in einem Slogan
für einen Powerdrink: „Sind Sie bereit, 24
Stunden für ihre Firma zu kämpfen?“
Stirbt ein Mitarbeiter an Überarbeitung,
können die Hinterbliebenen eine Art Rente
anfordern. Sie müssen jedoch belegen, dass
„ der Betreffende am Tag seines Ablebens
mindestens 24 Stunden gearbeitet hat oder
in der Woche vor seinem Tod jeden Tag
mindestens 16 Stunden. Wenn er in der
Woche vor dem Zusammenbruch einen Tag
frei hatte, ist es schon kein Karoshi mehr
und Unterhaltsforderungen greifen ins
Leere.“ [44]
44 Simon, M. (2002): Wer fertig ist, kann gehen, Stand: 01.11.2008; Online: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/12/12609/1.html45 Boes, A. (2008): Gesundheitliche Belastungen in der IT-Industrie; München: Institut für Sozialwissen-schaftliche Forschung e.V - ISF München
Laut des Japan International Center for
Occupational Safety and Health (JICOSH)
gelten folgende Punkte als Ursache des
Karoshis:
- Unregelmäßige Arbeitszeiten
- Stark eingeschränkte Bewegungs-
räume am Arbeitsplatz
- Schichtarbeit, vor allem häufige
Schichten, kurzfristige Veränderungen
und ungünstige Schichtwechsel, ebenso
Menge der Nachtarbeit
- Arbeitsumgebung (vor allem Tempera
tur, Lärm, Jetlag)
- Psychomentaler Stress durch die Arbeit
mit ähnlicher Belastungswahrnehmung
durch Arbeitskollegen
- Mehr als 100 Überstunden im Monat
- Lange Arbeitszeiten ohne Pause
- Hohe Arbeitsdichte
- Häufige Dienstreisen
- Erhebliche Arbeitsbelastungen durch
außergewöhnliche Arbeit, z.B. Unfälle,
Katastrophen, Ausnahmesituationen
- Erhebliche und wiederholte Änder-
rungen der Arbeitsinhalte und
Erwartungen, insbesondere, wenn
wenig Unterstützung durch den Arbeit
geber erfolgt
So gravierend wie in Japan ist die
Problematik hier in Deutschland noch nicht,
jedoch sind in den letzten zehn Jahren die
psychischen Leiden infolge von Stress um 70
Prozent gestiegen. Eine Umfrage des Insti-
tutes für Sozialwissenschaftliche Forschung
München [45] zeigt auf, dass 45 Prozent
aller Beschäftigten den beruflichen Leis-
tungsdruck für seelische und körperliche
Leiden verantwortlich machen.
Problematiken wie Einschlafprobleme,
Magengeschwüre und psychische
Erschöpfung sind schon bei einer
45 Stunden-Woche deutlich höher als bei
„normal“ arbeitenden.
48
Eine repräsentative GfK-Umfrage im
Auftrag der „Apotheken Umschau“
(März 2007) belegt, dass bei einem Viertel
aller Deutschen (25,6 Prozent) der ständige
Termin- und Zeitdruck Stress auslöst.
Unter Überarbeitung und zu hoher
Arbeitsbelastung leidet mehr als ein Fünftel
(21,2 Prozent) und jeder Zehnte (10,8
Prozent) fühlt sich durch das ehrgeizige
Streben nach Aufstieg und Erfolg entkräftet.
Für viele Personen (19, 7 Prozent) ist es ein
Problem abzuschalten und sich
zu entspannen. [46]
47 Eine repräsentative Umfrage des Apothekenma-gazins „Apotheken Umschau“, durchgeführt von der GfK Marktforschung Nürnberg bei 1.956 Personen ab 14 Jahren.
BurnoutDie Zahl der Krankmeldungen und Fehltage
sinkt seit Jahren. Arbeitsmediziner sehen
aber auch hier eine Facette der Arbeitssucht
und Folgen der Überarbeitung.
„Präsentismus“ nennen sie das zu starke
Verantwortungsgefühl der Angestellten.
Sie verordnen sich selber Anwesenheit und
verschleppen dadurch Krankheiten und
kommen so in einen nicht enden wollenden
Kreislauf- bis zur totalen Erschöpfung,
Burn-Out genannt.
Der Brockhaus definierte den Begriff 1995
wie folgt und zeigt recht deutlich die Meta-
phorik des Wortes. Der Mensch ist eine
Maschine und soll funktionieren.
Ursprünglich stellt Burn-Out einen tech-
nischen Terminus dar (engl.: to burn out),
z.B. bezogen auf das Aus- bzw. Abbrennen
von Brennstoffelementen bei Überhitzung
oder das Ausgehen eines Feuers. Auf Men-
schen bezogen bedeutet es (engl.: feel burned
out) sich erschöpft fühlen bzw. (engl.: burn
oneself out) sich kaputt zu machen, sich völlig
zu verausgaben. Metaphorisch bezeichnet der
Begriff Burn-Out „ausgebrannte“ Menschen,
deren inneres Feuer im Laufe der Zeit auf
Grund von zu wenig „Brennstoffzufuhr“
erloschen ist.
Im Laufe der Jahre veränderte und ver-
feinerte sich die Definition des Wortes,
schlussendlich bleibt, egal bei welchen
Symptomen, immer ein „Ich kann nicht
mehr“- Fazit.
Basierend auf dieser Definition hat sich wohl
auch die Redewendung: „Ich muss Energie
tanken“ durchgesetzt. Indem man Burn-Out
als individuelles Problem interpretiert und
nicht als gesellschaftliches, warnt Michael
Marwitz, der Autor des Buches Die Burn-
Out Epidemie , verharmlost man die
Problematik. Gemäß dem Motto:
Da hat eine Person versagt, jetzt repariert sie
wieder. [47]
Könnte man meinen, dass ein Burn-Out
eines Mitarbeiters, eines Kollegen zur
Hinterfragung der Arbeitskultur führt, ist
häufig gegenteiliges der Fall.
Burn-Out gilt als Abzeichen dafür, dass man
sich zum Wohl der Firma selber schadet
und jederzeit bereit ist, das Letzte zu geben.
Das bedeutet Anerkennung auf Kosten der
Gesundheit und der eigenen Lebensqualität.
Diese Arbeitskultur macht die Gesellschaft
auf kurz oder lang kaputt.
Der DGB veröffentlicht auf seiner Inter-
netseite eine Liste mit Angaben, die man
beachten soll, um Arbeitsucht, Burn-Out
und Stress vorzubeugen:
47 Hillert, A., Marwitz, M. (2006) Die Burnout Epidemie oder Brennt die Leistungsgesellschaft aus?; München: C.H. Beck Verlag
50
Liste der Stressfaktoren des DGBs aus dem
Jahre 2007:
- Psychisch-mentale Stressoren
z.B. Überforderung durch die Leistungs
menge bzw. das Arbeitstempo oder den
Arbeitsinhalt
- Unterforderung, weil der Arbeitsinhalt
nicht den vorhandenen Qualifikationen
entspricht
- widersprüchliche Arbeitsanweisungen
ständige Unterbrechungen
- unvollständige Informationen
- mangelhafte Rückmeldungen
- unklare Zielvorgaben
- Leistungs- und Zeitdruck
- Angst vor Misserfolg und Kontrolle
- hohe Verantwortung für Personen oder
- Werte
- ungenügende Einarbeitung
- unklare Zuständigkeiten
- Angst vor Arbeitsplatzverlust
Soziale Stressoren wie fehlende Anerken-
nung und Unterstützung durch Kollegen
und Vorgesetzte
- schlechtes Betriebsklima
- Konflikte
- Konkurrenzdruck
- isoliertes Arbeiten
Physische Stressoren wie Lärm, Hitze,
Shcicht oder Nacharbeiten und falsche
Beleuchtung.
Besonders gefährdet für Überarbeitung,
Arbeitssucht und Krankheit durch Arbeit
sind Arbeitnehmer in der IT-Branche. Hier
findet sich chronische Müdigkeit, psychische
und physische Probleme viermal so häufig
wie im Vergleich zu anderen Berufsgruppen
in Deutschland.
Das RheinRuhr Institut zeigt in der Studie:
„Burnout in der IT-Branche“ [48] , dass 30
Prozent der IT-Arbeitnehmer keine Zeit
haben sich zu entspannen und 40 Prozent
der Befragten einen Burn-Out befürchten.
60 Prozent aller IT-Angestellten nehmen
Psychopharmaka ein, dies liegt deutlich
über dem Durchschnittswert.
„Schwindelgefühle und Pfeifen auf den
Ohren, Übelkeit, Kopfschmerz. Trotz völliger
Erschöpfung kann ich abends oftmals nicht
einschlafen und liege die Nacht wach. Um
4:00 Uhr klingelt der Wecker und dann geht
der Wahnsinn wieder los.“
beschreibt ein Angestellter sein Leiden in
einem Internetforum.
48 Kreft, U. (2008): Burnout in der IT-Branche, „Präventiver Gesundheitsschutz in der IT-Branche“; Duisburg: Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung und Politikberatung e. V. (RISP)
Die IT Branche ist deshalb besonders
gefährdet, weil sich hier die neuen und
flexiblen Arbeitsformen, die vermeintliche
Arbeitsfreiheit (Tu was du willst, aber bis
dahin muss das fertig sein) besonders weit
verbreitet haben. Programmierer, Konzep-
ter und Webdesigner zeigen auf, wie die
Arbeitszukunft aussehen wird.
Es ist egal, ob man freiberuflich arbeitet
oder angestellt ist.
Die „junge “ IT-Wirtschaft wird sich in
Zukunft der Herausforderung für die
zukünftige Innovations- und Wettbewerbs-
fähigkeit stellen müssen - die einst jungen,
dynamischen Entwickler und Designer
werden immer älter und es gibt zuwenig
qualifizierten Nachwuchs.
Das ISF München prognostiziert:
Vor dem Hintergrund dieses demografischen
Wandels und den damit verbundenen
möglichen Engpässen an qualifiziertem und
erfahrenem Personal stellt eine nachhaltige,
d.h. auf die langfristige Erhaltung, Pflege
und Nutzung von Humanressourcen abzie-
lende Personalpolitik gerade in der Wis-
sensökonomie einen zunehmend wichtigen
Wettbewerbsfaktor für mehr Innovation,
Beschäftigung und Wachstum dar. [49]
Da der Anteil der über fünfzigjährigen
Beschäftigten in der IT-Wirtschaft zwischen
1999 und 2004 um 78 Prozent zugenom-
men hat, muss diese „Erhaltung, Pflege und
Nutzung“ bald beginnen.
Irgendwann hab ich dann begriffen, dass ich nicht nur Rechte meinem Körper gegen-über habe, sondern auch Pflichten. [50]
Zur „Erhaltung, Pflege und Nutzung“ der
Humanressource erweisen sich viele der
klassischen Methoden der Stressprävention
als unbrauchbar.
So wird z.B. das Einschränken der Arbeits-
zeit häufig als Hindernis bei der fristge-
rechten Aufgabenbewältigung erlebt und
49 Boes, A. (2008): Gesundheitliche Belastungen in der IT-Industrie; München: Institut für Sozialwissen-schaftliche Forschung e.V - ISF München50 Zitat aus einem Interview im Freundes- und Bekanntenkreis zum Thema Arbeitskultur, Sep. 2008
52
nicht als Schutz vor Überlastung. Rein
verhaltensorientierte Maßnahmen zur
Gesundheitsförderung sind auch wenig
erfolgsversprechend, da sie in der Regel
Symptome zu kurieren versuchen und nicht
die Ursache bekämpfen.
Wenn, dann muss man an der richtigen
Stelle eingreifen.
Wo sich diese jedoch befindet und wie man
dort interveniert, ist noch unklar.
Hartmut Rosa und Götz Mundle versuchen
sich an der Lokalisation.
„Wir sind am Rande der Erschöpfung und
am Rande des Sinnvollen.“ [51], so der Sozi-
ologe Hartmut Rosa und stimmt mit dem
Psychologen Götz Mundle, Chefarzt der
Oberbergklinik im Schwarzwald überein,
dass jeder zum individualisierten Hinterfra-
gen des Lebens und der persönlichen Ziele
angehalten werden muss:
„Es geht darum, eine Trennung zwischen
persönlicher innerer Anerkennung und
beruflichen Notwendigkeiten herzustellen.
Diese Trennung ist notwendig, um eine
innere Klarheit zu haben. Es wird zum
Problem, wenn der Einzelne erwartet, dass
seine persönliche Sinngebung allein durch
den Beruf stattfindet. Der Betreffende muss
die Fähigkeit entwickeln, in sich hineinzu-
schauen, auf seine Gefühle zu hören. Gerade
bei Hochqualifizierten in verantwortlichen
Positionen sind diese Fähigkeiten nicht gut
entwickelt.“ [52]
Doping fürs HirnBeunruhigend ist die Entwicklung, wie
der Leistungsdruck mittels Drogen aus-
haltbar gemacht wird. Neben zahlreichen
illegalen Drogen greifen immer mehr Stress
geplagte Menschen zu legalen Drogen wie
Antidepressiva und so genannten Neuro-
Pushern. In den USA wird die Zahl der
Happy-Pills-(Prozac)-Konsumenten auf 20
Millionen geschätzt. Dort wird Prozac, ein
Antidepressiva, seit der Einführung 1987
als Wundermittel gefeiert und gilt wegen
seiner leistungssteigernden Wirkung als
Doping fürs Hirn. Mit Hilfe von Ampheta-
minen oder Modafinil kann Müdigkeit und
schlechte Stimmung überwunden werden.
Wie bei jeder Form von Doping und Dro-
genkonsum gelten auch hier die Gefahren
der Suchterkrankung. Zahlen über den
Konsum von leistungssteigernden Substan-
zen gibt es kaum.
51 Rosa, H. (2007): „Wir wissen nicht mehr, was wir alles haben.“, Ressort: Gesellschaft, 19.12.2007; Ham-burg: Die Zeit52 Laudenbach, P. (2008): Wirtschaftsmagazin Brand-eins,„ Der tödliche Cocktail”; Hamburg: brand einsVerlag GmbH & Co. OHG, S. 8553 Tim Farin, Christian Parth , FAZ, Leistung mit Substanz, 15. August 2008
Doch mit ständig wachsendem Druck und
dem persönlichen Ideal immer alles leisten
können zu müssen, liegt die Annahme, dass
Neuro-Pusher vermehrt konsumiert werden,
nahe. Da diese gerade für Berufsgruppen
mit geistiger Leistung interessant sind und
diese, wie wie im Kapitel Leistung bereits
erläutert wurde, stetig zunimmt, erwartet
die Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert
eine gesellschaftliche Reaktion: „So wie die
Schönheitschirurgie unsere Vorstellung von
normalem Aussehen wandelt, werden Neuro
Enhancements die Normen verändern.“ [53]
Was ist noch normal? Wie viel kann ein
Mensch leisten? Und zu wie viel ist ein
Mensch bereit? Eingangs wurde die Frage
gestellt, was die Person, die die Stellenanzeige
geschrieben hat, gedacht hat, welche Quanti-
tät an Qualitäten realistisch sei.
Die utopische Welt der Stellenanzeige ist
vielleicht gar nicht so utopisch wie ange-
nommen. Was ist noch realistisch? Wie im
ersten Teil dieser Arbeit festgestellt wurde,
verändert sich unsere Welt konstant und
fordert von uns Anpassung und Mitschritt
mit dem Fortschritt.
54
Durch die permanente technische Wei-
terentwicklung eröffnen sich uns Mög-
lichkeiten, die heutzutage vielleicht
normabweichend erscheinen, in Zukunft
aber normal sind.
Schon des öfteren sind wir in der
Vergangenheit von der schnellen Akzeptanz
der Masse gegenüber Technik überrascht
gewesen. Es werden sich neue Formen der
Gesellschafts -und Arbeitskulturen entwi-
ckeln, Bastelexistenzen den Markt bestim-
men, Globalisierung und Individualisierung
bedeutungsvoller werden, doch letztendlich
wird wie schon seit Jahrhunderten die
Sinnfragen weiter unser Leben bestimmen:
Was will ich eigentlich?
Die hier behandelte Thematik ist heute
aktuell und bedarf schon heute der Auf-
merksamkeit und Auseinandersetzung und
ist nicht ein Problem für morgen.
BeschleunigungIf I had asked people what they wanted, they would have said faster horses. Henry Ford
Das unser Lebenstempo aktuell höher ist
denn je zuvor, bezweifelt keiner mehr.
Wir leben in einem „Hochgeschwindigkeits-
Zeitalter“, wie es der Zukunftsforscher Horst
Opaschowski formuliert.
Das hohe Tempo scheint sich
proportional zur Entwicklung der
westlichen Kultur zu verhalten.
So hat der Psychologe Robert Levine [54]
durch verschiedene Beobachtungen,
folgende Thesen aufstellen können:
- Je produktiver die Wirtschaft
eines Landes ist, desto höher ist
das Lebenstempo.
- Je industrialisierter ein Land ist,
desto weniger Freizeit bleibt den
Menschen.
- Je mehr zeitsparende Maschinen
eingesetzt werden, desto mehr
stehen die Menschen unter
Zeitdruck.
- Je urbaner ein Lebensumfeld ist,
desto schneller bewegen sich die
Menschen vor Ort
54 Professor of Psychology; California State University, Fresno
Zeitstudien in 31 Ländern durchgeführt.
Beobachtet wurden folgende Bereiche:
- Die Gehgeschwindigkeit der Pas
santen (20 Meter in der Innen-
stadt)
- Die Genauigkeit der öffentlichen
Uhren
- Die Geschwindigkeit, in der ein
Postbeamte einen Standard-Brief
marke verkauft.
Acht der zehn „schnellsten“ Länder sind in
Westeuropa zu finden.
Das „schnellste“ Land ist laut der Untersu-
chung von Levine die Schweiz. In diesem
Land bewegen sich die Menschen ganz
besonders schnell, arbeiten die Postbeamten
extrem eilig und – natürlich – gehen die
Uhren sehr genau.
Auf Platz zwei landete Irland, gefolgt von
Deutschland und Japan. Die letzten Plätze
belegten Länder, in denen die Uhr an sich
keine sonderlich große Bedeutung hat,
nämlich Mexiko, Brasilien oder Indonesien.
Auch das Tragen einer Armbanduhr ist
selten.
60
Diese kleine Geschichte zitieren ver-
schiedenste Psychologen, Soziologen und
Zukunftsforscher, denn in ihrer Einfachheit
vermittelt sie deutlich die aktuelle Gesell-
schaftsordnung; egal wer, alle müssen
rennen.
Horst Opaschowski schreibt in seinem
Buch „Wir werden es erleben“ [55] über das
erhöhte Lebenstempo:
„Der von Zeitnot und Eile geprägte Lebens-
rhythmus wird sich insbesondere auf das
soziale Wohlbefinden der Menschen auswir-
ken. Nachweislich gibt es einen Zusammen-
hang zwischen Zeitnot und Sozialverhalten.
Das rasche Lebenstempo in den Städten führt
beispielsweise dazu, dass die Menschen mit
mehr Sinndaten überhäuft werden, als sie
persönlich verarbeiten können. Die Folge ist
eine Art „psychischer Überlastung,“ wes-
halb die Überlasteten [...] dazu neigen, alles
Jeden Morgen erwacht in Afrika eine Gazelle. Sie weiß, sie muss schneller rennen als der schnellste Löwe, oder sie wird gefressen.
Jeden Morgen erwacht in Afrika ein Löwe. Er weiß, er mus schneller rennen als die langsamste Gazelle, oder er wird verhungern.
Egal, ob Löwe oder Gazelle – wenn die Sonne aufgeht - musst du rennen!
auszublenden, was für ihre persönlichen Ziele
nicht von Bedeutung ist.“
Das hohe Lebenstempo macht uns also zu
egoistischen, asozialen Mitbürgern?
Wir helfen nur noch, wenn es uns zu Gute
kommt und keinerlei Konsequenzen mit
sich führt?
Betrachtet man Zukunftsprognose stellt sich
die Frage, ob das „schnellste“ Land zu sein
etwas Positives ist.
Gilt: Gut ist, wenn etwas schnell ist, und
weil es schnell ist, ist es gut?
Trotz der sozialen Entfremdung: Anschei-
nend ja. Rekorde werden am laufenden Band
gebrochen, je schneller ein PC läuft desto
besser, die Email ist in Sekunden einmal um
die Welt.
Die Medien sind nahezu zeit-los.
„Zeit wird durch die Pausenlosigkeit des
„Immer“ und Raum durch das Prinzip
„Überall“ ersetzt.“ [56]
Überall alles immer haben zu wollen und
haben zu müssen ist anstrengend und laugt
aus. In einem Interview [57] zum Thema
Zeit, sagt der Wirtschaftspädagoge Karl-
heinz Geißler:
„Wer das ganze Leben leben will, ertrinkt in
Hetze“. Er sieht die einzige Möglichkeit nicht
„in Hetze“ zu ertrinken im Verzicht: „Wir
müssen lernen auf viele Möglichkeiten, die
wir auch noch hätten, zu verzichten.“
Aber erlaubt uns unsere Gesellschaft den
Verzicht überhaupt? Oder ist der erste
Schritt auf die Akzeptanz in der Gesellschaft
zu verzichten?
Wohin führt uns der Tempowahn? Alles
wird beschleunigt, aber wohin eigentlich? Ist
der Beschleunigungsprozess unaufhaltsam
56 Opaschowski, H. (2002): Wir werden es erleben. Zehn Zukunftstrends für unser Leben von morgen; Darmstadt: Primus Verlag, S. 25357 Geißler, K. (2004): Ressort: Job & Karriere: „Wer das ganze Leben leben will, ertrinkt in Hetze“, Interview veröffentlicht am 02.11.2004; München: Süddeutsche Zeitung58 Orwell,G. (2007): 1984. 29. Auflage; Berlin: Ullstein Taschenbuchverlag, S. 271
und unendlich? Überholt die Beschleuni-
gung den Menschen nicht zwangsläufig?
Wird die Orwellsche Vision Wirklichkeit
werden?
„Wir beschließen, uns rascher zu verbrau-
chen. Wir steigern das Lebenstempo, bis die
Menschen mit dreißig senil sind ...“ [58]
62
Da die Schnelligkeit als Faktor (beinahe)
ausgereizt ist (Postweg vs Email, Kochen vs
Pizzataxi, Kamin vs Heizung), verlegen sich
immer mehr Menschen auf Vergleichzei-
tigung. Wenn man möglichst viele Sachen
gleichzeitig erledigt, fühlt es sich so an, als
hätte man die Zeit ausgetrickst.
„Neben das Maß der Arbeitszeit als „aus-
gedehnter Größe“ tritt jetzt das Maß ihres
Verdichtungsgrades,“ schreibt Karl Marx
im Kapital [59] und nennt dieses „Maß“
Intensifikation.
Es gibt keine lineare Zeit mehr.
Jeder kennt das Essen vor dem Computer-
bildschirm oder die unzähligen Taps im
Browser.
Während die eine Website noch lädt, kann
man die Email schon mal tippen.
„Verdichtung der Zeit durch Vergleichzeiti-
gung ist das Programm der Gegenwart und
noch mehr das der Zukunft, mit dem wir zwei
Ziele zu erreichen versuchen:
Zum einen das weitere Wachstum von
Wirtschaft und Wohlstand und zum zweiten
die Ausweitung unserer Handlungs- und
Freiheitsspielräume. [...]
Nie zuvor war es so augenfällig, dass der
Mensch nicht nur ein tätiges, sondern auch
ein nebentätiges Wesen ist. Die Mehrfachtä-
tigkeit wird zum Epochenmerkmal.“ [60]
Der Neuropsychologe Ernst Pöppel sieht in
der Vergleichzeitigung Gefahren für unsere
Vergleich-zeitigung oder „Inten-sifikation“
62
kognitive Entwicklung.
Durch die Teilung der Aufmerksamkeit
verlieren wir immer mehr die Fähigkeit uns
langfristig auf eine Sache zu konzentrieren.
„Auf Dauer werden wir unsere Aufmerksam-
keit durch Multitasking aber gewiss nicht
stärken – vielmehr verzetteln wir uns sprich-
wörtlich und schwächen unsere Konzentrati-
onsfähigkeit“ [61]
Medizinisch betrachtet ist die geteilte Auf-
merksamkeit nicht anzuraten, denn „das
Gehirn ist nicht beliebig plastisch.“ [62]
Der Mensch muss akzeptieren, dass er
endlich ist. Der Computer wird nicht müde,
er wird dank neuer Entwicklungen immer
59 Marx, K. (2005): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie: Das Kapital, Bd.1: Der Produktionsprozess des Kapitals: Bd 1; Berlin: Verlag Dietz, S. 15760 Geißler, K. (2003): Gleichzeitigkeit, Vortrag des Kongresses des Deutschen Arbeitskreises fürGruppenpsychotherapie und Gruppendynamik am 3. Oktober 2003 in Berlin, Stand: 12.11.2008;Online: www.dagg.de/pdf/beitraege/geissler_berlin.pdf61 Pöppel, E. (2000): Multitasking schadet unserer Intelligenz. Heft 6/2000, Psychologie Heute; Wein-heim: Verlagsgruppe Beltz62 ebenda
leistungsstärker und verlässlicher.
Der Computer arbeitet sequentiell, nur sieht
es von außen betrachtet nicht so aus.
Der Mensch ist viel leistungsstärker und
vielseitiger, als er annimmt.
Ein Computer reagiert nur auf Ein und Aus,
Einsen und Nullen, dieses jedoch nahezu
unendlich lange.
Die menschliche Kraft ist jedoch begrenzt.
64
Wie schon in vorangegangenen Kapiteln
deutlich wurde, bedarf es Pausen um den
Energiehaushalt wieder aufzufüllen. Der
Mensch muss zur Ruhe kommen um weiter
arbeiten zu können.
Da wir immer mehr gleichzeitig tun und
dadurch immer mehr Entscheidungsprozes-
sen ausgesetzt sind, kommt es vermehrt zu
Fehlern und zur schnelleren Erschöpfung.
Denn viele Entscheidungen treffen zu müs-
sen setzt uns unter Stress.
Doch wenn der User sich immer mehr der
Taktung der Maschine anpasst, widerspricht
dieser damit den Naturgesetzen.
Denn die Sterberate der Menschen liegt
immer noch bei 100 Prozent.
Das Leben wird scheinbar intensiver durch
die Gleichzeitigkeit der Dinge.
In 24 Stunden werden versucht 48 Stunden
hinein zu pressen, immer in der Sorge etwas
Wichtiges zu verpassen.
Die Beschäftigungen werden häppchenweise
konsumiert. Von allem etwas bitte! (vgl. Soft
Skills)
Betrachtet man die Aussage von Pöppel,
sind wir auch bald nicht mehr in der Lage
größere Stücke zu verarbeiten, da unsere
Konzentration zu schnell nachlässt.
66
Nichtstun nicht könnenWas ist eigentlich Freizeit? Ist es die Zeit in
der man nicht arbeitet? Falls ja, dann wird
die Verwendung des Begriffes wohl nahezu
überflüssig, da sich privates und berufliches
immer mehr vermischen. Der Zukunftswis-
senschaftler Horst W. Opaschowski inter-
pretierte den Begriff 1997 wie folgt:
„Freizeit verliert zunehmend ihre Bedeutung
als arbeitsfreie Regenerationszeit. Umso mehr
richten sich dann die Hoffnungen auf die
Freizeit als Synonym für Lebensqualität und
Wohlbefinden. Dies aber heißt: Sich Wohl-
fühlen, das tun und lassen können, was Spaß
und Freude macht, und das Leben in eigener
Regie gestalten sowie viel mit Familie und
Freunden unternehmen.” [63]
Diese Hoffung wurde wohl enttäuscht.
Schon vor mehr als zehn Jahren war also
abzusehen, dass Freizeit nicht mehr gleich-
zusetzen ist mit Regeneration.
Wochenendseminare, Weiterbildungen und
Arbeit bestimmen den Zeitabschnitt zwi-
schen Freitag und Montag.
Nach dem Projekt ist vor dem Projekt.
Da wundert es nicht, dass man das Gefühl
hat, dass die Wiederkehr der einzelnen Tage
immer schneller ist. Die Taktung hat sich
erhöht. Die Tage scheinen immer kürzer zu
werden und das Leben insgesamt wesentlich
schneller. Es gibt immer viel mehr zu tun,
als man schaffen kann.
Die im Kapitel Beschleunigung ausführlich
beschrieben Problematik der Hetze ist nicht
nur ein Problem der Arbeitswelt.
Auch im Bereich der Freizeit gilt das Motto:
Was zuerst und wie viel wovon?
Hörbücher boomen, denn neben dem
literarischen Input können wir gleichzeitig
Bügeln oder die Steuererklärung machen.
Zudem gibt es ein Überangebot an Konsum.
Jeden Tag gibt es unzählige Möglichkeiten
die Freizeit, wenn vorhanden, zu gestalten.
Auch hier werden Unmengen an Entschei-
dungen verlangt. Worauf habe ich Lust?
Was will ich eigentlich? Da wundert es
nicht, dass eine regelrechte Hopping-Manie
entsteht.
Der Entscheidungssog führt zu Stress, das
Nichts - verpassen -Wollen und trotzdem
das Gefühl zu haben, immer einen Schritt zu
spät zu sein, hat nichts mehr mit Freizeit im
Sinn der Regeneration zu tun. Nichts tun,
nicht tun zu können ist eine Folgeerschei-
nung der Nichts - verpassen - Mentalität.
Pause
Wenn man aber einmal Zeit hat, eine Pause
macht, zur Pause gezwungen wurde (sei es
beim Warten auf den Aufzug, den verspä-
teten Flug) ist diese Freizeit für viele Leute
eine Last.
Die Pause wird als Unterbrechung zwi-
schen zwei Sachen gesehen. Wie sehr sich
diese beiden Teile vor und nach der Pause
unterscheiden oder gleichen, ist offen. Unser
Leben ist voll von kleinen Pausen, die wir
nicht wahrnehmen. S
So macht unser Herz nach jedem Schlag eine
Pause, zwischen dem Ein- und Ausatmen ist
eine Pause, und der Lidschlag unterbricht
das Gesehene für einen Bruchteil. Neben
all diesen „kleinen“Pausen, gibt es den vom
Körper geforderten Schlaf als „große Pause“.
Noch akzeptieren wir diese gezwungenen
Pausen des Körpers.
63 Opaschowski, H. (1976): Freizeit als gesellschaft-liche Aufgabe : Konzepte und Modelle. Deutsche Gesellschaft für Freizeit.; Düsseldorf: Edition Freizeit
68
Noch ist es normal wenigstens ein paar
Stunden am Tag zu schlafen.
Doch erinnern wir uns an die Medizinethi-
kerin Bettina Schöne-Seifert die eine Norm-
Veränderung auf das erhöhte Lebenstempo
durch Neuro-Pusher erwartet. (vgl. Kapitel
Doping fürs Hirn)
Wann wird es also normal tagelang wach zu
sein und durchzuarbeiten?
Zwingt uns unsere Umwelt zu einer Unter-
brechung, ist diese oft störend.
So wird Warten in unserem Kulturkreis als
unangenehm und lästig empfunden und
als nutzlose Zeit angesehen. Selbst die in
unserem 24-Stunden-Tag selten gewordene
bewusste Pause ist häufig mehr Belastung
als Entspannung. Das Mittagessen wird
hektisch vor dem Rechner gegessen und
der kurze Gang zur Kantine muss als Pause
reichen.
Die Raucherpause (Sucht) draußen im
Regen ist keine Erholung, die Pinkel-
pause (Zwang) muss sein und ohne Kaffee
(Sucht&Zwang) kann man den Arbeitstag
nicht bewältigen.
Anna Roming beschreibt in einem Artikel
für die Zeitschrift „Psychologie Heute“
zum Thema „Zeit haben“ über die Schwie-
rigkeiten der Pause:
“Wenn wir mit der Zeit unzufrieden sind,
sind wir genau genommen mit uns selbst
unzufrieden. Wenn wir arbeitsfreie Zeit
nicht aushalten, halten wir die Konfronta-
tion mit uns selbst nicht aus. Möglicherweise
müssten wir uns selbst bzw. unser Tun in
Frage stellen, und deshalb flüchten wir wei-
ter in die Zukunft hinein und immer weiter
von uns weg.” [64]
Sie schlägt vor, “das Nichtstun ertragen zu
lernen.“ Dann erst könnte man “nutzlose”
Unterbrechungen positiv nutzen. Wie im
voran stehenden Teil beschrieben, ist es oft
keine Muße, nichts zu tun, sondern eine
Belastung. Daher trifft die Formulierung
„ertragen“ sehr gut zu.
Das griechischen pausis wird in der
substantivierten Form mit „Aufhören”
übersetzt. Das lateinisch pausa und das
altfranzösisch pose, werden hingegen beide
mit „Zwischenzeit, Rast” übersetzt. Das
englische Wort break, bedeutet ganz ein-
64 Roming, A. (1998): Zeit kann man nicht haben – aber wir können sie genießen, Heft 6/1998, Psycholo-gie Heute; Weinheim: Verlagsgruppe Beltz
fach „Unterbrechung ”oder „Bruch”.
Die Pause hat immer ein Vorher und ein
Nachher, immer einen Anfang und ein Ende.
Betrachtet man das gängige grafische
Pausenzeichen, so sieht man
zwei parallel liegende dickere Balken, deren
Abstand zueinander etwa der
Balkendicke entspricht. Im Vergleich mit
dem „Stop”-Zeichen, einem mit Farbe kom-
plett ausgefüllten Quadrat, wird deutlich,
dass es sich bei einer Pause lediglich um eine
Unterbrechung handelt. Stop ist die absolute
Unterbrechung und Pause die teilweise.
Das Wort Zwischenzeit beschreibt vielleicht
am besten das Wesen der Pause, denn es
geschieht ja etwas in diesem Teilphänomen
der Zeit. Eine Pause suggeriert eine Zeitlo-
sigkeit, ein Aufhören oder Bruch (pausis &
break) des bis dato Geschehenen.
Doch die Zeit vergeht auch in diesem
„Anhalten der Zeit“.
Wie man diesen Weißraum, die Leere
zwischen den beiden Balken füllt,
ist undefiniert.
72
„[...] denn ihr Wesen ist die Unterbrechung
– Lücke im Kontinuum von Tätigkeit und
Tempo. Gäbe es das Innehalten nicht, wären
Theaterstücke und Kompositionen langweilig,
Schulstunden und Arbeitstage unerträglich,
Cafés und Imbissbuden überflüssig, kämen
Lkw-Fahrer nie zur Ruhe und Kriegsparteien
noch später zur Vernunft.” [65]
Gabriele Muri schreibt in ihrer Dissertation
über das schwer fassbare Phänomen Pause
folgendes:
„Der Forschungsgegenstand “Pause” bietet
sich für eine phänomenologisch ausgerichtete
kultur- und alltagswissenschaftliche Per-
spektive auf besondere Weise an: Ich ver-
stehe die Pause als paradoxe Figur, als eine
mit Handlung aufgefüllte Zeitsequenz, die
mental als Nicht-Handlung intendiert und
interpretiert wird. Die Pause ermöglicht das
Austreten aus dem Zeitsystem nur scheinbar:
Sie umgrenzt einen zeitlichen Abschnitt mit
kulturell bedingten, qualitativ bestimmbaren
Funktionen, Verhaltensnormen und Deu-
tungsmustern. Die Absicht, während Pausen
die “Zeit anzuhalten” oder sie als “ freie Zeit”
zu nutzen, muss aufgrund dahinter liegender
Einstellungsmuster zu Arbeit und Nicht-
Arbeit, aber auch zu Zwang, Freiheit und
Glück im Alltag relativiert werden.” [66]
Dass es den Anschein hat, dass die Pause
heutzutage mehr Last ist als Entspannung,
ist verankert in der heutigen Arbeitskultur.
Früher war die Pause das Schönste am Tage.
Auf der einen Seite ist es eine fortschritt-
liche Entwicklung, dass Arbeit die Men-
schen so ausfüllt, auf der anderen Seite
65 Schury, G. (2003): „Moment mal, bitte!“ ,Ressort: Leben, 20.11.2003; Hamburg: Die Zeit66 Muri, G. (2004): Pause! Zeitordnung und Aus-zeiten aus alltagskultureller Sicht; Frankfurt am Main: Campus Verlag67 „Was keine Pause kennt, ist nicht dauerhaft.“ Ovid, Philosoph , 43 v. C68 nach Cyril Northcote Parkinson, britischer Histo-riker und Publizist, 1909-199369 Janko, C (2005): Die persönliche Leistungskurve, Stand: 12.11.2008; Online: http://www.anleiten.de/selbstorganisation/leistungskurve.html70 Heiko, E. (2005): Die Stressfalle, Heft 11/2005, Psy-chologie Heute; Weinheim: Verlagsgruppe Beltz, S.23
wusste schon Ovid, dass nicht von Dauer ist,
was keine Pausen kennt. [67]
Pausen gehören in den natürlichen Kreislauf
der Menschheit und wer permanent versucht
gegen die „innere Uhr“ zu arbeiten wird
irgendwann daran zerbrechen.
Das Parkinsonsches Gesetz [68] besagt:
Arbeit dehnt sich in genau dem Maß aus,
wie Zeit für ihre Erledigung zur Verfügung
steht - und nicht in dem Maß, wie komplex
sie tatsächlich ist.
Schränkt man von vornherein die Arbeits-
zeit ein und arbeitet bis zur Pause Aufgabe
A und nach der Pause Aufgabe B ab, schafft
man summa summarum mehr.
Per Arbeitszeitgesetz sind folgende Ruhe-
pausen vorgeschrieben:
bis 6 Stunden keine Pausen
von 6-9 Stunden min. 30 Min.
über 9 Stunden min. 45 Min.
Die Aufteilung der Pausen ist freigestellt,
eine Pauseneinheit sollte aber mindestens
15 Minuten betragen.
Es gibt einige Untersuchungen zum Thema
Leistungskurve der Menschen, die Leis-
tungskurve sieht im Durchschnitt so aus
(Uhreit X-Achse): [69]
Wo man innerhalb dieser Leistungskurve
die Pausen am sinnvollsten integriert,
wurde von der Zeitschrift Psychologe
heute untersucht.
Für das beste Arbeit-Pausenverhältnis gilt
die Faustregel: alle 75 Minuten sollte eine
Pause von 15 Minuten erfolgen . [70]
Leis
tung
sfäh
igke
it
74
Sinnvolle PausenSinnvolle Arbeitspausen sollen der Entspan-
nung und der Erholung dienen.
Wie sich jemand erholt oder entspannt, ist
eine sehr individuelle
Angelegenheit.
Das Amt für Arbeitsschutz der Hansestadt
Hamburg gibt folgende Beispiele für eine
sinnvolle Pausengestaltung:
„Die Pause kann genutzt werden, um sich zu
bewegen: bei einem Erholungsspaziergang an
der frischen Luft, mit Dehnungs- oder Locke-
rungsübungen. Bandscheiben werden durch
solche regelmäßigen Bewegungsübungen
entlastet und der Kreislauf wird angeregt.“
„Pausen bieten weiterhin die Möglichkeit,
Gespräche mit Kollegen zu führen und soziale
Kontakte zu pflegen. Das fördert ein gutes
Betriebsklima.“ [71]
Diese Allgemeinplätze sind, so altbacken
sie klingen mögen, trotzdem auch für die
heutige Non-Stop-Gesellschaft gültig.
In Deutschland werden die Pausen noch
nicht zum Powernapping genutzt, - dazu
später mehr-, sondern, wenn überhaupt, um
mit den immer gleichen Kollegen über die
Arbeit zu sprechen oder Erledigungen zu
tätigen.
Ändert man schon einige Kleinigkeiten an
diesem Verhalten, entspricht man nahezu
dem empfohlenen Pausenverhalten, z.B.
Erledigungen mit dem Rad zu machen oder
mit den Kollegen nach dem Mittagessen
eine Runde zu drehen.
In unserer Arbeitskultur ist jedoch nicht die
Pausengestaltung das Problem, sondern dass
95 Prozent der Arbeitnehmer auf Zeitdruck
mit höherem Arbeitstempo und dem Ver-
zicht auf Pausen reagieren.
Da Zeitdruck ein nahezu allgegenwärtiger
Faktor in der Non-Stop-Kultur geworden
ist, verdeutlicht sich das Problem.
71 Amt für Arbeitsschutz Hamburg (2008): „Arbeits-zeit, Pausen und Erholung gehören zusammen.“,3. Auflage; Hamburg: Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz, S. 1272 Fundstück, Stand: 04.10.2008; http://swissmiss.typepad.com/weblog/
[72]
76
„Wie geht das?“„Die Zeit einholen.“„Aber wie?“„In der Gegenwart leben“, sagt er.
Uwe Neukamm - Bauer
Entschleu-nigung»Die Tyrannei des Augenblicks kann man
nur wirksam bekämpfen , wenn die Gesell-
schaft Bremsen als integralen Bestandteil in
ihre Struktur einbaut“ schreibt,
Thomas Hylland Eriksen in seinem Buch
„Die Tyrannei des Augenblicks“. [73]
„Alles zu seiner Zeit“, das Sprichwort aus
alten Tagen, ist hinfällig geworden. Denn
alles ist jederzeit präsent und nahezu im
selben Augenblick schon veraltet.
Wir leben mit einem Blick, der fest auf
einen zwei Sekunden in der Zukunft
liegenden Punkt gerichtet ist. [74]
In gesellschaftlich angeregtem Bremsen
sieht der norwegische Ethnologe Thomas
Hylland Eriksen die Möglichkeit zur
Verlangsamung der Gesellschaft.
Er geht davon aus, dass die Langsam-
keit beschützt werden muss. So schlägt
er „Langsamkeitszonen“ vor, in denen
Trödeln, Dösen und Flanieren nicht nur
erlaubt, sondern regelrecht erwünscht ist.
So wird der Mensch gezwungenermaßen
gebremst und kann diese „verlangsamte“
Zeit nutzen um gedanklich zur Ruhe zu
kommen.
Eriksen ist Befürworter einer längeren
Mittagspause, bzw. fordert die Gesellschaft
auf, auch ab und zu 3-stündige Mittag-
pausen zu machen um mit den Kollegen in
Ruhe beim Picknick zu sprechen.
73 Eriksen, Thomas H. (2000): Die Tyrannei des Augenblicks. Die Balance finden zwischen Schnellig-keit und Langsamkeit; Freiburg: Herder Verlag, S. 1574 ebenda, S. 224
78
Veränderte Rahmenbedingungen sind sehr
häufig motivierend und bringen „neues
Licht“. So sind Türrahmengespräche oft
sehr viel effektiver und fruchtbarer als lange
Meetings und Korrespondenzen.
Denn es ist der veränderte Ausgangspunkt,
der andere Blickwinkel, um über Probleme
oder Lösungen zu sprechen.
Erikson weist auf die Problematik hin
immer alles gleichzeitig und schnell erle-
digen zu müssen und zu wollen. So bleibt
keine Zeit und kein Platz um Gedanken zu
beenden, zu formulieren und in Ruhe zu
durchdenken.
Am 7. Juni 2000 organisierte Eriksen in
Oslo eine „langsame Mittagspause“.
Die Betriebe schlossen von elf bis vierzehn
Uhr und die Mitarbeiter sollten die Stun-
den in Ruhe genießen. Läden boten „slow
food“ an, einige Menschen setzten sich mit
Picknickkörben auf belebte Plätze, wieder
andere gingen spazieren.
Wenn diese „langsame Mittagspause“ zum
Standard würde, stellt sich Eriksen vor,
wäre es wieder möglich mal zwei oder sogar
drei Gedanken hintereinander denken zu
können.
Mancher würde entdecken, dass die Welt
sich weiter dreht, auch wenn man ein Buch
liest oder mit Kollegen redet statt vor dem
Computer zu sitzen. Weitere Ideen von
Eriksen sind emailfreie Monate für jeden
Angestellten und mobiltelefonfreie Zonen.
Er fordert Restaurants, Banken und andere
öffentliche Gebäude auf, Handy- frei zu wer-
den um bewusst zum „Bremsen“ gezwungen
zu werden. Denn er sieht in diesen Nichts-
tu-Zeiten einen „verborgenen Segen“,
denn: „Kreativität wird durch Lücken
geschaffen.“ [75]
Erikson sieht in den scheinbar lästigen
Pausen, wie z.B. das Warten auf den Zug ein
großes Potenzial an Kreativität.
Er ist nicht der erste, der behauptet, in den
unmöglichsten Situationen, kämen die bes-
ten Einfälle. Doch regt er seine Leser dazu
an, diese Lücken nicht mit „schneller Zeit“
wie SMS schreiben oder Telefonieren zu
füllen, sondern die Lücke Lücke bleiben zu
lassen und so Raum für Ideen zu schaffen.
Wir müssen lernen,
die Zeit von Zeit zu Zeit zu vergessen.
Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Bewe-
gungen, die sich die Entschleunigung der
Gesellschaft zum Ziel gemacht haben. Slob-
bys (slower but better working people) und
Slow Food (Bewegung zurück zum bewuss-
ten genussvollen Essen) sind Beispiele der
sogenannten Work&Life Balance Bewegung.
Buchtitel wie: „Was ich wirklich brauche:
Inneren und äußeren Ballast abwerfen und
wieder unbeschwert leben“ und „Weniger
arbeiten, mehr leben. Strategien für ein
konsequentes Downshifting“ sollen helfen
das eigene Leben besser in den Griff zu
bekommen.
Coachings zum Thema Zeitmanagement
boomen und Erfahrungsberichte wie „Ich
bin dann mal weg“ von Harpe Kerkeling auf
der Suche nach Spiritualität weilen Wochen
in den Bestsellerlisten.
Nichts ist so wichtig wie mein eigenes Leben - und das besteht halt aus dem privatem Glück und dem Feierabend. [76]
Eine Freundin arbeitet in der Regel 60
Stunden die Woche und verplant all ihre
Wochenenden um zu Anti-Stress-Semi-
naren zu fahren. Hier wird das Paradox die-
ser scheinbaren Gegenbewegung deutlich.
Die Leute, die wissen, dass sie ihr Leben nur
jetzt leben können, versuchen ihren Lebens-
stil zu ändern.
Doch dies bedeutet in der ersten Linie Ver-
änderung und Veränderung bedeutet Stress.
So haben zwar viele Menschen einen guten
Willen und wollen ja auch das Leben
bewusster leben und genießen, doch stoßen
sie immer wieder an alte Gewohnheiten und
Bequemlichkeit.
Zudem kann der „Bekehrte“ kaum mit
Unterstützung aus der Umwelt rechnen,
denn die Abwesenheit des Einzelnen führt
auch zu Veränderungen in der Folgekette.
Wie schon im Kapitel Schnelligkeit [77]
zitiert, neigen die Menschen dazu „alles
auszublenden, was für ihre persönlichen
Ziele nicht von Bedeutung ist.“
Diese Veränderung kann also kein indivi-
duelles Vorhaben bleiben, sondern muss das
einer ganzen Kultur werden.
75 Eriksen, Thomas H. (2000): Die Tyrannei des Augenblicks. Die Balance finden zwischen Schnellig-keit und Langsamkeit; Freiburg: Herder Verlag, S. 21876 Zitat aus einem Interview im Freundes- und Bekanntenkreis zum Thema Arbeitskultur, Sep. 200877 Opaschowski, H. (2002): Wir werden es erleben. Zehn Zukunftstrends für unser Leben von morgen; Darmstadt: Primus Verlag, S. 254
80
„Ich hasse es, wenn mein Gehirn wieder so aufgekratzt ist von der großflä-chigen Stromim-pulszufuhr, dass ich mich still fluchend und hellwach im Bett herumwälze und am nächsten Tage doch wieder alle guten Vorsätze in den Wind schieße und doch wieder noch „schnell“ meine Mails kontrollie-ren muss . . .“ [78]
80
Der Kultursoziologe Hartmut Rosa schreibt
in seinem Buch “Beschleunigung.
Die Veränderung der Zeitstrukturen in der
Moderne”, dass Entschleunigung die mäch-
tigste Gegenideologie des 21.Jahrhunderts
werden könnte.
Auf die Frage, ob er zum Ausstieg aus der
Beschleunigung auffordere, antwortet er:
„Ich sehe nirgends eine Gegenutopie. Es gibt
viele Zwangs-Entschleunigte. Aber ich sehe
nicht den kulturellen Gegentrend, der daraus
eine tragfähige neue Gesellschaftsform macht.
Meine Idee ist nicht der individuelle Ausstieg,
sondern ein politisches Programm, das auf
Entschleunigung zielt. Die Möglichkeit, ein
erfülltes Leben führen zu können, hängt von
sozialen Kontexten ab. Wenn die falsch sind,
dann gibt es keine billige Lösung. Es geht nicht
darum, weniger vom Falschen zu machen.
Sondern endlich das Richtige.“ [79]
Damit hat Herr Rosa recht, es reicht nicht
die Arbeit zu reduzieren. Die Einstellung
gegenüber der Arbeit, bzw. die Lebensein-
stellung muss verändert werden.
Nur wir sind verantwortlich für unser
Leben, also sind auch wir es, die es verän-
dern können.
78 Leserkommentar zu Soboczynski, A. (2008): „Der Feierabend hat Feierabend.“, Ressort: Gesellschaft, 28.08.2008; Hamburg: Die Zeit79 Rosa, H. (2007): „Wir wissen nicht mehr, was wir alles haben.“, Ressort: Gesellschaft, 19.12.2007; Ham-burg: Die Zeit
82
Andere Län-der andere Sitten.Da die meisten von uns nach der Mittags-
pause in ein Leistungsloch (siehe Leis-
tungskurve, Seite 73) fallen, müssen wir
uns zusammenreißen und gegen die Natur
ankämpfen um aufmerksam und wach
zu bleiben. Die Zahl der übermüdungsbe-
dingten Verkehrsunfälle steigt nachmittags
deutlich an. Mit Kaffee lässt sich diese
Mattheit zwar kurzfristig vertreiben.
Sobald die aufputschende Wirkung jedoch
nachlässt, fühlt man sich noch erschöpfter.
Schläfrig sein ist eine Sünde in der Tempo-
gesellschaft. Um dem vorzubeugen nutzen
die Japaner jede freie Minute für ein Nicker-
chen. Das, was in Deutschland häufig noch
verpönt ist, gilt in Japan als Zeichen von
besonderem Einsatz. Die Mitarbeiter erholen
sich um gestärkt weiter arbeiten zu können.
Inemuri gilt als gesund und Zeichen für
harte Arbeit, Fleiß und Überstunden.
Das Zeichen „I (ru) “ steht für „anwesend
sein“ und „nemuri“ für „schlafen“.
Das japanische Inemuri ist hier unter
dem Namen Powernapping bekannt und
sollte nicht länger als 20 Minuten dauern.
Ansonsten fällt man in die Tiefschlafphase
und ist nach dem Nap erschöpfter als
vorher. Jürgen Zulley [80] vom Schlafme-
dizinischen Zentrum des Uniklinikums
Regensburg betont, dass es gar nicht vor-
dergründig um den Schlaf geht, denn das
Wichtige am Powernapping ist die Entspan-
nung, das Herunterfahren des Körpers für
eine kurze Zeit.
Dass Japaner anscheinend auf Knopf-
druck einschlafen können, erklärt sich die
Japanologin Brigitte Steger zufolge mit dem
dortigen Familienleben.
„Babys und Kleinkinder schlafen oft jahre-
lang mit den Eltern oder Großeltern in den
gleichen „Futons“. So lernen Kinder auch
dann zu schlafen, wenn um sie herum noch
Betriebsamkeit herrscht. „Der Vergleich mit
den Gewohnheiten in anderen Teilen der
Welt zeigt laut Steger, dass das Schlafver-
halten nicht nur biologisch bedingt, sondern
eben auch angelernt ist - und somit umtrai-
niert werden kann.“ [81]
Auf der diesjährigen Macworld 08 in San
Francisco wurde ein professionelles Pow-
ernapping-System names Metronap [82]
vorgestellt. Die New Yorker Firma entwi-
ckelt Ruhe-Kugeln mit bequemer Liege,
in denen die Psyche des Mitarbeiters mit
beruhigenden Klängen und Lichtreflexen
positiv beeinflusst werden soll. 20 Minu-
ten in der Kugel sollen sich anfühlen wie
3 Stunden Schlaf. Firmen wie Google,
Proctor&Gamble, PWC und Cisco setzen
diese Kugeln schon erfolgreich ein.
Ein Experiment der NASA zeigte, dass die
Leistungsfähigkeit nach einem Powernap
um bis zu 20 Prozent zunimmt.
Hochgerechnet auf einen 8-Stunden Tag
entspricht dies einem Zeitgewinn von 1,5
Stunden.
80 Zulley, J. (2005): „Mein Buch vom guten Schlaf: Endlich wieder richtig schlafen. Was nachts in unserem Körper abläuftt.”; München: Verlag Zabert Sandmann81 Steger, B. (2007): Inemuri. Wie die Japaner schlafen und was wir von ihnen lernen können; Reinbek: Rowohlt Verlag82 MetroNaps, Fatigue Risk Management, Stand: 03.11.2008; Online: http://www.metronaps.com/
84
Bedenkt man, dass 25 Prozent der Deut-
schen über Tagessmüdigkeit klagen und
Studien belegen, dass Müdigkeit zu einer
Häufung von Arbeitsunfällen in den Nach-
mittagsstunden führt, wundert man sich,
dass der Powernap in Deutschland noch
nicht richtig Fuß gefasst hat.
Weltweit rechnet man, dass jährlich durch
Müdigkeit und der daraus resultierenden
Unaufmerksamkeit am Arbeitsplatz etwa
400 Milliarden Euro verloren gehen. [83]
Die Problematik der Akzeptanz des
Powernaps besteht mit Sicherheit in der
„Umgewöhnung“ und in der Tatsache, dass
Schlafen in der Regel etwas sehr Intimes
und Privates ist. Öffentliches Schlafen kostet
daher Überwindung.
Neben dem teilweise etwas grotesken Aus-
sehen Schlafender kommt das Gefühl des
„Ausgeliefert seins“ hinzu. Da wir nicht in
unserem vertrauten, ummauerten Schlaf-
zimmer sein können, sondern offen auf dem
Schreibtisch einnicken sollen, gehört eine
Portion Mut dazu, sich so der Öffentlichkeit
zu präsentieren.
Da der Powernap jedoch nur Vorteile mit
sich bringt und bewiesenermaßen gesund
hält und die Mitarbeiter zu mehr Leistung
anregt, also eine klassische WIN-WIN Situ-
ation ist, setzt sich das „Mittagsschläfchen“
auch bei uns immer mehr durch.
Beim ADAC, der steiermärkischen Sparkasse
und im Dortmunder Rathaus ist ein Mit-
tagsschlaf in den extra dafür hergerichteten
Räumen gerne gesehen.
Die Stadtverwaltung Vechta nimmt schon
seit 2000 erfolgreich an einem Powernap
Pilot Programm teil und kann seit Jahren
Erfolge verbuchen. So fühlen sich die Mit-
arbeiter motivierter und leistungsstärker.
Zudem sei das Betriebsklima sehr viel besser
als vor dem Pilotprogramm.
Im Office Innovation Center des Fraunhofer
Institutes Stuttgart beschäftigt man sich von
Berufs wegen mit dem Büro von morgen.
Dort wurde ein Raum entwickelt, Rück-
zugsraum genannt, an dem ein Vorhang aus
Eisenfäden beim Eintritt symbolisch alle
Sorgen abstreifen soll.
Ein Scanner erkennt, welche Person den
Raum betritt und passt Luftfeuchtigkeit,
Wärme und Musik individuell an. Diese
Entspannungsoasen sollen die optimalen
Bedingungen für maximale Entspannung
stellen.
In Zukunft wird es immer mehr solcher Ent-
spannungsoasen und Powernap-Akzeptanz
geben müssen.
Denn Yogakurse und Entspannungssemi-
nare am Wochenende zu besuchen ist nicht
Sinn der Sache.
Die Ursache muss verändert werden, nicht
die Folge.
Innerhalb dieser Arbeit kann nicht auf die
Problematik der Überinformation und der
Datenflut eingegangen werden. Ebenso
wird die 24-Stunden-Erreichbarkeit und die
daraus resultierende Veränderung unserer
Gesellschaft nur flüchtig gestreift. Dies
sind große Themen und bedürfen einer
eigenen Arbeit. Nichtsdestotrotz gehören
sie untrennbar zu der hier behandelten
Thematik.
Dass Unerreichbarkeit der neue Luxus sein
wird, wie Dr. Miriam Meckel in ihrem Buch
„Das Glück der Unerreichbarkeit“ prognos-
tiziert, zeigt ein weiteres Mal, dass die Ver-
änderung der Folge nicht das Problem löst.
Nur weil man es schafft 3 Tage keine Emails
zu checken, werden diese nicht weniger.
Sie häufen sich an und der vermeintliche
Luxus der Unerreichbarkeit wird zur Belas-
tung.
Naja, so 10-15 Überstunden mache ich die Woche. Aber ich geh zu Anti-Stress-Seminaren am Wochenende. Das bügelt das dann wieder aus. [84]
83 Nano-Online (2003): Powernapping via Mittag-schlaf, Stand: 12.11.2008;Online: http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/nano/cstuecke/46618/index.html84 Zitat aus einem Interview im Freundes- und Bekanntenkreis zum Thema Arbeitskultur, Sep. 2008
86
Emailfreie Freitage & Quiet TimeUrsachenveränderung wird seit einigen
Monaten in Amerika betrieben.
Intel und PBD gehören zu den ersten
amerikanischen Unternehmen, die 2007
den No-Email-Friday eingeführt haben.
Das kalifornische Marktforschungsinstitut
Radicati schätzt, dass jeder Mitarbeiter im
Jahr 2007 47 E-Mails täglich am Arbeits-
platz verschickt hat. Das entspricht einem
Anstieg von 27 Prozent gegenüber dem
Jahre 2006. Eine Studie der University of
Glasgow ergab, dass Beschäftigte bis zu 40
Mal in der Stunde ihr E-Mail-Programm
aufrufen. [85]
Das Marktforschungsinstitut IDC erwartet,
dass 2007 auf der ganzen Welt jeden Tag
97 Milliarden E-Mails verschickt werden
– davon sind 40 Milliarden jedoch uner-
wünschte Werbebotschaften.
Bei PBD wurden die „No E-Mail Fridays“
nicht nur eingeführt um die Angestellten
zu entlasten, sondern auch um die direkte
Kommunikation mehr anzuregen.
Viele Dinge lassen sich in einem persön-
lichen Gespräch sehr viel schneller
kommunizieren und zudem vermeide man
Missverständnisse, da Körpersprache und
Tonfall nicht, wie bei einer Email, fehlen.
„Wir merken das auch an anderen Tagen als
an Freitagen. Die Menschen gehen allgemein
bewusster mit E-Mails um,“ so eine Spreche-
rin der Firma.
Die Firma Intel erweitert das Experiment
noch. Die Produktivität der Ingenieure
soll erhöht werden. Dazu wurde die „Quiet
Time“ eingeführt.
An jedem Dienstagmorgen sollen sich die
Ingenieure abschotten, um in Ruhe arbei-
ten zu können. In dieser Zeit gibt es weder
Besprechungen noch kann man E-Mails
lesen und schreiben. Anrufe werden direkt
auf den Anrufbeantworter umgeleitet.
Letztendlich dienen beide Projekte nur
einem Ziel, bestätigt der Intel-Ingenieur
Nathan Zeldes: „Man ist einfach weniger
kreativ, wenn man ständig unterbrochen
wird.“ [86]
Die von Thomas Erikson geforderten
gezwungenen Bremsen scheinen also
tatsächlich Anklang zu finden und was
utopisch klang, könnte ein kleiner Schritt in
die richtige Richtung sein.
85 Lindner, R. (2007): Gegen den Email-Wahnsinn, Ressort: Wirtschaft, 28.12.2007; Frankfurt am Main: FAZ, Frankfurter Allgemeine Zeitung86 ebenda
Obwohl diese Eingriffe in den Arbeitsalltag
erstmal recht simpel und einfach erschei-
nen, so haben sie doch große Wirkung.
Allein das Bewusstwerden und das hinter-
fragen, ob diese eine Email nötig ist oder
nicht, ob es nicht viel schneller gehen würde
die Person anzurufen, durchbricht die
Gewohnheit der Angestellten. Diese kleine
„Zwangshinterfragung“ durchbricht auto-
matisierte Abläufe und schafft eine Ausein-
adersetzung.
Warum lese und beant-worte ich um 23 Uhr noch dienstliche Emails?Weil meine Kollegen es auch tun. Weil alle es tun. Weil der Mensch ein Herdentier ist und der Herde
oftmals blind folgt, ohne seine Hand-lungen weiter zu durchden-ken. Dieses schreibt ein Leser der FAZ zur Frage-
stellung, wie er seinen Feierabend gestaltet
und zeigt einen wichtigen Punkt auf.
Die Gewohnheit und der Herdentrieb lassen
die Menschen zu Lemmingen werden.
Gerne würden wir diese Aussage negieren,
doch schaut jeder in seinen eigenen Postein-
und ausgang, wird irritierend die Zahl
der Emails nur mit einem: „Ich musste...“
kommentiert werden können.
88
Fazit und AusblickRichard Sennett sieht den „way out“„ in der
Nichtbereitschaft sich auf eine „Wildge-
wordene Wirtschaft“ einzulassen, Thomas
Errikson in den Zwangsbremsen, Hartmut
Rosa in der Selbsterkenntnis und Karlheinz
Geißler im Verzicht.
Freizeit, Familie und soziale Kontakte
sind nicht etwas, was in die kleinen, freien
Lücken zwischen Terminen und Projekt-
abgaben gestopft werden kann und sollte.
Diese Arbeit hat gezeigt, dass die Auseinan-
dersetzung und die kritische Hinterfragung
unserer heutigen Arbeitskultur nötig ist,
um reflektierend gegebenenfalls präventive
Modelle zu entwickeln und zu fördern.
In dieser Arbeit habe ich versucht, mich
Antworten auf die Fragen „Warum ist das
so?“ und „Warum ist die Gegenwehr so
matt?“ zu nähern.
Wie ist das möglich, dass wir unseren
eigenen Bedürfnissen aus freien Stücken
entgegenarbeiten? Wieso tun wir -wir, die
gebildeten Menschen - dies?
Die Persönlichkeit wird heute über die
Arbeit definiert. Wer macht was?
Was bist du? Nicht selten sind dieses die
ersten Fragen bei einer neuen Begegnung.
Die Arbeit definiert uns. Die Arbeit ist nicht
88
mehr nur ein Teil von unserem Leben,
sondern ein Großteil.
Nicht nur die oben genannten Herren, die
Zukunfts- und Zeitforscher, die Balance-
Coachs und nahezu alle Menschen, die ich
kenne, sind sich einig: Auf dem Sterbebett
sagt keiner, ich hätte gerne mehr Zeit im
Büro verbracht.
Und trotzdem lässt sich keine Formel finden
die Arbeitskultur jetzt sofort zu ändern.
Kultur muss sich entwickeln. So bin ich in
meiner Recherche immer wieder auf die
vermeintlichen Anfänge und Ursachen des
heutigen Zustandes gestoßen.
Mit der Erfindung der Schrift wurde es dem
Menschen ermöglicht, Sachen zu vergessen
und die Hirnkapazitäten nicht vollends
auszunutzen. Der Telegraphenmast kreierte
eine erste Idee der raumlosen Kommunika-
tion und das Telefon verband die Menschen
nicht mehr persönlich miteinander, sondern
nur noch per Kabel. Durch die Textverar-
beitung wurde uns nicht-lineares Schreiben
und Denken vereinfacht. Nietzsche schreibt
in einem Brief aus dem Jahre 1882: „unser
Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedan-
ken“, nachdem er angefangen hatte auf der
Schreibmaschine zu tippen.
Das Medium formt den Inhalt. Unser
Medium ist der Computer, das Handy und
das Netz. Das Verhältnis von Technologie,
Kultur und Gesellschaft ist sehr komplex
und wandelt sich permanent in verschiedene
Richtungen. Rebellion, Zwang oder Verzicht
- noch zeigt sich keine nachhaltige Reaktion
auf diese Ansätze, aber eine Reflexion.
Gibt es aus der Perspektive des Designs
Möglichkeiten in den Prozess der Überar-
beitung zu intervenieren?
Gibt es gestalterische Möglichkeiten diese
Reflexion zu fördern?
Können Stolpersteine, Irritationen und
Bremsen die Maschinerie in ihrer Selbstver-
ständlichkeit und Willenlosigkeit stören?
Bedeutende Soziologen, Politologen, Wis-
senschaftler und Ärzte haben sich bereits
mit der Problematik der Überarbeitung
und des Büros als Zustand auseinanderge-
setzt, z.B. in sozialkritischen Büchern oder
Vorträgen. Ebenso wurde Downshifting und
Work&Life Balance in unzähligen Maga-
zinen und Büchern thematisiert. Trotz der
zahlreichen Beispiele, die in dieser Arbeit
die Brisanz der Problematik verstärken
sollen, werde ich das Gefühl nicht los, dass
es sich teilweise auch um ein „gemachtes
Problem“ handelt.
Es ist „in“ sich mit sich und seinem Geist zu
beschäftigen. Es ist „in“ den Kosmos um sich
selber zu bauen und andere „Unbeteiligte“
…..daran teilhaben zu lassen, indem man
sich mit Macbook und Projektskizze ins
90
Café setzt und seinen Arbeitsplatz an jeden
x-beliebigen Ort verlegt. Die vermeintliche
Freiheit des selbstbestimmten Lebens zeleb-
rieren wir öffentlich und demonstrativ.
Es ist „in“ viel zu arbeiten und begehrt zu
sein. Es ist eine Bestätigung der Daseinsbe-
rechtigung. Die Eitelkeit wird befriedigt.
Ich will nicht behaupten, dass die hier
beschriebene Gesellschaftsordnung eine
Mode ist. Es ist eine sich lange entwickelnde
Kultur mit historischem Hintergrund und
eigenen Gesetzen und Normen.
Doch der oberflächliche Umgang mit den
Problemen, die diese Kultur mit sich bringt,
hat einen Modecharakter. Überarbeitung,
Burnout und soziale Inkompetenz sind und
bleiben Probleme, doch anstatt sich mit
diesen auseinander zu setzen, zelebrieren
wir sie.
Die genannten Zahlen, der Geburtenrück-
gang und der Verlust von Leichtigkeit im
Leben sollten Faktoren genug sein, um
dieses Thema als Problem wahrzunehmen
und sich damit auseinander zu setzen und
nach Lösungsansätzen zu suchen.
Dass die oben genannten „renommier-
ten“ Persönlichkeiten und auch alle meine
Recherchen zu diesem Thema nur ein Fazit
haben, nämlich, dass der Kampf um die
Grenze zwischen Arbeit und Freizeit im
Grunde im Kopf jedes einzelnen beginnen
muss, um dann gesellschaftlich weiter-
gedacht zu werden, akzeptiere ich zwar,
finde es jedoch schwach und kaum eine
ausreichende Basis um (heute) nachhaltige
Lösungsansätze zu bieten.
Daher bietet diese Arbeit keine Lösungen,
sie unterstreicht offene Fragen und ergänzt
diese.
Fragen sind spannender als Antworten.
Denn Fragen lassen, gerade im Design,
offenere Interpretationen zu und regen die
Menschen zum Nachdenken an. Mit meiner
gestalterischen Arbeit möchte ich Fragen
provozieren und zu Diskussion anregen.
Soziologisch, psychologisch und philo-
sophisch betrachtet, konnte ich in dieser
Arbeit einige Themen nur grob anreißen
und nicht in ihrer Tiefe darstellen.
So wurde die theoretische Reflektion also
nur so weit getrieben, als das sie für meine
Designpraxis von Interesse blieb und im
Rahmen des Projektes zu realisieren war.
Daher wäre es mit Sicherheit interessant
unter weiteren designforschungs-spezi-
fischen Charakteristika diese Thematik zu
untersuchen und zu vertiefen. Auch eine
tiefer gehende Betrachtung im Hinblick auf
den geschlechtsspezifischen Umgang und
differenziertere Berufsgruppen böten span-
nende Anknüpfungspunkte.
Im gestalterischen Teil der Arbeit möchte
ich Reflexionen und Fragen bezüglich
unsere „Jetztzeit“ provozieren.
„Die Vergangenheit und die Gegenwart sind
unsere Mittel; allein die Zukunft ist unser
Ziel. Deshalb leben wir nie, sondern hoffen
auf das Leben, und da wir uns ständig bereit
halten, glücklich zu werden, ist es unaus-
bleiblich, dass wir es niemals sind.“[87]
Auch Blaise Pascal [88] hinterfragte in
diesem Zitat aus dem Jahre 1600(ca.), wenn
auch aus anderen Motiven (der christli-
che Glaube) getrieben, die „Jetztzeit“ und
formuliert damit für mich sehr passend ein
Phänomen unserer Zeit. Für was tun wir das
alles? Für ein erfülltes Später? Wirklich?
Was will ich eigentlich? Will ich bei all
der Hektik, bei all dem Stress Ruhe und
Entspannung? Habe ich aber nicht dann
gleichzeitig Angst das Leben zu verpassen,
Den Anschluss zu verlieren oder nicht mehr
up-to-date zu sein?
Meine gestalterischen Fragestellungen sind
ein Versuch diese Sinnfragen lauter und
aggressiver zu stellen.
„Kein Übermaß ist sinnlich wahrnehmbar.
Zu viel Lärm macht taub; zu viel Licht blen-
det; was zu weit ist oder zu nah ist, hindert
das Sehen…“ Das Übermäßige ist uns feind-
lich und sinnlich unerkennbar. Wir empfin-
den es nicht mehr, wir erleiden es“[89]
Das Übermaß scheint sich in unserer
heutigen Zeit manifestiert zu haben. Diese
Gedanken von Blaise Pascal möchte ich in
meiner praktischen Arbeit aufzeigen und
das „Über“ den Menschen auf satirische und
irritierende Weise nahe bringen.
Wie blank müssen die Nerven liegen, um
gesehen zu werden?
Ziel der in der praktischen Arbeit vorgestell-
ten Lösungsansätze sind antizipative und
integrative Interventionen. Sie greifen in
ein großes Ganzes ein und provozieren eine
Veränderung indem sie Situationen projek-
tieren.
87 Pascal, B. (1997): Gedanken: Über die Religion und einige andere Themen, Pensée 47; Ditzingen: Reclam88 Blaise Pascal war französischer Mathematiker und Philosoph und lebte von 1623 bis 1662. Er verfasste neben bedeutenden mathematischen Formeln rund 60 Pensées „Gedanken über die Religion und andere Themen89 Pascal, B. (1997): Gedanken: Über die Religion und einige andere Themen, Pensée 61; Ditzingen: Reclam
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