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Das Kind, das die Engel weinen hörte ______________ Märchen von Leben und Tod

DAS KIND, DAS DIE ENGEL WEINEN HÖRTE - Märchen von Leben und Tod

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Märchen von Leben und Tod - Tiefste Lebenserfahrungen, Gedanken und Gefühle sind oft nur mit Hilfe eines Bildes, eines Symbolsoder einer Geste darstellbar; unsere Alltagssprache reicht dafür häufig nicht aus. Märchen und Erzählungen können uns für die Bildsprache der Grenze zwischen Leben und Tod sensibilisieren. Die Bilder sind möglicherweise auch Trost und Ermutigung für Sterbende und Hinterbliebene, da sie deren eigene Erfahrungen, Fragen und Gefühle widerspiegeln und ein neues Licht auf sie werfen können.Bei der Auswahl einer Erzählung oder eines Märchens ist es wichtig, die Phase zu berücksichtigen, in der sich der Kranke oder Sterbende gerade befindet. Man sollte sich stets fragen: Können die darin erscheinenden Bilder den Kampf gegen eine Krankheit unterstützen oder sind sie eher dazu geeignet, das Loslassen und das Akzeptieren des unvermeidlichen Todes zu fördern? Diese Sammlung ist in drei Teile mit folgenden Themen gegliedert:Auf denn Weg zur Grenze zwischen Leben und Tod - An der Grenze und Jenseits der Grenze.

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Das Kind,

das die Engel weinen hörte …

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Märchen von Leben und Tod

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Das Kind, das die Engel weinen hörteMärchen von Leben und Tod

1999

Vorwort

Tiefste Lebenserfahrungen, Gedanken und Gefühle sind oft nur mit Hilfe eines Bildes, eines Symbolsoder einer Geste darstellbar; unsere Alltagssprache reicht dafür häufig nicht aus. Märchen undErzählungen können uns für die Bildsprache der Grenze zwischen Leben und Tod sensibilisieren. DieBilder sind möglicherweise auch Trost und Ermutigung für Sterbende und Hinterbliebene, da sie dereneigene Erfahrungen, Fragen und Gefühle widerspiegeln und ein neues Licht auf sie werfen können.

Bei der Auswahl einer Erzählung oder eines Märchens ist es wichtig, die Phase zu berücksichtigen, inder sich der Kranke oder Sterbende gerade befindet. Man sollte sich stets fragen: Können die darinerscheinenden Bilder den Kampf gegen eine Krankheit unterstützen oder sind sie eher dazu geeignet, dasLoslassen und das Akzeptieren des unvermeidlichen Todes zu fördern?

Diese Sammlung ist in drei Teile mit folgenden Themen gegliedert: Auf denn Weg zur Grenzezwischen Leben und Tod - An der Grenze und Jenseits der Grenze.

Der erste Teil, Auf dem Weg zur Grenze zwischen Leben und Tod, kann vor allem zum Nachdenkenüber folgende Fragen anregen: Was ist eigentlich der Tod? - Welches Verhältnis habe ich zum Tod? -Lebe ich mit dem Tod?

Der zweite Teil, An der Grenze, vermittelt Bilder vom Überschreiten der Grenze, vom Sterben,vom Sich-Lösen des Geistes vom Körper. [7]

Der dritte Teil mit dem Thema Jenseits der Grenze enthält Bilder von Menschen, die darum ringen,einen Verlust zu akzeptieren, und von tief Trauernden, die den Verlust eines geliebten Menschen nichtfassen können. Einige dieser Märchen und Erzählungen vermitteln auch Bilder einer Nahtodes-Erfahrung und eines Lebens nach dem Tode.

Mit den Märchen und Erzählungen dieses Buches kann in vielfältiger Weise umgegangen werden.Indem man sie selber liest, wird man sensibler für die Sprache der Bilder auf der Grenze zwischenLeben und Tod und hat somit eher die Möglichkeit, im Kontakt mit einem Schwerkranken oderSterbenden diesem ein Bild, ein Märchen oder eine Erzählung anzubieten, die an sein Erlebenanknüpfen.

Die Bilder können auch unsere Anschauung von Leben und Tod verändern und uns etwa mitfolgenden Fragen konfrontieren: Wie stehe ich zu meinem eigenen Tod? Welche Bilder und Gefühle ruftmir der Gedanke an den Tod hervor? Habe ich den Gedanken an den Tod in mein Leben integriert? -Unsere Antworten auf diese Fragen beeinflussen stark unseren Umgang mit kranken und sterbendenMenschen in der Familie oder im beruflichen Umkreis.

Für einen Schwerkranken oder Sterbenden kann es eine Wohltat sein, ein Märchen, eine Erzählungoder ein Gedicht vorgelesen oder erzählt zu bekommen, deren Bilder ihn tief berühren können. In einerWeise, die völlige Freiheit läßt, handeln Märchen und Erzählungen von tiefen Lebensweisheiten,Erfahrungen, Gefühlen, Fragen, Ängsten und Zweifeln, die den Menschen an der Grenze zwischenLeben und Tod bewegen können. Dabei ist zu entscheiden, ob der gewählte Text zur augenblicklichen

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Situation und Stimmung paßt. [8] Hat der Kranke oder Sterbende das Bedürfnis nach einem Gesprächoder möchte er seine Gefühle ausdrücken, kann das Vorlesen oder Erzählen unter Umständen mißdeutetwerden, als gehe man einem echten Kontakt aus dem Wege.

Wichtig ist auch, darauf zu hören, welche Bilder Sterbende selbst erleben und beschreiben. An siekann man anzuknüpfen versuchen, davon ausgehend, daß diese Bilder innere Erfahrungen auf derSchwelle zwischen Leben und Tod ausdrücken.

In Arie Boogerts Buch Beim Sterben von Kindern wird anhand von Beispielen erläutert, wie manmit Märchen und Erzählungen an die Erlebniswelt von schwerkranken oder sterbenden Kindernanknüpfen kann. Für sie ist die Bildsprache ein adäquates Ausdrucksmittel und leistet mehr Hilfe alsnoch so viele Worte, mit denen wir zu erklären versuchen, was beim Tod eines Menschen geschieht.

Märchen und Erzählungen können auch Ausgangspunkt für ein Gruppengespräch (in Unterricht,Ausbildung, kirchlichen Gruppen usw.) über den Tod sein, zum Beispiel im Rahmen vonGesprächsrunden zum Themenbereich >Sterben und Trauer< oder >Sterbebegleitung<. Die dabeiverarbeiteten Bilder lassen diese Erfahrungen, Fragen und Gefühle in einem neuen Licht erscheinen. Eskann eine Befreiung sein, sich den Fragen von Leben und Tod einmal aus einer ganz neuen Perspektivezu nähern.

Dasselbe gilt für Selbsthilfegruppen, die sich zum Ziel gesetzt haben, einen Verlust zu verarbeitenoder einen Trauerprozeß zu durchleben (zum Beispiel Eltern eines verstorbenen Kindes, Hinterbliebenenach dem Selbstmord eines Angehörigen). Auch hier kann eine Erzählung oder ein Märchen heilendeWirkung entfalten, indem Bilder helfende Empfindungen auslösen können.

Märchen, Erzählungen und Gedichte können auch Teil einer Erinnerungsarbeit für einenVerstorbenen - zum Beispiel während einer Trauerfeier oder Totenmesse - sein. [9]

Im Nachwort >Die Sprache der Bilder an der Schwelle zwischen Leben und Tod< wird näher auf dieBedeutung dieser Bildsprache eingegangen und zugleich anhand von praktischen Beispielen erläutert,wie man mit Märchen und Erzählungen arbeiten kann.

Vincent van Gogh hat einmal gefragt: »Ist das Leben als Ganzes für uns sichtbar? Oder kennen wirvor dem Tod nur dessen eine Hälfte?«

Die Sprache der Bilder durchbricht die Verengung unserer Existenz auf das rein Sichtbare undrational Erklärbare. Bilder geben uns die Chance, auch einen Teil der unsichtbaren Hälfte unseresLebens kennen zu lernen. Sie können uns etwas von einer anderen Wirklichkeit erzählen, in die derMensch nach dem Tod eintritt.

Bilder von Menschen an der Schwelle zum Tod können wie Lichtstrahlen sein, die durch einegeöffnete Tür fallen - die Tür zwischen Leben und Tod, zwischen den beiden Hälften des Lebens.

Das Licht dieser Bilder kann uns Auftrieb geben und uns zeigen, daß unser Weg auf der anderen Seitedieser Tür, jenseits der Schwelle, weitergeht.

Ich hoffe, daß diese Sammlung von Märchen und Erzählungen Sie inspirieren und ermutigen wird,Ihren Weg zu suchen und Menschen, die an der Schwelle zum Tod stehen, zu helfen.

Bert Voorhoeve

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I. Auf dem Weg zur Grenze zwischen Leben und Tod

Richard von Volkmann-Leander

Die himmlische Musik

Als noch das Goldne Zeitalter war, wo die Engel mit den Bauernkindern auf den Sandhaufen spielten,standen die Tore des Himmels weit offen, und der goldne Himmelsglanz fiel aus ihnen wie ein Regenauf die Erde herab. Die Menschen sahen von der Erde in den offenen Himmel hinein; sie sahen oben dieSeligen zwischen den Sternen spazieren gehen, und die Menschen grüßten hinauf und die Seligengrüßten herunter. Das schönste aber war die wundervolle Musik, die damals aus dem Himmel sich hörenließ. Der liebe Gott hatte dazu die Noten selber aufgeschrieben, und tausend Engel führten sie mitGeigen, Pauken und Trompeten auf. Wenn sie zu ertönen begann, wurde es ganz still auf der Erde. DerWind hörte auf zu rauschen, und die Wasser im Meer und in den Flüssen standen still. Die Menschenaber nickten sich zu und drückten sich heimlich die Hände. Es wurde ihnen beim Lauschen sowunderbar zumute, wie man das jetzt einem armen Menschenherzen gar nicht beschreiben kann.

So war es damals; aber es dauerte nicht lange. Denn eines Tages ließ der liebe Gott zur Strafe dieHimmelstore zumachen und sagte zu den Engeln: »Hört auf mit eurer Musik; denn ich bin traurig!« Dawurden die Engel auch betrübt und setzten sich jeder mit seinem Notenblatt auf eine Wolke undzerschnitzelten die Notenblätter mit ihren kleinen goldnen Scheren in lauter einzelne Stückchen; dieließen sie auf die Erde herunterfliegen. Hier nahm sie der Wind, wehte sie mit Schneeflocken über Bergund Tal und zerstreute sie in alle Welt. [13] Und die Menschenkinder haschten sich jeder ein Schnitzel,der eine ein großes und der andre ein kleines, und hoben sie sich sorgfältig auf und hielten die Schnitzelsehr wert; denn es war ja etwas von der himmlischen Musik, die so wundervoll geklungen hatte.

Aber mit der Zeit begannen sie sich zu streiten und zu entzweien, weil jeder glaubte, er hätte dasBeste erwischt; und zuletzt behauptete jeder, das, was er hätte, wäre die eigentliche himmlische Musik,und das, was die andern besäßen, wäre eitel Trug und Schein. Wer recht klug sein wollte - und derenwaren viele -, machte noch hinten und vorn einen großen Schnörkel daran und bildete sich etwas ganzBesonderes darauf ein. Der eine pfiff a und der andre sang b; der eine spielte in Moll und der andre inDur; keiner konnte den andern verstehen. Kurz, es war ein Lärm, wie in einer Judenschule. - So steht esnoch heute! -

Wenn aber der jüngste Tag kommen wird, wo die Sterne auf die Erde fallen und die Sonne ins Meerund die Menschen sich an der Himmelspforte drängen wie die Kinder zu Weihnachten, wennaufgemacht wird - da wird der liebe Gott durch die Engel alle die Papierschnitzel von seinemhimmlischen Notenbuche wieder einsammeln lassen, die großen ebenso wohl wie die kleinen, und selbstdie ganz kleinen, auf denen nur eine einzige Note steht. Die Engel werden die Stückchen wiederzusammensetzen, und dann werden die Tore aufspringen und die himmlische Musik wird aufs Neueerschallen, ebenso schön wie früher. Da werden die Menschenkinder verwundert und beschämt dastehenund lauschen und einer zum andern sagen: »Das hattest du! Das hatte ich! Nun aber klingt es erst wun-derbar herrlich und ganz anders, nun alles wieder beisammen und am richtigen Orte ist! «

Ja, ja! So wird's. Ihr könnt euch darauf verlassen. [14]

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Herbert Hahn

Das goldene KästchenNach einem Motiv des Johannes von Damaskus

In einem großen goldenen Haus lebte ein Vater mit vielen Kindern. Eines Tages sprach er zu einemseiner Söhne: »Nun ist es Zeit, daß du dich auf die Wanderschaft begibst.« Er führte den Sohn zu einerTreppe, die mit schier unendlichen Stufen abwärts ging. Einige Stufen hinab begleitete er ihn, dann abersprach er: »Jetzt muß ich dich verlassen. Nur ein Ding kann ich dir mitgeben, auf das du wohl achtensollst.« Und er gab seinem Sohn ein goldenes Kästchen, welches jener sogleich in den Falten seinesGewandes verbarg. »Trage es immer bei dir«, sprach der Vater, »es wird dich leiten und wird dichschützen. Doch öffne es nie, bis du wieder zu mir zurückkehrst.«

Mit diesen Worten verabschiedete sich der Vater. Der Sohn ging die unendlich vielen Stufen hinab.Als er unten angelangt war, wollte er noch einmal hinaufblicken. Wie erstaunte er aber, als er sah, daßdie Treppe verschwunden war. Dort, wo er eben noch frei geschritten war, erhob sich eine hohe, steile,schwarze Wand, an der kein Tritt, kein Vorsprung zu erkennen war. Vor ihm aber dehnte sich eine weiteFläche, die sich auf und ab bewegte: Es war das Meer.

Als er so weder zurück noch vorwärts gehen konnte und es ihm recht elend ums Herz werden wollte,sah er, wie vom Wasser her etwas auf ihn zukam. Es war ein Boot, doch ohne Ruder, ohne Steuer undohne Mast. Ganz leicht stieß es an den schmalen Strand und schien ihn aufzufordern, dochhineinzusteigen. Einen anderen Weg gibt es ja nicht, dachte der Sohn. So sprang er beherzt in das Boot,das auch sofort anfing, ihn davonzutragen. [15] Rasch trug es ihn aufs Meer hinaus, und von der steilenschwarzen Wand war bald nichts mehr zu sehen. Anfangs ging die Fahrt ganz ruhig, doch dann erhobsich ein frischer Wind, der munter zu blasen anfing. Da bekamen die Wellen weiße Kämme, und dasBoot schwankte auf und ab. Immer heftiger wurde der Wind und wuchs zum Sturm an. Ja, schließlichwar ein mächtiger Wirbelsturm da, und das kleine Boot wurde hin und her geschleudert wie eineNußschale. Dem Sohn verging Hören und Sehen, und er konnte sich nur noch halten, wenn er sich ganzfest an die Rippen der Bootswand anklammerte. Plötzlich aber gab es einen gewaltigen Ruck: Das Bootwar gegen ein Riff gestoßen. Es bekam ein großes Leck, füllte sich mit Wasser und begann zu sinken.

Der Sohn fühlte, daß er mit untergehen werde, wenn er im Boote blieb. Doch wo war eine Rettung?Wenn überhaupt, dann im offenen Meer. Kühn stürzte er sich in die brausende Flut, drückte aber dabeidas goldene Kästchen, das er ja nicht verlassen wollte, mit der linken Hand an sein Herz. Kaum aberhatte die Woge ihn aufgenommen, als etwas Wunderbares geschah. Der Sturm hielt inne, die Wellen, diewie in einem Hexenkessel gewirbelt hatten, begannen in einer Richtung zu strömen, und das goldeneKästchen machte, daß der Sohn wie auf starken Armen dahingetragen wurde.

Wie lange er so schwamm, ist schwer zu sagen. Endlich trug es ihn an den Strand einer großen Insel.Eben hatte er das Land betreten, als er von einer ganzen Schar von Menschen umringt wurde, dieaufgeregt riefen und jubelten:

»Ein König, ein neuer König!« Ehe er sich's versah, hatten sie ihm eine Krone aufgesetzt und einenherrlichen Mantel um seine Schultern geschlagen. Sie erhoben ihn, trugen ihn davon, und immer lauterwurde das Jubeln und das Rufen. Denn allmählich war viel Volks hinzugeströmt, so daß sich ein großerZug gebildet hatte. Flötenspieler, Bläser und Trommler waren wie vom Himmel niedergeregnet undschritten voran. [16]

Als der Zug das Schloß erreicht hatte, wurde eine Festtafel gedeckt, und im Nu wurde an kostbarenSpeisen und Getränken aufgetragen, was Küche und Keller nur bieten konnten. Alles wogte undbrandete durcheinander, man lachte, plauderte, stieß mit den Gläsern an, und niemand schien darauf zuachten, daß der Neuankömmling, dem all dieses galt, mit fragenden, schier entsetzten Augen dasaß. Baldwar auch kein Wort mehr zu verstehen, denn drinnen im Saal wurde der Lärm der Musikantenunerträglich.

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Der Sohn war nach der langen mühsamen Fahrt noch gar nicht zu Atem gekommen. Er wußtewirklich nicht, wie ihm geschah und was er von alledem halten sollte.

Wie er so umherblickte, sah er, daß unter all dieser ausgelassenen und tobenden Menge ein Mann dawar, der ganz stumm und ernst dasaß. Er mochte schon sehr alt sein, denn sein Haar und sein Bart warenweiß. Er schien dem König gütig, aber fast traurig zuzulächeln. Da stand der Sohn leise auf, ging, ohnedaß jemand es merkte, an den Alten heran und bedeutete ihm, daß er ihn sprechen wolle.

Sie gingen in ein abgelegenes Gemach:

»Kannst du mir vielleicht sagen, was all das bedeuten soll?« fragte der Sohn eindringlich.

»Ich kann es, mein König«, erwiderte der Alte nachdrücklich und sehr ernst.

»Bin ich denn wirklich ein König?«, rief der Sohn jetzt bestürzt.

»Du bist es. Doch nur für kurze Zeit.« - Und nun erzählte der Alte, daß jedes Jahr ein Fremdling aufdiese Insel geworfen werde, der dann schalten und walten könne nach eigenem Begehr. Da sei er König,da könne er gebrauchen und genießen, was nur immer einem König zustehe, und der kleinste seinerWünsche werde erfüllt. [17]

»Doch wenn ein Jahr herum ist«, so fuhr der Alte fort, »dann hat die Herrlichkeit ein Ende, und zwargenau an dem gleichen Tag, an dem sie vor zwölf Monaten begonnen hat. Dann kommen die gleichenLeute, die ihrem neuen König zugejubelt hatten, stoßen ihn vom Thron, reißen ihm die Krone ab undrauben ihm den Königsmantel. Arm, wie er gekommen war, muß er an den Strand der Insel gehen. Unddann kommt ein unbemanntes Boot heran, in dem man weder stehen noch sitzen, sondern nur liegenkann. Es nimmt ihn mit sich und führt ihn nach einem einsamen Eiland. Dort ist alles öde und grau,stumm und leer. Kein Baum, kein Strauch, ja kein Grashalm wächst dort. Kein Würmlein regt sich imSande, kein Mücklein in der Luft, und nie hat dort ein Vogel ein Lied gesungen. Ja, so ist das Ende«,sagte der Greis und senkte den Blick.

»Aber - das ist ja furchtbar«, rief der junge König aus. »Was soll mir dann all dieses Gepränge, diesesFesten, diese gellende Musik! Sag', gibt es denn gar keinen anderen Ausweg als die Fahrt zum ödenEiland?«

»Ich habe dir gesagt, was zu sagen mir allenfalls erlaubt war«, nahm der Alte auf. »Was mehr ist, dasmußt du selber finden. Doch ist es ein gutes Zeichen, daß du mich gleich am ersten Tage gefragt hast.Das hat bisher noch keiner der neuen Könige getan.« Und während er dies sprach, leuchtete sein Blickauf.

Der junge König dankte dem Ratgeber von Herzen. Dann dachte er: Bin ich schon König, so sollensie es auch spüren. Und sofort gebot er, daß das Fest zu Ende sei und daß Köche und Kellermeister,Trabanten und Musikanten alle miteinander nach Hause geschickt würden.

Dann zog er sich einsam in sein Schlafgemach zurück. Er überdachte, wie Seltsames er erlebt hatte;und dem, was ihm bevorstand, beschloß er, furchtlos entgegenzusehen. Ehe er einschlief, legte er dasgoldene Kästchen, das ihn so treu geleitet hatte, unter sein Kopfkissen. [18]

In der Nacht hatte er einen seltsamen Traum. Er hörte eine Stimme, die ihm recht vertraut schien.Und die Stimme sprach: Geh zu den Armen, zu den Kranken, zu denen, die einsam sind!

Als er kurz vor Tagesanbruch wach wurde, hörte er die Worte noch deutlich nachklingen, und er grubsie tief in sein Herz ein. Und so kam es, daß er am Morgen alle die Leute zurückwies, die ihn mitübereifrigen Diensten umschwirren wollten. Von der goldenen Kutsche mit den weißen Pferden, die ihnzu einer Lustfahrt abholen sollte, wollte er ebenso wenig wissen. Er wählte ein ganz einfaches Gefährtund nahm nur einen Arzt und einen einzigen Diener als Helfer mit. Und dann folgte er dem Rat, den erim Traum empfangen hatte. Er ging in die Hütten der Armen, stand an manchem Krankenlager und stiegin die dunklen Kerker hinab, wo Gefangene schmachteten. Viele von den Letzteren waren längst vonallen Menschen vergessen worden. Doch wie unnennbar groß war auch all das andere Elend: er hatte

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Tage, Wochen, ja Monate lang zu tun. Immer klangen die Traumworte in seinem Herzen nach undließen ihn nicht rasten und nicht ruhen.

Die Leute im Schloß waren mürrisch. Sie sagten: »Wir merken gar nicht, daß wir einen Könighaben!«

Ganz anders war es im weiten Umkreis der Insel. Da erhellten sich gar manche Gesichter, so daß manmeinte, die Sonne habe ihnen zum ersten Mal im Leben geschienen.

So war bald ein halbes Jahr und etwas mehr vorübergegangen. Wenn der König hie und da dem altenRatgeber begegnete, sah jener ihn freundlich, ja ermutigend an. Das gab dem König Mut, und er glaubte,den rechten Weg zu gehen. Bei den letzten Begegnungen aber hatte der Greis wieder ein sorgenvollesGesicht gezeigt. Da beschloß der König, ihn zu fragen: »Habe ich recht getan oder nicht?« [19]

»Ich glaube schon, daß du recht getan hast«, erwiderte der Alte. »Aber vielleicht ist noch nicht allesgeschehen, was geschehen sollte.« Und hier brach er ab, so daß der König merkte, daß er nicht mehrsagen wollte oder sagen durfte.

Doch was hätte noch geschehen sollen? War irgendeine Not übersehen oder versäumt worden? DerKönig sann und sann bis tief in die Nacht hinein. Plötzlich kam es ihm, dass er schon lange nicht mehrdas goldene Kästchen unter sein Kopfkissen getan hatte. Nun tat er es wieder. Da schienen alle Sorgenleichter zu werden, und er schlief ein. In dieser Nacht sprach wieder die vertraute Stimme zu ihm undsagte: »Laß Schiffe bauen, laß Schiffe bauen! Rüste sie aus mit dem, was sprossen, was blühen undfruchten kann. Laß sie dann fahren ins Meer hinaus, wohin der Wind sie trägt. Kein Mann sei an Bord!«

Als der König wach wurde, ging gerade die Sonne auf. Sorgfältig sammelte er alle Worte, die ergehört hatte, in seinem Herzen. Und noch am gleichen Tage rief er die Zimmerleute und die Meisterzusammen, die Schiffe bauen konnten. Das gab nun ein Richten, ein Hämmern und ein Klopfen, daß denLeuten das Trommelfell weh tat. Aber die Augen gingen ihnen über vor lauter Staunen, als sie Schiffnach Schiff in die See gleiten sahen: völlig unbemannt, aber befrachtet mit Saatgut und jungenObstbäumen und manchem, was sonst sprossen, blühen und fruchten kann.

Immer, wenn ein Schiff abging, stand der König am Ufer und blickte ihm nach, solange es nur zusehen war. Im Übrigen aber versäumte er nicht, die Armen, die Kranken und die Einsamen zu besuchen.Gefangene gab es zu jener Zeit nur noch ganz wenige auf der Insel.

Jetzt aber kam der Tag, an dem das Jahr herum war. Der König erinnerte sich an alles, was der Alteihm gesagt hatte, und rüstete sich auf das, was geschehen mußte. [20] Er trug das goldene Kästchen überseinem Herzen und kniete nieder zu seinem Morgengebet. Von draußen wurden Stimmen vernehmbar,die immer mehr und mehr anschwollen, so daß es war wie ein Sturm. Dann wurde es plötzlich ganz still.Jetzt werden sie kommen, dachte der König, um mir alles wegzureißen, was des Königs ist. So geschehenur, was geschehen soll!

Doch als er die Tür öffnete, trat nur ein einziger Mann ein. Es war einer von denen, die langeunbeachtet im Kerker gedarbt hatten. Er sprach: »Die Stunde ist da, und das höchste Gesetz dieser Inselhat alle Macht. Wir müssen Abschied nehmen von dir. Aber was wir an den früheren Königen, die deineVorläufer waren, getan haben, an dir werden wir es nicht tun. Keine Hand ist da, die dir Krone undKönigsmantel wegreißen könnte. Sei frei und tu sie selbst ab. Und dann will ich dich geleiten auf denWeg.«

Ohne Zagen tat der König, was die Stunde gebot. In dem schlichten Gewande, in dem er einst zurInsel gekommen war, trat er vor das Schloß hinaus. An der Straße aber, die er gehen sollte, hatte sichrechts und links ein dichter Wall von Menschen gebildet. Alle verharrten in tiefem Schweigen undbezeugten so am reinsten ihre Dankbarkeit und ihre Liebe.

Als der Sohn an den Strand kam, sah er, daß das Meer spiegelglatt war. Kein Hauch regte sich, unddoch kam, von geheimnisvoller Kraft getrieben, ein Boot näher und näher heran. Als es gelandet war,dachte der Sohn noch einmal an das große Gesetz der Insel, von dem er gehört hatte, als er eben König

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geworden war. Gehorsam legte er sich hinein. Sogleich umfing es ihn wie ein wunderbarer, starkerTraum, und er schlief ein.

Wie lange die Fahrt dauerte, merkte er nicht. Er wurde wach, als das Boot mit einem Stoß gegenetwas aufprallte. Das war ein Strand, und nun wußte er, daß er auf einem einsamen, öden Eiland war.Langsam erhob er sich, stieg aus dem Boot und tat einige Schritte. [21] Doch wie erstaunte er, als er sichumblickte: da war weit und breit nichts Ödes zu sehen. Saftiges Gras grünte überall, Bäume blühten undkündeten künftige Früchte an, und auf den Feldern wogte die junge Saat. Selbst Vogelgesang ertönte,denn all das sprossende Leben hatte gefiederte Sänger in großer Zahl herbeigelockt. Der Sohn rieb sichdie Augen. Das konnte doch wohl nicht das wüste, graue Eiland sein, von dem der Alte ihm gesprochenhatte. Gewiß träumte er weiter!

Er dachte nicht gleich an die Schiffe, die er vor einiger Zeit abgeschickt hatte. Diese waren an demöden Eiland gelandet, und unsichtbare Hände hatten all das junge, lebendige Gut, das sie mitbrachten,weit umhergestreut, so daß die ganze Insel sich verwandelte.

Eben begann ihm eine Erkenntnis zu dämmern, als er sich nach der Seite des Meeres zurückwandte.Es fuhr ihm durchs Herz, denn er sah nun wieder die hohe, steile, schwarze Wand, die er schon kannte.Plötzlich wurde sie von einer mächtigen Hand weggeschoben, und die Treppe mit den unendlich vielenStufen tat sich auf. Von oben hörte er die Stimme des Vaters, der ihm zurief. Von unfaßbarer Freudeerfüllt, begann er zu steigen.

Der Vater streckte die Arme nach ihm aus. Dann aber fragte er ihn: »Hast du das goldene Kästchenmit heimgebracht?«

»Ja, Vater, ich habe es«, antwortete der Sohn.

»Hast du es geöffnet?«

»Nein«, erwiderte der Sohn, »ich ließ es geschlossen, wie du mir gesagt hattest.«

»Wohl dir, daß du meinem Gebot gefolgt bist. Doch öffne es jetzt.«

Der Sohn tat, wie ihm der Vater geheißen hatte. [22] Da sah er, wie auf dem Grunde des Kästchensdas ganze Vaterhaus abgebildet war mit all seinen goldenen Sälen und den vielen Geschwistern, die dortein- und ausgingen oder an dem großen Tisch saßen. Das alles hatte er, ohne es zu wissen, die ganze Zeitbei sich getragen. Und nun wußte er auch, daß es die Stimme des Vaters war, die ihn zweimal imTraume beraten hatte.

Noch verharrte er in glücklichem Staunen, als der Vater abermals sprach: »Blick jetzt auch auf denDeckel des Kästchens und schau ihn dir von innen an!« Nun tat sich ein neues Wunder vor den Augendes Sohnes auf. Innen am Deckel, da hatte sich in allen Formen, in allen Farben die ganze Inselabgezeichnet, auf der er König gewesen war. Ja, alle die Menschen, die ihm vertraut geworden waren,sie waren dort abgebildet. Und nicht nur abgebildet waren sie: Sie lebten und bewegten sich, wenn er sieanschaute. Der alte Mann, sein Ratgeber, lächelte ihm zu, und seine Augen sprachen, so daß es imHerzen vernehmbar wurde.

Auch der Vater lächelte gütig: »Siehst du«, sprach er zum Sohn, »sie alle trägst du nun mit dir imgoldenen Kästchen, wie du das Vaterhaus mit dir getragen hast. Je mehr du ihrer in Dank und Liebegedenkst, umso näher werden sie dir sein. Du hast deine Wanderschaft gut vollbracht. Doch nun kommins Vaterhaus: Es ist gut, daß du eine Weile rastest, ehe ich dich wieder auf den Weg schicke.« [23]

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Manfred Kyber

Das andere UferEs war einmal ein Sammler, der sammelte allerlei Seltsamkeiten aus fernen Ländern. Er sammelte

auch alltägliche Dinge, aber dann hatten sie einen besonderen Sinn und ihre besondere Geschichte.Diese Geschichte der Dinge verstand der Sammler zu lesen, wie wenige es verstehen, denn es ist keineleichte Kunst. So saß er Tage und Nächte unter all seinen Seltsamkeiten und las ihre Schicksale, und erwußte, daß es Menschenschicksale waren, die daran hingen. Wie ein breiter Fluß flutete das armeverworrene Menschenleben um ihn herum, er stand an seinem Ufer und schaute mit erkenntnisreichenAugen, wie Welle um Welle an ihm vorüberzog.

Aber er wußte auch, daß ihm noch etwas fehlte: Er wußte, daß das menschliche Leben, in dem er soviel gelesen hatte, nicht nur das eine Ufer haben konnte, auf dem er stand und es betrachtete. Er wußte,daß es auch ein anderes Ufer haben mußte, und das andere Ufer suchte er – wie lange schon! Aber erhatte es nicht gefunden. Einmal aber hoffte er es bestimmt zu finden. Er suchte in allen Läden allerStädte, ob er nicht ein Ding finden würde, das ihm etwas vom anderen Ufer erzählen könne. Er war jasein Leben lang ein Sammler und Sucher gewesen und hatte viel Geduld gelernt.

So kam er einmal in einer fernen Stadt im Süden in einen sehr merkwürdigen Laden. Der Laden warein richtiger Kramladen des Lebens, denn es waren wohl alle Dinge darin vertreten, die man sich immenschlichen Leben nur denken konnte, von den seltsamsten Kostbarkeiten herab bis zu den geringstenAlltäglichkeiten. Und alle Dinge hatten, so wie es sich gehört, ihre eigene Geschichte. [24]

Der Sammler besah sich alle die vielen Dinge mit großer Sachkenntnis. Manches gefiel ihm sehr, undmanches hätte er gerne gekauft, aber irgendwie erinnerte es ihn doch an etwas, was er schon einmalerworben hatte.

»Dies ist wohl die seltsamste Sammlung der Dinge vom menschlichen Leben, die ich je gesehenhabe«, sagte der Sammler, und da der Händler ihm kein gewöhnlicher Händler zu sein schien – denn erhatte etwas Stilles und Feierliches in seinem Wesen –, so fragte er ihn, ob er nicht etwas habe, was ihmvom anderen Ufer erzählen könne.

Der Händler war auch wirklich kein gewöhnlicher Händler. Er wußte zu gut, wie viel Leid undTränen manche Dinge, die die Menschen bei ihm um teuren Preis erstanden, denen bringen mußten, diesie mit einer Inbrunst erwarben, als hinge ihr ganzes Leben davon ab. Es kam nicht oft vor, daß einerden richtigen Gegenstand bei ihm verlangte. Als nun der fremde Sammler den Händler nach demanderen Ufer fragte, da lächelte der Händler und reichte ihm eine kleine Lampe von unscheinbarer Form,doch von sehr sorgfältiger Arbeit. Die Lampe aber brannte schon mit einer schönen bläulichen Flammeund brauchte nicht erst entzündet zu werden.

»Diese Lampen stellt man nirgends aus«, sagte der Händler, »man gibt sie nur denen, die nach demanderen Ufer fragen.«

»Erzählt mir denn diese Lampe etwas vom anderen Ufer?«, fragte der Sammler und betrachtete dieLampe mit aufmerksamen und erstaunten Blicken, denn er hatte so etwas noch nicht in seinerSammlung, und er hatte es bisher auch nirgends gesehen.

»Vom anderen Ufer darf dir die Lampe nichts erzählen«, sagte der Händler, »zum anderen Ufer mußtdu selber wandern, aber die Lampe wird dir leuchten und dir den Weg zum anderen Ufer weisen.« [25]

Da dankte der Sammler dem Händler und fragte ihn, was er ihm für die Lampe zu zahlen habe.

»Ich habe viele Gegenstände in meinem Laden, die man um billigen Preis erstehen kann«, sagte derHändler, »ich habe auch manche darunter, die um ein Königreich nicht zu haben sind. Aber die kleineLampe, die du in der Hand hast, kostet nichts für den, der nach dem anderen Ufer fragte. Es ist deineeigene Lampe, und es ist eine ewige Lampe, und sie wird dir den Weg zum anderen Ufer weisen.«

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Da wurde der Sammler ein Wanderer. Er ließ alle die vielen seltsamen Dinge, die er bishergesammelt hatte, hinter sich und wanderte dem Licht seiner ewigen Lampe nach, das andere Ufer zusuchen.

Er sah viel Schönes auf seinem Wege, das er früher nicht gesehen hatte. Er sah, wie die Steine sichregten und formten, er schaute in die Träume der Blumen, und er verstand die Sprache der Tiere.Allmählich aber wurde der Weg des Wanderers immer einsamer und verlassener, er stand allein in einerEinöde, und vor sich erblickte er sieben steile, felsige Berge. Die Lampe warf ihren Lichtschein aufseinen Weg, und sie zeigte ihm an, daß er alle die sieben Berge besteigen müsse. So bestieg er allesieben Berge, und von jedem Berge hoffte er das andere Ufer zu sehen, aber er sah es nicht. Ein eisigerNeuschnee lag auf allen sieben Gipfeln. Mitten aber im Schnee blühte eine rote Rose, leuchtend wie einRubin. Die pflückte der Wanderer und nahm sie mit sich auf den Weg.

Als er nun alle sieben Berge bestiegen hatte und sich ihre sieben Rosen zum Kranz geholt hatte ausdem eisigen Neuschnee der Gipfel, da stand er vor einem dunklen Tor. Der Torhüter trat auf ihn zu undfragte ihn, was er wolle.

»Ich suche das andere Ufer«, sagte der Wanderer.

»Was führst du mit dir auf deinem Weg?«, fragte der Torhüter. [26]

»Sieben rote Rosen und meine ewige Lampe«, sagte der Wanderer. Da ließ ihn der Torhüter in dasdunkle Tor eintreten.

»Es ist ein langes und dunkles Tor«, sagte der Torhüter, »du mußt bis an sein Ende gehen, dannkommst du an das Meer der Unendlichkeit.«

»Ich will nicht an das Meer der Unendlichkeit«, sagte der Wanderer, »ich suche das andere Ufer. DasMeer der Unendlichkeit aber ist uferlos.«

»Du mußt warten, bis die Sonne aufgeht, dann wirst du das andere Ufer sehen«, sagte der Torhüter.

Da ging der Wanderer durch das lange dunkle Tor hindurch und setzte sich am Meer derUnendlichkeit nieder, denn er war sehr müde geworden von seiner Wanderung. Das Meer derUnendlichkeit brandete zu seinen Füßen, und über seinen wilden Wellen und dem einsamen Wandereran seinem Gestade stand die gestirnte Nacht. Der Wanderer aber wartete und wachte bei seiner ewigenLampe die ganze Nacht, und es war eine so lange Nacht, daß er dachte, sie wolle gar kein Ende nehmen.

Endlich verblaßten die Sterne, die brandenden Wellen wurden still und klar, und über ihnen ging dieSonne auf. Im Lichte der aufgehenden Sonne aber tauchte eine leuchtende Insel mitten aus dem Meerder Unendlichkeit empor.

Da erkannte der Wanderer, daß es das andere Ufer war, das er gesucht hatte. Über das dunkle Torkam eine Taube geflogen und zeigte dem Wanderer den Weg zur Insel, und er schritt über das Meer derUnendlichkeit so sicher wie auf klarem Kristall hinüber zum anderen Ufer.

Vom anderen Ufer aber darf ich euch nichts weiter erzählen, so wenig als es die Lampe getan hat.Zum anderen Ufer muß ein jeder selber wandern im Licht seiner eigenen ewigen Lampe.

Denn das Märchen vom anderen Ufer ist ein Märchen der Wanderer. [27]

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Brüder Grimm

Die Boten des Todes

Vor alten Zeiten wanderte einmal ein Riese auf der großen Landstraße, da sprang ihm plötzlich einunbekannter Mann entgegen und rief. »Halt! Keinen Schritt weiter!«

»Was«, sprach der Riese, »du Wicht, den ich zwischen den Fingern zerdrücken kann, du willst mirden Weg vertreten? Wer bist du, daß du so keck reden darfst?«

»Ich bin der Tod«, erwiderte der andere, »mir widersteht niemand, und auch du mußt meinenBefehlen gehorchen.« Der Riese aber weigerte sich und fing an, mit dem Tod zu ringen. Es war einlanger, heftiger Kampf, zuletzt behielt der Riese die Oberhand und schlug den Tod mit seiner Faust nie-der, daß er neben einem Stein zusammensank. Der Riese ging seiner Wege, und der Tod lag da besiegtund war so kraftlos, daß er sich nicht wieder erheben konnte. »Was soll daraus werden«, sprach er,»wenn ich da in der Ecke liegen bleibe? Es stirbt niemand mehr auf der Welt, und sie wird so mit Men-schen angefüllt werden, daß sie nicht mehr Platz haben, nebeneinander zu stehen.«

Indem kam ein junger Mensch des Wegs, frisch und gesund, sang ein Lied und warf seine Augen hinund her. Als er den Halbohnmächtigen erblickte, ging er mitleidig heran, richtete ihn auf, flößte ihm ausseiner Flasche einen stärkenden Trank ein und wartete, bis er wieder zu Kräften kam. »Weißt du auch«,fragte der Fremde, indem er sich aufrichtete, »wer ich bin und wem du wieder auf die Beine geholfenhast?«

»Nein«, antwortete der Jüngling, »ich kenne dich nicht.« [28]

»Ich bin der Tod«, sprach er, »ich verschone niemand und kann auch mit dir keine Ausnahmemachen. Damit du aber siehst, daß ich dankbar bin, so verspreche ich dir, daß ich dich nicht unversehensüberfallen, sondern dir erst meine Boten senden will, bevor ich komme und dich abhole. «

»Wohlan«, sprach der Jüngling, »immer ein Gewinn, daß ich weiß, wann du kommst, und so langewenigstens sicher vor dir bin.« Dann zog er weiter, war lustig und guter Dinge und lebte in den Taghinein. Allein Jugend und Gesundheit hielten nicht lange aus, bald kamen Krankheiten und Schmerzen,die ihn bei Tag plagten und ihm nachts die Ruhe wegnahmen. »Sterben werde ich nicht«, sprach er zusich selbst, »denn der Tod sendet erst seine Boten; ich wollte nur, die bösen Tage der Krankheit wärenerst vorüber.« Sobald er sich gesund fühlte, fing er wieder an in Freuden zu leben.

Da klopfte ihm eines Tages jemand auf die Schulter: Er blickte sich um, und der Tod stand hinter ihmund sprach: »Folge mir, die Stunde deines Abschieds von der Welt ist gekommen!«

»Wie?« antwortete der Mensch, »willst du dein Wort brechen? Hast du mir nicht versprochen, daß dumir, bevor du selbst kämest, deine Boten senden wolltest? Ich habe keinen gesehen.«

»Schweig!«, erwiderte der Tod, »habe ich dir nicht einen Boten über den andern geschickt? Kamnicht das Fieber, stieß dich an, rüttelte dich und warf dich nieder? Hat der Schwindel dir nicht den Kopfbetäubt? Zwickte dich nicht die Gicht in allen Gliedern? Brauste dir's nicht in den Ohren? Nagte nichtder Zahnschmerz in deinen Backen? Ward dir's nicht dunkel vor den Augen? Über das alles, hat nichtmein leiblicher Bruder, der Schlaf, dich jeden Abend an mich erinnert? Lagst du nicht in der Nacht, alswärst du schon gestorben?«

Der Mensch wußte nichts zu erwidern, ergab sich in sein Geschick und ging mit dem Tode fort. [29]

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Brüder Grimm

Der Gevatter Tod

Es hatte ein armer Mann zwölf Kinder und mußte Tag und Nacht arbeiten, damit er ihnen nur Brotgeben konnte. Als nun das dreizehnte zur Welt kam, wußte er sich in seiner Not nicht zu helfen, liefhinaus auf die große Landstraße und wollte den Ersten, der ihm begegnete, zu Gevatter bitten. Der Erste,der ihm begegnete, das war der liebe Gott, der wußte schon, was er auf dem Herzen hatte, und sprach zuihm: »Armer Mann, du dauerst mich, ich will dein Kind aus der Taufe heben, will für es sorgen und esglücklich machen auf Erden.«

Der Mann sprach: »Wer bist du? «

»Ich bin der liebe Gott.«

»So begehr ich dich nicht zu Gevatter«, sagte der Mann, »du gibst dem Reichen und lässest denArmen hungern.« Das sprach der Mann, weil er nicht wußte, wie weislich Gott Reichtum und Armutverteilt. Also wendete er sich von dem Herrn und ging weiter.

Da trat der Teufel zu ihm und sprach: »Was suchst du? Willst du mich zum Paten deines Kindesnehmen, so will ich ihm Gold die Hülle und die Fülle und alle Lust der Welt dazu geben.«

Der Mann fragte: »Wer bist du?«

»Ich bin der Teufel.«

»So begehr ich dich nicht zum Gevatter«, sprach der Mann, »du betrügst und verführst dieMenschen.«

Er ging weiter, da kam der dürrbeinige Tod auf ihn zugeschritten und sprach: »Nimm mich zuGevatter!«

Der Mann fragte: »Wer bist du?« [30]

»Ich bin der Tod, der alle gleich macht.«

Da sprach der Mann: »Du bist der Rechte, du holst den Reichen wie den Armen ohne Unterschied, dusollst mein Gevattersmann sein.«

Der Tod antwortete: »Ich will dein Kind reich und berühmt machen, denn wer mich zum Freunde hat,dem kann's nicht fehlen.«

Der Mann sprach: »Künftigen Sonntag ist die Taufe, da stelle dich zu rechter Zeit ein!«

Der Tod erschien, wie er versprochen hatte, und stand ganz ordentlich Gevatter.

Als der Knabe zu Jahren gekommen war, trat zu einer Zeit der Pate ein und hieß ihn mitgehen. Erführte ihn hinaus in den Wald, zeigte ihm ein Kraut, das da wuchs, und sprach: »Jetzt sollst du deinPatengeschenk empfangen. Ich mache dich zu einem berühmten Arzt. Wenn du zu einem Krankengerufen wirst, so will ich dir jedes Mal erscheinen: steh ich zu Häupten des Kranken, so kannst du kecksprechen, du wolltest ihn wieder gesund machen, und gibst du ihm dann von deinem Kraute ein, so wirder genesen; steh ich aber zu Füßen des Kranken, so ist er mein, und du mußt sagen, alle Hilfe seiumsonst und kein Arzt in der Welt könne ihn retten. Aber hüte dich, daß du das Kraut nicht gegenmeinen Willen gebrauchst, es könnte dir schlimm ergehen!«

Es dauerte nicht lange, so war der Jüngling der berühmteste Arzt auf der ganzen Welt. »Er brauchtnur den Kranken anzusehen, so weiß er schon, wie es steht, ob er wieder gesund wird, oder ob er sterbenmuß«, so hieß es von ihm, und weit und breit kamen die Leute herbei, holten ihn zu den Kranken undgaben ihm so viel Gold, daß er bald ein reicher Mann war.

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Nun trug es sich zu, daß der König erkrankte. Der Arzt ward gerufen und sollte sagen, ob Genesungmöglich wäre. [31] Wie er aber zu dem Bette trat, so stand der Tod zu den Füßen des Kranken, und dawar für ihn kein Kraut mehr gewachsen. »Wenn ich doch einmal den Tod überlisten könnte«, dachte derArzt, »er wird's freilich übel nehmen, aber da ich sein Pate bin, so drückt er wohl ein Auge zu: ich will'swagen.« Er faßte also den Kranken und legte ihn verkehrt, so daß der Tod zu Häupten desselben zustehen kam. Dann gab er ihm von dem Kraute ein, und der König erholte sich und ward wieder gesund.Der Tod aber kam zu dem Arzte, machte ein böses und finsteres Gesicht, drohte mit dem Finger undsagte: »Du hast mich hinter das Licht geführt: diesmal will ich dir's nachsehen, weil du mein Pate bist,aber wagst du das noch einmal, so geht dir's an den Kragen, und ich nehme dich selbst mit fort.«

Bald hernach verfiel die Tochter des Königs in eine schwere Krankheit. Sie war sein einziges Kind, erweinte Tag und Nacht, daß ihm die Augen erblindeten, und ließ bekannt machen, wer sie vom Todeerrettete, der sollte ihr Gemahl werden und die Krone erben. Der Arzt, als er zu dem Bette der Krankenkam, erblickte den Tod zu ihren Füßen. Er hätte sich der Warnung seines Paten erinnern sollen, aber diegroße Schönheit der Königstochter und das Glück, ihr Gemahl zu werden, betörten ihn so, daß er alleGedanken in den Wind schlug. Er sah nicht, daß der Tod ihm zornige Blicke zuwarf, die Hand in dieHöhe hob und mit der dürren Faust drohte; er hob die Kranke auf und legte ihr Haupt dahin, wo die Füßegelegen hatten. Dann gab er ihr das Kraut ein, und alsbald röteten sich ihre Wangen, und das Leben regtesich von neuem.

Der Tod, als er sich zum zweitenmal um sein Eigentum betrogen sah, ging mit langen Schritten aufden Arzt zu und sprach: »Es ist aus mit dir, und die Reihe kommt nun an dich«, packte ihn mit seinereiskalten Hand so hart, daß er nicht widerstehen konnte, und führte ihn in eine unterirdische Höhle. Dasah er, wie tausend und tausend Lichter in unübersehbaren Reihen brannten, einige groß, anderehalbgroß, andere klein. Jeden Augenblick verloschen einige, und andere brannten wieder auf, also daßdie Flämmchen in beständigem Wechsel hin und her zu hüpfen schienen. »Siehst du«, sprach der Tod,»das sind die Lebenslichter der Menschen. Die großen gehören Kindern, die halbgroßen Eheleuten inihren besten Jahren, die kleinen gehören Greisen. Doch auch Kinder und junge Leute haben oft nur einkleines Lichtchen.«

»Zeige mir mein Lebenslicht«, sagte der Arzt und meinte, es wäre noch recht groß. Der Tod deuteteauf ein kleines Endchen, das eben auszugehen drohte, und sagte: »Siehst du, da ist es.«

»Ach, lieber Pate«, sagte der erschrockene Arzt, »zündet mir ein neues an, tut mir's zuliebe, damit ichmeines Lebens genießen kann, König werde und Gemahl der schönen Königstochter.«

»Ich kann nicht«, antwortete der Tod, »erst muß eins verlöschen, eh' ein neues anbrennt.«

»So setzt das alte auf ein neues, das gleich fortbrennt, wenn jenes zu Ende ist«, bat der Arzt. Der Todstellte sich, als ob er seinen Wunsch erfüllen wollte, langte ein frisches großes Licht herbei: Aber weil ersich rächen wollte, versah er's beim Umstecken absichtlich, und das Stückchen fiel um und verlosch.Alsbald sank der Arzt zu Boden und war nun selbst in die Hand des Todes geraten. [33]

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Jugend ohne Alter und Leben ohne TodRumänisches Volksmärchen

Es war einmal, denn wenn es nicht gewesen wäre, so hätte es auch niemand erzählt. Also lebteneinmal ein Kaiser und eine Kaiserin. Sie waren beide jung und schön, und nichts fehlte ihnen zu ihremGlück als ein Kind. Darauf aber warteten sie Jahr um Jahr umsonst. Hatten sie Gott vielleicht, ohne es zuwollen, mit einer Missetat erzürnt? Sie riefen Sternleser herbei, denn sie wollten wissen, was amHimmel über sie geschrieben stand. Aber die Sternleser konnten die funkelnde Schrift nicht entziffern.Da hörte der Kaiser von einem Bauern, der über gewaltige Zauberkraft verfüge, und er befahl, einenBoten zu ihm zu senden und ihn vor sein Angesicht zu führen. Aber der Bauer gab den Bescheid, weretwas wolle von ihm, müsse sich zu ihm in seine Hütte bemühen.

Da machten Kaiser und Kaiserin sich auf und zogen mit Würdenträgern, Bojaren und Knechtenhinaus zu seiner Hütte. Der Bauer sah sie kommen, ging ihnen ein wenig entgegen und hieß siewillkommen. Dann sprach er: »Warum quälst du deinen Fuß zu dem beschwerlichen Gang, o Kaiser?Der Wunsch, den du nährst, bringt dir keinen Frieden. Zwar den Zauber besitze ich, der euch ein Kindherbeizieht, und es wird ein gutes und schönes Kind sein, ein wahrer Prinz Allschön. Aber euch ist esnicht beschieden, es lange zu behalten.«

Gleichwohl wollten Kaiser und Kaiserin den Zauber empfangen und der Bauer gab ihn. [34] Nunwurde die Kaiserin mit einem Kinde gesegnet, aber als die Stunde der Geburt heran kam, begann diesesKind im Mutterleib zu weinen, als würde ihm großes Leid angetan. Weder Zauber noch Zuspruchkonnten es beschwichtigen. Dem Kaiser zerschnitt es das Herz, und er begann in seiner Angst, dem Kindalle Schätze der Welt zu versprechen. »Schweig, Söhnchen, und ich gebe dir ein halbes Kaiserreich zumGeschenk. Schweig, Väterchens Liebling, und die schönste Kaiserstochter auf Gottes Erdrund wirddein.« Als aber nichts fruchtete und das Kind immer schrecklicher schrie, rief der Kaiser in seinerVerzweiflung zuletzt aus: »Schweig, süßestes Licht, und ich gebe dir Jugend ohne Alter und Leben ohneTod.«

Im selben Augenblick schwieg das Kind und trat durch die Pforte der Geburt. Pauken und Trompetenverkündeten seine Ankunft, und das Fest zu seinen Ehren währte sieben Tage lang.

Der Bauer aber hatte nicht zu viel versprochen. Ein schöneres und besseres Kind wuchs nirgendsheran. Was andere in einem Jahr lernten, lernte es in einem Monat, und bald wußte es alles bis zumMond und zur Sonne hinauf. Der Vater starb und auferstand vor Freude, wenn seines Sohnes Weisheitihn überraschte, und Bojaren und Bauern frohlockten: »Wir werden einen Kaiser bekommen, so weisewie Salomo!«

So ging es zehn, zwölf, vierzehn Jahre lang, bis plötzlich, niemand wußte zu sagen weshalb, derKnabe sich veränderte. Er wurde stiller und stiller, und keiner sah ihn mehr anders als tief in Gedankenversunken. An seinem fünfzehnten Geburtstag jedoch, als der Kaiser mit den Bojaren gerade zu Tischesaß, trat er vor den Mächtigen hin und sprach: »Vater, es ist Zeit, daß du dein Versprechen erfüllst undmir gibst, weswegen ich zur Welt gekommen bin.«

Der Kaiser erbleichte und flüsterte. »Wie kann ich dir etwas geben, das auf der lieben weiten Weltnoch niemand gesehen, gehört oder geschmeckt hat? Wenn ich es damals versprach, so war es doch nur,um dich zum Schweigen zu bringen.« [35]

»Wehe«, rief der Prinz aus, »dann muß ich fort von hier und es selber suchen, das Pfand, für das ichmich zur Geburt entschlossen habe.«

Jetzt fielen die Bojaren auf die Knie und rangen die Hände. Sie flehten Allschön an, sie doch nicht zuverlassen, und sprachen: »Siehe, von heut auf morgen wird dein Vater alt oder stirbt uns gar hinweg.Dann erheben wir dich auf den Großen Stuhl und führen dir die schönste Prinzessin herbei.«

Aber so unerschütterlich, wie ein Felsen auf dem Erdboden beharrt, beharrte Allschön bei seinemEntschluß. Da gaben seine Eltern schweren Herzens den Befehl, ihm die Wegzehrung zu rüsten.

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Er aber trat in den Stall und betrachtete die kaiserlichen Hengste. Einen um den anderen stemmte erdie Hand in den Rücken, und o Schmach, sie hielten seiner Kraft nicht stand, sondern knickten ein.Schon wollte er umkehren, als sein Blick auf ein zitterndes Pferdchen fiel, das mit Beulen und Schwärenbedeckt in einer Ecke stand. Kaum hatte er diesem den Rücken berührt, als es sich blitzgeschwind drehteund ausrief »Was befiehlst du, mein Herr?« Er preßte stärker, aber siehe, es streckte die Beine und standbolzengerade wie auf vier Kerzen.

Da anvertraute er ihm, was er im Sinne trug, und es antwortete ohne Besinnen: »Um zu finden,weswegen du zur Welt gekommen bist, mußt du zuallererst deinen Vater bitten, dir das Schwert und dieLanze, den Bogen und die Pfeile und auch die Kleider zu geben, die er getragen hat, als er jung war.Mich aber mußt du sechs Wochen lang mit eigener Hand pflegen, mich waschen mit Morgentau und mirdie Gerste in süßer Milch kochen.«

Allschön pflegte das Pferdchen nach seinem Wunsch und Wort und suchte drei Tage und drei Nächtelang, bis er in den Vorratskammern des Vaters Kleider und Waffen gefunden hatte. Die Waffen warenrostig und die Kleider zerrissen, aber er machte sich an die Arbeit und putzte und flickte sie. [36]

Als die Waffen glänzten wie Spiegel und die Kleider wieder ganz waren, schüttelte sich das Pferdund warf die Beulen und Geschwüre von sich wie Schuppen, denn jetzt waren die sechs Wochen herum.Rein wie seine Mutter es geschaffen hatte, stand es vor dem Prinzen, ein großes, feuriges Ross mit sechsFlügeln.

»In drei Tagen reisen wir«, sprach der Knabe, und das Flügelroß gab zurück: »Von mir aus schonmorgen!«

In der Frühe des dritten Tages saß Allschön mit dem Schwert in der Hand auf dem Pferd seiner Wahlund nahm Abschied von seinen Eltern. Schnell wie ein Wind flog er davon, der Troß konnte ihm nichtfolgen. Aber wo die bebauten Acker aufhörten, wartete er, verteilte die Wegzehrung unter die Knechteund ritt allein weiter, immer nach Osten drei Tage lang. Da kam er auf ein Feld, das über und über mitMenschenknochen bedeckt war.

»Du mußt wissen«, begann jetzt sein Pferd zu reden, »daß wir im Land der Goanaja sind, derSpechtin mit dem Leib eines Drachen. Sie erschlägt jeden, der hier eindringt, darum die vielen Knochen.In ihrer Jugend war sie ein Weib wie jedes andere, aber sie versagte ihren Eltern den Gehorsam undwurde zur Strafe in Drachengestalt gebannt. Sie hat Kinder, so schön wie die Elfen, bei denen ist siegerade auf Besuch. Aber sieh dich vor, morgen, wenn wir im Walde jenseits des Knochenfelds sind,wird sie dich erspähen.«

Kein Lüftchen regte sich, als Allschön in den Wald jenseits des Knochenfelds ritt. Aber plötzlicherbebt die Luft wie von Hammerschlägen, die Spechtin saust heran und knickt links und rechts diestarken Bäume wie Grashalme. Der Prinz spannt den Bogen, schießt ihr eine Tatze vom Leib und hatschon den zweiten Pfeil zur Hand. Da ruft sie: [37] »Halt, halt, ich tue dir gewiß nichts zuleide«, und wieer sie ungläubig an schaut, schreibt sie es auf mit ihrem schwarzen Blut, daß sie Löwen brüllten und dieTiger fauchten, die Wölfe heulten, die Geier kreischten. Der Prinz mußte seinen Mut zwischen dieZähne nehmen, denn sein Haar sträubte sich. Er hörte, wie die Herrin alle wilden Bestien mit sanfterStimme zu sich rief »Kommt, liebe Kinder! Her zu mir, meine Küken!«

Da schmiegten sich die Vordersten zahm wie die Rehe an ihr Knie und keines bemerkte, wie dasFlügelpferd seinen Reiter unversehrt vor der Palasttreppe absetzte. Aber die leuchtende Fee sprach zuAllschön: »Was suchst du hier?«

Sie ließ ihren Blick voll Mitleid auf ihm ruhen und hielt die Tiere von ihm ab. »Was ich suche, istJugend ohne Alter und Leben ohne Tod.«

»Dann bist du am rechten Ort, ich stehe vor dir.«

Sie reichte ihm die Hand und führte ihn in den Palast hinein. Dort waren ihre beiden Schwestern, undauch sie empfingen ihn freundlich. Aus Freude über seine Ankunft bereiteten sie ein Mahl und trugen esin lauter goldenen Töpfen zu Tisch. Auch an das Pferd dachten sie, und es durfte weiden, wo immer es

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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wollte, denn keines der wilden Tiere war ihm mehr Feind. Löwe wie Lurch, Büffel wie Wolf, Geier undSperber waren dem Prinzen und seinem Pferd wohlgesinnt.

Tags darauf sagten die Feen zu Allschön: »Bleibe doch immer bei uns«, denn schon schien das Lebenihnen fahl ohne die Gesellschaft eines Menschen. Er aber sagte zu Jugend ohne Alter und Leben ohneTod:

»Deinetwillen bin ich auf die Welt gekommen, deinetwillen habe ich Vater und Mutter verlassen.Wie sollte ich etwas anderes wünschen, als immer bei dir zu bleiben?«

Da hielten sie Hochzeit, und die Frauen erlaubten ihm nun, überall frei herumzugehen. »Es gibt nurein einziges Tal, das' du meiden mußt. Dies ist das Tal des Weinens. Betritt es niemals, denn es brächtedir Schmerzen.« Leichten Herzens versprach er es ihnen. [40]

Von nun an lebte Allschön in Frieden und Freude und merkte nicht, daß die Zeit verging. Wie hätte eres auch merken sollen, daß sie weiterfloß, die liebe Zeit? Wie die Frauen, so blieb auch er selbst immerjung und heiter und so stark wie am Tag seiner Ankunft. Es gab nichts, worüber er sich den Kopfzerbrechen mußte. Er freute sich seiner sanften Gemahlin und ritt ohne Sorgen auf die Jagd, er ergötztesich an den blühenden Gärten und wurde erquickt durch die reine, vom Gesang der Vögel widerhallendeLuft. Am Morgen zog er mit Pfeil und Bogen in die Weite, und abends kehrte er ruhigen Gemüts wiederzurück zu den drei Frauen.

Aber eines Tages verfolgte er einen Hasen ungestümer als sonst. Er schoß und traf ihn nicht, schoßabermals und verfehlte ihn wieder. Jetzt ärgerte er sich, schoß den dritten Pfeil ab, und mit diesem trafer. Aber o Jammer, in seiner Ungeduld hatte er nicht auf den Weg geachtet, und wie er jetzt den Hasenaufhob und sich umblickte, befand er sich im Tal des Weinens. Sogleich kehrte er um, aber was halfs?Schon schnürte sich ihm die Kehle zusammen, und von Kopf zu Fuß brannte ihn ein verzehrender Durstnach Vater und Mutter und dem Land, wo er ein Kind gewesen war. Er stürzte davon und langtetränenüberströmt im Palast an.

»Unglücklicher«, riefen die Frauen, »wo kommst du her? Wehe, du bist im Tal des Weinensgewesen!«

»Ja, ihr Geliebten, aber ohne es zu wollen. Jetzt vergehe ich vor Durst nach Vater und Mutter undertrage es doch auch nicht, ohne euch zu sein, ihr Schwestern. Ich verweile ja wohl schon drei oder garzweimal drei Tage bei euch und noch immer gefällt es mir so gut wie in der ersten Stunde. Erlaubt mirnur eines, laßt mich noch ein einziges Mal meine Eltern sehen, dann kehre ich schnell wie der Wind zueuch zurück und verlasse euch nie mehr.« [41]

Die Frauen entsetzten sich und beschworen ihn, davon abzustehen. »Deine Eltern sind seit Hundertenvon Jahren tot, und auch du mußt sterben, wenn du uns verläßt.«

Ihr Bitten und Flehen war umsonst, und auch das Pferd richtete mit seiner Ermahnung nichts aus.Zuletzt sagte es zu ihm: »Wenn du nicht hören willst, Herr, so wisse, daß du an allem, was geschieht,selber schuld bist. Zwar diene ich dir gleichwohl, aber ich stelle eine Bedingung.«

»Schnell sprich sie aus! Ich erfülle dir alles, nur trag mich zurück ins Land meiner Eltern.«

»Ich tue es, aber sobald wir angelangt sind, kehre ich um, und wenn du klug bist, so kommst du mit.«

Allschön hörte nur halb hin. Schon umarmte er die Frauen und nahm von ihnen Abschied. Währendsie seufzend und in Tränen gebadet winkten, ritt er davon. Im Galopp erreichte er den Ort, wo dieSkorpionin gehaust hatte. Aber was war das? Sah er recht? Jetzt standen hier große Städte, und dieWildnis war in fruchtbare Äcker verwandelt. Überall arbeiteten Menschen, und Allschön jagte voneinem zum anderen. Jeden frug er, wo denn die Skorpionin sei? Dann erhielt er zur Antwort, dieGroßmütter erinnerten sich zwar, daß ihre Urgroßmütter sich mit dem Märchen von der Scorpiaunterhalten hätten, sie selber aber wüßten nichts mehr davon.

»Wie kann das sein?«, rief er aus. »Noch gestern oder vorgestern ritt ich hier vorbei und schoß derDrachin einen ihrer drei Köpfe vom Leib!«

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Da lachten sie über ihn wie über einen Narren, und er gab denn Pferd zornig die Sporen. Daß Haareund Bart ihm ergrauten, merkte er nicht.

Im Reich der Spechtin erging es ihm ebenso. Dieselben Fragen und dieselben Antworten undlachenden Reden. Er schüttelte den Kopf und konnte es nicht fassen, daß in so kurzer Zeit sich allesverändert hatte. Jetzt aber bemerkte er, daß ein schlohweißer Bart ihm bis auf den Gürtel fiel. [42] Erjagte weiter und endlich, endlich erreichte er das Reich seines Vaters und den Palast, wo er zur Weltgekommen war. Als er abstieg, zitterten seine Glieder, und er sah, daß sie welk und schwach gewordenwaren.

Das Pferd küßte ihm die Hand und sprach: »Herr, ich kehre zurück, von wo ich gekommen bin. WolleGott, daß du mich begleitest.«

Er aber erwiderte: »Geh nur ein wenig voraus, Bester, und im Handumdrehen folge ich dir nach.«

Da sagte das Pferd nichts mehr, breitete seine Flügel aus und entschwand seinem Blick.

Jetzt sah der Prinz, daß sein Vaterhaus zerfallen war, und er stöhnte laut auf. Zwei- und dreimalverirrte er sich zwischen Gesträuch und Unkraut und konnte den Hof, wo er gespielt, den Stall, wo ersein Pferd gepflegt hatte, nicht wieder erkennen. Zuletzt fand er den Zugang zu einem Keller und stieghinab. Tastend wankte er von einem Winkel zum andern und hoffte, wenigstens auf einen bekanntenStein, einen vertrauten Balken zu stoßen. Sein schneeweißer Bart fiel ihm jetzt bis auf die Knie herab,und seine Augenlider waren so schwer, daß er sie mit den Fingern hochhalten mußte.

Plötzlich stieß sein Fuß gegen eine Truhe. Er betrachtete sie und hob mühsam ihren Deckel auf. Siewar leer. Dann schob er auch den Schieber zum Seitenlädchen zurück, und jetzt erscholl eine hohleStimme: »Saumseliger, bist du endlich da?«

Der also sprach, war des Prinzen Tod. Zusammengekrümmt lag er im Seitenlädchen der Truhe, und inder langen Zeit war er ausgetrocknet wie eine dürre Birne im Frühling. Jetzt reckte er sich und sprach:»Wie lange glaubtest du, daß ich noch warte? Bald wäre ich vor Langeweile noch selber gestorben!«

Unbeholfen stand er auf, holte aus und versetzte Allschön einen leichten Schlag. [43] Da sank derPrinz zu Boden, und heraus war er aus der Schar der Lebendigen. Im selben Augenblick zerfiel sein Leibzu einem Häuflein Asche, und die Asche verwehte nach allen vier Richtungen des Himmelszelts.

Ich aber hab mich auf mein Pferdchen geschwungen Und vor euch das Märchen von Allschöngesungen. [44]

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Die schöne WassilissaRussisches Volksmärchen

In einem Reich lebte einmal ein Kaufmann. Zwölf Jahre war er verheiratet gewesen und hatte dochnur eine einzige Tochter, die schöne Wassilissa. Als die Mutter auf den Tod darniederlag, war dasMädchen acht Jahre alt. Sterbend rief die Kaufmannsfrau das Töchterchen zu sich, zog eine Puppe unterder Bettdecke hervor, gab sie ihr und sprach: Höre, liebe Wassilissa! Merke dir meine letzten Worte gutund beherzige sie. Ich sterbe und hinterlasse dir mit meinem mütterlichen Segen auch diese Puppe hier;trage sie immer bei dir und zeige sie niemandem. Widerfährt dir aber einmal ein Leid, so gib ihr zu essenund frage sie um Rat. Sie wird essen und dir sagen, wie man dem Unglück beikommen kann.« Hieraufküßte die Mutter ihr Töchterchen und starb.

Nach dem Tode seiner Frau trauerte der Kaufmann eine Zeitlang, wie es sich gehört, dann aber kames ihm in den Sinn, sich wieder zu vermählen. Er war ein stattlicher Mann, und an Bräuten konnte esihm nicht mangeln, doch am besten gefiel ihm eine Witwe. Sie war schon bei Jahren und hatte selbstzwei Töchter, die mit Wassilissa fast im selben Alter standen – also eine erfahrene Hausfrau und Mutter,hätte man meinen sollen. Der Kaufmann nahm die Witwe zur Frau, aber er hatte sich getäuscht undkeine gute Mutter für seine Wassilissa in ihr gefunden.

Wassilissa war das schönste Mädchen im ganzen Dorf. [45] Stiefmutter und Stiefschwesternbeneideten sie um ihre Schönheit und bürdeten ihr alle möglichen Arbeiten auf, damit sie von derPlackerei abmagere und ihr Gesicht von Wind und Sonne dunkel würde; sie machten ihr das Leben ganzund gar zur Qual!

Wassilissa ertrug alles, ohne zu murren, und ward mit jedem Tag schöner und stattlicher. Derweilwurden die Stiefmutter und ihre Töchter vor lauter Bosheit mager und häßlich, obwohl sie bloß immerdasaßen und die Hände in den Schoß legten wie die Gutsherrinnen. Wie ging das nur zu? Wassilissabekam von ihrer Puppe Hilfe. Wie sonst hätte das Mädchen wohl mit all der Arbeit fertig werden sollen!Dafür kam es zuweilen vor, daß Wassilissa selbst nichts aß, der Puppe aber die schönsten Leckerbissenaufhob. Abends, wenn alle zur Ruhe gegangen waren, schloß sie sich in dem Kämmerchen ein, in demsie hauste, bewirtete die Puppe und sprach dazu: »Nimm das, Puppe, iß, und dann höre meinen Kummeran! Ich lebe in meines Vaters Haus und kenne doch keine Freude; die böse Stiefmutter mißgönnt mir dielichte Welt. Lehre du mich, wie soll ich sein und leben, und was soll ich tun?« Die Puppe aß, und hieraufgab sie ihr Ratschläge und tröstete sie in ihrem Kummer, am nächsten Morgen aber besorgte sie dieganze Arbeit für Wassilissa. Die brauchte sich nur im Schatten auszuruhen und Blumen zu pflücken, undehe sie sich's versah, waren schon ihre Beete gejätet, war der Kohl gegossen, Wasser geholt und derOfen geheizt. Die Puppe wies Wassilissa auch ein Kräutlein gegen die Sonnenbräune. Ein schönesLeben hatte sie mit ihrer Puppe.

So waren einige Jahre ins Land gegangen. Wassilissa war herangewachsen und ins heiratsfähige Altergekommen. Alle jungen Männer in der Stadt freiten um sie; die Töchter der Stiefmutter aber sah keinerauch nur an. Die Stiefmutter wurde noch wütender als zuvor und gab allen Freiern zur Antwort: »Ichverheirate die Jüngste nicht vor den Älteren !« Und nachdem sie die Freier hinausbegleitet hatte, ließ sieihren Zorn mit Schlägen an Wassilissa aus. [46]

Eines Tages nun mußte der Kaufmann auf längere Zeit in Handelsgeschäften fort von daheim. DieStiefmutter zog in ein anderes Haus, und gleich hinter diesem Haus war ein tiefer Wald. Auf einerLichtung im Wald aber stand ein Häuschen, und darin lebte die Hexe Baba-Jaga. Die ließ niemanden inihre Nähe und fraß Menschen, als wären es Küken. Nachdem die Kaufmannsfrau in das neue Hausgezogen war, schickte sie die ihr verhaßte Wassilissa fortwährend in den Wald, um bald dieses, baldjenes zu holen. Wassilissa aber kehrte stets wohlbehalten heim: Die Puppe zeigte ihr den Weg und hieltsie vom Häuschen der Baba-Jaga fern.

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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So kam der Herbst heran. Die Stiefmutter teilte allen drei Mädchen Arbeit für die Abende zu: Dieeine ließ sie Spitzen klöppeln, die andere Strümpfe stricken, und Wassilissa mußte spinnen, und einerjeden war die Arbeit genau zugemessen. Die Stiefmutter löschte im ganzen Haus das Licht, ließ nur dort,wo die Mädchen arbeiteten, eine Kerze brennen und legte sich selbst schlafen. Die Mädchen arbeiteten.Da begann die Kerze zu rußen, und die eine Tochter der Stiefmutter nahm die Stricknadel, um den Dochtzu richten, statt dessen aber löschte sie, wie die Mutter sie geheißen, wie aus Versehen die Kerze aus.»Was sollen wir jetzt beginnen?«, sprachen die Mädchen. »Im ganzen Haus ist kein Licht, unsere Arbeitaber ist noch nicht getan. Jemand muß zur Baba-Jaga laufen und Licht holen!« – »Mit ist von denNadeln hell genug«, sagte die, die Spitzen klöppelte. »Ich gehe nicht.« – »Ich auch nicht«, meinte dieandere, die Strümpfe strickte. »Mir ist von den Stricknadeln hell genug!« – »Du mußt gehen und Lichtholen«, schrien beide. »Marsch, lauf zur Baba-Jaga!« Und sie stießen Wassilissa zur Stube hinaus. [47]

Wassilissa begab sich in ihr Kämmerchen, stellte das fertige Abendbrot vor die Puppe hin und sprach:»Nimm das, Puppe, iß, und dann höre meinen Kummer an: Sie schicken mich zur Baba-Jaga, Lichtholen; fressen wird mich die Baba-Jaga!« Die Puppe aß, und ihre Augen begannen zu leuchten wie zweiKerzen. »Fürchte dich nicht, kleine Wassilissa!«, sagte sie. »Geh, wohin sie dich schicken, aber tragemich immer bei dir. Bin ich bei dir, kann dir bei der Baba-Jaga nichts geschehen.« Wassilissa rüstetesich, steckte ihre Puppe in die Tasche, bekreuzigte sich und machte sich auf den Weg in den tiefen Wald.

Da ging sie nun und zitterte vor Furcht. Auf einmal jagte ein Reiter an ihr vorüber: Der war weiß vonAngesicht, weiß waren auch seine Kleider, das Pferd unter ihm und das Riemenzeug des Pferdes –draußen begann es zu dämmern. Sie ging weiter. Da jagte ein anderer Reiter vorbei: Der war rot vonAngesicht, rot waren auch seine Kleider und sein Pferd – und nun ging die Sonne auf.

Wassilissa lief die ganze Nacht und den ganzen folgenden Tag, und erst am nächsten Abend kam sieauf die Lichtung, wo das Hexenhaus stand. Der Zaun, der das Haus umgab, war aus Menschenknochen,und auf dem Zaun steckten Menschenschädel mit Augen. Statt der Türen standen da am EingangMenschenbeine, als Riegel dienten Hände, und das Türschloß war ein Mund mit scharfen Zähnen.Wassilissa erstarrte vor Entsetzen und stand wie angewurzelt da. Auf einmal kam ein Reiterdahergeritten: Der war schwarz von Angesicht, schwarz waren auch seine Kleider und sein Pferd. Ersprengte auf das Tor der Baba-Jaga zu und verschwand, wie vom Erdboden verschluckt – da brach dieNacht an. Doch die Dunkelheit währte nicht lange: Die Augen aller Schädel auf dem Zaun begannen zuleuchten, und auf der ganzen Lichtung wurde es taghell. Wassilissa zitterte vor Entsetzen, doch da sienicht wußte, wohin sie fliehen sollte, blieb sie, wo sie war.

Bald erhob sich im Wald ein fürchterliches Getöse: [48] Die Bäume krachten und knackten, dietrockenen Blätter raschelten, und aus dem Wald kam die Baba-Jaga. In einem Mörser fuhr sie dahin, mitdem Stößel trieb sie ihn an, mit einem Ofenbesen verwischte sie ihre Spur. Sie fuhr vors Tor, hielt anund schnüffelte in alle Himmelsrichtungen. Dann schrie sie: »Pfui, pfui! Nach einem Russen riecht es!Wer ist hier?«

Wassilissa näherte sich der Alten voller Furcht, verneigte sich tief und sprach: »Ich bin es,Großmütterchen! Die Töchter der Stiefmutter haben mich zu dir geschickt, Licht zu holen.«

»Schön«, sagte die Baba-Jaga, »die kenne ich. Bleibe du fortan bei mir und arbeite für mich, dannwerde ich dir auch Licht geben. Willst du das aber nicht, so fresse ich dich!« Darauf wandte sie sich zumTor um und rief. »Heda, meine festen Riegel, geht auf, und du, mein breites Tor, öffne dich!« Das Tortat sich auf, und die Baba-Jaga fuhr pfeifend hinein; Wassilissa folgte ihr, und schon war alles wiederzugesperrt. Die Baba-Jaga trat in die Stube setzte sich nieder und streckte die Beine von sich. ZuWassilissa sagte sie: »Bring mal her, was dort im Ofen ist, ich will essen.«

Wassilissa zündete an den Schädeln, die auf dem Zaun steckten, einen Span an, holte die Speisen ausdem Ofen und trug sie der Hexe auf, zehn Menschen hätten gut davon satt werden können – aus demKeller brachte sie Kwaß, Honig, Bier und Wein herbei. Alles aß die Alte auf, alles trank sie, fürWassilissa ließ sie nur ein bißchen Kohlsuppe übrig, einen Ranft Brot und ein Stückchen Ferkelfleisch.Hierauf schickte sich die Baba-Jaga an, schlafen zu gehen, und sagte: »Wenn ich morgen weggefahrenbin, dann spute dich: Fege den Hof, kehre das Haus aus, koche das Essen, besorge die Wäsche und geh

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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in die Scheuer, nimm einen Scheffel Weizen und reinige ihn vom Mutterkorn. Und daß mir auch allesgetan ist, sonst fresse ich dich!« Als die Baba-Jaga Wassilissa das alles aufgetragen hatte, fing sie zuschnarchen an. [49]

Wassilissa aber stellte die Reste, die die Alte übrig gelassen hatte, vor die Puppe hin, brach in Tränenaus und sprach: »Nimm das, Puppe, iß, und dann höre meinen Kummer an! Eine schwere Arbeit hat mirdie Baba-Jaga aufgebürdet, und sie droht, mich zu fressen, wenn ich nicht alles ausführe; hilf mir!« DiePuppe entgegnete: »Fürchte dich nicht, schöne Wassilissa! Iß dein Abendbrot, verrichte dein Gebet undleg dich schlafen; der Morgen ist klüger als der Abend!«

In aller Herrgottsfrühe erwachte Wassilissa. Die Baba-Jaga war schon aufgestanden und sah zumFenster hinaus: An den Schädeln erloschen die Augen; da tauchte der weiße Reiter auf – und sogleichwurde es taghell. Die Baba-Jaga ging auf den Hof hinaus und pfiff – und schon stand der Mörser mitStößel und Ofenbesen vor ihr. Der rote Reiter jagte vorüber – da ging die Sonne auf. Die Baba-Jagasetzte sich in den Mörser und fuhr vom Hof, mit dem Stößel trieb sie an, mit dem Ofenbesen verwischtesie ihre Spur. Wassilissa blieb allein zurück und sah sich nun im Haus der Baba-Jaga um. Sie wundertesich, was für ein Überfluß an allen Dingen herrschte, und hielt inne, in Nachdenken versunken: Anwelche Arbeit sollte sie sich als Erstes machen ? Sie schaute auf, und siehe da – alle Arbeit war schongetan; die Puppe las soeben die letzten Körner Mutterkorn aus dem Weizen heraus.

»Ach, du meine Retterin«, sprach Wassilissa zu der Puppe. »Vor großem Ungemach hast du michbewahrt.«

»Du brauchst nur noch das Essen zu kochen«, erwiderte die Puppe und kletterte in WassilissasTasche. »Koche in Gottes Namen und ruh dich ordentlich aus!«

Gegen Abend deckte Wassilissa den Tisch und wartete auf die Baba-Jaga. Es begann zu dämmern, datauchte vor dem Tor der schwarze Reiter auf, und es wurde stockfinster; nur die Augen an den Schädelnleuchteten. Die Bäume hoben zu knarren und zu krachen, die Blätter zu rascheln an – da kam die Baba-Jaga dahergefahren. Wassilissa ging ihr entgegen. [50]

»Ist alles getan?«, fragte die Hexe. »Schau bitte selbst nach, Großmütterchen!«, entgegneteWassilissa. Die Baba-Jaga betrachtete alles genau, ärgerte sich, daß es nichts auszusetzen gab, und sagte:»Na schön!« Dann schrie sie: »Meine treuen Diener, meine Herzensfreunde, mahlt mir meinen Weizen!«Drei Paar Hände erschienen, packten den Weizen und trugen ihn fort. Die Baba-Jaga aß sich satt,schickte sich an, schlafen zu gehen, und gab Wassilissa wieder einen Auftrag: »Morgen tust du dasGleiche wie heute, obendrein aber nimm den Mohn aus der Scheuer und reinige ihn, Körnchen für Körn-chen, von Erde; jemand hat ihn vor lauter Bosheit mit Erde vermischt!« Die Alte sprach's, drehte sichzur Wand und begann zu schnarchen, Wassilissa aber ging daran, ihre Puppe zu füttern.

Die Puppe aß und sagte zu ihr, wie am Tag zuvor: »Bete zu Gott und leg dich schlafen; der Morgenist klüger als der Abend. Alles wird getan werden, liebe Wassilissa!«

Am anderen Morgen fuhr die Baba-Jaga wieder in ihrem Mörser vom Hof, Wassilissa und ihre Puppeaber hatten die ganze Arbeit im Handumdrehen geschafft. Die Alte kehrte zurück, betrachtete allesgenau und schrie: »Meine treuen Diener, meine Herzensfreunde, preßt Öl aus dem Mohn!« Die drei PaarHände erschienen, packten den Mohn und trugen ihn fort. Die Baba-Jaga setzte sich zum Essen nieder.Sie aß, Wassilissa aber stand schweigend daneben.

»Warum sprichst du nicht mit mir?« sagte die Baba-Jaga. »Stehst da wie stumm! «

»Ich habe es nicht gewagt«, erwiderte Wassilissa, »doch wenn du erlaubst, so möchte ich dich einigesfragen.«

»Frag nur; aber nicht jede Frage führt zum Guten: Wer viel weiß, wird bald alt!«

»Ich will dich nur nach dem fragen, Großmütterchen, was ich gesehen habe. [51] Als ich zu dir ging,überholte mich ein Reiter auf einem weißen Pferd, der war weiß von Angesicht, und weiß waren seineKleider: Wer ist das?«

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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»Das ist der lichte Tag, mein Diener«, entgegnete die Baba-Jaga.

»Später überholte mich ein anderer Reiter auf einem roten Pferd, der war rot von Angesicht, und rotwaren alle seine Kleider: Wer ist das?«

»Das ist der rote Sonnenball, mein Diener«, gab die Baba-Jaga zur Antwort.

»Und was bedeutet der schwarze Reiter, der mich direkt vor deinem Tor überholte,Großmütterchen?«

»Das ist der dunkle Abend, mein Diener – alle dienen sie mir treu. «

Wassilissa fielen die drei Paar Hände ein, doch sie schwieg. »Warum fragst du nicht weiter?« drangdie Baba-Jaga in sie. »Mir genügt auch dies schon; du hast ja selbst gesagt, Großmütterchen, wer vielweiß, wird bald alt.«

»Dein Glück«, sprach die Baba-Jaga, »daß du nur nach dem fragst, was du draußen, und nicht nachdem, was du drinnen gesehen hast. Ich kann es nicht leiden, wenn man mir Schlechtes nachsagt, undallzu Neugierige fresse ich! Jetzt laß mich dich fragen: Wie schaffst du es, die Arbeit zu erledigen, dieich dir auftrage?«

»Mir hilft der Segen meiner Mutter«, antwortete Wassilissa. »So ist das also! Scher dich fort von hier,gesegnetes Töchterchen! Gesegnete brauche ich nicht.« Sie schleifte Wassilissa aus der Stube und stießsie zum Tor hinaus. Vom Zaun nahm sie einen Schädel mit glühenden Augen, steckte ihn auf einenStock, gab ihn ihr und sprach: »Da hast du das Licht für die Töchter der Stiefmutter, nimm es; deswegenhaben sie dich doch hergeschickt.«

Beim Licht des Schädels, das erst bei Tagesanbruch erlosch, machte sich Wassilissa ungesäumt aufden Heimweg. [52] Tags darauf, gegen Abend, langte sie schließlich zu Hause an. Als sie sich dem Tornäherte, wollte sie den Schädel schon fortwerfen. Denn sie dachte bei sich: Sicher brauchen sie daheimkein Licht mehr. Auf einmal aber ließ sich aus dem Schädel eine dumpfe Stimme vernehmen: »Wirfmich nicht fort, bring mich zur Stiefmutter!«

Sie schaute auf das Haus der Stiefmutter, und da sie in keinem Fenster Licht gewahrte, entschloß siesich, mit dem Schädel hineinzugehen. Zum ersten Mal wurde Wassilissa freundlich empfangen, und sieerzählten ihr, seit sie fortgegangen sei, hätten sie kein Licht mehr im Hause gehabt: Selber Feuer zuschlagen, habe ihnen durchaus nicht glücken wollen, das Licht aber, das sie von Nachbarn geholt hätten,sei erloschen, sobald sie damit in die Stube traten. »Vielleicht wird sich dein Licht halten!«, sagte dieStiefmutter. Sie brachten den Schädel in die Stube, die Augen aus dem Schädel aber starrten dieStiefmutter und ihre Töchter unablässig an und brannten unbarmherzig! jene wollten sich verstecken,doch wohin sie auch flohen, die Augen folgten ihnen überallhin. Gegen Morgen waren sie verbrannt undverkohlt; allein Wassilissa war nichts geschehen.

Am Morgen verscharrte Wassilissa den Schädel in der Erde, schloß das Haus ab, machte sich auf denWeg in die Stadt und bat eine alte Frau, die keine Verwandten mehr hatte, sie möge sie doch bei sichwohnen lassen. Da lebte sie nun ganz behaglich und wartete auf den Vater.

Eines Tages sagte sie zu der Alten: »Es langweilt mich, so müßig dazusitzen, Großmütterchen! Gehund kauf mir Flachs, aber vom feinsten, ich möchte spinnen!«

Die Alte kaufte guten Flachs, und Wassilissa machte sich ans Werk. Die Arbeit ging ihr flink von derHand, und das Gespinst wurde gleichmäßig und fein wie ein Härchen. So war schon eine ganze MengeGarn zusammengekommen, und es wäre an der Zeit gewesen, auch mit dem Weben zu beginnen. [53]

Doch Weberkämme, die für Wassilissas Garn getaugt hätten, waren weit und breit nicht zu finden,und niemand traute sich zu, einen solchen Kamm zu machen.

Da setzte Wassilissa ihrer Puppe mit Bitten zu, und die sprach denn auch: »Bring mir dochirgendeinen alten Weberkamm, ein altes Schiffchen und eine Pferdemähne; ich werde dir schon alleszurechtzimmern.«

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Wassilissa besorgte alles, was nötig war, und legte sich schlafen, die Puppe aber fertigte über Nachteinen prächtigen Webstuhl. Als der Winter zu Ende ging, war auch das Linnen gewebt, und so fein wares, daß man es anstelle des Fadens durch ein Nadelöhr hätte ziehen können.

Im Frühjahr bleichten sie das Linnen, und Wassilissa sprach zu der Alten: »Verkauf dieses Linnen,Großmütterchen, das Geld aber behalte für dich.«

Die Alte schaute die Ware an und staunte »Nein, Kindchen! Solches Linnen darf niemand tragen, nurder Zar; ich werde es in den Palast bringen.« Und sie machte sich auf den Weg zum Zarenpalast und liefimmerfort vor den Fenstern auf und ab. Der Zar sah es und fragte: »Was willst du, Alte?«

»Eure Majestät«, gab die Alte zur Antwort, »ich habe eine wunderbare Ware hergebracht, und keinemals dir will ich sie zeigen.«

Der Zar befahl, die Alte hereinzulassen, und als er das Linnen sah, verwunderte er sich über alleMaßen. »Was willst du dafür haben?«

»Mit Geld ist das Linnen nicht zu bezahlen, Väterchen Zar! Ich habe es dir als Geschenk gebracht.«

Da dankte der Zar der Alten und ließ sie, mit Geschenken beladen, ziehen.

Nun ging man daran, dem Zaren aus diesem Linnen Hemden zu nähen; man schnitt sie zu, dochnirgends fand sich eine Näherin, die es übernehmen wollte, die Hemden zu nähen. [54]

Lange suchte man; schließlich ließ der Zar die Alte kommen und sprach: »Hast du es vermocht,solches Linnen zu spinnen und zu weben, so nähe nun auch Hemden daraus.«

»Nicht ich habe das Linnen gesponnen und gewebt, Herr«, sagte die Alte, »das hat ein Mädchengetan, das ich zu mir genommen habe.«

»Nun, so mag sie die Hemden auch nähen!«

Die Alte kehrte heim und erzählte Wassilissa alles. »Ich wußte wohl«, sagte Wassilissa darauf zu ihr,»daß diese Arbeit mir nicht erspart bleiben würde.« Sie schloß sich in ihre Stube ein und machte sich ansWerk; sie nähte und gönnte sich nicht Rast noch Ruh, und bald schon war ein Dutzend Hemden fertig.

Die Alte trug die Hemden zum Zaren, Wassilissa aber wusch und kämmte sich, zog sich fein an undsetzte sich ans Fenster. Dort saß sie nun und wartete, was geschehen würde. Da sah sie auf einmal, wieein Diener des Zaren in den Hof der Alten kam. Er trat in die Stube und sagte: »Der Zar wünscht dieMeisterin zu sehen, die ihm die Hemden genäht hat, und aus seinen eigenen Händen soll sie den Lohnempfangen.«

Wassilissa machte sich also auf den Weg und erschien vor dem Angesicht des Zaren. Kaum hatte derZar die schöne Wassilissa erblickt, da verliebte er sich auch schon unsterblich in sie. »Nein«, sprach er,»meine Schöne! Ich will mich nicht mehr von dir trennen; du wirst meine Frau.« Damit faßte der ZarWassilissa bei den weißen Händen, setzte sie neben sich, und auf der Stelle wurde die Hochzeit gefeiert.Bald kehrte auch Wassilissas Vater heim, freute sich über ihr Glück und lebte fortan bei der Tochter.Wassilissa nahm auch die Alte zu sich, die Puppe aber trug sie bis an ihr Lebensende immer in derTasche. [55]

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Brüder Grimm

Das Wasser des Lebens

Es war einmal ein König, der war krank, und niemand glaubte, daß er mit dem Leben davonkäme. Erhatte aber drei Söhne, die waren darüber betrübt, gingen hinunter in den Schloßgarten und weinten. Dabegegnete ihnen ein alter Mann, der fragte sie nach ihrem Kummer. Sie sagten ihm, ihr Vater wäre sokrank, daß er wohl sterben würde, denn es wollte ihm nichts helfen. Da sprach der Alte: »Ich weiß nochein Mittel, das ist das Wasser des Lebens, wenn er davon trinkt, so wird er wieder gesund, es ist aberschwer zu finden.«

Der älteste sagte: »Ich will es schon finden«, ging zum kranken König und bat ihn, er möchte ihmerlauben auszuziehen, um das Wasser des Lebens zu suchen, denn das könnte ihn allein heilen. »Nein«,sprach der König, »die Gefahr dabei ist zu groß, lieber will ich sterben.« Er bat aber so lange, bis derKönig einwilligte. Der Prinz dachte in seinem Herzen: Bringe ich das Wasser, so bin ich meinem Vaterder Liebste und erbe das Reich.

Also machte er sich auf, und als er eine Zeit lang geritten war, stand da ein Zwerg auf dem Wege, derrief ihn an und sprach: »Wo hinaus so geschwind?« – »Dummer Knirps«, sagte der Prinz ganz stolz,»das brauchst du nicht zu wissen«, und ritt weiter. Das kleine Männchen aber war zornig geworden undhatte einen bösen Wunsch getan. [56] Der Prinz geriet bald hernach in eine Bergschlucht, und je weiterer ritt, je enger taten sich die Berge zusammen, und endlich ward der Weg so eng, daß er keinen Schrittweiterkonnte; es war nicht möglich, das Pferd zu wenden oder aus dem Sattel zu steigen, und er saß dawie eingesperrt. Der kranke König wartete lange auf ihn, aber er kam nicht.

Da sagte der zweite Sohn: »Vater, laßt mich ausziehen und das Wasser suchen«, und dachte bei sich:Ist mein Bruder tot, so fällt das Reich mir zu. Der König wollte ihn anfangs auch nicht ziehen lassen,endlich gab er nach. Der Prinz zog also auf demselben Weg fort, den sein Bruder eingeschlagen hatte,und begegnete auch dem Zwerg, der ihn anhielt und fragte, wohin er so eilig wollte. »Kleiner Knirps«,sagte der Prinz, »das brauchst du nicht zu wissen«, und ritt fort, ohne sich weiter umzusehen. Aber derZwerg verwünschte ihn, und er geriet wie der andere in eine Bergschlucht und konnte nicht vorwärts undrückwärts. So geht's aber den Hochmütigen.

Als auch der zweite Sohn ausblieb, so erbot sich der jüngste, auszuziehen und das Wasser zu holen,und der König mußte ihn endlich ziehen lassen. Als er dem Zwerg begegnete und dieser fragte, wohin erso eilig wolle, so hielt er an, gab ihm Rede und Antwort und sagte: »Ich suche das Wasser des Lebens,denn mein Vater ist sterbenskrank.« – »Weißt du auch, wo das zu finden ist?« – »Nein«, sagte der Prinz.»Weil du dich betragen hast, wie sich's geziemt, nicht übermütig wie deine falschen Brüder, so will ichdir Auskunft geben und dir sagen, wie du zu dem Wasser des Lebens gelangst. Es quillt aus einemBrunnen in dem Hofe eines verwünschten Schlosses, aber du dringst nicht hinein, wenn ich dir nichteine eiserne Rute gebe und zwei Brotlaibe. Mit der Rute schlag dreimal an das eiserne Tor desSchlosses, so wird es aufspringen; inwendig liegen zwei Löwen, die den Rachen aufsperren, wenn duaber jedem ein Brot hineinwirfst, so werden sie still, und dann eile dich und hol von dem Wasser desLebens, bevor es zwölf schlägt, sonst schlägt das Tor wieder zu und du bist eingesperrt.« [57]

Der Prinz dankte ihm, nahm die Rute und das Brot und machte sich auf den Weg. Und als er anlangte,war alles so, wie der Zwerg gesagt hatte. Das Tor sprang beim dritten Rutenschlag auf, und als er dieLöwen mit dem Brot besänftigt hatte, trat er in das Schloß und kam in einen großen schönen Saal. Darinsaßen verwünschte Prinzen, denen zog er die Ringe vom Finger, dann lag da ein Schwert und ein Brot,das nahm er weg. Und weiter kam er in ein Zimmer, darin stand eine schöne Jungfrau, die freute sich, alssie ihn sah, küßte ihn und sagte, er hätte sie erlöst und sollte ihr ganzes Reich haben, und wenn er ineinem Jahre wiederkäme, so sollte ihre Hochzeit gefeiert werden. Dann sagte sie ihm auch, wo derBrunnen wär mit dem Lebenswasser; er müßte sich aber beeilen und daraus schöpfen, eh es zwölfschlüge. Da ging er weiter und kam endlich in ein Zimmer, wo ein schönes, frisch gedecktes Bett stand,

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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und weil er müde war, wollt er erst ein wenig ausruhen. Also legte er sich und schlief ein. Als ererwachte, schlug es drei viertel auf zwölf. Da sprang er ganz erschrocken auf, lief zu dem Brunnen undschöpfte daraus mit einem Becher, der daneben stand, und eilte, daß er fortkam. Wie er eben zumeisernen Tor hinausging, da schlug's zwölf, und das Tor schlug so heftig zu, daß es ihm noch ein Stückvon der Ferse wegnahm.

Er aber war froh, daß er das Wasser des Lebens erlangt hatte, ging heimwärts und kam wieder an demZwerg vorbei. Als dieser das Schwert und das Brot sah, sprach er: »Damit hast du großes Gut gewonnen,mit dem Schwert kannst du ganze Heere schlagen, das Brot aber wird niemals alle.« Der Prinz wollteohne seine Brüder nicht zu dem Vater nach Haus kommen und sprach: »Lieber Zwerg, kannst du mirnicht sagen, wo meine Brüder sind? Sie sind früher als ich nach dem Wasser des Lebens ausgezogen undsind nicht wiedergekommen.« – »Zwischen zwei Bergen stecken sie eingeschlossen«, sprach der Zwerg,»dahin habe ich sie verwünscht, weil sie so übermütig waren.« [58] Da bat der Prinz so lange, bis derZwerg sie wieder losließ; aber er warnte ihn und sprach: »Hüte dich vor ihnen, sie haben ein bösesHerz!«

Als seine Brüder kamen, freute er sich und erzählte ihnen, wie es ihm ergangen wäre, daß er dasWasser des Lebens gefunden und einen Becher voll mitgenommen und eine schöne Prinzessin erlösthätte, die wollte ein Jahr lang auf ihn warten, dann sollte Hochzeit gehalten werden, und er bekäme eingroßes Reich.

Danach ritten sie zusammen fort und gerieten in ein Land, wo Hunger und Krieg war, und der Königglaubte schon, er müßte verderben, so groß war die Not. Da ging der Prinz zu ihm und gab ihm das Brot,womit er sein ganzes Reich speiste und sättigte; und dann gab ihm der Prinz auch das Schwert, damitschlug er die Heere seiner Feinde und konnte nun in Ruhe und Frieden leben. Da nahm der Prinz seinBrot und Schwert wieder zurück, und die drei Brüder ritten weiter.

Sie kamen aber noch in zwei Länder, wo Hunger und Krieg herrschten, und da gab der Prinz denKönigen jedes Mal sein Brot und das Schwert und hatte nun drei Reiche gerettet. Und danach setzten siesich auf ein Schiff und fuhren übers Meer.

Während der Fahrt sprachen die beiden ältesten unter sich: »Der jüngste hat das Wasser des Lebensgefunden und wir nicht, dafür wird ihm unser Vater das Reich geben, das uns gebührt, und er wird unserGlück wegnehmen.« Da wurden sie rachsüchtig und verabredeten miteinander, daß sie ihn verderbenwollten. Sie warteten, bis er einmal fest eingeschlafen war, da gossen sie das Wasser des Lebens ausdem Becher und nahmen es für sich, ihm aber gossen sie bitteres Meerwasser hinein.

Als sie nun daheim ankamen, brachte der jüngste dem kranken König seinen Becher, damit er daraustrinken und gesund werden sollte. Kaum aber hatte er ein wenig von dem bitteren Meerwassergetrunken, so ward er noch kränker als zuvor. [59] Und wie er darüber jammerte, kamen die beidenältesten Söhne und klagten den jüngsten an, er hätte ihn vergiften wollen, sie brächten ihm das rechteWasser des Lebens, und reichten es ihm. Kaum hatte er davon getrunken, so fühlte er seine Krankheitverschwinden und war stark und gesund wie in seinen jungen Tagen. Danach gingen die beiden zu demjüngsten, verspotteten ihn und sagten: »Du hast zwar das Wasser des Lebens gefunden, aber du hast dieMühe gehabt und wir den Lohn; du hättest klüger sein und die Augen aufbehalten sollen, wir haben dir'sgenommen, während du auf dem Meere eingeschlafen warst, und übers Jahr, da holt sich einer von unsdie schöne Königstochter. Aber hüte dich, daß du nichts davon verrätst, der Vater glaubt dir doch nicht,und wenn du ein einziges Wort sagst, so sollst du noch obendrein dein Leben verlieren, schweigst duaber, so soll dir's geschenkt sein.«

Der alte König war zornig über seinen jüngsten Sohn und glaubte, er hätte ihm nach dem Lebengetrachtet. Also ließ er den Hof versammeln und das Urteil über ihn sprechen, daß er heimlicherschossen werden sollte. Als der Prinz nun einmal auf die Jagd ritt und nichts Böses vermutete, mußtedes Königs Jäger mitgehen. Draußen, als sie ganz allein im Wald waren und der Jäger so traurig aussah,sagte der Prinz zu ihm: »Lieber Jäger, was fehlt dir?« Der Jäger sprach: »Ich kann's nicht sagen und solles doch.« Da sprach der Prinz: »Sage heraus, was es ist, ich will dir's verzeihen!« – »Ach«, sagte derJäger, »ich soll euch totschießen, der König hat mir's befohlen.« Da erschrak der Prinz und sprach:

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»Lieber Jäger, laß mich leben, da geb ich dir mein königliches Kleid, gib mir dafür dein schlechtes!«Der Jäger sagte: »Das will ich gerne tun, ich hätte doch nicht nach euch schießen können.« Da tauschtensie die Kleider, und der Jäger ging heim, der Prinz aber ging weiter in den Wald hinein. [60]

Über eine Zeit, da kamen zu dem alten König drei Wagen mit Gold und Edelsteinen für seinenjüngsten Sohn; sie waren aber von den drei Königen geschickt, die mit des Prinzen Schwert die Feindegeschlagen und mit seinem Brot ihr Land ernährt hatten und die sich dankbar bezeigen wollten. Dadachte der alte König: Sollte mein Sohn unschuldig gewesen sein? und sprach zu seinen Leuten: »Wäreer noch am Leben, wie tut mir's so leid, daß ich ihn habe töten lassen!« – »Er lebt noch«, sprach derJäger, »ich konnte es nicht übers Herz bringen, Euren Befehl auszuführen«, und sagte dem König, wie eszugegangen war. Da fiel dem König ein Stein vom Herzen, und er ließ in allen Reichen verkündigen,sein Sohn dürfte wiederkommen und sollte in Gnaden aufgenommen werden.

Die Königstochter aber ließ eine Straße vor ihrem Schloß machen, die war ganz golden und glänzend,und sagte ihren Leuten, wer darauf geradeswegs zu ihr geritten käme, das wäre der rechte und densollten sie einlassen, wer aber daneben käme, der wäre der rechte nicht und den sollte sie auch nichteinlassen. Als nun die Zeit bald herum war, dachte der älteste, er wollte sich eilen, zur Königstochtergehen und sich für ihren Erlöser ausgeben, da bekäme er sie zur Gemahlin und das Reich dazu. Also ritter fort, und als er vor das Schloß kam und die schöne goldene Straße sah, dachte er: Das wärejammerschade, wenn du darauf rittest, lenkte zur Seite und ritt rechts nebenher. Wie er aber vor das Torkam, sagten die Leute zu ihm, er wäre der rechte nicht, er sollte wieder fortgehen. Bald darauf machtesich der zweite Prinz auf, und wie der zur goldenen Straße kam und das Pferd den einen Fuß daraufgesetzt hatte, dachte er: Es wäre jammerschade, das könnte etwas abtreten, lenkte ab und ritt linksnebenher. Wie er aber vor das Tor kam, sagten die Leute, er wäre der rechte nicht, er sollte wiederfortgehen. [61]

Als nun das Jahr ganz herum war, wollte der dritte aus dem Walde fort zu seiner Liebsten reiten undbei ihr sein Leid vergessen. Also machte er sich auf und dachte immer an sie und wäre gerne schon beiihr gewesen und sah die goldene Straße gar nicht. Da schritt sein Pferd mitten darüber hin, und als er vordas Tor kam, ward es aufgetan, und die Königstochter empfing ihn mit Freuden und sagte, er wäre ihrErlöser und der Herr des Königreiches, und ward die Hochzeit gehalten mit großer Glückseligkeit Undals sie vorbei war, erzählte sie ihm, daß sein Vater ihn zu sich entboten und ihm verziehen hätte. Da ritter heim und sagte ihm alles, wie seine Brüder ihn betrogen und er doch dazu geschwiegen hätte. Der alteKönig wollte sie strafen, aber sie hatten sich aufs Meer gesetzt und waren fortgeschifft und kamen ihrLebtag nicht wieder. [62]

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Rotraut von der Wehl

Das Buch des Lebens

Auf dem Friedhof, neben der Kirche, wohnte der Totengräber. Sein Häuschen war das kleinste inder ganzen Stadt. Es war aus denselben grauen Felsen gebaut wie die Kirche. Wie alt es war, das konntekeiner mehr sagen.

Die Leute in der Stadt lachten oft darüber. Und wenn ein Bäcker in dem Rufe stand, gar zu kleinesBrot zu backen, sagten sie: »Sein Brot ist so klein wie Gottfrieds Haus.«

Als Gottfried, der Totengräber, noch ein Knabe war, kam eines Tages ein reicher Kaufmann zuseinem Vater und sprach: »In Eurem Gottfried steckt ein Tausendkünstler. Wollt Ihr, daß ein klugerMann aus ihm werde, so lasset ihn mir; ich will aufs allerbeste für ihn sorgen.«

Der Vater erwiderte nur: »Da müßt Ihr den Gottfried selber fragen, er ist alt genug.«

Er rief den Knaben herbei, und der Kaufmann sprach zu ihm: »Gottfried, ich meine es gut mit dir;folge mir in mein großes helles Haus. Ich will dich auf die hohe Schule schicken, und du sollst eingelehrter Mann werden.«

Doch der Knabe schüttelte mit dem Kopf und erwiderte: »O nein, Herr, ich bleibe bei meinem Vaterund werde Totengräber wie er.«

Gottfried wuchs heran und half seinem Vater, wo er konnte. Er läutete die Glocken und hielt Kircheund Friedhof in guter Ordnung. Wenn sein Vater die Toten begrub, fehlte der Knabe nie.

Er war noch jung, als sein Vater starb. Niemand dachte daran, einen anderen Totengräber zu bestellenals ihn. [63] Er mußte selbst für seinen Vater die Totenglocke läuten und das Grab für ihn graben. Dawurde ihm sehr schwer ums Herz; denn er hatte seinen Vater lieb. Viele Menschen aus der Stadt folgtenseinem Sarge; denn alle sprachen: »Er war ein treuer Mann.«

Als die Menschen heimgegangen waren, wollte Gottfried sich daran machen, das Grab zu schließen.Da sah er, wie die Sonnenstrahlen in die dunkle Grube fielen. »Scheine noch, goldene Sonne«, sprach er,»rede mit dem lieben Toten; ich will euch nicht stören.«

Am späten Abend ging er leise hinaus auf den Friedhof, sprach ein Gebet am offenen Grabe und warfdie Erde hinunter. Eben hatte er drei Schaufeln hinabgeworfen, da tönte ihm aus dem Grabe einwunderschöner Gesang entgegen. Er ließ die Schaufel ruhen und sprach: »O lieber Vater, deine Seelesingt ein seliges Lied.« Nach einer Weile verklangen die Töne, da warf er wiederum drei Schaufeln vollErde hinab.

Jetzt sah er, wie sich der Boden bewegte. Weiße Blütenblätter brachen aus der Erde hervor. Da ließ erdie Schaufel ruhen und sprach: »O mein lieber Vater, deine Seele ist eine reine Lilie.«

Der Mond brach durch die Wolken, und sein bleicher Schein traf auf die Blüte. Da sank sie in dieErde zurück.

Der Totengräber arbeitete weiter. Doch als er wieder drei Schaufeln voll Erde hinabgeworfen hatte,tönte ihm eine zarte Kinderstimme entgegen:

»Kommt ein goldner Engel,

nimmt den Toten an die Hand,

führt ihn durch die dunkle Pforte

in das Heimat-Land.«

Da faltete der Totengräber seine Hände und sprach: »O lieber Vater, wohl dir, du wandelst lichteWege.«

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Als es ringsumher still geworden war, griff er noch einmal zur Schaufel und schloß das Grab. [64] Erging in sein Häuschen zurück; in seinem Herzen aber war es ganz hell geworden. Seitdem geschahendem jungen Totengräber niemals wieder solche wundersamen Dinge wie am Grabe seines Vaters.

Doch immer, wenn er einen Toten begrub, mußte er daran denken. Darum hielt er auch jedes Malnach den ersten drei Schaufeln Erde inne und sprach ein Gebet; denn er dachte: »Will der Tote wiedermit mir reden – siehe, ich bin bereit.« Aber die Gräber blieben alle stumm.

So lebte er viele Jahre in seinem winzigen Häuschen, und selten verließ er den Friedhof. Dochoftmals hatte er Heimweh nach den Menschen; denn er liebte sie von Herzen. Aber er merkte immer,daß sie ihm gern aus dem Wege gingen; denn sie kannten nicht sein Herz, und einige von ihnen sagten:»Er trägt Grabesluft an sich.«

Da mußte er oft an die Worte denken, die sein Vater gesprochen hatte, wenn sie beide aus der Stadtheimkehrten und den Friedhof betraten. »Sieh, Gottfried«, sprach er, »nun sind wir wieder in unseremReich; hier gehören wir hin.«

So saß er eines Abends in seiner Kammer und sann darüber nach, wie er die Herzen der Menschengewinnen könnte. Es war schon Mitternacht, doch er konnte nicht schlafen. Da stand er auf und ging aufden Friedhof hinaus. Draußen war es sehr still, keine Sterne waren am Himmel aufgegangen. So ging erzwischen den Gräbern dahin. Da sah er plötzlich vor sich einen hellen Schein. Ein kleines Kind kam aufihn zu, das trug ihm ein goldenes Buch entgegen. Das Buch war beinahe so groß wie es selber. Und eshatte schwer daran zu tragen.

Es blickte den Totengräber freundlich an und sprach: »Weil du so einsam bist, bringe ich dir diesesBuch; es kommt aus dem Totenlande.« Der Totengräber nahm es in seine Hände. Das Kind aber warverschwunden. [65]

Er wollte schon mit dem Buche in sein Häuschen gehen, doch da wuchs es in seinen Händen; eswurde größer und größer, ragte bis an den Himmel hinauf und bedeckte Stadt und Land, so weit er sehenkonnte.

In dem Buche aber war die ganze Welt in bunten Bildern eingezeichnet, die fernen Ländern mitMenschen und Tieren, dazu die Sonne, der Mond und die goldenen Sterne mit ihren himmlischenBahnen. Alles, was die Menschen ersannen und schufen, alle bösen und guten Gedanken, die in ihnenwohnten, und zuletzt auch, wodurch sie wieder ein reines Herz bekommen konnten, das stand mitgoldenen Lettern darin geschrieben. Und Gottfried schaute tief in das Buch hinein bis zum hellenMorgen.

Nun brauchte er nicht mehr einsam zu sein. Als der Morgen nahte, wurde das Buch immer kleiner; dakam das Kind, nahm es wieder aus seinen Händen und entschwand.

Doch an der gleichen Stelle, wo ihm das Kind mit dem Buche erschienen war, sprang ein klarer Quellaus dem Erdboden hervor. Aus dem Quell kam eine Stimme, die sprach: »Totengräber, verlasse diesenOrt, suche dir ein anderes Land.«

Immer stärker strömte das Wasser hervor. Da ging der Totengräber in sein Haus, nahm denWanderstab und verließ den Ort. Das Wasser aber stieg so hoch auf dem Friedhof, daß das Häuscheneinstürzte und selbst die Kirche in den Fluten versank. Der Erdboden senkte sich immer tiefer. Und alsdie Menschen aus der Stadt kamen und zur Kirche gehen wollten, sahen sie einen See an der Stelle, wogestern noch der Friedhof gewesen war. Niemand hatte den Totengräber fortgehen sehen; so glaubtensie, er sei gewiß in den Fluten ertrunken.

Gottfried wanderte durch viele Städte und Dörfer. Und er kam in ein anderes Land. Nirgends aberfühlte er sich als ein Fremdling; er hatte ja die ganze Welt in dem großen Buche gesehen und erkanntealles wieder. Wohin er auch kam, sprach er zu den Menschen: »Meine Hände mögen nicht mehr ruhen,gebt mir Arbeit.« [66]

Da antworteten die Menschen: »Sage uns, was deine Hände schaffen können.«

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Der Totengräber sprach: »Ich läute die Glocke, ich hüte die Kirche, ich ordne die Gräber, begrabe dieToten und habe in dem Buche des Lebens gelesen.«

Da sagten die Menschen: »Totengräber haben wir genug in unserem Lande; doch zeige uns das Buchdes Lebens, ein solches Buch möchten wir gerne sehen.«

Da antwortete der Totengräber: »Ich will euch erzählen, was in dem Buche geschrieben steht; aberzeigen kann ich es euch nicht.« Da wurden die Menschen sehr zornig und sprachen untereinander: »Erwill mit seiner Weisheit prahlen; laßt ihn laufen.«

So wandten sie sich von ihm ab.

Nun kam einmal ein heißer Sommer, auf den Feldern stand das reife Korn. Da ging über allenLändern ein schweres Gewitter hernieder, die Blitze fuhren in die hohen Bäume und in die Häuser derMenschen. Die Kornfelder lagen ringsum vom Hagelschlag vernichtet darnieder, und es kam eine großeHungersnot über das Land. Menschen und Vieh starben täglich in großen Scharen dahin, und bald warniemand mehr da, der sie begraben konnte.

Da fand Gottfried, der Totengräber, seine Arbeit. Er fuhr die Toten auf den Friedhof, grub drei großeGräber und bettete sie alle hinein.

Er hatte eben die Gräber geschlossen, da stand vor ihm wieder im hellen Scheine das kleine Kind. Estrug ihm das goldene Buch entgegen und sprach: »Gottfried, du darfst noch einmal hineinschauen.«

Der Totengräber antwortete: »Das Buch birgt den größten Schatz des Lebens, und was daringeschrieben steht, ist zum Heile der Menschen; aber sie wollen es nicht hören. Einmal noch will ichhineinschauen; ich muß wissen, was ich tun soll. [67]

Die Not wird täglich größer; denn die Menschen haben kein Brot mehr.«

Da öffnete das Kind das Buch, es wuchs wieder bis an den Himmel hinauf und bedeckte das ganzeLand. Gottfried aber schaute tief hinein.

Als er alles gefunden hatte, was er suchte, sprach er zu dem Kinde: »Nun schließe das Buch desLebens. Es drängt die Zeit; denn die Menschen sterben vor Hunger.«

Da wurde das Buch wieder klein; das Kind schloß es zu und entschwand.

Der Totengräber aber rief die Menschen und sprach zu ihnen: »Sammelt eure letzte Kraft und folgtmir nach. Ich will euch in meine Heimat führen; da sollt ihr das Brot des Lebens empfangen.«

Und die Menschen hörten seine Stimme und folgten ihm in großen Scharen nach. Er führte sie in seinHeimatstädtchen. Aber sie fanden dort die gleiche Not; denn der Hagelschlag hatte auch hier alles Kornauf dem Felde vernichtet.

Und der Totengräber führte sie zur Stadt hinaus; sie kamen an den See, der den Friedhof, die Kircheund das Häuschen bedeckte. Da sprach er zu ihnen: »Ziehet tiefe Gräben und leitet das Wasser ab. Aufdem Grunde des Sees werdet ihr das Brot des Lebens finden.«

Die Menschen folgten seinen Worten; drei Tage und drei Nächte mußten sie graben, bis die Wasserabgeflossen waren. Da leuchtete ihnen ein goldenes Weizenfeld entgegen, das war reif zur Ernte. Sieschnitten den Weizen und banden ihn zu goldenen Garben. Aber wie erstaunten sie! Denn kaum hattensie ihn gedroschen, da waren die Ähren schon wieder nachgewachsen, so daß sie von nun an Brot inHülle und Fülle hatten. Und die Kunde von dem goldenen Weizenfelde verbreitete sich bald im ganzenLande. [68]

Da kamen die Menschen von weit und breit und wurden alle satt. Die Kirche und das Häuschen aberbauten sie wieder von neuem auf, und Gottfried, der Totengräber, wohnte darin wie ehemals. Doch esumgab ihn nicht mehr der Totenacker, sondern das goldene Weizenfeld, das ewig blühte und Fruchtbrachte. [69]

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Rainer Maria Rilke

Ein Märchen vom Tod und eine fremde Nachschrift dazu

Ich schaute noch immer hinauf in den langsam verlöschenden Abendhimmel, als jemand sagte:

»Sie scheinen sich ja für das Land da oben sehr zu interessieren?«

Mein Blick fiel schnell, wie heruntergeschossen, und ich erkannte: Ich war an die niedere Mauerunseres kleinen Kirchhofs geraten, und vor mir, jenseits derselben, stand der Mann mit dem Spaten undlächelte ernst. »Ich interessiere mich wieder für dieses Land hier«, ergänzte er und wies nach derschwarzen, feuchten Erde, welche an manchen Stellen hervorsah aus den vielen welken Blättern, die sichrauschend rührten, während ich nicht wußte, daß ein Wind begonnen hatte. Plötzlich sagte ich, vonheftigem Abscheu erfaßt: »Warum tun Sie das da?« Der Totengräber lächelte immer noch: »Es ernährteinen auch – und dann, ich bitte Sie, tun nicht die meisten Menschen das Gleiche? Sie begraben Gottdort, wie ich die Menschen hier.« Er zeigte nach dem Himmel und erklärte mir: »Ja, das ist auch eingroßes Grab, im Sommer stehen wilde Vergissmeinnicht drauf – « Ich unterbrach ihn: »Es gab eine Zeit,wo die Menschen Gott im Himmel begruben, das ist wahr – «

»Ist das anders geworden?« fragte er seltsam traurig. Ich fuhr fort: »Einmal warf jeder eine HandHimmel über ihn, ich weiß. Aber da war er eigentlich schon nicht mehr dort, oder doch – « ich zögerte.

»Wissen Sie«, begann ich dann von neuem, »in alten Zeiten beteten die Menschen so.« Ich breitetedie Arme aus und fühlte unwillkürlich meine Brust groß werden dabei. [70] »Damals warf sich Gott inalle diese Abgründe voll Demut und Dunkelheit, und nur ungern kehrte er in seine Himmel zurück, dieer, unvermerkt, immer näher über die Erde zog. Aber ein neuer Glaube begann. Da dieser den Menschennicht verständlich machen konnte, worin sein neuer Gott sich von jenem alten unterscheide (sobald erihn nämlich zu preisen begann, erkannten die Menschen sofort den einen alten Gott auch hier), soveränderte der Verkünder des neuen Gebotes die Art zu beten. Er lehrte das Händefalten und entschied:Seht, unser Gott will so gebeten sein, also ist er ein anderer als der, den ihr bisher in euren Armenglaubtet zu empfangen. Die Menschen sahen das ein, und die Gebärde der offenen Arme wurde eineverächtliche und schreckliche, und später heftete man sie ans Kreuz, um sie allen als ein Symbol der Notund des Todes zu zeigen.

Als Gott aber das nächste Mal wieder auf die Erde niederblickte, erschrak er. Neben den vielengefalteten Händen hatte man viele gotische Kirchen gebaut, und so streckten sich ihm die Hände und dieDächer, gleich steil und scharf, wie feindliche Waffen entgegen. Bei Gott ist eine andere Tapferkeit. Erkehrte in seine Himmel zurück, und als er merkte, daß die Türme und die neuen Gebete hinter ihm herwuchsen, da ging er auf der anderen Seite aus seinen Himmeln hinaus und entzog sich so derVerfolgung. Er war selbst überrascht, jenseits von seiner strahlenden Heimat ein beginnendes Dunkel zufinden, das ihn schweigend empfing, und er ging mit einem seltsamen Gefühl immer weiter in dieserDämmerung, welche ihn an die Herzen der Menschen erinnerte. Da fiel es ihm zuerst ein, daß die Köpfeder Menschen licht, ihre Herzen aber voll eines ähnlichen Dunkels sind, und eine Sehnsucht überkamihn, in den Herzen der Menschen zu wohnen und nicht mehr durch das klare, kalte Wachsein ihrerGedanken zu gehen. Nun, Gott hat seinen Weg fortgesetzt. [71] Immer dichter wird um ihn dieDunkelheit, und die Nacht, durch die er sich drängt, hat etwas von der duftenden Wärme fruchtbarerSchollen. Und nicht lange mehr, so strecken sich ihm die Wurzeln entgegen mit der alten schönenGebärde des breiten Gebetes. Es gibt nichts Weiseres als den Kreis. Der Gott, der uns in den Himmelnentfloh, aus der Erde wird er uns wiederkommen. Und, wer weiß, vielleicht graben gerade Sie einmaldas Tor ...« Der Mann mit dem Spaten sagte: »Aber das ist ein Märchen.« »In unserer Stimme«,erwiderte ich leise, »wird alles Märchen, denn es kann sich ja in ihr nie begeben haben.«

Der Mann schaute eine Weile vor sich hin. Dann zog er mit heftigen Bewegungen den Rock an undfragte: »Wir können ja wohl zusammen gehen?« Ich nickte: »Ich gehe nach Hause. Es wird wohl

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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derselbe Weg sein. Aber wohnen Sie nicht hier?« Er trat aus der kleinen Gittertür, legte sie sanft in ihreklagenden Angeln zurück und entgegnete: »Nein.«

Nach ein paar Schritten wurde er vertraulicher: »Sie haben ganz recht gehabt vorhin. Es ist seltsam,daß sich jemand findet, der das tun mag, das da draußen. Ich habe früher nie daran gedacht. Aber jetzt,seit ich älter werde, kommen mir manchmal Gedanken, eigentümliche Gedanken, wie der mit demHimmel, und noch andere. Der Tod. Was weiß man davon? Scheinbar alles und vielleicht nichts. Oftstehen die Kinder (ich weiß nicht, wem sie gehören) um mich, wenn ich arbeite. Und mir fällt gerade soetwas ein. Dann grabe ich wie ein Tier, um alle meine Kraft aus dem Kopfe fortzuziehen und sie in denArmen zu verbrauchen. Das Grab wird viel tiefer, als die Vorschrift verlangt, und ein Berg Erde wächstdaneben auf. Die Kinder aber laufen davon, da sie meine wilden Bewegungen sehen. Sie glauben, daßich irgendwie zornig bin.« Er dachte nach. »Und es ist ja auch eine Art Zorn. Man wird abgestumpft,man glaubt es überwunden zu haben, und plötzlich ... Es hilft nichts, der Tod ist etwas Unbegreifliches,Schreckliches.« [72]

Wir gingen eine lange Straße unter schon ganz blätterlosen Obstbäumen, und der Wald begann, unszur Linken, wie eine Nacht, die jeden Augenblick auch über uns hereinbrechen kann. »Ich will Ihneneine kleine Geschichte berichten«, versuchte ich, »sie reicht gerade bis an den Ort.« Der Mann nickteund zündete sich seine kurze, alte Pfeife an. Ich erzählte:

»Es waren zwei Menschen, ein Mann und ein Weib, und sie hatten einander lieb. Liebhaben, dasheißt nichts annehmen, von nirgends, alles vergessen und von einem Menschen alles empfangen wollen,das was man schon besaß und alles andere. So wünschten es die beiden Menschen gegenseitig. Aber inder Zeit, im Tage, unter den vielen, wo alles kommt und geht, oft ehe man eine wirkliche Beziehungdazu gewinnt, läßt sich ein solches Liebhaben gar nicht durchführen, die Ereignisse kommen von allenSeiten, und der Zufall öffnet ihnen jede Tür.

Deshalb beschlossen die beiden Menschen aus der Zeit in die Einsamkeit zu gehen, weit fort vomUhrenschlagen und von den Geräuschen der Stadt. Und dort erbauten sie sich in einem Garten ein Haus.Und das Haus hatte zwei Tore, eines an seiner rechten, eines an seiner linken Seite. Und das rechte Torwar des Mannes Tor, und alles Seine sollte durch dasselbe in das Haus einziehen. Das linke aber war dasTor des Weibes; und was ihres Sinnes war, sollte durch seinen Bogen eintreten. So geschah es. Werzuerst erwachte am Morgen, stieg hinab und tat sein Tor auf. Und da kam dann bis spät in die Nacht garmanches herein, wenn auch das Haus nicht am Rande des Weges lag. Zu denen, die zu empfangenverstehen, kommt die Landschaft ins Haus und das Licht und ein Wind mit einem Duft auf denSchultern und viel anderes mehr. [73] Aber auch Vergangenheiten, Gestalten, Schicksale traten durchdie beiden Tore ein, und allen wurde die gleiche, schlichte Gastlichkeit zuteil, so daß sie meinten, seitimmer in dem Heidehaus gewohnt zu haben. So ging es eine lange Zeit fort, und die beiden Menschenwaren sehr glücklich dabei. Das linke Tor war etwas häufiger geöffnet, aber durch das rechte tratenbuntere Gäste ein. Vor diesem wartete auch eines Morgens – der Tod. Der Mann schlug seine Türeilends zu, als er ihn bemerkte, und hielt sie den ganzen Tag über fest verschlossen. Nach einiger Zeittauchte der Tod vor dem linken Eingang auf. Zitternd warf das Weib das Tor zu und schob den breitenRiegel vor. Sie sprachen nicht miteinander über dieses Ereignis, aber sie öffneten seltener die beidenTore und suchten mit dem auszukommen, was im Hause war.

Da lebten sie nun freilich viel ärmlicher als vorher. Ihre Vorräte wurden knapp, und es stellten sichSorgen ein. Sie begannen beide, schlecht zu schlafen, und in einer solchen wachen, langen Nachtvernahmen sie plötzlich zugleich ein seltsames, schlürfendes und pochendes Geräusch. Es war hinter derWand des Hauses, gleich weit entfernt von den beiden Toren, und klang, als ob jemand begänne, Steineauszubrechen, um ein neues Tor mitten in die Mauer zu bauen. Die beiden Menschen taten in ihremSchrecken dennoch, als ob sie nichts Besonderes vernähmen. Sie begannen zu sprechen, lachtenunnatürlich laut, und als sie müde wurden, war das Wühlen in der Wand verstummt. Seither bleiben diebeiden Tore ganz geschlossen. Die Menschen leben wie Gefangene. Beide sind kränklich geworden undhaben seltsame Einbildungen. Das Geräusch wiederholt sich von Zeit zu Zeit. Dann lachen sie mit ihrenLippen, während ihre Herzen fast sterben vor Angst. Und sie wissen beide, daß das Graben immer lauterund deutlicher wird, und müssen immer lauter sprechen und lachen mit ihren immer matteren Stimmen.«

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Ich schwieg. »Ja, ja – «, sagte der Mann neben mir, »so ist es, das ist eine wahre Geschichte.«

»Diese habe ich in einem alten Buche gelesen«, fügte ich hinzu, »und da ereignete sich etwas sehrMerkwürdiges dabei. [74]

Hinter der Zeile, darin erzählt wird, wie der Tod auch vor dem Tore des Weibes erschien, war mitalter, verwelkter Tinte ein kleines Sternchen gezeichnet. Es sah aus den Worten wie aus Wolken hervor,und ich dachte einen Augenblick, wenn die Zeilen sich verzögen, so könnte offenbar werden, daß hinterihnen lauter Sterne stehen, wie es ja wohl manchmal geschieht, wenn der Frühlingshimmel sich spät amAbend klärt. Dann vergaß ich des unbedeutenden Umstandes ganz, bis ich hinten im Einband desBuches dasselbe Sternchen, wie gespiegelt in einem See, in dem glatten Glanzpapier wieder fand, undnah unter demselben begannen zarte Zeilen, die wie Wellen in der blassen spiegelnden Fläche verliefen.Die Schrift war an vielen Stellen undeutlich geworden, aber es gelang mir doch, sie fast ganz zuentziffern. Da stand etwa:

»Ich habe diese Geschichte so oft gelesen, und zwar in allen möglichen Tagen, daß ich manchmalglaube, ich habe sie selbst, aus der Erinnerung aufgezeichnet. Aber bei mir geht es im weiteren Verlaufeso zu, wie ich es hier niederschreibe. Das Weib hatte den Tod nie gesehen, arglos ließ sie ihn eintreten.Der Tod aber sagte etwas hastig und wie einer, welcher kein gutes Gewissen hat: »Gib das deinemMann.« Und er fügte, als das Weib ihn fragend anblickte, eilig hinzu: »Es ist Samen, sehr guter Samen.«Dann entfernte er sich, ohne zurückzusehen. Das Weib öffnete das Säckchen, welches er ihr in die Handgelegt hatte; es fand sich wirklich eine Art Samen darin, harte, häßliche Körner. Da dachte das Weib: derSame ist etwas Unfertiges, Zukünftiges. Man kann nicht wissen, was aus ihm wird. Ich will dieseunschönen Körner nicht meinem Manne geben, sie sehen gar nicht aus wie ein Geschenk. Ich will sielieber in das Beet unseres Gartens drücken und warten, was sich aus ihnen erhebt. Dann will ich ihndavor führen und ihm erzählen, wie ich zu dieser Pflanze kam. Also tat das Weib auch. Dann lebten siedasselbe Leben weiter. [75]

Der Mann, der immer daran denken mußte, daß der Tod vor seinem Tore gestanden hatte, waranfangs etwas ängstlich, aber da er das Weib so gastlich und sorglos sah wie immer, tat auch er baldwieder die breiten Flügel seines Tores auf, so daß viel Leben und Licht in das Haus hereinkam. Imnächsten Frühjahr stand mitten im Beete zwischen den schlanken Feuerlilien ein kleiner Strauch. Erhatte schmale, schwärzliche Blätter, etwas spitz, ähnlich denen des Lorbeers, und es lag ein sonderbarerGlanz auf ihrer Dunkelheit. Der Mann nahm sich täglich vor, zu fragen, woher diese Pflanze stamme.Aber er unterließ es täglich. In einem verwandten Gefühl verschwieg auch das Weib von einem Tag zumandern die Aufklärung. Aber die unterdrückte Frage auf der einen, die nie gewagte Antwort auf deranderen Seite führte die beiden Menschen oft bei diesem Strauch zusammen, der sich in seiner grünenDunkelheit so seltsam von dem Garten unterschied. Als das nächste Frühjahr kam, da beschäftigten siesich, wie mit den anderen Gewächsen, auch mit dem Strauch, und sie wurden traurig, als er, umringt vonlauter steigenden Blüten, unverändert und stumm, wie im ersten Jahr, gegen alle Sonne taub, sich erhob.Damals beschlossen sie, ohne es einander zu verraten, gerade diesem im dritten Frühjahr ihre ganzeKraft zu widmen, und als dieses Frühjahr erschien, erfüllten sie leise und Hand in Hand, was sich jederversprochen hatte. Der Garten umher verwilderte, und die Feuerlilien schienen blasser als sonst zu sein.Aber einmal, als sie nach einer schweren, bedeckten Nacht in den Morgengarten, den stillen,schimmernden traten, da wußten sie: aus den schwarzen, scharfen Blättern des fremden Strauches warunversehrt eine blasse, blaue Blüte gestiegen, welcher die Knospenschalen schon an allen Seiten engewurden. Und sie standen davor vereint und schweigend, und jetzt wußten sie sich erst recht nichts zusagen. Denn sie dachten: [76] Nun blüht der Tod, und neigten sich zugleich, um den Duft der jungenBlüte zu kosten. - Seit diesem Morgen aber ist alles anders geworden in der Welt.« So stand es in demEinband des alten Buches«, schloß ich.

»Und wer das geschrieben hat?« drängte der Mann.

»Eine Frau nach der Schrift«, antwortete ich. »Aber was hätte es geholfen, nachzuforschen. DieBuchstaben waren sehr verblaßt und etwas altmodisch. Wahrscheinlich war sie schon längst tot.«

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Der Mann war ganz in Gedanken. Endlich bekannte er: »Nur eine Geschichte, und doch rührt es einenso an.« »Nun, das ist, wenn man selten Geschichten hört«, begütigte ich. »Meinen Sie?« Er reichte mirseine Hand, und ich hielt sie fest. »Aber ich möchte sie gerne weitersagen. Das darf man doch?« Ichnickte. Plötzlich fiel ihm ein: »Aber ich habe niemanden. Wem sollte ich sie auch erzählen?« »Nun, dasist einfach; den Kindern, die Ihnen manchmal zusehen kommen. Wem sonst?«

Die Kinder haben auch richtig die letzten drei Geschichten gehört. Allerdings, die von denAbendwolken wiederholte nur teilweise, wenn ich gut unterrichtet bin. Die Kinder sind ja klein unddarum von den Abendwolken viel weiter als wir. Doch das ist bei dieser Geschichte ganz gut. Trotz derlangen, wohlgesetzten Rede des Hans würden sie erkennen, daß die Sache unter Kindern spielt, undmeine Erzählung kritisch, als Sachverständige, betrachten. Aber es ist besser, daß sie nicht erfahren, mitwelcher Anstrengung und wie ungeschickt wir die Dinge erleben, die ihnen so ganz mühelos und einfachgeschehen. [77]

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Marinus van den Berg

Der Brief im Nachtschrank

In der geriatrischen Abteilung eines englischen Krankenhauses starb kürzlich eine alte Frau. Als dieSchwester, die sie in der letzten Lebensphase gepflegt hatte, ihren Nachtschrank leerte, fand sie darinkeine wertvollen Dinge, wohl aber einen Bogen Papier, den die alte Frau mit mühsam geformten Buch-staben gefüllt hatte. Dort stand:

Was siehst du, Schwester? Was siehst du?

Eine starrsinnige alte Frau, schon etwas verwirrt, ein wenig unsicher, mit starrem Blick. Eine alteFrau, die beim Essen kleckert und die keine Antwort gibt, wenn man mit energischer Stimme sagt: »Ichwünschte, du würdest dir jetzt einmal Mühe geben.< Eine alte Frau, die scheinbar keine deinerVerrichtungen wahrnimmt. Die immer wieder etwas verlegt, einen Strumpf oder einen Schuh. Die dichwiderspruchslos alles machen läßt. Die mit Waschen und Essen die langen Tage ausfüllen läßt. Denkstdu das? Siehst du das?

Dann öffne einmal deine Augen, Schwester! Du schaust mich ja nicht einmal an. Ich werde dir sagen,wer ich bin, ich, die hier sitzt. Die pinkelt, wenn du es befiehlst, und ißt, wann du es willst.

Ich bin ein kleines zehnjähriges Mädchen mit Vater und Mutter, mit Brüdern und Schwestern, dieeinander lieben. Eine zwanzigjährige Braut bin ich, und mein Herz schlägt schneller, wenn ich an dasVersprechen denke, das ich gab. Fünfundzwanzig bin ich und habe selber Kinder, für die ich einsicheres, glückliches Haus schaffen muß. [78]

Eine dreißigjährige Frau bin ich, und die Kleinen, durch bleibende Bande miteinander verbunden,werden schnell groß.

Vierzig bin ich. Meine Söhne sind erwachsen und aus dem Hause gegangen. Aber mein Mann ist beimir und sorgt, daß ich nicht trauere.

Fünfzig bin ich – und wieder spielen Kinder auf meinem Schoß.

Dann folgen dunkle Tage. Mein Mann ist tot. Ich sehe der Zukunft entgegen und erschauere vorAngst. Denn meine Kinder haben jetzt selbst Familie. Ich denke an die Jahre der Liebe, die ich erlebthabe. Jetzt bin ich eine alte Frau. Die Zeit ist grausam. Es ist ein böser Scherz der Zeit, Alte wie Torenaussehen zu lassen. Mein Körper ist hinfällig geworden, Grazie und Kraft sind verschwunden. An derStelle, da ich ehemals ein Herz hatte, ist jetzt ein Stein.

Aber ... in diesem alten Gerippe wohnt noch jenes kleine Mädchen. Manchmal klopft das alte Herzetwas schneller. Ich erinnere mich der Freude und des Schmerzes. Ich liebe wieder. Ich lebe meinLeben aufs Neue. Ich denke an die entschwundenen Jahre – vorüber, zu schnell verflogen – undakzeptiere die bittere Wahrheit, daß nichts von Dauer ist.

Öffne die Augen, Schwester, und schau! Sieh nicht diese starrsinnige alte Frau an. Schau einmalgenau hin, Schwester! Schau ... mich an! [79]

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II. An der Grenze

Godfried Bomans

Der König, der nicht sterben wollte

Es war einmal ein König; der lag im Sterben, doch er wollte nicht sterben. Er verbarg die Uhr seinerverstorbenen Mutter unter seinem Nachtgewand und dachte bei sich: >Solange diese Uhr tickt, kann mirnichts zustoßen.< Sie schlug zu jeder halben und vollen Stunde, und der König lauschte verzückt demfeinen Geläute. Und wiederum dachte er: >Solange sie schlägt, bleibe ich am Leben. Denn meine Mutterwünschte, daß mir nie etwas Böses begegne.<

Dies hörte der Arzt. Der war ein strenger Mann. Er kam an des Königs Bett und sagte:

»Ich muß es Ihnen sagen. Sie werden sterben.«

Der König erschrak. »Das glaube ich nicht«, erwiderte er.

»Nein«, sagte der Arzt, »und doch ist es so.«

»Wann?«, fragte der König.

Der Arzt fühlte ihm den Puls und legte sein Ohr an die Brust des Kranken. »Sie tickt zwar noch«,sagte er, »aber leise. Wenn im Garten die Blätter fallen, ist Ihre Zeit gekommen.«

Der König schaute aus dem Fenster und lächelte. Die Bäume waren noch kahl, und nur in denSträuchern schimmerte ein wenig Grün, denn der Frühling hatte sich kaum entfaltet.

»Du kannst gehen«, sprach er. »Rufe meinen Gärtner zu mir!«

Als der Gärtner erschien, saß der König aufrecht im Bett und seine Augen leuchteten.

»Gärtner«, sagte er, »ich sterbe nicht.«

»Majestät«, antwortete der Gärtner, »wir müssen alle einmal sterben.« [83]

»Ich nicht«, widersprach der König. »Fälle die Bäume, die im Herbst ihr Laub verlieren, und setze anihre Stelle Kiefern, Tannen und Stechpalmen!«

Der Gärtner tat, wie ihm befohlen worden war. Er fällte und pflanzte den ganzen Sommer lang, dennder Garten war groß. Aber als der Herbst gekommen war, hatte er alles fertig, und kein Blatt fiel zuBoden. Der König stand im Nachtgewand am Fenster, als er den Tod kommen sah. Dieser schaute sicherstaunt im Garten um und schüttelte den Kopf. Doch er ging weiter bis zum Gemach des Königs.

»Heute Abend soll ich Sie holen«, sagte er. »Nur: Es ist kein einziges Blatt gefallen.«

»Seltsam«, sagte der König. »Wie kann das sein?«

»Das weiß ich wohl«, antwortete der Tod, »aber es wird Ihnen nichts nützen. Denn sehen Sie diekleine Trauerweide dort? Sie ist schon ganz braun. Heute Abend wird sich ein Wind erheben und dannwird sie kahl sein. Warum haben Sie sie nicht gefällt?«

»Ich konnte es nicht«, erwiderte der König verlegen. »Sie steht auf dem Grab meiner Mutter.«

Der Tod nickte. »Das wußte ich wohl«, sagte er. »Es ist ein lieber Gedanke und darum werde ichIhnen auch die Stunde nennen. Wenn die Glocken halb zehn schlagen, komme ich Sie holen.«

Kaum war der Tod fort, da ließ der König seine Minister kommen.

»Holt die Glocken aus den Türmen«, befahl er, »und zerstört alle Uhrwerke im Schloß. Nichts darfmehr ticken und nichts darf mehr schlagen.«

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Die Minister taten, wie ihnen befohlen worden war, und als der Abend hereinbrach, wußte niemandmehr, wie spät es war. Der König stand am Fenster, als er den Tod nahen sah.

Der alte Mann zögerte einen Augenblick im Garten, als lausche er auf etwas, und schüttelte den Kopf.Aber er ging dennoch weiter und trat in das Gemach des Königs.

»Es ist Zeit«, sprach er freundlich. »Ich komme Sie holen. Nur: Es hat nirgends halb zehngeschlagen.«

»Seltsam«, sagte der König. »Wie kann das sein?«

»Ich weiß es wohl«, antwortete der Tod, »aber es wird Ihnen nichts nützen. Hören Sie nur.«

Er hob den Zeigefinger und in diesem Augenblick läutete unter dem Nachtgewand des Königs dieverborgene Uhr. »Warum haben Sie sie nicht zerstört?«, fragte der Tod. »Ich konnte es nicht«,antwortete der König verlegen. »Es ist die Uhr meiner Mutter. Als sie starb, hat sie sie mir gegeben.«

Der Tod nickte. »Das wußte ich wohl«, sagte er, »und es ist ein lieber Gedanke. Hattest du sie solieb?«

»Mehr als jeden anderen«, antwortete der König und seine Augen füllten sich mit Tränen.

»Möchtest du sie sehen?«, fragte der Tod.

Der König begann zu weinen. »Quäle mich nicht«, sagte er, »es ist mein größter Wunsch!«

Der Tod nickte. »Ich wußte es wohl«, sagte er, »und dein Wunsch wird erfüllt werden.«

Die Tür öffnete sich, und der König griff sich ans Herz. Da stand seine Mutter. Sie beugte sich zu ihmherab und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Mutter«, sagte der König, »ich will nicht.«

»Du bist es schon«, antwortete sie, »und du hast es selbst gewollt.« [85]

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Der Clown GottesItalienische Legende

Es war einmal vor langer, langer Zeit, da lebte im Städtchen Sorrent ein kleiner Junge, der Giovannihieß. Er hatte keinen Vater und keine Mutter mehr und war in Lumpen gekleidet. Für sein tägliches Brotmußte er betteln, und er schlief unter Brücken und in Hauseingängen. Aber Giovanni war glücklich,denn er konnte etwas ganz Besonderes.

Er konnte jonglieren. Jeden Tag ging er zu dem großen Marktstand mit Gemüse und Früchten desSignor Baptista, um dort seine Kunst zu zeigen.

Er konnte mit Zitronen und Orangen jonglieren, und auch mit Äpfeln und Auberginen, ja sogar mitGurken, und immer kamen viele Leute, um zuzuschauen; und wenn Giovanni seine Kunst gezeigt hatte,kauften sie bei Signor Baptista Gemüse und Früchte. Dann gab die Frau des Signor Baptista Giovannieinen Napf mit warmer Suppe. Und so waren alle zufrieden.

Eines Tages kam eine fahrende Gauklertruppe in die Stadt, und Giovanni schaute zu, wie sie in ihrenprächtigen Kleidern tanzten und sangen.

»Oh«, sagte sich Giovanni »so möchte ich auch leben.« Und als die Vorstellung zu Ende war, gingGiovanni zum Maestro. »Nein, nein«, sagte der Maestro, »mit Landstreichern will ich nichts zu tunhaben. Geh woanders betteln.« »Aber ich bin sehr geschickt«, sagte Giovanni hartnäckig. »Ich kannbeim Ein- und Auspacken helfen. Und ich kann mich um die Esel kümmern. Und außerdem, Maestro«,fügte Giovanni hinzu, »ich kann jonglieren.«

Und er zeigte seine Kunst. [86]

»Nicht schlecht«, meinte der Maestro, als er Giovanni zuschaute.

»Mit etwas mehr Übung ... Gut, komm mit uns, aber du bekommst kein Geld. Du bekommst nureinen Schlafplatz und einen Teller mit Essen. Du bist jetzt schließlich bei den besten Gauklern von ganzItalien.«

»Vielen Dank«, sagte Giovanni.

»Geh und hole deine Sachen. In einer Stunde reisen wir ab«, fügte der Maestro noch hinzu.

Da verabschiedete sich Giovanni von Signor und Signora Baptista und ging mit der Truppe aufReisen.

Schon bald bekam Giovanni vom Maestro ein Kostüm, und nun jonglierte er vor Publikum. Er maltesich ein Clownsgesicht, stellte sich vor dem Beginn der Vorstellung vor den Vorhang, verbeugte sich,öffnete einen bunten Sack, rollte einen Teppich aus und begann. Er jonglierte mit Stöcken und Tellern.Dann legte er die Teller auf die Stöcke und ließ sie sich drehen. Er jonglierte mit Keulen und Ringen undsogar mit brennenden Fackeln.

Schließlich warf er einen roten und einen orangefarbenen Ball hoch. Dann einen gelben Ball, unddann einen grünen, einen blauen und einen violetten, bis es so aussah, als jongliere er mit demRegenbogen.

»Und jetzt die Sonne an den Himmel!«, rief er. Während er weiterjonglierte, nahm er einengoldglänzenden Ball und warf ihn höher und höher, schneller und schneller. Und das Publikum jubelteihm zu.

Giovanni wurde sehr berühmt, und es dauerte nicht lange, da nahm er Abschied von der fahrendenTruppe und machte sich selbständig. Er reiste durch ganz Italien, und obwohl sein Kostüm immerschöner wurde, behielt er doch stets sein Clownsgesicht. [87]

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Einen Tag jonglierte er vor einem Herzog, am anderen vor einem Prinzen. Doch er tat stets dasselbe:Erst die Stöcke, dann die Teller, dann die Keulen, die Ringe und brennenden Fackeln. Und ganz zumSchloß den Regenbogen aus bunten Bällen.

»Und jetzt die Sonne an den Himmel!«, rief er, und der goldene Ball stieg höher und höher, und dasPublikum lachte und applaudierte und jubelte.

Eines Tages saß Giovanni am Weg zwischen zwei Städten im Schatten eines Baumes und aß Brot mitKäse, als zwei Mönche vorbeikamen.

»Sag, guter Clown, willst du deine Mahlzeit mit uns teilen?«, fragten sie ihn. »Gott möge es dirlohnen und Bruder Franziskus möge dich segnen!«

»Setzt euch nur, Brüder«, sagte Giovanni. »Ich habe mehr als genug.«

Während die drei Männer da saßen und aßen, erzählten die Mönche, wie sie von Stadt zu Stadt zogen,um Essen bettelten und die Freude unseres lieben Herrgotts predigten.

»Unser Stifter, Bruder Franziskus, sagt, alles lebe zur Mehrung der Glorie unseres lieben Herrn. Undauch du mit deinen Jonglierkünsten«, fügte einer der beiden hinzu.

»Das gilt vielleicht für Leute wie euch, doch ich jongliere nur, um die Leute so fröhlich zu machen,daß sie klatschen«, sagte Giovanni.

»Das ist dasselbe«, antworteten die Mönche. »Wenn du die Menschen glücklich machst, trägst du beizur Glorie unseres lieben Herrn.«

»Wenn ihr es sagt«, meinte Giovanni lachend, »dann wird es wohl stimmen. doch jetzt muß ichweiter zur nächsten Stadt. Arrivederci, gute Brüder, und viel Erfolg!«

Und wo Giovanni auch hinkam, überall flogen seine Teller und Stöcke, seine Keulen und Ringe undFackeln durch die Luft. Und immer folgte darauf sein Regenbogen aus Bällen und »die Sonne amHimmel«! [88]

Und wo Giovanni auch hinkam, überall mußten die Leute lachen, und ihr Lachen und Jubeln halltedurch die Städte. Jahre vergingen. Giovanni wurde alt, und es kamen schwere Zeiten. Die Menschenblieben nicht mehr stehen, um zuzuschauen.

»Ach, das ist der alte Clown wieder, der immer jongliert. Den haben wir schon gesehen«, sagten sie.

Giovanni war unglücklich, aber er jonglierte immer weiter, bis er eines Tages »die Sonne amHimmel« fallen ließ und der Regenbogen aus Bällen herunterstürzte und die Zuschauer zu lachenbegannen. Doch diesmal lachten sie nicht aus Freude. Und dann taten sie etwas Schreckliches. Siebewarfen Giovanni mit Gemüse und Steinen, so daß er um sein Leben laufen mußte.

An einem Bach wusch sich Giovanni seine Clownsmaske ab. Er packte seine Stöcke und Teller einund auch seine Keulen und Ringe und die bunten Bälle. Er steckte sein Kostüm ein und hörte auf zujonglieren. Für immer.

Sein bißchen Geld war schon bald verbraucht, aus seinen Kleidern wurden Lumpen, und er mußtesich sein Essen erbetteln, und er schlief wieder unter Brücken und in Hauseingängen, genau wie inseiner Jugend.

»Es ist Zeit, nach Hause zugehen«, sagte sich der alte Mann. Und er machte sich auf den Weg nachSorrent.

Es war ein kalter Winterabend, als er schließlich in der Stadt ankam. Es wehte ein starker Wind, undes fiel eiskalter Regen. Hoch über ihm ragte die Klosterkirche der Mönche empor. Die Fenster warendunkel. Der alte Giovanni kroch naß und verfroren hinein und fiel in einer Ecke in Schlaf.

Musik weckte ihn auf. Die Kirche glänzte im Kerzenlicht und war voller Menschen, die Gloria,Gloria sangen. Giovanni konnte kaum seinen Augen trauen. So viel Pracht. [89] Eine lange Reihe vonMönchen, Priestern, Nonnen und Menschen aus der Stadt schlängelte sich durch die Kirche. Jeder hatte

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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ein kostbares Geschenk bei sich, das er vor einem Bild niederlegte – dem Bild einer Frau mit ihremKind.

»Was geht hier vor?«, fragte Giovanni eine Frau, die dicht neben ihm stand.

»Nun, alter Mann, heute ist der Geburtstag des heiligen Kindleins«, antwortete die Frau. »Und in derProzession bringt ihm jeder seine Geschenke.«

Überrascht schaute Giovanni zu, bis die Prozession beendet war. Alle Leute verließen wieder dieKirche, und es wurde dunkel, nur nicht beim Bild der Frau mit dem Kind, denn das war umringt vonbrennenden Kerzen. Giovanni ging näher heran. Das Kind auf dem Schoß der Frau sah so ernst undstreng aus.

»Oh«, sagte Giovanni, »ich wollte, ich hätte auch etwas, was ich dir geben könnte. Dein Kind sieht sobetrübt aus, trotz all dieser schönen Geschenke. Doch warte, früher brachte ich die Leute immer zumLachen.«

Giovanni öffnete den Sack, den er bei sich hatte, und holte sein altes Kostüm heraus. Dann malte ersich die Clownsmaske, rollte den Teppich aus und begann zu jonglieren. Erst die Stöcke. Dann dieTeller. Dann ließ er die Teller auf den Stöcken drehen. Und dann jonglierte er mit den Keulen und denRingen. Bruder Portier, der gerade die Türen der Kirche schließen wollte, sah Giovanni jonglieren. Errannte davon, um den Priester zu holen. Aber davon merkte Giovanni nichts.

»Und nun«, sagte Giovanni lachend zu dem Kind,« erst der rote Ball, dann der orangefarbene, dannder gelbe ... und der grüne, der blaue und der violette.«

Giovanni wirbelte die Bälle immer höher und schneller durcheinander, bis sie wie ein Regenbogenaussahen.

»Und jetzt«, rief Giovanni, »die Sonne an den Himmel!« Der goldene Ball drehte und drehte sichhöher und höher. [90]

Giovanni hatte in seinem ganzen Leben noch nie so gut jongliert. Höher und schneller, schneller undschneller. Die Farben tanzten durch die Luft. Es war ein prächtiges Bild. Giovannis Herz pochte.

»Für dich, liebes Kind, für dich!«, rief er.

Plötzlich hörte sein altes Herz zu schlagen auf. Giovanni sank tot zu Boden. Der Priester und derBruder Portier kamen herein. Der Priester beugte sich über den alten Mann und sagte: »Ach, der alteClown ist tot. Möge seine Seele ruhen in Frieden!«

Aber Bruder Portier wich zurück und starrte mit offenem Mund auf das Bild der Frau mit dem Kind.

»Seht nur«, rief er und deutete mit der Hand darauf, »seht nur!«

Das Kind lächelte, und in seiner Hand hielt es den goldenen Ball. [91]

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Brüder Grimm

Die Rose

Es war einmal eine arme Frau, die hatte zwei Kinder. Das jüngste mußte alle Tage in den Waldgehen und Holz holen. Als es wieder einmal aufgebrochen war, kam ein kleines Kind herbei, half ihmHolz auflesen und trug es sogar mit bis zum Haus der Mutter. Und kaum war das Holz verstaut, war dasfremde Kind auch schon verschwunden. Das Kind erzählte das alles seiner Mutter, die es ihm aber nichtglaubte. Da gab das Kind der Mutter eine Rose und sagte, wenn diese erblühen werde, dann wolle dasfremde Kind wiederkommen. Die Mutter stellte die Rose also ins Wasser. Eines Morgens kam das Kindnicht aus dem Bett heraus; die Mutter ging zu ihm hin und fand das Kind tot; aber es sah ganz anmutigaus. Und die Rose leuchtete an diesem Morgen in voller Blüte. [92]

Brüder Grimm

Die drei grünen Zweige

Es war einmal ein Einsiedler, der lebte in einem Walde an dem Fuße eines Berges und brachte seineZeit in Gebet und guten Werken zu, und jeden Abend trug er noch zur Ehre Gottes ein paar EimerWasser den Berg hinauf. Manches Tier wurde damit getränkt und manche Pflanze damit erquickt, dennauf den Anhöhen weht beständig ein harter Wind, der die Luft und die Erde austrocknet, und die wildenVögel, die vor den Menschen scheuen, kreisen dann hoch und suchen mit ihren scharfen Augen nacheinem Trunk. Und weil der Einsiedler so fromm war, so ging ein Engel Gottes, seinen Augen sichtbar,mit ihm hinauf, zählte seine Schritte und brachte ihm, wenn die Arbeit vollendet war, sein Essen, so wiejener Prophet auf Gottes Geheiß von den Raben gespeist wurde.

Als der Einsiedler in seiner Frömmigkeit schon zu einem hohen Alter gekommen war, da trug es sichzu, daß er einmal von weitem sah, wie man einen armen Sünder zum Galgen führte. Er sprach so vorsich hin: »Jetzt wiederfährt diesem sein Recht.« Abends, als er das Wasser den Berg hinauftrug, erschiender Engel nicht, der ihn sonst begleitete, und brachte ihm auch nicht seine Speise. Da erschrak er, prüftesein Herz und bedachte, womit er wohl könnte gesündigt haben, weil Gott also zürne, aber er wußte esnicht. Da aß und trank er nicht, warf sich nieder auf die Erde und betete Tag und Nacht.

Und als er einmal im Walde so recht bitterlich weinte, hörte er ein Vögelein, das sang so schön undherrlich, da ward er noch betrübter und sprach: »Wie singst du so fröhlich! [93] Dir zürnt der Herr nicht;ach, wenn du mir sagen könntest, womit ich ihn beleidigt habe, damit ich Buße täte und mein Herz auchwieder fröhlicher würde!«

Da fing das Vöglein an zu sprechen und sagte: »Du hast unrecht getan, weil du einen armen Sünderverdammt hast, der zum Galgen geführt wurde, darum zürnt dir der Herr, er allein hält Gericht. Dochwenn du Buße tun und deine Sünde bereuen willst, so wird er dir verzeihen.«

Da stand der Engel neben ihm und hatte einen trockenen Ast in der Hand und sprach: »Diesentrockenen Ast sollst du so lange tragen, bis drei grüne Zweige aus ihm hervorsprießen, aber nachts, wenndu schlafen willst, sollst du ihn unter dein Haupt legen. Dein Brot sollst du dir an den Türen erbitten undin demselben Hause nicht länger als eine Nacht verweilen. Das ist die Buße, die dir der Herr auferlegt.«

Da nahm der Einsiedler das Stück Holz und ging in die Welt zurück, die er so lange nicht gesehenhatte. Er aß und trank nichts, als was man ihm an den Türen reichte; manche Bitte aber ward nichtgehört, und manche Türe blieb ihm verschlossen, also daß er oft ganze Tage keinen Krumen Brotbekam.

Einmal war er von Morgen bis Abend von Türe zu Türe gegangen, niemand hatte ihm etwas gegeben,niemand wollte ihn die Nacht beherbergen, da ging er hinaus in einen Wald, wo er endlich eine

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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ausgebaute Höhle fand, in der eine alte Frau darin saß. Da sprach er: »Gute Frau, behaltet mich dieseNacht in Eurem Haus.« Aber sie antwortete: »Nein, ich darf nicht, wenn ich auch wollte. Ich habe dreiSöhne, die sind bös und wild, wenn sie von ihrem Raubzug heimkommen und finden Euch, so würdensie uns beide umbringen.« Da sprach der Einsiedler: »Laßt mich nur bleiben, sie werden Euch und mirnichts tun«, und die Frau war mitleidig und ließ sich bewegen. Da legte sich der Mann unter die Treppeund das Stück Holz unter seinen Kopf. [94] Wie die Alte das sah, fragte sie nach der Ursache; daerzählte er ihr, daß er es zur Buße mit sich herumtrage und nachts als Kissen gebrauche. Er habe denHerrn beleidigt, denn als er einen armen Sünder auf dem Gang nach dem Gericht gesehen, habe ergesagt, diesem widerfahre sein Recht. Da fing die Frau an zu weinen und rief: »Ach, wenn der Herr eineinziges Wort also bestraft, wie wird es meinen Söhnen ergehen, wenn sie vor ihm im Gerichterscheinen.«

Um Mitternacht kamen die Räuber heim, lärmten und tobten. Sie zündeten ein Feuer an, und als dasdie Höhle erleuchtete und sie einen Mann unter der Treppe liegen sahen, gerieten sie in Zorn und schrienihre Mutter an: »Wer ist der Mann? Haben wir's nicht verboten, irgend jemand aufzunehmen?«

Da sprach die Mutter: »Laßt ihn, er ist ein armer Sünder, der seine Schuld büßt.« Die Räuber fragten:»Was hat er getan?« – »Alter«, riefen sie, »erzähl uns deine Sünden.« Der Alte erhob sich und sagteihnen, wie er mit einem einzigen Wort schon so gesündigt habe, daß Gott ihm zürne, und er für dieseSchuld jetzt büße. Den Räubern ward von seiner Erzählung das Herz so gewaltig gerührt, daß sie überihr bisheriges Leben erschraken, in sich gingen und mit herzlicher Reue ihre Buße begangen.

Der Einsiedler, nachdem er die drei Sünder bekehrt hatte, legte sich wieder zum Schlafe unter dieTreppe. Am Morgen aber fand man ihn tot, und aus dem trockenen Holz, auf welchem sein Haupt lag,waren drei grüne Zweige hoch emporgewachsen. Also hatte ihn der Herr wieder in Gnaden zu sichaufgenommen. [95]

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Ebba Pauli

Ein Blick in den Vorhof des Paradieses

Einst kam eine alte Frau zum Einsiedler. Sie war klein und schmächtig, ihr Rücken gebeugt, und siehatte kleine, feingliedrige Hände, schlohweißes Haar, ein zerfurchtes Gesicht und kluge, gute Augen.

Der Einsiedler begrüßte sie und wunderte sich, daß sie die Kraft gehabt hatte, den langen, steilen Wegzu ihm zurückzulegen. Er erkannte, daß in diesem zerbrechlichen Körper eine starke Seele wohnte, undihn verlangte danach zu erfahren, was sie ihm wohl zu sagen hätte.

»Weiser Mann«, begann sie, »kannst du mir sagen, warum ich unlängst nicht habe sterben dürfen?Laß dir berichten: Ich bin alt und müde und weiß eigentlich nicht, welche Aufgabe ich in meinem Lebennoch zu erfüllen hätte. Meine Kinder sind erwachsen, sie können sich trefflich selbst helfen. Und meineEnkelkinder – Gott segne sie – haben Vater und Mutter und brauchen mich nicht. So weit ich sehe, gibtes auf Erden für mich in der Tat nichts mehr zu tun. Mein Mann ist mir vorangegangen – Gott sei seinerSeele gnädig – wie viele, viele andere, die mir lieb waren, und ich freute mich täglich darauf, ihnen inden Gefilden der Heiligen alsbald wiederzubegegnen. Am meisten aber beglückt es mich, die MutterGottes und die Heiligen zu schauen, die meine Gebete erhört und mir in diesem langen Leben unzähligeMale geholfen haben. Könnte ich dir berichten, was alles sie für mich getan haben, würdest du staunenund verstehen, daß es mich danach verlangt, sie zu schauen und ihnen zu danken.«

Sie schwieg und sah den Einsiedler an. [96] Doch da er nicht willens schien, ihr zu antworten, wandtesie den Blick ab und fuhr fort:

»Vor einiger Zeit wurde ich krank und dachte, meine Zeit sei gekommen. Ich war schon halbbewußtlos. Hin und wieder erwachte ich aus diesem Zustand und wartete auf meine Erlösung. Stundeum Stunde wartete ich, obwohl ich mir der Zeit nicht bewußt war. Und tiefer und tiefer sank ich in jenenhalb träumenden Zustand hinab. Weißt du« – sie sprach sehr leise und ihre Augen glänzten – »ichglaube, daß ich schon tot war. Ich hörte himmlische Musik, eine Musik, wie ich sie nie zuvorvernommen hatte, und ich sah einen Schein, der an Glanz und Helligkeit alles übertraf, was ich jeerblickt hatte. Ich empfand Frieden und Freude, herrlicher, als mein altes Herz sie je empfunden hatte.Glaubst du nicht, daß ich bereits in dem Vorhof war, der den Zugang zur himmlischen Herrlichkeitverheißt?«

»Du hast auf der Schwelle gestanden«, antwortete der Einsiedler leise.

»Ja«, sagte sie und nickte, »ich stand auf der Schwelle. Aber hinein durfte ich nicht. Ich mußteumkehren. Ich erwachte aus jenem traumartigen Zustand, und alles um mich her war wie zuvor. Ich warwieder hier auf der Erde. Sie sagten, ich würde leben, und so war es. Ich lebte.«

Ihr Stimme war verändert. Der Klang erstarb und sie sprach langsamer. Die letzten Worte klangenmatt und wehmütig. Nun blickte sie den Einsiedler fragend an. Sie ließ die Hände in ihrem Schoß ruhen.

Der Einsiedler schaute sie an. Er verstand diese alte, müde Frau und liebte sie. Dann wandte er denBlick zum Horizont und begann langsam zu sprechen: »Gottes Engel, er, der die Menschenkinder überdie Schwelle in den Vorhof des Himmels geleitet, stand an der einen Seite deines Lagers. Er hatte sichschon über dich gebeugt, um dich in seinen Armen mitzunehmen. [97] Und damit du dabei nicht diegeringste Furcht spürest, wie sie die Menschen leicht in der Nähe des Engels empfinden, den sie zuUnrecht Tod nennen, ließ er dich einen Blick in den Vorhof des Himmels werfen.«

»Ja«, bestätigte die Frau, »so war es.«

»Aber dann schaute er auf«, fuhr der Einsiedler fort, »und sah jemanden an deiner anderen Seitestehen. Das war der Engel Leben. Und der hielt eine Perle in der Hand, eine glänzende Perle, von derein Leuchten ausging. Und Tod merkte, daß diese Perle für dich in Lebens Hand lag, daß sie deinEigentum war, für dich bestimmt vom Herrn der Menschen und der Engel, daß du sie dir jedoch noch

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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nicht zu Eigen gemacht oder dich ihrer erfreut hattest. Als er dies erkannte, ließ er die Arme sinken, dieer schon ausgestreckt hatte, um dich zu umfangen, und glitt lautlos beiseite, dich Lebens Händenüberlassend. Dann schlugst du die Augen auf, und man sagte, du werdest leben.«

»Eine Perle«, murmelte die alte Frau, »etwas, das ich mir noch nicht zu Eigen gemacht und dessenich mich noch nicht erfreut habe? Was mag das sein?«

»Ich weiß es nicht«, entgegnete der Einsiedler. »Wie sollte ich es wissen können? Ich weiß nur, daßuns dieses Leben geschenkt wurde, daß es Dinge gibt, die wir uns nur in dieser Lebensgestalt zu Eigenmachen können. Durch sie ist das Leben ein Geschenk, auch wenn es uns Leid und Mühsal bringt.Darum muß Tod weichen, wenn Leben noch eine Gabe in der Hand hält.«

»Wohl habe ich manchmal gedacht«, sagte die alte Frau und senkte den Blick, »daß es womöglichnoch etwas gibt, das ich hätte tun müssen, obwohl ich es nicht sehe – eine Tat, die auf mich wartet ...Aber das kann doch nicht sein! Ich bin so alt!«

»Das kann wohl sein«, antwortete der Einsiedler. »Es ist ja ein Geschenk, etwas tun zu dürfen, eingroßes Geschenk. Aber es kann auch etwas anderes sein. [98] Das einzig Gewisse ist, daß Leben nochetwas für dich bereithält.« Er schwieg eine Weile, dann fuhr er fort: »Du glaubtest Tod und vertrautestdich ihm ruhig und glücklich an. Das können die Menschen zumeist nicht. Nein, das vermögen nurwenige. Aber willst du nun nicht einmal versuchen, Leben zu glauben und dich ihm ruhig und glücklichanzuvertrauen? Auch er ist dir gut. Und er ist Diener und Abgesandter desselben Herrn.«

»Ja, du hast Recht«, meinte die Frau mit bebender Stimme. »Ja, ich will Leben glauben. Er ist mirvielleicht gut ... er wie der andere. Und er wurde von demselben Herrn gesandt ... du hast Recht.«

Der Einsiedler neigte sich zu der alten Frau nieder, und jetzt flüsterte er beinahe, so leise sprach er:»Auch jetzt bist du nicht weit vom Himmel entfernt, nein, du bist ihm sogar nahe. Der Himmel ist janicht ein Ort oder ein Raum, obwohl wir Menschen in unserer Kurzsichtigkeit uns das so vorstellen.Vom Himmel kann man nicht sagen: >Sieh mal, da ist er.< Der Himmel ist Gottes Liebe, Gottes Freudeund Gottes Friede, denen wir begegnen. Je mehr wir in der Lage sind, schon in diesem Leben unsereHerzen dafür zu öffnen, desto näher sind wir ihm. Damit brauchen wir nicht zu warten, bis wir in TodesArmen ruhen. Nicht er bewahrt dies für uns, so daß wir es nur mit seiner Hilfe erringen können. Wirkönnten im Himmel sein, jetzt und hier.«

Schweigend schaute die alte Frau zum Antlitz des Einsiedlers auf. Aber ihre Augen strahlten wiezwei helle Sterne. Die Worte des alten Mannes hatten ihr Ruhe und Erleichterung geschenkt. Es warbeinahe wie ein kleiner, sehr kleiner Schimmer jener Stille und jenes Lichts, das sie in derunvergeßlichen Stunde hatte schauen dürfen, da sie auf der Schwelle gestanden und einen Blick in denVorhof, der Zugang zur himmlischen Herrlichkeit verleiht, hatte werfen dürfen. [99]

»Und siehst du«, fuhr der Einsiedler mit ebenso leiser Stimme fort, »je mehr wir uns der Liebe, demFrieden und der Freude Gottes öffnen, desto mehr werden wir selbst ein Bild der Liebe, des Friedens undder Freude. Wir werden zu dem, wofür wir bestimmt sind: zu Gottes Ebenbild.«

»Ein Bild der Liebe, des Friedens und der Freude«, wiederholte die Frau versonnen. »Wenn man daswerden kann, lohnt es sich noch zu leben. Vielleicht ist das die Perle.«

Sie schauten einander an, die beiden alten Menschen. Sie verstanden einander vollkommen. Dannerhob sich die Frau, um fortzugehen. Sie lächelte den Einsiedler an, ihr Mund und ihre klugen altenAugen lachten ihm zu. [100]

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Brüder Grimm

Die Nixe im Teich

Es war einmal ein Müller, der führte mit seiner Frau ein vergnügtes Leben. Sie hatten Geld und Gut,und ihr Wohlstand nahm von Jahr zu Jahr noch zu. Aber Unglück kommt über Nacht. Wie ihr Reichtumgewachsen war, so schwand er von Jahr zu Jahr wieder hin, und zuletzt konnte der Müller kaum nochdie Mühle, in der er saß, sein Eigentum nennen. Er war voll Kummer, und wenn er sich nach der Arbeitdes Tages niederlegte, so fand er keine Ruhe, sondern wälzte sich voll Sorgen in seinem Bett.

Eines Morgens stand er schon vor Tagesanbruch auf, ging hinaus ins Freie und dachte, es sollte ihmleichter ums Herz werden. Als er über den Mühldamm dahinschritt, brach eben der erste Sonnenstrahlhervor, und er hörte in dem Weiher etwas rauschen. Er wendete sich um und erblickte ein schönes Weib,das sich langsam aus dem Wasser erhob. Ihre langen Haare, die sie über den Schultern mit ihren zartenHänden gefaßt hatte, flossen an beiden Seiten herab und bedeckten ihren weißen Leib. Er sah wohl, daßes die Nixe des Teiches war, und wußte vor Furcht nicht, ob er davongehen oder stehen bleiben sollte.Aber die Nixe ließ ihre sanfte Stimme hören, nannte ihn beim Namen und fragte, warum er so traurigwäre. Der Müller war anfangs verstummt, als er sie aber so freundlich sprechen hörte, faßte er sich einHerz und erzählte ihr, daß er sonst in Glück und Reichtum gelebt hätte, aber jetzt so arm wäre, daß ersich nicht zu raten wüßte. [101]

»Sei ruhig«, antwortete die Nixe, »ich will dich reicher und glücklicher machen, als du je gewesenbist, nur mußt du mir versprechen, daß du mir geben willst, was eben in deinem Hause jung gewordenist.« Was kann das anders sein, dachte der Müller, als ein junger Hund oder ein junges Kätzchen? undsagte ihr zu, was sie verlangte. Die Nixe stieg wieder in das Wasser hinab, und er eilte getröstet undguten Mutes nach seiner Mühle.

Noch hatte er sie nicht erreicht, da trat die Magd aus der Haustür und rief ihm zu, er sollte sichfreuen, seine Frau hätte ihm einen kleinen Knaben geboren. Der Müller stand wie vom Blitz gerührt, ersah wohl, daß die tückische Nixe das gewußt und ihn betrogen hatte. Mit gesenktem Haupt trat er zudem Bett seiner Frau, und als sie ihn fragte: »Warum freust du dich nicht über den schönen Knaben?«,so erzählte er ihr, was ihm begegnet war und was für ein Versprechen er der Nixe gegeben hatte. »Washilft mir Glück und Reichtum«, fügte er hinzu, »wenn ich mein Kind verlieren soll! Aber was kann ichtun?« Auch die Verwandten, die herbeigekommen waren, Glück zu wünschen, wußten keinen Rat.

Indessen kehrte das Glück in das Haus des Müllers wieder ein. Was er unternahm, gelang; es war, alsob Kisten und Kasten sich von selbst füllten und das Geld im Schrank über Nacht sich mehrte. Esdauerte nicht lange, so war sein Reichtum größer als je zuvor. Aber er konnte sich nicht ungestörtdarüber freuen: die Zusage, die er der Nixe gegeben hatte, quälte sein Herz. Sooft er an dem Teichvorbeikam, fürchtete er, sie möchte auftauchen und ihn an seine Schuld mahnen. Den Knaben selbst ließer nicht in die Nähe des Wassers. »Hüte dich«, sagte er zu ihm, »wenn du das Wasser berührst, sokommt eine Hand heraus, hascht dich und zieht dich hinab.«

Doch als Jahr auf Jahr verging und die Nixe sich nicht wieder zeigte, so fing der Müller an sich zuberuhigen. Der Knabe wuchs zum Jüngling heran und kam bei einem Jäger in die Lehre. [102] Als erausgelernt hatte und ein tüchtiger Jäger geworden war, nahm ihn der Herr des Dorfes in seine Dienste. Indem Dorf war ein schönes treues Mädchen, das gefiel dem Jäger, und als sein Herr das bemerke,schenkte er ihm ein kleines Haus; die beiden hielten Hochzeit, lebten ruhig und glücklich und liebtensich von Herzen.

Einstmals verfolgte der Jäger ein Reh. Als das Tier aus dem Walde in das freie Feld ausbog, setzte erihm nach und streckte es endlich mit einem Schuß nieder. Er bemerkte nicht, daß er sich in der Nähe desgefährlichen Weihers befand, und ging, nachdem er das Tier ausgeweidet hatte, zu dem Wasser, umseine mit Blut befleckten Hände zu waschen. Kaum aber hatte er sie hineingetaucht, als die Nixe

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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emporstieg, ihn lachend mit ihren nassen Armen umschlang und so schnell hinabzog, daß die Wellenüber ihm zusammenschlugen.

Als es Abend war und der Jäger nicht nach Hause kam, so geriet seine Frau in Angst. Sie ging aus,ihn zu suchen, und da er ihr oft erzählt hatte, daß er sich vor den Nachstellungen der Nixe in Achtnehmen müßte und nicht in die Nähe des Weihers sich wagen dürfte, so ahnte sie schon, was geschehenwar. Sie eilte zu dem Wasser, und als sie am Ufer die Jägertasche liegen fand, da konnte sie nicht längeran dem Unglück zweifeln. Wehklagend und händeringend rief sie ihren Liebsten mit Namen, abervergeblich; sie eilte hinüber auf die andere Seite des Weihers und rief ihn aufs neue; sie schalt die Nixemit harten Worten, aber keine Antwort folgte. Der Spiegel des Wassers blieb ruhig, nur das halbeGesicht des Mondes blickte unbeweglich zu ihr empor.

Die arme Frau verließ den Teich nicht. Mit schnellen Schritten, ohne Rast und Ruhe, umkreiste sieihn immer von neuem, manchmal still, manchmal einen heftigen Schrei ausstoßend, manchmal in leisemWimmern. Endlich waren ihre Kräfte zu Ende, sie sank zur Erde nieder und verfiel in einen tiefenSchlaf. Bald überkam sie ein Traum. [103]

Sie stieg zwischen großen Felsblöcken angstvoll aufwärts; Dornen und Ranken hakten sich an ihreFüße, der Regen schlug ihr ins Gesicht, und der Wind zauste ihr langes Haar. Als sie die Anhöhe erreichthatte, bot sich ein ganz anderer Blick dar. Der Himmel war blau, die Luft mild, der Boden senkte sichsanft hinab, und auf einer grünen, buntbeblümten Wiese stand eine reinliche Hütte. Sie ging darauf zuund öffnete die Türe; da saß eine Alte mit weißen Haaren, die ihr freundlich winkte. In dem Augenblickerwachte die arme Frau. Der Tag war schon angebrochen, und sie entschloß sich, dem Traume gleichFolge zu leisten. Sie stieg mühsam den Berg hinauf, und es war alles so, wie sie es in der Nacht gesehenhatte.

Die Alte empfing sie freundlich und zeigte ihr einen Stuhl, auf den sie sich setzen sollte. »Du mußtein Unglück erlebt haben«, sagte sie, »weil du meine einsame Hütte aufsuchst.« Die Frau erzählte ihrunter Tränen, was ihr begegnet war. »Tröste dich«, sagte die Alte, »ich will dir helfen; da hast du einengoldenen Kamm. Harre, bis der Vollmond aufgestiegen ist, dann geh zu dem Weiher, setze dich amRand nieder und strähle dein langes schwarzes Haar mit diesem Kamm. Wenn du aber fertig bist, so legeihn am Ufer nieder, und du wirst sehen, was geschieht.«

Die Frau kehrte zurück, aber die Zeit bis zum Vollmond verstrich langsam. Endlich erschien dieleuchtende Scheibe am Himmel, da ging sie hinaus an den Weiher, setzte sich nieder und kämmte ihrelangen schwarzen Haare mit dem goldenen Kamm, und als sie fertig war, legte sie ihn an den Rand desWassers nieder. Nicht lange, so brauste es aus der Tiefe, eine Welle erhob sich, rollte ans Ufer undführte den Kamm mit sich fort. Es dauerte nicht länger, als der Kamm nötig hatte, auf den Grund zusinken, so teilte sich der Wasserspiegel, und der Kopf des Jägers stieg in die Höhe. [104] Er sprachnicht, schaute aber seine Frau mit traurigen Augen an. In demselben Augenblick kam eine zweite Welleherangerauscht und bedeckte das Haupt des Mannes. Alles war verschwunden, der Weiher lag so ruhigwie zuvor, und nur das Gesicht des Vollmondes glänzte darauf.

Trostlos kehrte die Frau zurück, doch der Traum zeigte ihr die Hütte der Alten. Abermals machte siesich am nächsten Morgen auf den Weg und klagte der weisen Frau ihr Leid. Die Alte gab ihr einegoldene Flöte und sprach: »Harre, bis der Vollmond wiederkommt, dann nimm diese Flöte, setz dich andas Ufer, blas ein schönes Lied darauf, und wenn du damit fertig bist, so lege sie auf den Sand; du wirstsehen, was geschieht.«

Die Frau tat, wie die Alte gesagt hatte. Kaum lag die Flöte auf dem Sand, so brauste es aus der Tiefe.Eine Welle erhob sich, zog heran und führte die Flöte mit sich fort.

Bald darauf teilte sich das Wasser, und nicht bloß der Kopf, auch der Mann bis zur Hälfte des Leibesstieg hervor. Er breitete voll Verlangen seine Arme nach ihr aus, aber eine zweite Welle rauschte heran,bedeckte ihn und zog ihn wieder hinab.

»Ach, was hilft es mir«, sagte die Unglückliche, »daß ich meinen Liebsten nur erblicke, um ihnwieder zu verlieren.« Der Gram erfüllte aufs neue ihr Herz; aber der Traum führte sie zum drittenmal in

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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das Haus der Alten Sie machte sich auf den Weg, und die weise Frau gab ihr ein goldenes Spinnrad,tröstete sie und sprach: »Es ist noch nicht alles vollbracht, harre, bis der Vollmond kommt, dann nimmdas Spinnrad, setze dich an das Ufer und spinn die Spule voll, und wenn du fertig bist, so stelle dasSpinnrad nahe an das Wasser, und du wirst sehen, was geschieht.« [105]

Die Frau befolgte alles ganz genau. Sobald der Vollmond sich zeigte, trug sie das goldene Spinnradan das Ufer und spann emsig, bis der Flachs zu Ende und die Spule mit dem Faden ganz angefüllt war.Kaum aber stand das Rad am Ufer, so brauste es noch heftiger als sonst in der Tiefe des Wassers, einemächtige Welle eilte herbei und trug das Rad mit sich fort.

Alsbald stieg mit einem Wasserstrahl der Kopf und der ganze Leib des Mannes in die Höhe. Schnellsprang er ans Ufer, faßte seine Frau an der Hand und entfloh. Aber kaum hatten sie sich eine kleineStrecke entfernt, so erhob sich mit entsetzlichem Brausen der ganze Weiher und strömte mit reißenderGewalt in das weite Feld hinein. Schon sahen die Fliehenden ihren Tod vor Augen, da rief die Frau inihrer Angst die Hilfe der Alten an, und in dem Augenblick waren sie verwandelt, sie in eine Kröte, er ineinen Frosch. Die Flut, die sie erreicht hatte, konnte sie nicht töten, aber sie riß sie beide voneinanderund führte sie weit weg.

Als das Wasser sich verlaufen hatte und beide wieder den trockenen Boden berührten, so kam ihremenschliche Gestalt zurück. Aber keiner wußte, wo das andere geblieben war; sie befanden sich unterfremden Menschen, die ihre Heimat nicht kannten. Hohe Berge und tiefe Täler lagen zwischen ihnen.Um sich das Leben zu erhalten, mußten beide Schafe hüten. Sie trieben lange Jahre ihre Herden durchFeld und Wald und waren voll Trauer und Sehnsucht.

Als wieder einmal der Frühling aus der Erde hervorgebrochen war, zogen beide an einem Tag mitihren Herden aus, und der Zufall wollte, daß sie einander entgegenzogen. Er erblickte an einem fernenBergesabhang eine Herde und trieb seine Schafe nach der Gegend hin. Sie kamen in einem Talzusammen, aber sie erkannten sich nicht, doch freuten sie sich, daß sie nicht mehr so einsam waren. Vonnun an trieben sie jeden Tag ihre Herde nebeneinander; sie sprachen nicht viel, aber sie fühlten sichgetröstet. [106] Eines Abends, als der Vollmond am Himmel schien und die Schafe schon ruhten, holteder Schäfer die Flöte aus seiner Tasche und blies ein schönes, aber trauriges Lied. Als er fertig war,bemerkte er, daß die Schäferin bitterlich weinte. »Warum weinst du?«, fragte er. »Ach«, antwortete sie,»so schien auch der Vollmond, als ich zum letzten Mal dieses Lied auf der Flöte blies und das Hauptmeines Liebsten aus dem Wasser hervorkam.« Er sah sie an, und es war ihm, als fiele eine Decke vonden Augen, er erkannte seine liebste Frau; und als sie ihn anschaute und der Mond auf sein Gesichtschien, erkannte sie ihn auch. Sie umarmten und küßten sich, und ob sie glückselig waren, brauchtkeiner zu fragen. [107]

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Die Zauberblume RomanialMallorquinisches Märchen

Es war einmal ein König, der hatte drei Söhne. Der älteste Prinz war gewandt und stark, und wennder König ihn mit Pfeil und Bogen umgehen oder ihn auf seinem schnellen Pferd ausreiten sah, dachte erbei sich: >Wie gut, daß mein ältester Sohn so tüchtig ist, mag er auch häufig frech und hochmütig sein.Ich habe viele Feinde, und mein Nachfolger wird es nicht leicht haben. Auch mein zweiter Sohn ist zumGlück tüchtig und stark, und so brauche ich mir über meine Nachfolge keine Sorgen zu machen. Aberwie steht es um meinen jüngsten Sohn? Könnte er je, wenn Not am Mann wäre, das Land regieren undverteidigen?<

Der jüngste Prinz – Bernadet hieß er – war tatsächlich von ganz anderer Art. Er hatte langes, dunkles,lockiges Haar und große, verträumte Augen. Während seine Brüder auf die Jagd gingen oder anTurnieren teilnahmen, blieb er lieber zu Hause und las ein Buch oder spielte auf seiner Laute. Eigentlichhatte er ein wenig Angst vor seinen beiden großen Brüdern, die so ungestüm waren und ihn immerherumstießen und schalten, und so machte es ihm auch nicht viel aus, daß sie auf seine Gesellschaftkeinen großen Wert legten.

Eines Tages fing einer der königlichen Jagdaufseher einen großen Adler und überreichte ihn demKönig. Die beiden älteren Prinzen waren entzückt. »Das ist doch einmal etwas anderes als dieTontauben, auf die wir immer schießen müssen«, riefen sie. Sie holten ein kräftiges Seil, banden daseine Ende fest um die beiden Füße des Adlers und das andere an einen Baumstamm. [108] Dannbegannen sie, den großen Vogel zu quälen. Sie legten köstliche Fleischstücke knapp außerhalb seinerReichweite nieder, zogen an seinen Federn und warfen mit Steinen nach dem wehrlosen Tier. Nach einerWeile stand ihnen der Sinn nach weniger kindlichen Vergnügungen, und so gingen sie Pfeil und Bogenholen. Das wurde Bernadet, der schweigend zugeschaut hatte, zu arg. Er nahm all seinen Mut zusammenund löste mit einem Ruck das Seil.

Zu seinem Erstaunen blieb der Adler still sitzen. Sehr vorsichtig näherte sich Bernadet, und als er sah,wie übel seine Brüder den Vogel zugerichtet hatten, empfand er Mitleid. Er holte eine Schale Wasser,versorgte die Wunden, so gut er es vermochte, und ließ den Vogel aus seiner Hand fressen. Während ernoch damit beschäftigt war, begann der Adler plötzlich zu sprechen.

»Möge Gott dich für deine gute Tat belohnen, kleiner Prinz«, sagte er. »Und auch ich will dichbelohnen, obwohl ich nicht viel anzubieten habe. Höre gut zu: Ziehe aus meinem linken Flügel diegrößte Feder, die du finden kannst, und schnitze aus ihrem Kiel eine Flöte. Solltest du je in Not sein,brauchst du nur auf dieser Flöte zu blasen, und ich werde dir zu Hilfe kommen.«

»Danke dir, großer Vogel«, sagte Bernadet, »aber nun flieg schnell fort, denn dort kommen meineBrüder mit Pfeil und Bogen, um auf dich zu schießen.«

Als die beiden älteren Prinzen zu dem Baum kamen, war ihr neues lebendes Spielzeug verschwunden,und auch Bernader hatte sich wohlweislich fortbegeben. Aus sicherer Entfernung hörte er die Rufe vonWut und Enttäuschung, die seine Brüder ausstießen. Den ganzen weiteren Tag mied er ihre Nähe, dennihre Gesichter verhießen nichts Gutes, und Bernader merkte wohl, daß sie ihn nur allzu gern als Sünden-bock erwählt hätten. [109]

An diesem Abend jedoch rief der König seine drei Söhne zu sich und sprach: »Liebe Söhne, derFeind schickt sich an, in unser Land einzufallen, und so muß ich an der Spitze meiner Truppen in denKampf ziehen. Mein ältester Sohn wird während meiner Abwesenheit meinen Platz einnehmen. Ichmeine, daß er schon verständig genug ist, mit der Unterstützung meiner treuen Ratsherren das Land eineWeile zu regieren, und zugleich wird er dabei schon nützliche Erfahrungen sammeln. Mein zweiter Sohnsoll seinem Bruder nach besten Kräften beistehen und insbesondere über das Wohl seiner Mutter, der

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Königin, und das meines lieben Bernadet wachen, der seinen Brüdern gehorsam sein und fleißig lernensoll, denn für etwas anderes ist er noch zu jung.«

Am nächsten Morgen rückte das Heer aus. Der tapfere König ritt voran, und das blieb sein Platzselbst im heftigsten Gefecht. Seine Kühnheit war so groß, daß er in einer großen Feldschlacht seinen vielstärkeren Feind zu überwinden vermochte und eigenhändig den Anführer des feindlichen Heeresentwaffnete und gefangen nahm. Bei seiner Heimkehr wurden seine ruhmreichen Taten in allen Straßenund auf allen Plätzen besungen, doch die Hofärzte machten ernste Gesichter, denn des Königs Körperwar übersät von Wunden, und trotz all ihrer Bemühungen wollte eine große, klaffende Wunde an seinemBein nicht heilen.

»Wir sind machtlos. Das einzige Mittel, das noch Rettung bringen kann, ist die ZauberblumeRomanial«, erklärten sie den drei Prinzen, die am Bett ihres kranken Vaters standen.

»Wo wächst diese Blume?«, flüsterte der König mit schwacher Stimme.

»Niemand weiß, wo sie wächst«, antworteten die Ärzte, »und obwohl in unseren Büchern ihreHeilkraft gepriesen wird, hat sie kein Mensch je mit eigenen Augen geschaut. Und doch müssen wir siefinden, denn eine andere Rettung gibt es nicht.« [110]

»Ich werde meinen ältesten Sohn auf die Suche nach der Blume schicken«, sagte der König, doch derälteste Prinz rief: »Ach nein, Vater, laß doch lieber deine Soldaten nach der Blume mit diesemmerkwürdigen Namen suchen! Denn solange du krank bist, muß ich doch regieren!«

»Meine Soldaten müssen in Bereitschaft bleiben«, sprach der König, »denn die Kriegsgefahr ist nochnicht endgültig vorüber. Dann wird mein zweiter Sohn ausziehen, um die Blume zu suchen.«

»Ach nein, Vater«, widersprach der mittlere Prinz, »dafür hast du doch deine Diener! Und wer sollMutter und Bernadet beschützen, wenn ich fort bin und du krank im Bett liegst?«

Da kniete Bernadet am Bett des kranken Königs nieder, nahm seine Hand und bat: »Lieber Vater, laßmich gehen, dann werde ich die Blume für dich finden.«

Der König schüttelte den Kopf. »Du bist noch viel zu jung, um allein auf die Reise zu gehen,Bernadet«, sagte er, »aber wenn du so gern willst, darfst du mit deinen beiden Brüdern gehen. Diefrische Luft wird dir gut tun.«

So gingen die Brüder zu dritt auf die Suche, und nun zeigte sich, daß Bernadet ein echter Prinz war,denn er saß ebenso gerade und stolz im Sattel wie die beiden anderen, obwohl es das erste Mal war, daßer auf eine große Reise ging. Schon bald lag die Stadt hinter ihnen, und kurze Zeit später näherten siesich einer Herberge. Zu seiner großen Überraschung hörte Bernadet seine Brüder sagen, sie seien müdeund wollten hier den ganzen restlichen Tag ausruhen. Er selbst empfand keine Spur von Müdigkeit, docher folgte ihnen und betrat die Herberge. Die beiden ältesten Prinzen bestellten ein fürstliches Mahl undeinen großen Krug Wein, Bernadet jedoch war zu unruhig, um essen zu können. Immer wieder mußte eran seinen kranken Vater denken und an die Zauberblume Romanial, die die Wunde an seinem Beinwürde heilen können, und schließlich ertrug er es nicht länger. [111]

»Liebe Brüder«, meinte er, »laßt uns weiterziehen und die Zauberblume suchen!«

»Die ist morgen sicher noch nicht verblüht«, sagte der älteste, »und morgen reiten wir in die Stadt,die ich dort in der Ferne liegen sehe. Dort können wir uns danach erkundigen und ausrufen lassen, objemand diese Blume gesehen hat.«

»Eine gute Idee, Bruder«, stimmte der mittlere Prinz zu, »ich habe gerade gehört, daß in dieser Stadtviele Blumenzüchter leben. Bei denen werde ich Erkundigungen einziehen.«

»Aber die Ärzte sagten doch, niemand wisse, wo diese Blume wächst«, wandte Bernadet ein. »Ichdenke, wir sollten lieber in die Berge ziehen und selber an Orten suchen, wo noch nie ein Menschgewesen ist.«

»Ach, das ist doch Bücherweisheit!«, meinte der mittlere. »Es gibt keine Blume, die nicht von denZüchtern unseres Königreiches gezogen worden ist. Warte nur ab! Zieh du nur getrost in die Berge,

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Bernadet, dann reiten dein Bruder und ich in die Stadt. Nach Jahr und Tag kommen wir hierher zurück,und dann werden wir ja sehen, wer die Blume mitbringt.«

»Nach Jahr und Tag? Das ist viel zu lange! Bis dahin ist Vater ja längst tot!«, rief Bernadet aus, abersein ältester Bruder sagte: »Ich brauche mindestens ein Jahr, um die Verwalter und die Edlen der Stadtzu besuchen, wie es einem künftigen König geziemt.«

»Du der künftige König?«, höhnte der mittlere. »Wer die Blume mitbringt, wird König!«

Und nun entstand ein so heftiger Zwist zwischen den beiden Brüdern, daß sie schließlich auf ihrePferde sprangen und davonritten, jeder in eine andere Richtung. Allein und betrübt blieb Bernadetzurück.

Zwölf Monate zog er durch das Land. [112] Er mied die Städte und Dörfer und andere Orte, wo vieleMenschen sind, und suchte die einsamsten Stellen. Er sah viele Wunder, die noch nie ein menschlichesAuge erblickt hatte, er sah den unberührten Schnee auf den höchsten Gipfeln der Berge und folgteunbefahrbaren Flüssen bis zu ihrer Quelle, doch die Zauberblume Romanial fand er nicht. Dann war dasJahr vorüber. Bernadet stand am Strand und schaute hinaus auf das Meer, auf dem auch nicht daskleinste Schiff zu sehen war. Seit Monaten hatte er mit keinem Menschen mehr gesprochen, und jetztschwiegen sogar die Stimmen der Vögel. Die Stille war so drückend, daß er einen Freudenruf ausstieß,als er ganz zufällig in seiner Jackentasche eine kleine Flöte fand. Sogleich begann er, eine fröhlicheWeise zu blasen, und siehe, da erschien ein großer Adler, der sich zu seinen Füßen niederließ. Erst jetzterinnerte sich Bernadet, daß diese Flöte das Geschenk des Vogels war.

»Du hast mich gerufen, kleiner Prinz?«, fragte der Adler. »Oh, lieber Vogel«, entgegnete Bernadet,»wie glücklich bin ich, dich zu sehen, denn die Einsamkeit lastet schwer auf mir. Zwölf Monate sucheich nun schon nach der Zauberblume Romanial, die meinen Vater heilen soll, doch ich habe noch keineSpur von ihr entdecken können. Ich hoffe nur, daß meine Brüder, die so viel größer und stärker sind alsich, mehr Glück hatten.«

»Sie hatten bestimmt kein Glück«, sagte der Adler, »denn ich bin der Einzige, der weiß, wo dieZauberblume wächst. Steige nur auf meinen Rücken, kleiner Prinz, halte dich an meinen Federn gut festund schließe deine Augen, denn die Reise, die wir machen müssen, ist zwar kurz, aber so beängstigend,daß du den Anblick nicht überleben würdest.«

Als Bernadet die Augen wieder öffnete, stand der Adler auf der Spitze eines hohen Felsens, der in derForm eines Schnabels bis zu den Wolken emporragte. [113] Als er hinunterschaute, sah er inunermeßlicher Tiefe das Meer wirbelnd und schäumend über steile Klippen schlagen, so daß die ganzeFelswand dröhnte. Ihn schwindelte, und fast wäre er hinabgestürzt, doch der Adler hatte schon mit demSchnabel zugepackt und setzte ihn nun behutsam auf dem Boden ab.

»Halte dich an meinen Federn fest«, sagte er zu Bernadet, der vor Angst bebte. »Sieben Schrittetrennen dich noch von der Zauberblume Romanial.«

Als er diesen Namen hörte, schöpfte Bernadet wieder Mut. Schritt für Schritt, dicht an den Adlergedrängt, erklomm er die äußerste Spitze des Felsens, wo er einen schmalen Spalt entdeckte. Vorsichtigkniete er nieder und spähte hinein, und was er da sah, war so schön, so schön, daß er minutenlang keinWort herausbrachte und alles um sich her vergaß. Schließlich gelang es ihm, sich von dem Zauber zulösen. Er streckte den Arm in die enge Spalte, so weit er konnte – aber ach! Wäre er nur etwas größergewesen, dann hätte er die Blume gerade ergreifen können. Sein Arm jedoch war ein wenig zu kurz, undwie er ihn auch reckte und streckte, seine Fingerspitzen erreichten sie nicht.

Verzweifelt erhob er sich wieder, doch der Adler sagte: »Schau nicht so traurig drein, kleiner Prinz,ich werde dich nicht im Stich lassen. Nimm ein Messer und trenne meinen rechten Fuß ab! Nein,erschrick nicht! Ich weiß, was ich sage und ich werde dich bestimmt nichts zu tun heißen, was deinemguten Herzen später Kummer bereiten wird.« Widerstrebend gehorchte Bernadet. Er schnitt die Klauedes Adlers ab, umklammerte sie fest mit den Fingern und konnte nun tatsächlich weit genug in den Spalthineinreichen. Die Klaue schloß sich um den Stengel der Blume, Bernadet zog einmal kräftig ... und dieZauberblume Romanial lag ihm zu Füßen. [114] Drei blaue Kelche mit silbernen Staubgefäßen, auf

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denen Tautropfen wie Perlen glitzerten, blühten süß duftend an dem Stengel, den Bernadet jetztvorsichtig in die Hand nahm, und beim Anblick dieses Wunders versank er wie in einen süßen Traum.Erst nach einer ganzen Weile holte ihn die Stimme des Adlers in die Wirklichkeit zurück.

»Jede dieser drei Blüten«, sprach der Adler, »besitzt nur ein einziges Mal heilende Zauberkraft.Überlege also sorgfältig, ehe du sie benutzt!«

Bernadet bedachte sich nicht lange. Sogleich pflückte er eine Blüte von dem Stengel und legte sie aufden verstümmelten Fuß des Adlers und sah zu seiner unbeschreiblichen Erleichterung, wie sogleich eineneue Klaue daran wuchs.

»Du hast mich nicht enttäuscht, kleiner Prinz«, sprach der Vogel, »aber gib Acht: Nun kannst du nurnoch zweimal heilen.«

»Ist das nicht mehr als genug?«, rief Bernadet entzückt. »Oh, großer Vogel, bitte, bring mich sogleichzurück zu der Herberge, in der ich mich mit meinen Brüdern verabredet habe. Vielleicht kommen wirdann doch noch rechtzeitig, um meinen Vater zu heilen.«

»Steige nur auf meinen Rücken, kleiner Prinz, und schließe deine Augen fest, dann bringe ich dich anden gewünschten Ort.«

Im Nu lag der Felsen weit hinter ihnen. Meer, Berge, Täler, Dörfer und Städte flogen nur so unterihnen vorüber. Dann ließ sich der Adler direkt neben der Herberge sanft nieder. Bernadet glitt vonseinem Rücken, und noch ehe er ein Wort des Dankes hatte aussprechen können, war der Vogelverschwunden.

Bernadet betrat die Herberge und fragte, ob seine Brüder schon angekommen seien, aber der Wirtwußte von nichts, und so setzte er sich in einiger Entfernung an den Weg auf einen kleinen Sandhügel,so daß er die ganze Umgebung überblicken konnte. Er wartete und wartete und sah endlich aus der Ferneseinen ältesten Bruder heranreiten. [115]

»Was trödelst du hier herum?«, fragte der mürrisch, als er Bernadet am Wegrand sitzen sah. »Zufällighabe ich gestern meine letzten Dukaten ausgegeben, sonst wäre ich bestimmt noch einige Monate in derStadt geblieben.«

Bernadet hörte kaum zu. »Schau, was ich hier habe!«, jubelte er und holte vorsichtig eine der beidenblauen Blüten hervor, die er unter seinem Hemd auf dem Herzen trug.

Der älteste Prinz erschrak: Die Zauberblume hatte er völlig vergessen. Das ganze Jahr hatte er wie einFürst gelebt und viel mehr Geld ausgegeben, als er besaß; er würde es ja leicht zurückzahlen können,wenn er erst selber König wäre. Nun wurde ihm bang zumute. >Die Krone ist für mich dahin!<, dachteer. >Mein jüngster Bruder, ein Laute spielender Schulbub, der nicht einmal weiß, wie er sich zuverbeugen oder einer Dame die Hand zu küssen hat, wird mich vom Thron stoßen, und das nur, weil erirgendwo ein unnützes Unkraut gepflückt hat! Aber das wird nicht geschehen!< Blitzschnell riß erBernadet die Blume aus der Hand, zog sein Schwert und stach seinen Bruder nieder. Dann begrub er ihntief in dem Sandhügel.

Kurz darauf erschien der zweite Prinz, müde und staubig und völlig verarmt. Auch er hatte das ganzeJahr in der großen Stadt verbracht und so viel Geld ausgegeben, daß seine Gläubiger sogar einen Teilseiner kostbaren Kleider gefordert hatten.

»Ich sehe schon: Du hast die Zauberblume nicht gefunden!«, höhnte der älteste Prinz.

»Du etwa?«, fragte sein Bruder erstaunt, denn er war fest überzeugt, daß der andere nicht einmaleinen Versuch unternommen hatte.

»Natürlich habe ich die Blume«, antwortete der, »denn ich bin der Älteste, und folglich kommt dieKrone mir zu. Komm jetzt schnell mit, dann kann ich den König heilen und die Thronfolge antreten.«[116]

»Sollen wir nicht auf Bernadet warten?«, fragte der mittlere Prinz.

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»Ach was«, gab der älteste zurück, »er hätte sich eben auch so beeilen müssen wie wir. Und imÜbrigen wirst du sehen, daß er längst zu Hause ist. «

Im Königsschloß herrschte große Freude, als die beiden Prinzen von ihrer langen Reise zurückkehrtenund wahrhaftig die Zauberblume Romanial mitbrachten. Der älteste Prinz legte die Blume mit eigenerHand auf die klaffende Wunde im Bein des Königs, und siehe: Nur eine feine Narbe blieb zurück. DerKönig, der in den Wochen zuvor sehr schwach geworden war und gar nicht mehr gesprochen hatte,schlug die Augen auf und fragte: »Bernader? Bist du es, Bernader?«

»Ich bin es, Vater«, rief der älteste Prinz, »ich habe dich geheilt mit der Zauberblume ... - nun ja, denNamen habe ich vergessen. Nun bin ich doch sicher dein würdiger Thronfolger!«

Der König richtete sich auf und reichte seinem ältesten Sohn dankbar die Hand. Auch seinem zweitenSohn nickte er freundlich zu, doch wieder blickte er sich suchend nach Bernader um. Der älteste Prinzmerkte es und sagte unwirsch: »Bernader wird sicherlich noch auftauchen, wenn er Lust hat. Er hat unsim Stich gelassen! Hätten wir vielleicht auf ihn warten sollen, während unser Vater daheim zu sterbendrohte?«

Der König konnte nur schwer verbergen, wie tief ihn sein jüngster Sohn enttäuscht hatte, aber er ließdennoch ein großes Bankett ausrichten, um seine Genesung zu feiern und seinen ältesten Sohn feierlichzu seinem Thronfolger zu ernennen.

Der älteste Prinz hätte vermutlich nicht so ruhig bei dem Bankett gesessen, wenn er gewußt hätte, wasunterdessen geschehen war. [117] Er hatte Bernadet zwar tief im Sand begraben, aber eine Locke seinerschönen langen Haare war vom Winde hervor geweht worden, und aus dieser Haarlocke wuchs einSchilfbüschel, das zu flüstern schien, wenn der Wind durch die Halme strich. Eines Morgens zog einHirtenjunge vorüber. Erstaunt blieb er stehen und betrachtete das Schilf, das aus dem Sand hervorwuchsund leise wisperte. Er sah die schönen, aufrechten Halme und schnitt sogleich einen davon ab, um sicheine Flöte daraus zu schnitzen. Er schnitt ein Mundstück und die Löcher für die Finger hinein, und als erversuchen wollte, ob seine Flöte rein klang, begann sie ganz von selbst ein Lied zu spielen. Und nichtnur die Töne, nein, auch die Worte spielte sie:

Oh Hirtenknabe, spiel nur schön!

Von dir ist mir kein Leid gescheh'n.

Für die Blum' in meiner Hand

begrub man mich hier tief im Sand.

Der Hirtenjunge wußte nicht, wie ihm geschah. Die süße Musik hatte ihn ganz und gar verzaubert, ervergaß alles um sich her und wanderte ziellos weiter, auf seiner Flöte spielend und horchend, was dieMusik ihm erzählte. So gelangte er zum Schloß des Königs. Der stand zufällig am Fenster und hörte dieliebliche Musik, die verkündete:

Oh Hirtenknabe, spiel nur schön!

Von dir ist mir kein Leid gescheh'n.

Für die Blum' in meiner Hand

begrub man mich hier tief im Sand.

Noch nie hatte der König eine so verwunderliche, viel sagende Musik vernommen. Er ließ denHirtenjungen hereinrufen und bat ihn, noch etwas auf seiner Flöte zu spielen. Der junge nickte nur undblies weiter, und die Flöte wiederholte die immer gleichen Worte. Nun wollte der König einmal versu-chen, ob er selber auch solche wundersame Musik machen könne. Er setzte die Flöte an die Lippen, undwieder erklang dieselbe Weise, doch jetzt sprach sie: [118]

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Ach, lieber Vater, spiel nur schön!

Von dir ist mir kein Leid gescheh'n.

Für die Blum' in meiner Hand

begrub man mich hier tief im Sand.

Inzwischen war die Königin herbeigekommen, um zu schauen, wer da so wunderschön auf der Flötespielte, und als sie sah, daß der König selbst die Flöte in den Händen hielt, wollte sie es auch einmalversuchen. Sogleich erklang wieder dieselbe Weise, doch jetzt sprach die Flöte:

Ach, liebe Mutter, spiel nur schön!

Von dir ist mir kein Leid gescheh'n.

Für die Blum' in meiner Hand

begrub man mich hier tief im Sand.

Während die Königin immer fort auf der Flöte spielte, war der König in düsteres Grübeln versunken.Doch plötzlich sprang er auf und ergriff den Arm seines ältesten Sohnes, der sich bei den ersten Tönender Flöte in den entferntesten Winkel des Saales zurückgezogen hatte. »Jetzt bist du an der Reihe«, be-fahl der König.

»Laß mich doch, Vater!«, murrte der Prinz. »Du weißt doch, daß ich Musik nicht mag.«

»Nein, Musik ist hier nicht mehr erklungen, seit Bernadet uns verließ«, seufzte die Königin. »Wasmag nur aus ihm geworden sein?«

»Blas auf der Flöte«, gebot der König seinem ältesten Sohn, »dann werden wir es sogleich wissen.«

Bebend vor Angst, begann der älteste Prinz auf der Flöte zu spielen. Die Weise klang jetzt traurig,und alle Anwesenden erschraken, als sie die Worte hörten:

Oh böser Bruder, halte ein!

Du tatest mir so arge Pein. [119]

Für die Blum' in meiner Hand

begrubst du mich hier tief im Sand.

Voll Abscheu schleuderte der Prinz die Flöte von sich, so weit er konnte, so daß sie in tausend Stückezerbrach, doch der König hatte genug erfahren. Während die beiden ältesten Prinzen gebunden in denKerker geworfen wurden, ritt er selbst an der Spitze seiner Leibwache an jenen Ort, wo das Schilfwuchs; der Hirtenjunge ritt neben ihm und wies ihm den Weg.

Rasch war der Sand abgetragen, und dann sah der König Bernadet liegen, gesund und wohlauf, als seier gerade aus einem erquickenden Schlaf erwacht. Eine der Zauberblüten hatte er benutzt, um den Fußdes Adlers zu heilen; die zweite hatte sein Bruder ihm gestohlen, die dritte jedoch trug er noch an seinemHerzen, als sein böser Bruder ihn im Sand begrub. Tausend Jahre und noch länger hätte er so liegenkönnen, ohne auch nur einen Augenblick in Gefahr zu sein, denn die Zaubermacht der Blume schützteihn.

Als der König nach langem Drängen von Bernadet vernommen hatte, was geschehen war, geriet er inheftigen Zorn und hätte am liebsten seinen ältesten Sohn lebendig begraben, aber Bernadet flehte solange, bis er die Strafe milderte und ihn aus dem Lande jagte. Danach ließ er Bernadet zum Königkrönen, und nie war das Land besser regiert worden. Der Hirtenjunge bekam eine kostbare Flöte ausRosenholz, und die Musik, die er ihr entlockte, bezauberte jeden, der sie hörte – aber sprechen tat sienicht. [120]

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Willem Brandt

Die Kerze

Nein, eine Weihnachtsgeschichte ist dies eigentlich nicht. Nicht einmal eine Geschichte ist es,

sondern ein Bericht, ein ganz normaler Bericht über etwas, das irgendwo geschehen ist. Und der läßtdann auch noch die Aktualität vermissen, die doch in der Regel ein Merkmal eines Berichts ist. Denn dasGeschehen liegt mehr als dreißig Jahre zurück. Wen interessiert es also noch? Aber dieWeihnachtsgeschichte – die eigentliche Weihnachtsgeschichte – war schließlich auch nicht irgendeineGeschichte. Und auch sie ist eine alte Nachricht: Kleine zweitausend Jährchen liegt sie zurück. Was alsomachen die dreißig Jahre schon aus?

Übrigens gibt es noch eine merkwürdige Übereinstimmung, auch wenn Sie die vielleicht als einwenig hergesucht empfinden. Die alte Weihnachtsgeschichte spielte in einem Stall – die von vor dreißigJahren ebenfalls. Nun ja, es war kein echter Stall, aber es sah einem Stall sehr ähnlich. Es war eindüsterer, dunkler Schuppen, in dem fast ständige Dämmerung oder Dunkelheit herrschte. Draußenjedoch strahlte das Licht äußerst hell und prächtig, sowohl tagsüber als auch am Abend und in der Nacht.Jener Schuppen stand nämlich in einem tropischen Landstrich – unter einer glühenden, sengendenSonne, aber auch unter einem phantastischen Sternenhimmel und einem Mond, der viel größer zu seinschien, als man ihn hier im Westen je zu sehen bekommt.

In dem Schuppen wohnten Menschen. Nun ja – >wohnen< ist leicht übertrieben. [121] Sie saßen dortgefangen, denn nicht weit entfernt, draußen, ließen Sonne oder Mond kleine Funken aus demStacheldraht aufblitzen, soweit der im Laufe der Jahre nicht verrostet war. Denn Jahre dauerte das Ganzenun schon – oder waren es Jahrhunderte? Wir wußten es nicht mehr so genau. Wir waren zu müde undzu krank und zu schwach, um darüber nachzudenken, um die Stunden oder Tage zu zählen. Das hattenwir zu Beginn getan, doch nun war das lange vorbei. Man wurde eher mit der Ewigkeit konfrontiert alsmit dem Tag oder der Stunde. Denn es starben so viele, neben dir und dir gegenüber, vor Hunger, an derRuhr, an Tropenkrankheiten oder auch nur daran, daß sie nicht mehr leben wollten, weil ihr letzterFunken Hoffnung erloschen war.

Wir versuchten es noch ein wenig hinauszuschieben in diesem japanischen Konzentrationslager.Warum, das wußten wir eigentlich gar nicht mehr. An ein Ende des Krieges, an Befreiung glaubten wirschon lange nicht mehr. Wir lebten weiter, aus einer Art Routine, betäubt, abgestumpft und mit nur nocheinem Trieb, der uns hin und wieder wie ein wildes Tier an die Kehle sprang: Essen. Essen, egal was.Wir bekamen nichts zu essen, wurden systematisch ausgehungert. Aber hin und wieder fing jemandschon mal eine Schlange oder ein anderes Tier, eine Ratte zum Beispiel. Vergiß es; keiner, der esüberlebt hat, mag darüber noch sprechen.

Nur ein Einziger in jenem Lager besaß noch etwas Eßbares. Eine Kerze. Eine gewöhnliche Talgkerze.Natürlich hatte er sie seinerzeit nicht mitgenommen oder aufbewahrt, um sie zu essen. Ein normalerMensch ißt kein Kerzenfett, obwohl gesagt wird, die Kosacken seien früher verrückt danach gewesen.Aber: Es ist Fett, und das ist nicht zu unterschätzen, wenn man nur ausgezehrte Körper um sich herumsieht und sich in ihnen selbst erblickt.

Wenn die Hungerqual überhaupt nicht mehr auszuhalten war, nahm er die Kerze, die er in einemabgewetzten Koffer sorgfältig verborgen hatte, und nagte daran. [122] Aber er aß sie nicht auf. Erbetrachtete jene Kerze als seine letzte Rettung. Eines Tages, wenn alle vor Hunger wahnsinnig gewordensein würden (lange konnte es nicht mehr dauern), würde er diese Kerze essen. Ich hoffe nicht, daß Sie esabartig oder Schauder erregend finden. Ich, sein Kamerad, fand es damals völlig normal. Er hatte mirübrigens ein kleines Stück dieser Kerze versprochen. Es wurde meine Lebensaufgabe, meine ständigeSorge, darauf zu achten, daß er die Kerze nicht letztlich doch ganz allein verzehrte. Tag und Nachtbelauerte und beobachtete ich ihn und sein Köfferchen. Vielleicht war es das, was mich überleben ließ:Ich hatte ja eine so wichtige Aufgabe zu erfüllen.

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Dann, eines Tages, kam uns zu Bewußtsein, daß Weihnachten war. Ganz zufällig war einer von unsdarauf gekommen, nach langwierigen Berechnungen anhand kleiner Strichelchen und Kerben in einemBalken. Er sagte es jedem. »Und nächstes Jahr zum Weihnachtsfest sind wir zu Hause«, fügte er hinzu,ziemlich gleichgültig und tonlos. Wir nickten oder reagierten überhaupt nicht. Das hatten wir jetzt schonein paar Jahre gehört. Und doch gab es noch einige, die sich daran klammerten. Man weiß ja nie.

Dann sagte jemand, vielleicht ohne sich etwas dabei zu denken, vielleicht aber auch ganz bewußt, dasweiß ich nicht: »Weihnachten brennen Kerzen und läuten Glocken.«

Es war schon eine recht ungewöhnliche Bemerkung. Sie klang wie ein schwacher, kaumwahrnehmbarer Ton aus einer unendlichen Weite, einer fernen, fernen Vergangenheit, wie etwas völligUnwirkliches.

Ich muß freilich feststellen, daß diese Bemerkung die meisten von uns unberührt ließ. Sie hatte jakeinen Bezug zu etwas, sie nannte irgendetwas, das ganz und gar außerhalb unserer Existenz lag, dasaber die eigenartigsten und unerwartetsten Folgen hatte. [123]

Am späten Abend, als jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt- oder vielmehr ehergedankenlos – auf seiner Bettstelle herumlag, wurde mein Freund unruhig. Er kroch zu seinem Kofferund holte die Kerze hervor. Ich sah sie recht gut im Dunkeln, die weiße Kerze. >Er ißt sie auf<, dachteich. >Wenn er nur auch an mich denkt!< Ich spähte durch die Wimpern zu ihm hinüber. Er legte dieKerze auf seine Pritsche und ich sah ihn nach draußen gehen, wo ein kleines Feuer schwelte. Dann kamer mit einem brennenden Span zurück. Wie ein Geist flackerte das Flämmchen durch den Schuppen, biser seinen Platz wieder erreicht hatte. Und dann geschah das Merkwürdige: Er nahm diesen Span, diesesFeuer, und zündete seine Kerze an.

Die Kerze stand auf seiner Pritsche und brannte.

Ich weiß nicht, wie es kam, daß es jeder sofort bemerkte – aber es dauerte nicht lange, und einSchatten nach dem anderen schob sich heran, halb nackte Kerle, deren Rippen man zählen konnte, mithohlen Wangen und vor Hunger brennenden Augen. Schweigend bildeten sie einen Kreis um denflackernden Kerzenschein.

Schritt für Schritt kamen sie näher, diese nackten Männer, auch der Pfarrer und der Pastor.Anzusehen war es ihnen nicht, daß sie Pfarrer oder Pastor waren, denn sie waren auch nichts weiter alsMänner mit ausgemergelten Brustkästen, aber wir wußten es zufällig.

Der Pastor sagte heiser: »Es ist Weihnachten. Das Licht scheint in der Finsternis.«

Und der Pfarrer ergänzte: »Und die Finsternis hat es nicht besiegt.«

Das steht, wenn ich mich nicht irre, im Johannes-Evangelium. Man findet es zwar in der Bibel, aberin jener Nacht, um diese Kerze herum, war es kein jahrhundertealtes geschriebenes Wort. Es warlebendige Wirklichkeit, eine Botschaft für diese Stunde und für uns, für jeden Einzelnen von uns. [124]

Denn das Licht schien in der Finsternis. Und die Finsternis besiegte es nicht. Begründen konnten wires damals nicht: Es war das, was wir fühlten, als wir schweigend im Kreise um dieses Weihnachtslichtstanden und in die feine Flamme schauten.

Mit der hatte es seine besondere Bewandtnis: Diese Kerze war weißer und schlanker, als ich später jeeine gesehen habe. Und dann diese Flamme: Es war eine Kerzenflamme, die bis zum Himmel reichte,und in ihr sahen wir Dinge, die nicht von dieser Welt waren. Das werde ich nie erklären können –niemand von uns, der jetzt noch lebt. Es war ein Geheimnis – ein Geheimnis zwischen dem Christkindund uns. Denn wir wußten damals genau, daß Es da war, daß Es unter uns und für uns lebte.

Wir sangen stumm, wir beteten wortlos, und ich hörte auch, daß die Glocken zu läuten begannen undein Engelschor Lieder anstimmte. Ja, ich weiß es genau und habe mehr als hundert Zeugen, von denendie meisten nicht mehr sprechen können; sie sind nicht mehr. Aber sie wissen es trotzdem genau. Dort,tief in den Sümpfen und im Dschungel, sangen zarte Engelsstimmen Weihnachtslieder für uns und halltedie Bronze von tausend Glocken wider. Woher das kam, wird ein Geheimnis bleiben. Jene Kerze

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leuchtete höher und höher, klarer und klarer, bis zum höchsten First jenes hohen dunklen Schuppens unddann übers Dach hinaus bis zu den Sternen, und alles wurde strahlend hell. Niemand hat später nochjemals so viel Licht gesehen. Und wir fühlten uns frei und aufgerichtet und spürten keinen Hunger mehr.Jene Kerze hatte nicht meinen Freund genährt und auch nicht mich – jene Kerze nährte und stärkte unsalle.

Das Licht nahm kein Ende.

Und als jemand leise sagte: »Nächstes Jahr Weihnachten zu Hause«, glaubten wir das dieses eine Malvorbehaltlos. [125] Denn das Licht hatte uns die Botschaft selbst gebracht, sie stand in feurigenBuchstaben in jener Kerzenflamme, ob Sie es mir glauben oder nicht – ich habe es selbst gesehen.

Die Kerze brannte die ganze Nacht hindurch. Keine Kerze der Welt kann so lange und so hochbrennen.

Als der Morgen dämmerte, sangen einige von uns. Das war jahrelang nicht geschehen. Jene Kerze hatvielen von uns das Leben gerettet, denn damals wußten wir, daß es noch der Mühe wert warfortzuschreiten, wohin auch immer: daß irgendwo am Ende auf jeden von uns ein Zuhause wartete.

Und so war es auch.

Einige sind im Jahr darauf zu Weihnachten nach Hause zurückgekehrt. Sie stehen jetzt wieder indiesem Leben. Sie finden die Kerzen an unseren Christbäumen klein, viel zu klein. Sie haben eingrößeres Licht gesehen, das noch immer brennt.

Die meisten anderen sind auch nach Hause gekommen – vor dem nächsten Weihnachtsfest. Ich habeselbst dabei geholfen, sie in die Erde hinter unserem Lager zu betten, in ein trockenes Fleckchen in denSümpfen. Aber als sie starben, waren ihre Augen nicht so matt wie zuvor. Es war das Licht jenermerkwürdigen Kerze in ihnen. Das Licht, das die Finsternis besiegt hatte. [126]

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Abel Herzberg

Der alte Mann und der Engel Asriel

Jeden Morgen beim Erwachen fühlte der alte Mann sich von einer tiefen Verzweiflung ergriffen. Eslag nicht daran, daß seine Lebensumstände so außergewöhnlich schlecht gewesen wären – er lebte nochimmer in einem gewissen Wohlstand –, sondern wahrscheinlich daran, daß er sein Leben gelebt hatte. Erhatte genossen, was es in einem Menschenleben zu genießen gibt, hatte seine Arbeit mit Sorgfalt getanund Befriedigung darin gefunden; er hatte gesellschaftliches Ansehen erworben und einen gewissenEinfluß ausgeübt. Nun lebte er von den materiellen und geistigen Reserven, die all das ihm eingetragenhatte. Doch die Angst, sie könnten einmal erschöpft sein, quälte ihn unsäglich. In dem Maße, wie erfühlte, daß seine Lebenskraft Tag für Tag abnahm, schwanden auch alle Sicherheiten, die er in langenJahren erworben hatte. Er stand (und war sich dessen sehr wohl bewußt) an der Schwelle des Todes. Under konnte, so sehr er auch danach strebte, keinen Frieden dabei finden. Immer häufiger, gerade so wie inseinen Jünglingsjahren, stellte er sich die Frage: Wozu dies alles? Welchen Sinn hat es? Aber anders alsfrüher erfolgte nun keine Antwort darauf. Es schien ihm, als habe er trotz aller Bemühungen keineWeisheit gewonnen, sondern alle Weisheit verloren und müsse nun unrettbar und in völliger Leere demneuen Tag entgegentreten – schon vor dem Beginn des Kampfes ein geschlagener Mann, nicht nurenttäuscht, sondern auch bar jeder Hoffnung. Erinnerungen an früher hatte er zwar, und sie waren nichteinmal verblichen, doch was sich einst als Glück angekündigt hatte, erlebte er nun als Schmerz. [127]

Sah so das Alter aus? Wie alt mußte jener andere, jener unbekannte Mann gewesen sein, der einst zuder Erkenntnis von der Allmacht der Eitelkeit gelangt war? Die Überlieferung sagt von ihm – und dasaus gutem Grund –, dieser Mann müsse ein König und noch dazu ein Weiser gewesen sein. Jener weiseKönig hatte mit der Krone auf dem Haupt und dem Zepter der Macht in der Hand geklagt: »Eitelkeit derEitelkeiten, alles ist Eitelkeit«, was nichts anderes besagt als: Rauch, nichts, das nicht dazu bestimmt ist,in Rauch und Nichts aufzugehen. Ist dies nur eine Einzelerscheinung oder das Wesen des Alters – dieErkenntnis, daß es keine Beständigkeit und infolgedessen auch kein gesichertes Wissen gibt?

Beweise dafür gab es im Überfluß. Der alte Mann dachte an seine vielen einstigen Freunde. Er sahihre glücklichen Gesichter vor sich, die auf den Festen, die sie miteinander gefeiert hatten, vomtanzenden Licht übergossen waren; Gesichter, die in der Erwartung der vor ihnen liegenden schönenTage strahlten. Er hörte noch die übermütigen Worte, mit denen sie diese Erwartung zum Ausdruckbrachten. Einst hatten diese Worte wie ein Wettstreit des Witzes und der Intelligenz geklungen, jetztschienen sie schal geworden zu sein, wertlose Prahlerei.

Wo waren all jene lieben Freunde geblieben? Gescheitert, gestorben, ermordet für die Befriedigungtrügerischer Illusionen, gefallen in Kriegen, die aus verbrecherischer Machtbesessenheit geführt wordenwaren, in unbekannte Fernen verschwunden, namenlos und wehrlos gemacht. Der alte Mann warvereinsamt, und die Einsamkeit drückte ihn, als sei sie eine Strafe für Untreue, vielleicht sogar fürVerrat. Einzig eine demütigende Narbe war übrig geblieben von allem scheinbar Schönen und Edlen,dem er nachgejagt war. Wahn, Wahn, nichts als Wahn war das alles gewesen. [128]

In glücklicheren Tagen hatte der alte Mann in Familien verkehrt, deren Kinder in ihrem Spiel undihrer Ausgelassenheit Vorboten wachsenden Glückes zu sein schienen. Eine maßlose Grausamkeit hattesie als Opfer fluchwürdiger Erfindungen gefordert. Er hatte Liebe erblühen sehen, die beständig zu seinschien und sich dennoch als flüchtig und trügerisch erwiesen hatte. Die Wirklichkeit war trügerischerSchein und die Wahrheit ein Bodensatz von Lügen. Das ist es, was das Leben einen lehrt, wenn manangeblich so glücklich ist, lange vom Tod verschont zu bleiben.

Ideale, eine bessere Welt, der Sieg der Vernunft, die Überwindung des Hasses und all jenerLebenstriebe, mit denen Menschen einander zu verletzen pflegen – der alte Mann hatte in seiner Jugendund der Zeit seiner vollen Lebenskraft danach gestrebt, sich dies alles zu Eigen zu machen. Mit demSchmerz, der das Wachstum vom Kind zum Jüngling begleitet, hatte er alles verworfen, was ihn andere

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gelehrt hatten, um durch eigene Lebenserfahrung und mit dem Stolz der Unabhängigkeit zum Sinn desDaseins vorzudringen. In vielen stillen, schmerzlichen und einsamen Stunden hatte er sich, mal mit sichallein, dann wieder bei Begegnungen mit Menschen, Dingen und Ereignissen, über die er mitniemandem sprach, ein eigenes Gottes- und Weltbild geschaffen, das keiner Bestätigung von außenbedurfte, sondern allein durch seine innersten Seelenregungen genährt wurde. Lange, lange Jahrehindurch verwahrte er es als sein Geheimnis. Er vervollkommnete es je nach seinen Bedürfnissen, erlebte danach, was nicht heißt, daß er es nicht tausendmal verleugnet hätte. Um Vergebung bat er jedochnie. Er hielt Zwiesprache mit seinem Gottesbild, wohl wissend, daß jedwede Antwort ausbleiben würde.Schließlich vergaß er es und lebte, zu voller Reife gekommen, gedankenlos weiter. Das Bild seinerseitsverließ ihn jedoch nicht, sondern blieb, einmal geschaffen, Teil seiner Persönlichkeit und bestimmte allseine Handlungen und Unterlassungen. [129] Und so fragte er sich, als es Abschied von allemMateriellen um ihn her zu nehmen galt, mit immer größerer Unruhe, was das Wesen all dieser Dinge warund was sie nach dem Abschied noch für ihn bedeuten würden. Mit zunehmender Bestürzung mußte erfeststellen, daß das Elend, das er in seiner Jugend angetroffen und mit Abscheu verworfen hatte, sich imAlter nicht vermindert hatte, sondern im Gegenteil unermeßlich groß und tief geworden war. DieVerzweiflung, die ihn täglich beim Erwachen befiel, wär nicht nur die seine, sondern die Verzweiflungder Menschheit. Und so erwachte in ihm ein quälendes Schuldgefühl.

Die feindselige Frage, die heimlich schon immer auf ihn gelauert hatte, der er aber Schweigen hatteauferlegen können, wurde stärker als er. Er hörte, was er immer hören zu müssen gefürchtet hatte. eineStimme, die sprach: >Ist die Sicherheit, die du (und die Millionen anderer, die in ähnlicher Weisedachten wie du) dir erworben hast, jemals mehr gewesen als Einbildung? Ist das, was du als Sinn desDaseins betrachtet hast, etwas anderes als die Verschleierung der Sinnlosigkeit?

Schau dich um, mein Freund, öffne die Augen! Siehst du nicht die unzähligen Grabsteine derGefangenen auf endlosen Friedhöfen, zu denen ehemalige Schlachtfelder umgestaltet wurden? Undfüllen sie sich nicht Tag für Tag und Stunde für Stunde mit Ungezählten? Höre! Hörst du nicht, wie vieleSterbende auf unserer fruchtbaren Erde um ein Stück Brot schreien? Wie sehr hat sich diese deineschöne Vision, die Vision von Menschenliebe und Brüderlichkeit, doch allenthalben in Mißtrauen undHass verkehrt, so daß jetzt nur noch eine lähmende Angst vor Verderben und Untergang umgeht.

Wie lautet deine Antwort, wie lautete sie einstmals? Du mit deiner verwegenen Absicht, GottesBundesgenosse zu sein bei der Vervollkommnung unserer Welt, die doch so weit davon entfernt ist,vollkommen zu sein!

Erzähle mir nicht, wie oft du ihn anders genannt hast. [130] Ich weiß wohl, daß Gott viele Namenträgt und an verschiedenen Orten herrscht – oft im Himmel über uns, oft in der Tiefe unseres Herzens,nicht selten im Umkreis unseres kümmerlichen Geistes. Doch wann und wo in unseren Taten?

Zuschauer bist du gewesen und immer geblieben, ein Tatenloser, der es vermieden hat, zum Kern derDinge vorzustoßen, selbst wenn du dich hin und wieder zum Rand des Geschehens vorgewagt hast. Du,unseliger Zeitungsleser und noch unseligerer Bücherwurm, wirst dich auf deine Ohnmacht berufen undfragen, was du denn hättest tun können. Aber bist du wirklich sicher, daß diese Ohnmacht dir alsunvermeidliches Schicksal auferlegt wurde und du sie nicht selbst gewählt hast, aus Feigheit, aus Angstvor dem Risiko, das jede Tat in sich birgt?<

Der alte Mann lauschte diesen vorwurfsvollen Worten und wußte, daß die Stimme, die sie aussprach,seine eigene war. Wie viele alte Menschen war er auf den Monolog angewiesen, denn mit wem hätte ersprechen sollen? Die Jugend war nicht fähig, das Alter zu verstehen, und mancher Greis wurde schonmürrisch, wenn ein Altersgenosse ihn um Aufmerksamkeit bat. Daß sein Monolog wegen des fehlendenWiderspruches nicht in jeder Beziehung vernünftig sein konnte, wußte der alte Mann sehr wohl. Aber esstörte ihn nicht. Strafe mußte sein, und wenn er selbst der Bestrafte war, umso besser. In derVergangenheit hatte er viele Fehler gemacht und manches Mal versagt. Das mußte vergolten werden undVergeltung mochte als Entschuldigung dienen. Doch die Verbitterung über das Erleben der Sinnlosigkeitdes gesamten Daseins wurde dadurch nicht geringer.

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>Wie viele Tage oder Stunden<, dachte der alte Mann, >sind mir noch vergönnt, oder< – er ertapptesich dabei, daß er sich korrigieren mußte – >zu wie vielen Tagen und Stunden bin ich noch verurteilt?[131] Sollte mir in dieser kurzen Zeit, kürzer als ein Seufzer, doch noch so etwas wie eine Aufgabebeschieden sein? Mit leeren Händen bin ich in die Welt der Vergänglichkeit getreten – muß ich jetzt mitebenso leeren Händen in die Ewigkeit zurückkehren? Sag du es, du, einst mein teures Gottesbild, das ichso sorgfältig und so lange in meinem Inneren gehegt habe. Gibt es noch einen Hoffnungsschimmer,etwas wie einen Auftrag, das mich befreien kann? Etwas, und sei es auch noch so gering, das auf meinEingreifen wartet?<

»Das gibt es«, sprach eine Stimme.

Der alte Mann erschrak. Diese Stimme kannte er nicht. Er schlug die Augen auf und sah zu seinemErstaunen, daß dem Sofa gegenüber, auf dem er ruhte, ein Fremdling saß.

»Das gibt es«, wiederholte der, wie um ihn zu beruhigen. Der alte Mann hatte noch nie eine sosonderbare Erscheinung gesehen. >Ein Greis wie ich<, dachte er, >und doch faltenlos.< Ein Greis miteinem Knabengesicht, auffallend tadellos gekleidet und frisiert. Nur wenn er sprach, klang aus seinenWorten etwas wie Enttäuschung und Müdigkeit; an seinem Äußeren war nichts davon zu bemerken.

»Ich bin auch kein Mensch«, sagte der fremde Besucher, der offenbar die Gedanken des alten Manneslesen konnte.

»Wer bist du dann?«, fragte dieser.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, lautete die Antwort, »ich bin nicht der Tod, den du erwartest.Und wenn ich überhaupt jemandes Feind sein könnte, so hätte der keinen größeren Feind als mich.«

»Aber wer bist du dann«, schnaubte der alte Mann ungeduldig, »und woher kommst du?«

»Ich bin ein Engel, oder, wenn dir das lieber ist, eine Idee – nenne es, wie du willst. Mein Los ist injedem Fall die Unsterblichkeit. «

»Wie heißt du, du Engel?« Ein leichter Spott lag in der Frage. [132]

»Mein Name ist Asriel, und das bedeutet, wie du weißt: >Gott ist meine Hilfe<. So haben dieMenschen mich genannt. « »Ich glaube nicht, daß Gott hilft«, herrschte der alte Mann seinen Besucheran. »Sag mir nur, was du hier willst. Welche göttliche Hilfe hast du zu bringen? Trost vielleicht? Denbrauche ich nicht. «

»Ich bringe nichts«, sagte Asriel, »und Trost schon gar nicht. Ich komme als Bittsteller. Nicht ich willdir, sondern du sollst mir helfen. «

Der alte Mann verstand ihn nicht. Da begann der Engel ihm seine Geschichte zu erzählen:

Seit der Zeit vor der Erschaffung der Erde und des Menschen sei er einer der ergebensten DienerGottes gewesen. Selbst als der Mensch in den Garten Eden gesetzt worden war und die Herrlichkeitengenoß, die dort wuchsen, habe er nicht den Neid und die Besorgnis der übrigen Engel geteilt. Mancheiner habe sich, wie Beelzebub (der >Herr der Fliegen<), gegen den Herrn erhoben, die meisten aberhätten sich damit begnügt, zu murren und Unheil vorauszusagen. Er hingegen habe das Erscheinen desMenschen begrüßt und Gott für die Erschaffung dieses herrlichen Wesens mehr als je zuvor gelobt. Aberals der Mensch von der verbotenen Frucht gegessen und dies ihm die Augen für Gut und Böse geöffnethatte, als er zur Strafe für diese seine erste Sünde von Gott aus dem Paradies vertrieben worden war, seiin ihm, Asriel, der Zweifel an Gottes Beschluß aufgekommen und mit diesem Zweifel ein tieferKummer. Und Gott, der das bemerkt hatte, habe ihn gefragt: »Asriel, treuester meiner Diener, warumbist du bekümmert?«

Lange habe er geschwiegen – aus Angst, undankbar oder ungerecht zu erscheinen, doch schließlichhabe er eingestanden, was ihn quälte: [133] Nicht die Erschaffung des Menschen, nicht seine Sünde undnicht die Strafe, die ihm auferlegt worden war, so schwer sie auch war, sondern der Gedanke an das Losdes Menschen und die Sorge um seine Zukunft, das sei es, was ihn schmerze.

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»Siehe, mein Gott«, habe er gesagt, »der Mensch hat in einem Garten gewohnt, der zwar in seinemUmfang begrenzt war, doch darum nicht weniger eine Quelle der Wonne. Jeden Pfad, und sei er auchnoch so versteckt, kannte er darin, jede Pflanze, jedes Tier. Jetzt aber ist er in die weite Welt verbannt,die seinetwegen dazu verflucht ist, eine Wüste zu sein. Und diese Wüste muß er eigenhändig fruchtbarmachen, um sich nähren zu können. Wie soll er das tun, wer hat ihn das gelehrt? Wohin soll er sichwenden, um sich nicht zu verirren, nach rechts oder links, nach vorn oder zurück, wer weist ihm denWeg? Er weiß jetzt, was gut und böse ist – aber wer wird ihm zeigen, wie er das Gute tun und das Bösemeiden soll? Und wer wird ihn lehren, seine Nachkommen aufzuziehen? Wer wird ihm raten, wenn derZweifel ihn zu peinigen beginnt – und wird nicht der Zweifel sein ewiger Begleiter sein? Wer wird seineTränen trocknen, wenn er weint – Tränen, die tägliche Frucht enttäuschter Hoffnung? Wer soll ihm dieGefahren seines Übermutes aufzeigen und ihn zu der Einsicht führen, wie und warum er seine Triebebeherrschen muß und sich nicht zum Sklaven seiner Begierden erniedrigen darf?

Und sage mir nicht, gütiger Gott«, habe er, der Engel Asriel, hinzugefügt, »daß all dies gerade zu denmenschlichen Pflichten gehöre und er mit den dazu nötigen Werkzeugen ausgerüstet sei, denn das weißich wohl. Aber der Mensch ist zu schwach, um diese Pflichten zu erfüllen, und seine Werkzeuge reichendafür nicht aus. Was er braucht, ist Hilfe.« [134]

Daraufhin habe Gott seinen geliebten Engel Asriel vor den Enttäuschungen gewarnt, die ihnerwarteten, dann aber doch seinem Drängen nachgegeben und ihm gestattet, den Himmel, zu verlassenund sich zur Erde hinabzubegeben, um den Menschen – wenn er ihm schon nicht bei seinenUnternehmungen würde helfen können – wenigstens vor dem Straucheln auf seinem schwierigen Wegzu bewahren. Doch auch das habe sich als schmähliche Illusion erwiesen. Und wer werde das besserverstehen können als der alte Mann, zu dem Asriel spreche? Denn der kenne die Welt, während er selbstnie mehr gesehen habe als das unendliche Firmament, wo es keine Schuld und kein Straucheln gebe.

Von Mensch zu Mensch sei er gegangen, von Landstrich zu Landstrich, Jahre, Jahrhunderte hindurch.Er habe seine Flügel abgestreift und sich in das Kleid all derer gehüllt, denen die menschliche Tugendam Herzen liegt – der Weisen und Propheten, der Bußprediger, der Heiligen und Verehrer einesjedweden Gottes, weil ihre Worte und Gebete, obwohl in verschiedenen Sprachen geschrieben odergesprochen, doch alle in dieselbe Richtung wiesen. Er habe versucht, Menschen zu stützen, wenn sie zufallen drohten, zu ermutigen, wenn sie keinen Ausweg sahen, sie aufzurichten, wenn sie sich erniedrigtfühlten, kurz: alle ihre Ängste zu bannen. Dazu habe er ihnen aus allen heiligen Schriften vorgelesen, diees gab, ihnen alle Gebote und Verbote vorgehalten, die aufgestellt worden waren, sich auf alleLebensregeln berufen, die der Mensch zu seinem eigenen Besten zu befolgen hätte, und ihnen mit allenStrafen gedroht, die sie bei Übertretung treffen würden. Oft hätten sie ihm zugehört, öfter noch ihnverhöhnt; gefolgt aber seien sie ihm selten. Er wolle durchaus nicht sagen, seine Versuche seien immernutzlos gewesen, doch immer und immer wieder hätte die menschliche Schwäche über sie triumphiert.Angesichts des Hasses, dem er regelmäßig begegnet sei, habe er an die versöhnende Kraft der Liebeappelliert. Vergeblich! Die Verbitterung über ihr schweres Los sei durch den Trost, den er zu bringenversucht habe, nicht gelindert worden. Und hätten sie einmal ein Unrecht – selbst ein nur eingebildetes –erlitten, sei keine Rache groß genug gewesen. [135] Auch habe Neid zu den sinnlosesten Brudermordengeführt. Kirchen und Kathedralen hätten die Gläubigen gebaut, um Gott zu dienen, doch sie hätten Gottmit ihren eigenen Interessen gleichgesetzt. Hätten sie Kriege geführt, was sie nie hätten unterlassenkönnen, hätten Freund und Feind zu demselben Gott um den eigenen Sieg und die Vernichtung desanderen gebetet. Und Gott habe beider Gebete erhört und so beide mit zwar unterschiedlichen, dochgleich schwerwiegenden Katastrophen geschlagen.

Und da stehe er nun, der Engel Asriel, der Lieblingsbote des Herrn, der die Aufgabe erhalten hatte,den Menschen Gottes Hilfe zu überbringen. Er schäme sich, er schäme sich zutiefst. Denn wenn Gott ihnnun fragen würde, was er erreicht habe, hätte er einzig Mißerfolge vorzuweisen. Mit wie vielenErwartungen sei er fortgezogen – und nun kehre er zurück und sei aller Hoffnungen beraubt. Chaos undWildnis habe er bekämpfen wollen, und was hätten all seine Bemühungen erbracht? Beide seien ehergrößer als kleiner geworden. Und jetzt ... und jetzt ... der Engel Asriel stockte.

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»Was – jetzt?«, fragte der alte Mann, der mit zunehmender Aufmerksamkeit der Schilderung seinesBesuchers zugehört hatte. Bei manchem Wort, das er vernommen hatte, hatte er ein Gefühl vonVerbundenheit verspürt. »Was erwartest du nun?«, wiederholte er, als Asriel weiterhin schwieg. »Waswünschst du von mir?«

Noch immer zögernd, brachte der andere schließlich heraus: »Du bist ein alter Mann, du hast langegelebt, zwar viel kürzere Zeit als ich, aber mit nicht geringerer Erfahrung. Kannst du mir helfen? Weißtdu einen Rat für mich? Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll, in mir ist nur noch die Scham übriggeblieben.«

Der alte Mann war zutiefst bestürzt. »Kann aus der Welt der Vergänglichkeit ein Berater für dieEwigkeit geboren werden? [136]

Kann ich, ein Sterblicher, dem Unsterblichen an Weisheit überlegen sein?« Nur mühsam formten sichdie Fragen aus seiner Fassungslosigkeit.

»Du kannst«, sagte Asriel. »Der Sterbliche fürchtet den Tod und leidet, liebt und haßt. Der Neidzerfrißt ihn, aber er ist auch fähig, davon Abstand zu nehmen. Sein Blut ist trübe, doch zugleich verlangtihn nach Reinheit. Er ist wissend.

Doch was wissen wir Engel in unserer Unsterblichkeit? Sind wir nur darum gut, weil wir nichtschlecht sein können? Da wir ewig sind, besteht das, was die Menschen >Zeit< nennen, für uns nicht.Wenn wir in der Welt Böses wahrnehmen, kann seine Besserung warten. Der Mensch ist in Eile, wirnicht. Ist das eine Tugend?

Eines habe ich bei meinen Wanderungen gelernt: Die Welt in ihrer unendlichen Vielgestaltigkeit istvielleicht tatsächlich ein Versuchsgarten Gottes, der aus ihrem Tun und den daraus entspringendenFolgen erkennen kann, wie die Saat des Guten und Bösen aufgeht.

Hör mir zu, alter Mann: Es ist eine unendliche Vergünstigung, Teil dieser Vielgestaltigkeit zu seinund diese auch in sich selbst tragen zu können – und das heißt es, ein sterblicher Mensch zu sein. Weißtdu nun, warum ich zu dir gekommen bin, um deinen Rat zu erbitten?«

Über diese Worte dachte der alte Mann lange Zeit nach. War es eine Vergünstigung, ein sterblicherMensch zu sein? Dann sagte er zum Engel Asriel: »Dies ist mein Rat: Gehe zu Gott, und wenn er dichfragt, was du erreicht hast, so sage ihm: >Ich habe einem alten, verzweifelten Mann das Sterbenerleichtert.< Dann wird er dich segnen und sagen: >Das ist genug.<«

Nach diesen Worten fühlte sich der alte Mann müde – so müde, daß er die Augen schloß. Er öffnetesie nicht mehr. Der Engel Asriel stand auf, beugte sich über den alten Mann, küßte den Toten und gingvon dannen. [137]

Kinder traten ins Zimmer. Sie gingen auf Zehenspitzen und flüsterten: »Großvater ist gestorben« undweinten. Nur eines sagte, und seine Stimme klang kaum lauter als ein Gedanke: »Gelobt sei der Richterder Wahrheit!« [138]

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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III. Jenseits der Grenze

Die alte Frau und die TotenSchweizer Legende

Hoch in den Bergen, wo kein Gras, wo nicht einmal mehr Moos wächst, wo erst recht keine Tiereleben können, wo nur ab und zu das Geschrei der Raubvögel zu hören ist, ist es so kalt, daß das Wasserdes Himmels fast das ganze Jahr über in Schneekristallen niederfällt.

Tagsüber läßt die Sonne einen Teil des Schnees schmelzen, der dann verdampft oder durch dieSchneedecke sickert und zu Eis wird. So liegen dort zwischen den hohen Berggipfeln ungeahnt dickeund große Eismassen. Doch da sie wie alles Wasser, das aus dem Himmel kommt, der Erde und denMenschen dienen wollen, bewegen sich diese Eismassen langsam zu Tal. Das sind die Gletscher.Nachts, wenn es überall still ist, kann man das Brechen und Schieben des Eises hören; es hört sich anwie das Klagen und Stöhnen von Menschen.

Viele Gletscher sind bis tief in die bewohnten Täler vorgedrungen. Und am Rande so eines Gletscherswohnte eine alte Frau in einer kleinen Hütte. Ihr Mann war Jäger gewesen. Eines Tages war erzusammen mit ihrem Sohn über den Gletscher gegangen, um Gemsen zu jagen. Beide waren nichtzurückgekommen. Von dem Tage an blieb die alte Frau allein in der Hütte am Rande des Gletschers. DieLeute aus dem Dorf brachten ihr Flachs zum Spinnen, und zum Lohn bekam sie alles, was sie zumLeben benötigte. Weit und breit konnte niemand so schön und gleichmäßig spinnen wie die alte Frau.[141]

Außer Lebensmitteln erbat sie sich als Lohn auch Kerzen, und die Leute brachten sie ihr gern, dennsie wußten, daß die alte Frau zum Gedenken an die Toten immer eine Kerze entzündete. Dort, im harten,kalten Eis, in den Winterstürmen und Schneelawinen, mußten die Seelen derer verbleiben, die in ihremLeben hartherzig gegen Arme und Kranke, Schwache und Alte gewesen waren, die wenig Liebe zuMensch und Tier gezeigt hatten.

Sobald es abends dunkel wurde, hörte die alte Frau zu spinnen auf. Dann warf sie noch ein paar dickeHolzscheite ins Herdfeuer, stellte eine brennende Kerze ins Fenster und öffnete die Tür einen Spalt breit.Danach ging sie ins Bett. Abend für Abend hörte sie die Toten vom Gletscher kommen, die in ihrerHütte Schutz und Wärme fanden. Die alte Frau sprach ein Gebet für sie und schlief dann friedlich ein.

Eines Tages hatte sie sehr lange gesponnen. Ihre Gedanken waren zurückgegangen in dieVergangenheit, in die Zeit, da ihr Kind bei ihr gespielt hatte und ihr Mann abends mit seiner Beute ausden Bergen heimgekommen war. Darüber hatte sie die Zeit vergessen und nicht daran gedacht, eineKerze ins Fenster zu stellen. Plötzlich hörte sie am Fenster ein Kratzen und Klopfen und dann klagendeStimmen: »Seht nur, seht nur, die alte Frau spinnt noch.« Dann sprang die Tür, auf und die Toten kamenherein. Es war schon zu spät, noch ins Bett zu gehen.

Von dem Tag an vergaß sie nie mehr, rechtzeitig eine Kerze ins Fenster zu stellen und die Tür einenSpalt breit zu öffnen. So vergingen viele Jahre, und eines Wintermorgens fanden zwei Hirten, die ihrFlachs und neue Vorräte bringen wollten, die alte Frau mit gefalteten Händen und zufriedenem Lächelnim Gesicht tot im Bett. Der jüngere der beiden ging zurück ins Tal, um die Beerdigung zu veranlassenund einen Sarg zu holen, während der ältere den ganzen Tag am Bett der Verstorbenen wachte. AmNachmittag brachte der jüngere der beiden Hirten den Sarg, und gemeinsam legten sie die alte Frauhinein und entzündeten Kerzen an ihrem Kopfende. [142]

»In welcher Einsamkeit diese Frau gelebt hat!«, meinte der jüngere Hirte.

»Allein vielleicht«, antwortete der ältere, »aber nicht einsam. Sie hat viele, viele Freunde gehabt.«Inzwischen war es dunkel geworden.

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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»Sieh nur«, sagte der Ältere und deutete auf das Fenster. Vom Gletscher her näherte sich ein langer,langer Zug bleicher Gestalten. Jede trug eine brennende Kerze. Es waren genauso viele, wie die alte Fraufür die Toten entzündet hatte. Die bleichen Gestalten stellten sich im Kreis um das Haus auf. Der ältereHirte öffnete die Tür, und dann sahen sie, wie die alte Frau aus dem Haus kam und auf die Toten zuging.Die bleichen Gestalten verbeugten sich tief vor ihr und reichten ihr eine Kerze. Mit der alten Frau voranentfernten sie sich dann in langer Reihe. Aber sie verschwanden nicht in den Gletscherspalten, sondernzogen wie ein leuchtendes Band immer höher den Berg hinauf. Über dem Eis lag ein rötlicher Glanz, derbis in den Himmel reichte. Dieses leuchtende Band zog langsam weiter und ging auf in der rotenhimmlischen Glut.

Von dem Tag an brauchten die armen Seelen nicht mehr im Gletscher zu leben. Die Liebe undFürsorge der alten Frau hatte sie aus dem kalten Eis befreit. [143]

Ebba Pauli

Tod eines Kindes

Sie stand vor der Höhle des Einsiedlers und schaute hinein. Er hatte den Kopf in die Hände gestütztund saß gedankenversunken an seinem grob behauenen Tisch.

Langsam ging sie hinein. Als er sie nicht zu bemerken schien, nahm sie Platz auf einem Holzschemelihm gegenüber. Sie faltete die Hände in ihrem Schoß und hing ihren Gedanken nach.

Einige Minuten verstrichen. Dann hob der Einsiedler den Kopf und schaute sie an. Er schien nichtüberrascht zu sein, als er sah, daß er nicht allein war. »Was wünschst du?«, fragte er.

Sie stand auf, schob ihren Holzschemel ein wenig zur Seite und nahm wieder Platz. Dann beugte siesich zu dem Einsiedler vor und begann zu sprechen:

»Ich war Mutter, aber ich bin es nicht mehr. Meine Tochter war mein einziges Kind, und sie ist tot.Sie starb gestern. Kannst du das verstehen ... nein, sicher nicht.«

Er sah sie an. In seinem Blick war etwas, das ihren letzten Worten zu widersprechen schien.

»Sie ist nicht tot«, erwiderte er leise.

Sie zog die Schultern hoch und ihr Gesicht erstarrte. »So sagt man«, meinte sie kurz. Beideschwiegen.

»Es ist, als sei meine Seele gelähmt«, begann sie nach einer Weile von neuem. »Ich kann nichtweinen und wehklagen wie andere. Es ist, als liege ein großer Stein auf meiner Brust. Ich weißeigentlich selber nicht, ob ich noch lebe. Ist es denn überhaupt möglich, nach einem solchen Verlustweiterzuleben?« [144]

»Ja«, antwortete der Einsiedler.

Sie schien ihn nicht zu hören. Sie hatte nicht gefragt, um eine Antwort zu erhalten. Sie fuhr fort: »Siewar mein Ein und Alles – ein kleiner Engel mit blonden Locken. Ihre Haare waren wie Gold, ihre Augenwie Sterne. >Das sagen alle Mütter<, wirst du vielleicht erwidern. Aber es war so.

Wenn ich sie in den Armen hielt, war ich glücklich. Mehr brauchte ich nicht. Ihre Stimme war wieGlockengeläut, rein und hell. Und ihr Lachen war wie ... ja, wie das plätschernde Wasser eines Baches.Und ihre kleine warme Hand, die in der meinen lag ... jetzt ist es zu Ende. Sie ist tot ...«

»Vielleicht wäre das Leben einfacher, wenn wir Menschen nicht sehen könnten«, sagte der Einsiedlerbedächtig und nachdrücklich.

»Nicht sehen könnten«, wiederholte die Frau erstaunt. »Wie meinst du das?«

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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»Ich spreche wie ein Tor«, antwortete der alte Mann, »aber wenn wir nicht sehen könnten, fiele esuns leichter, nicht beim Äußerlichen zu verharren. So aber wird das, was wir mit den Augen sehen, mitden Ohren hören und mit den Händen fühlen, zum Einzigen für uns. Du sprichst über das Äußere, nurüber das Äußere.

Und doch war es nicht dieses Äußere, was du liebtest, als du deine Tochter noch hattest. DiesesÄußere brachte dir nur die Botschaft von etwas anderem, und dieses andere war es, was tatsächlich deinGlück ausmachte.«

»Brachte die Botschaft von etwas anderem ... «, wiederholte die Frau. »Ich verstehe dich nicht.«

»Wenn deine Tochter dich anschaute, wenn sie lächelte oder lachte«, fuhr der Einsiedler fort, »wennsie dich rief oder deine Hand hielt, ging eine Botschaft von ihrer Seele zu der deinigen. Der Blick zeigtedir ihre Liebe, das Lächeln die kindliche Freude, die Hand, die die deine suchte, ihr Vertrauen zu dir.[145]

Hätte dieses Unsichtbare nicht hinter dem Sichtbaren gestanden, so hätte das Sichtbare dich nichtglücklich machen können. Es machte dich glücklich, weil dies alles verschiedene Ausdrucksweiseneines unendlich viel kostbareren Gutes waren: der Seele deines Kindes.«

Die Augen der Frau füllten sich mit Tränen, sie rannen ihr über die Wangen, ohne daß sie sietrocknete.

»Ja«, sagte sie, »so war es.«

»Doch dieses Unsichtbare und Kostbare«, fuhr der Greis fort, »die Seele deines Kindes, ist nicht tot.Sie kann niemals sterben. Sie ging einst von Gott aus und kann darum nichts als leben, sowohl nach alsauch vor dem, was du den Tod nennst. Die Seele deines Kindes kann sich nicht mehr auf dieselbe Weiseäußern wie bisher. Und die neue Art ihrer Äußerung vermagst du nicht wahrzunehmen.«

Die Frau sah den alten Mann aufmerksam an, und er fuhr fort: »Wir Menschen glauben zunächstimmer, daß das, was wir sehen, hören und greifen können, unsere Körper und die anderer, Geld undBesitz, den wir um uns anhäufen, die einzig erstrebenswerten Dinge sind. Es bereitet uns unendlicheMühe zu lernen, daß dies alles nur eine äußerliche Gestalt jenes Kerns ist, der das wahrhaft Wirklichedarstellt. Und solange wir das nicht gelernt haben, sind wir abhängig von allem, was geschieht und wasuns begegnet. Wir meinen, unermeßlich reich zu sein, wenn wir jenes Äußerliche besitzen, und unend-lich arm, wenn es uns fehlt.«

Er schwieg und sah die Frau an, doch als er feststellte, daß ihr Blick noch immer fragend auf ihngerichtet war, fuhr er fort:

»Doch dann kommt das Leben und lehrt uns, was Wirklichkeit ist. [146] Manchmal schenkt es unsetwas Äußerliches, wie wir es gewünscht haben, Besitztümer zum Beispiel, zeigt uns aber, daß diesenicht imstande sind, uns Sicherheit und Sorglosigkeit zu verschaffen – und das war es doch, wonach wiruns sehnten, was wir wünschten. Das Leben bringt uns Wohlstand, nach dem wir verlangten, und zeigtuns später, daß auch dieser uns keine Befriedigung zu verschaffen vermag. Das Leben kann uns jedochauch etwas Äußerliches nehmen, das Innerliche aber belassen und uns somit lehren, daß dieses Letzteredas Wichtigste war.«

»Ich habe beides verloren«, sagte die Frau dumpf. »Ich habe alles verloren.«

»Nein«, antwortete der Einsiedler. »Stell dir einmal vor, dein Kind sei erwachsen geworden, habesich aber so verändert, daß sein Blick und sein ganzes Wesen dir Gleichgültigkeit und Undankbarkeitbezeugten. Dann hättest du das Innerliche und somit Wichtigste verloren, die Seele deines Kindes, auchwenn du dann das Äußerliche hättest behalten dürfen. So aber hast du nur die Hülle verloren.«

Die Frau starrte vor sich hin. »Ja«, bestätigte sie, kaum hörbar, »das wäre noch schlimmer gewesen.Dann hätte ich mehr verloren.«

»Ja«, sagte der Einsiedler, »und doch hättest du dann die äußere Hülle behalten von dem, waszunächst dein Glück ausmachte. Verstehst du jetzt, was ich meine, wenn ich sage, dein Kind sei nicht

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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tot? Was dein Glück ausmachte, kann niemand und nichts dir künftig nehmen, niemand kann esverändern oder zerstören. Dein Kind ist unschuldig und liebt dich wie zuvor. Es lebt und wächst ingeistiger Hinsicht, es geht von Licht zu Licht. Einst wirst du dein Kind wieder sehen und sein Wesenerkennen, geistig reicher, als du dir vielleicht vorstellen kannst, und doch wird es dasselbe Kind – deinKind – sein.

Denkst du, daß du an jenem Tag wirst sagen können, dein Kind sei tot oder tot gewesen? Und wenndu es an jenem Tag nicht sagen kannst, kannst du dann jetzt sagen, es sei so?« »Nein«, rief die Frau aus,»das ist nicht möglich.« [147]

Der Einsiedler nickte. »Jetzt verstehst du«, sagte er. »Gehe heim und lebe so, daß du an jenem Tag,da du selbst deine äußere Hülle ablegen wirst, dein Kind wieder erkennst. Nur wer reinen Herzens ist,vermag Gott und sein Ebenbild in einer menschlichen Seele zu sehen. Bedenke jeden Tag, daß dein Kinddich vielleicht sehen, hören, deine Gedanken verstehen und wissen kann, welche Wünsche du im Herzenhegst. Wir wissen so wenig von dem, was jene, die uns auf dem Weg hinauf vorangegangen sind,können oder nicht können. Aber eins ist sicher: Jedes Mal, wenn du über etwas Äußerlicheshinausgewachsen bist, so daß es seine Bedeutung für dich verliert, und jedes Mal, wenn du vor etwasInnerlichem verweilst und es erwirbst, wirst du erleben, daß du deinem Kind näher gekommen bist.«

Die Frau blieb noch eine Weile sitzen. Dann stand sie auf, um zu gehen. »Du hast es dochverstanden«, sagte sie, »du hast es besser verstanden als ich selbst.« [148]

Brüder Grimm

Das Totenhemdchen

Es hatte eine Mutter ein Büblein von sieben Jahren, das war so schön und lieblich, daß es niemandansehen konnte, ohne ihm gut zu sein, und sie hatte es auch lieber als alles auf der Welt. Nun geschah es,daß es plötzlich krank wurde und der liebe Gott es zu sich nahm; darüber konnte sich die Mutter nichttrösten und weinte Tag und Nacht. Bald darauf aber, nachdem es begraben war, zeigte sich das Kindnachts an den Plätzen, wo es sonst im Leben gesessen und gespielt hatte; weinte die Mutter, so weinte esauch, und wenn der Morgen kam, war es verschwunden. Als aber die Mutter gar nicht aufhören wolltezu weinen, kam es in einer Nacht mit seinem weißen Totenhemdchen, in dem es in den Sarg gelegtworden war, und mit dem Kränzchen auf den Kopf, setzte sich zu ihren Füßen auf das Bett und sprach:»Ach Mutter, hör doch auf zu weinen, sonst kann ich in meinem Sarge nicht einschlafen, denn meinTotenhemdchen wird nicht trocken von deinen Tränen, die alle darauffallen.« Da erschrak die Mutter,als sie das hörte, und weinte nicht mehr. Und in der andern Nacht kam das Kindchen wieder, hielt in derHand ein Lichtchen und sagte: »Siehst du, nun ist mein Hemdchen bald trocken, und ich habe Ruhe inmeinem Grab.« Da befahl die Mutter dem lieben Gott ihr Leid und ertrug es still und geduldig, und dasKind kam nicht wieder, sondern schlief ruhig in seinem unterirdischen Bettchen. [149]

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Hans Christian Andersen

Die letzte Perle

Es war ein reiches Haus, ein glückliches Haus; alle dort, Herrschaft und Gesinde, auch die Freunde,waren glückselig und froh, heute war ein Erbe geboren, ein Sohn; und Mutter und Kind waren wohlauf.

Die Lampe in der gemütlichen Schlafstube war halb zugedeckt; schwere seidene Vorhange auskostbaren Stoffen waren dicht vor die Fenster gezogen. Der Teppich war dick und weich, wie Moos,alles war so, daß man einnicken konnte, schlafen, sich wunderbar ausruhen konnte, und das tat auch dieWartefrau, sie schlief, und das durfte sie; alles war hier schön und gut. Der Schutzgeist des Hauses standam Kopfende des Bettes; über das Kind an der Mutter Brust breitete sich gleichsam ein Netz vonglitzernden Sternen, so reich, ein jeder war eine Perle des Glücks. Die guten Feen des Lebens, sie allehatten dem Neugeborenen ihre Gaben dargebracht! Hier funkelten Gesundheit, Reichtum, Glück, Liebe,kurzum alles, was die Menschen sich hienieden wünschen mochten.

»Alles ist dargebracht und hingegeben!«, sagte der Schutzgeist.

»Nein!« erklang ganz nahe eine Stimme, es war der gute Engel des Kindes. »Eine Fee hat ihre Gabenoch nicht dargebracht, sie bringt sie aber, wird sie dereinst bringen, und wenn Jahre darüber vergehensollten. Die letzte Perle fehlt!«

»Fehlt! Hier darf nichts fehlen, und ist es wirklich so, dann wollen wir sie suchen, die mächtige Fee,wir wollen zu ihr gehen!« [150]

»Sie kommt, sie kommt dereinst! Ihre Perle ist nötig, damit der Kranz zusammengefügt werdenkann!«

»Wo wohnt sie? Wo ist ihre Heimat? Sag es mir, ich gehe und hole die Perle!«

»So sei es!« sagte der gute Engel des Kindes. »Ich führe dich zu ihr, wo immer wir sie auch suchenmüssen ! Sie hat keine bleibende Stätte, sie kommt ins Schloß des Kaisers und zu dem ärmsten Bauern,an keinem Menschen geht sie spurlos vorüber, ihnen allen bringt sie ihre Gabe, ob diese eine Welt istoder ein Spielzeug! Auch diesem Kind muß sie begegnen. Du denkst, die Zeit ist ebenso lang, aber nichtebenso nützlich, nun wohl, wir gehen und holen die Perle, die letzte Perle in diesem Reichtum!«

Und Hand in Hand schwebten sie zu dem Ort, wo in dieser Stunde die Fee zu Hause war.

Es war ein großes Haus mit dunklen Gängen, leeren Stuben, und es war seltsam still; eine ReiheFenster standen offen, so daß die rauhe Luft ordentlich hereinströmen konnte; die langen, weißen,herabhängenden Vorhänge bewegten sich im Luftzug.

Mitten im Raume stand ein offener Sarg, und darin ruhte der Leichnam einer Frau, in ihren bestenJahren noch; die schönsten frischen Rosen lagen über sie hingestreut, so daß nur die feinen, gefaltetenHände sichtbar waren und das im Tode verklärte, edle Antlitz mit dem hohen, edlen Ernst der Weihe inGott.

Am Sarge standen Mann und Kinder, es war eine ganze Schar; das Kleinste saß auf des Vaters Arm,sie sagten ein letztesmal Lebewohl; und der Mann küßte ihre Hand, die jetzt wie ein welkes Blatt warund ehedem mit Kraft und Liebe sie alle umsorgt hatte. Heiße, schwere Tränen fielen in großen Tropfenauf den Boden; aber es wurde kein Wort gesprochen. Das Schweigen hier schloß eine Welt von Schmerzein. Und still, schluchzend gingen sie fort. [151]

Hier stand eine Kerze, die Flamme bewegte sich im Wind und leckte mit ihrer langen, roten Zungeempor. Fremde Leute kamen, sie legten den Deckel über die Tote, sie hämmerten die Nägel fest, starkhallten die Hammerschläge durch die Stuben und Flure des Hauses, sie hallten in den Herzen, welchebluteten.

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»Wo führst du mich hin?« fragte der Schutzgeist, »hier wohnt keine Fee, deren Perle zu den bestenGaben des Lebens gehört!«

»An diesem Orte wohnt sie, hier in dieser heiligen Stunde«, sagte der Schutzengel und zeigte in dieEcke, und dort, wo zu ihren Lebzeiten die Mutter unter Blumen und Bildern gesessen hatte, wo sie alssegnende Fee des Hauses Mann, Kindern und Freunden liebevoll zugenickt hatte, als Sonnenstrahl desHauses Freude verbreitet hatte und Zusammenhalt und Herz des Ganzen gewesen war, dort saß jetzt einefremde Frau in langem, wallendem Gewande, das Leid war es, hier die Herrscherin, nunmehr die Mutteran der Toten Statt. In ihren Schoß rollte eine glühend heiße Träne nieder, sie wurde eine Perle; dieseschimmerte in allen Farben des Regenbogens, und der Engel nahm sie auf, und die Perle leuchtete wieein Stern in siebenfarbigem Glanze.

»Die Perle des Leids, die letzte, die man nicht missen kann! Durch sie werden Glanz und Macht deranderen gesteigert. Siehst du den Schimmer des Regenbogens hier, der Erde und Himmel miteinanderverbindet? Mit jedem von unseren Lieben, die von uns gehen, haben wir einen Freund mehr im Himmel,nach dem es uns verlangt. In der irdischen Nacht blicken wir zu den Sternen empor, hinauf zurVollendung! Betrachte die Perle des Leids, in ihr liegen die Flügel der Psyche, sie tragen uns vonhinnen! « [152]

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Aart van der Leeuw

Das Begräbnis

Lange haben sie in der ärmlichen Wohnung des Zimmermanns und Bestatters, der den größten Teildes Jahres ohne Arbeit ist, auf ein Kind gehofft. Und jetzt endlich ist ein Fünfmonatskind, ein Knabe,leblos zur Welt gekommen.

Der Arbeiter nimmt das kleine, sonderbar gestaltete Wesen, das er mit einer Hand bedecken kann, mitzur Scheune, die einen feuchten Hof abschließt und als Geräteschuppen dient. Dort legt er es auf seineHobelbank zwischen ein morsches Stück Holz und einen zerbrochenen Beitel. Aus einem Haufen altenGerümpels zieht er eine leere Seifenkiste hervor, die mit dem Namen der Firma bedruckt ist, und hierhinein bettet er auf ein wenig Holzwolle und Späne die kleine Leiche und versucht vergeblich, sie in dieHaltung eines ruhigen Schlafes zurechtzulegen. Dann nagelt er die Kiste mit einem alten Brett zu, das ergefunden hat. Er zieht seine Arbeitsjacke aus und legt ein eigens mitgebrachtes schwarzes Jackett an.Mit der Kiste unter dem Arm geht er durch das Hinterhaus und zur Vordertür, vorsichtig, um den Schlafder Frau nicht zu stören.

Draußen strahlt die Sonne durch das Laubwerk. Der Mann nimmt unwillkürlich den gemessenen undlangsamen Schritt an, mit dem er in seiner Funktion als Bestatter gewohnt ist, der dunklen Kutsche mitden geflügelten Engelköpfen zu folgen. Es scheint ein Ferientag zu sein, denn es wimmelt von Kindern.[153]

Unter einer blühenden Linde sitzen kleine Mädchen im Kreis ausgebreiteter Röcke und spielenSchule; aus einer Seitengasse stürmt eine Horde Jungen hinter einer zerfetzten Kriegsfahne her,Peitschen knallen und Kreisel tanzen auf dem Straßenpflaster, ein Reifen hoppelt an einemgrasbewachsenen Grabenrand entlang wie ein rundgeschmiedeter Sonnenstrahl.

Den Arbeiter beschleicht ein Gefühl, als sei die Welt von den Kindern erobert worden und sei nunvon deren glücklichem Jubel über ihren Sieg erfüllt. Und ein tiefer Kummer, der ihm noch nicht bewußtwar, treibt ihm das Blut in die Wangen. Sein Schritt wird unsicher, und wo er einem lärmenden Wettlaufoder einem springenden Tanz auszuweichen versucht, büßt er seine Würde ein; er gleicht einemSonntagsgast, der, unsicher auf den Beinen, von einem fröhlichen Fest eine Überraschung mit nachHause bringt.

Doch als er zur pappelgesäumten Allee kommt, durch die er unzählige Male gegangen ist, wird seinSchritt wieder steif, als folge er einem imaginären Leichenzug. Zwischen dem glänzenden Laubwerktaucht ein von zwei Sanduhren gekröntes Gittertor auf. In einem stillen Wasser spiegeln sich einRosenstrauch und eine Trauerweide. Ein alter Mann mit einem Spaten auf der Schulter, dessen Händebraun von Erde sind, öffnet das Tor. Und der greise Gärtner im Garten der Verstorbenen übernimmt diekleine Seifenkiste von dem Arbeiter, um sie in dem verlorenen Winkel des namenlosen Unkrautsbeizusetzen. [154]

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Manfred Kyber

Der Tod und das kleine Mädchen

Es war einmal ein kleines Mädchen, das war immer sehr einsam. Es sei ein sonderbares Kind, sagtendie Großen, und es sei dumm und es vertrage keinen Lärm, sagten die Kleinen – und darum spielteniemand mit ihm. Ihr werdet nun gewiß denken, daß das sehr langweilig und sehr traurig für das kleineMädchen war. Ein bißchen traurig war es manchmal schon, aber langweilig war es gar nicht, denn daskleine Mädchen langweilte sich niemals. Es kamen immer so viele Gedanken zu ihm zum Besuch, unddiese Gedanken sah es auch alle und sprach mit ihnen, als ob sie leibhaftig vor ihm stünden. Es war eineSprache ohne Worte und diese Sprache kennen alle, zu denen die Gedanken zum Besuch kommen.

Die Gedanken, die zu dem kleinen Mädchen kamen, waren alle sehr verschieden und sie waren auchganz verschieden angezogen, wenn man das von einem Gedanken überhaupt sagen kann. Es warentraurige darunter in grauen Kleidern, frohe in rosafarbenen mit goldenen Sternen darauf, rote und lustige,die Fratzen machten, und blaue, die von Märchenländern erzählten und deren Augen immer irgendwohinaus in eine weite Ferne sahen. Es muß sehr still um einen herum sein, wenn so viele Gedanken zueinem zum Besuch kommen. Darum ging das kleine Mädchen am liebsten ganz allein auf denDorffriedhof und setzte sich zwischen alle die Gräber unter den hohen Bäumen. Das kleine Mädchenkannte alle die Gräber mit Namen, und es war wirklich merkwürdig zu beobachten, welche Gedanken anden verschiedenen Gräbern zum Besuch kamen und an welchen Gräben die Gedanken fortblieben. [155]Es war, als ob es ihnen da nicht recht gefiele. Lehrreich und unterhaltend war es auch, was die Gedankenan dem einen oder anderen Grabe sagten, wenn sie zum Besuch kamen. Was sie sagten, war nicht immerschmeichelhaft für die Toten in den Gräbern, aber das kleine Mädchen konnte daraus sehen, an welchenGräbern man am besten sitzen und sich mit seinen Gedanken unterhalten konnte.

Als nun das kleine Mädchen wieder einmal auf dem Friedhof saß und sich von seinen buntenGedanken besuchen ließ, da kam eine Gestalt im schwarzen Gewande durch alle die Grabhügelgeschritten und ging gerade auf das kleine Mädchen zu.

»Bist du auch ein Gedanke?«, fragte das kleine Mädchen. »Aber du bist so sehr viel größer als dieGedanken, die mich sonst besuchen, und du bist so schön, wie keiner von meinen vielen Gedankenjemals war.«

Die schöne Gestalt im schwarzen Gewand setzte sich neben das kleine Mädchen.

»Du fragst ein bißchen viel auf einmal. Ich bin wohl ein Gedanke und doch wieder auch etwas mehr.Es ist für mich gar nicht so leicht, dir das zu erklären. Sonst täte ich es gewiß gerne.«

»Bemühe dich nicht meinetwegen«, sagte das kleine Mädchen, »ich brauche dich gar nicht zuverstehen, es ist auch sehr schön, dich bloß anzusehen. Aber ich möchte gerne wissen, wie du heißt.Meine Gedanken sagen mir immer alle, wie sie heißen, und das ist sehr lustig.«

»Ich bin der Tod«, sagte die schöne Gestalt und sah das kleine Mädchen sehr freundlich an. Manmußte Vertrauen zum Tod haben, wenn man ihm in die Augen sah, denn es waren schöne und guteAugen, die der Tod hatte. Solche Augen hatte das kleine Mädchen noch nicht gesehen.

Das kleine Mädchen erschrak auch gar nicht. [156] Es war nur sehr erstaunt und überrascht, und fastfreute es sich, daß es so ruhig neben dem Tod sitzen konnte.

»Weißt du«, sagte es, »es ist so komisch, daß alle Menschen Angst haben, wenn sie von dir sprechen,wo du so nett bist. Ich möchte gerne mit dir spielen. Es spielt sonst niemand mit mir.«

Da spielte der Tod mit dem kleinen Mädchen – wie zwei Kinder miteinander spielen, mitten unterden Gräbern auf dem Friedhof.

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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»Wir wollen Himmel und Erde bauen«, sagte das kleine Mädchen, »hoffentlich verstehst du es auch.Wir machen den Himmel aus den hellen Kieseln und die Erde aus den dunklen. Du mußt aber fleißigSteine suchen.«

Der Tod suchte kleine Steine zusammen und er gab sich viel Mühe, um das kleine Mädchen zufriedenzu stellen.

»Jetzt haben wir genug«, sagte das kleine Mädchen, »ich finde, daß du sehr schön spielen kannst.Willst du nun den Himmel bauen und ich die Erde oder umgekehrt? Mir ist es einerlei. Du kannst diraussuchen, was dir mehr Spaß macht. Ich erlaube es dir.«

»Ich danke dir sehr«, sagte der Tod, »aber siehst du, ich bin kein Kind mehr und verstehe nicht mehrso zu bauen, wie man das als Kind versteht. Du bist ja noch ein Kind, und ich denke, du baust dir deinenHimmel und deine Erde selber. Aber ich will dir bei beidem helfen. «

»Das ist nett von dir«, sagte das kleine Mädchen und baute sich seinen Himmel und seine Erde ausden bunten Kieselsteinen. Der Tod sah zu und half dem kleinen Mädchen dabei.

»Jetzt paß auf«, sagte das kleine Mädchen, »hier ist der Himmel und drin wohnt der liebe Gott, undhier ist die Erde, und da wohne ich. Nun mußt du auch noch eine Wohnung haben. Aber ich weiß janoch gar nicht, wo du wohnst?« [157]

»Ich wohne zwischen Himmel und Erde«, sagte der Tod, »denn ich muß ja die Menschenseelen vonder Erde zum Himmel führen.«

»Richtig«, sagte das kleine Mädchen, »dann kriegst du eine Wohnung aus hellen und dunklen Steinenzusammen. Es soll eine feine Wohnung werden, du wirst schon sehen.«

Der Tod freute sich und sah zu, wie das kleine Mädchen ihm seine Wohnung baute.

»Höre mal«, sagte das kleine Mädchen, »du hast doch eben gesagt, daß du die Menschenseelen vonder Erde zum Himmel führst. Erzähle mir mal ein bißchen davon, wie du das machst – und warummüssen wir überhaupt sterben? Kann man denn nicht einfach in den Himmel 'rüberlaufen?«

Als das kleine Mädchen das fragte, läuteten die Glocken Feierabend.

»Hörst du die Glocken läuten?«, sagte der Tod. »Siehst du, mit den Menschenseelen ist das ganzähnlich wie mit den Glocken. Jede Menschenseele ist eine Glocke, und du hörst sie läuten, wenn duordentlich aufpaßt, in frohen und in traurigen Stunden. Bei manchen läutet sie nur noch ganz schwachund das ist dann wirklich sehr schlimm. Wenn ich nun zu einem Menschen komme, dann läutet seineGlockenseele Feierabend – ich hänge die Glocke dann in den Himmel und dort läutet sie weiter.«

»Läuten sie denn da alle durcheinander?«, fragte das kleine Mädchen, »daß muß gar nicht schönklingen, denn jede läutet doch sicher ganz anders. Es ist gewiß nicht angenehm für den lieben Gott, sichdas immer anhören zu müssen.«

»Das ist schon wahr«, sagte der Tod, »aber siehst du, die Glockenseelen kommen so oft auf die Erdezurück und werden so lange umgegossen, bis sie alle ihr eigenes richtiges Geläute haben und allezusammenklingen. So lange aber muß ich die Menschen von der Erde zum Himmel tragen.« [158]

»Das tut mir sehr leid für dich«, sagte das kleine Mädchen, »es ist gewiß eine sehr mühsame Arbeit.Aber paß nur auf, es wird schon mal besser werden, und dann hast du gar nichts mehr zu tun, und wirbeide spielen immer so nett zusammen wie heute.« Der Tod nickte und seine Augen sahen in eine sehr,sehr weite Ferne.

»Deine Wohnung ist jetzt fertig«, sagte das kleine Mädchen, »ist sie nicht sehr hübsch geworden?«

»Sie ist sehr hübsch«, sagte der Tod, »ich danke dir auch. Aber es ist spät und du mußt jetzt nachHause gehen. Es war schön, mit dir zu spielen.«

Und der Tod reichte dem kleinen Mädchen die Hand. »Guten Abend«, sagte das kleine Mädchen undknickste, »kommst du auch einmal mich besuchen? Ich bin so viel allein.«

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»Ja«, sagte der Tod freundlich, »ich werde dich sehr bald besuchen, weil du so allein bist.«

Bald darauf wurde das kleine Mädchen sehr krank und die Leute meinten alle, daß es wohl sterbenmüsse. Die Leute waren traurig, denn es erschien ihnen immer traurig, wenn einer starb, und besonders,wenn es ein Kind war, das das Leben noch vor sich hatte, wie sie sagten. Aber es war ja ein sonderbaresKind, das die Großen nicht verstanden und mit dem die Kleinen nicht spielen mochten. Am Ende war esso auch besser.

Als die Glocken Feierabend läuteten, da trat der Tod zu dem kleinen Mädchen ins Zimmer.

»Das ist nett von dir, daß du mich besuchen kommst«, sagte das kleine Mädchen.

»Es ist Feierabend«, sagte der Tod und setzte sich zu dem kleinen Mädchen aufs Bett.

»Ach ja«, sagte das kleine Mädchen, »davon hast du mir damals so schön erzählt, als wir zusammenHimmel und Erde bauten. [159] Dann kommst du gewiß, um meine Glockenseele zu holen. Hoffentlichklingt sie aber auch hübsch, so daß sich der liebe Gott nicht ärgert.«

»Sie sehnen sich im Himmel nach einer reinen Glocke«, sagte der Tod, »darum haben sie michgebeten, zu dir zu kommen.«

»Muß ich dann sterben?«, fragte das kleine Mädchen. »Das brauchst du gar nicht so zu nennen«,sagte der Tod, »siehst du, es ist ganz einfach: An deiner Tür stehen zwei Engel, und die führen dich dannzum lieben Gott in den Himmel.«

»Ich kann aber die Engel nicht sehen«, sagte das kleine Mädchen.

»Ich werde dich mal auf den Arm nehmen«, sagte der Tod, »dann wirst du die Engel gleich sehen.«

Da nahm der Tod das kleine Mädchen auf die Arme, und als er es auf die Arme genommen hatte, dasah es zwei strahlende Engel in weißen Kleidern mit schimmernden Flügeln, und die Flügel führten eszum lieben Gott in den Himmel. Die Glockenseele des kleinen Mädchens aber läutete, und es war langeher, daß eine so reine Glocke oben ihren Feierabend geläutet hatte.

Im Himmel war es sehr schön, und da war das kleine Mädchen kein sonderbares Kind mehr, denn diegroßen Engel verstanden es und die kleinen spielten mit ihm. Auch der liebe Gott war sehr zufrieden undfreute sich, daß er eine so reine Glocke bekommen hatte. Das kleine Mädchen fand es nur sehr traurig,daß der Tod unten auf der Erde bleiben mußte. Es sah ihn auf dem Friedhof stehen, wenn es malherunterguckte, und dann nickte es ihm zu.

»Kannst du hören, wenn ich von oben 'runterrufe?«, fragte das kleine Mädchen. [160]

»Ja«, sagte der Tod, »du brauchst auch nicht so laut zu rufen, denn für mich sind Himmel und Erde sonahe beieinander, wie wir sie einmal zusammen aus Kieselsteinen gebaut haben.«

»Das freut mich«, sagte das kleine Mädchen, »es ist bloß sehr schade, daß ich nicht mehr mit dirspielen kann. Jetzt spielt niemand mehr mit dir. Sei bloß nicht zu traurig drüber. Hörst du?«

»Es war schön, daß du mit mir gespielt hast«, sagte der Tod, »und wenn ich einmal traurig werde,dann höre ich oben deine Glockenseele läuten und freue mich darüber, daß einmal ein Kind mit mirgespielt hat.«

»Ja, tue das«, sagte das kleine Mädchen, »und ich will dir auch etwas Wunderhübsches sagen, wasmir die großen Engel erzählt haben. Die großen Engel sagen, daß einmal eine Zeit kommen wird, woalle Glockenseelen zusammenklingen und alle Menschen mit dem Tod wie die Kinder spielen werden.«[161]

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Richard von Volkmann-Leander

Das kleine bucklige Mädchen

Es war einmal eine Frau, die hatte ein einziges Töchterchen, das war sehr klein und blaß und wohletwas anders als andre Kinder. Denn wenn die Frau mit ihm ausging, blieben oft die Leute stehen, sahendem Kinde nach und raunten sich etwas zu. Wenn dann das kleine Mädchen seine Mutter fragte,weshalb die Leute es so sonderbar ansähen, entgegnete die Mutter jedes Mal: »Weil du ein sowunderhübsches, neues Kleidchen anhast.« Darauf gab sich die Kleine zufrieden. Kamen sie jedochnach Hause zurück, so nahm die Mutter ihr Töchterchen auf die Arme, küßte es wieder und immerwieder und sagte: »Du lieber, süßer Herzensengel, was soll aus dir werden, wenn ich einmal tot bin?Kein Mensch weiß es, was du für ein lieber Engel bist; nicht einmal dein Vater!«

Nach einiger Zeit wurde die Mutter plötzlich krank und am neunten Tage starb sie. Da warf sich derVater des kleinen Mädchens verzweifelt auf das Totenbett und wollte sich mit seiner Frau begrabenlassen. Seine Freunde jedoch redeten ihm zu und trösteten ihn; da ließ er es, und nach einem Jahr nahmer sich eine andre Frau, schöner, jünger und reicher als die erste, aber so gut war sie lange nicht.

Und das kleine Mädchen hatte die ganze Zeit, seit seine Mutter gestorben war, jeden Tag von früh bisabends in der Stube auf dem Fensterbrett gesessen; denn es fand sich niemand, der mit ihm ausgehenwollte. Es war noch blässer geworden, und gewachsen war es in dem letzten Jahr gar nicht. Als nun dieneue Mutter ins Haus kam, dachte es: [162] »Jetzt wirst du wieder spazieren gehen vor die Stadt, imlustigen Sonnenschein auf den hübschen Wegen, an denen die schönen Sträucher und Blumen stehenund wo die vielen geputzten Menschen sind.« Denn es wohnte in einem kleinen, engen Gäßchen, inwelches die Sonne nur selten hineinschien; und wenn man auf dem Fensterbrett saß, sah man nur einStückchen blauen Himmel, so groß wie ein Taschentuch. Die neue Mutter ging auch jeden Tag aus,vormittags und nachmittags. Dazu zog sie jedes Mal ein wunderschönes buntes Kleid an, viel schöner,als die alte Mutter je eins besessen hatte. Doch das kleine Mädchen nahm sie nie mit sich.

Da faßte sich das Letztere endlich ein Herz, und eines Tages bat es sie recht inständig, sie möchte esdoch mitnehmen. Allein die neue Mutter schlug es ihr rund ab, indem sie sagte: »Du bist wohl nichtrecht gescheit! Was sollen wohl die Leute denken, wenn ich mich mit dir sehen lasse? Du bist ja ganzbucklig. Bucklige Kinder gehen nie spazieren, die bleiben immer zu Hause.«

Darauf wurde das kleine Mädchen ganz still, und sobald die neue Mutter das Haus verlassen, stelltees sich auf einen Stuhl und besah sich im Spiegel; und wirklich, es war bucklig, sehr bucklig! Da setztees sich wieder auf sein Fensterbrett und sah hinab auf die Straße und dachte an seine gute alte Mutter,die es doch jeden Tag mitgenommen hatte. Dann dachte es wieder an seinen Buckel.

»Was nur da drin ist?«, sagte es zu sich selbst, »es muß doch etwas in so einem Buckel drin sein.«

Und der Sommer verging, und als der Winter, kam, war das kleine Mädchen noch blässer und soschwach geworden, daß es sich gar nicht mehr auf das Fensterbrett setzen konnte, sondern stets im Bettliegen mußte. Und als die Schneeglöckchen ihre ersten grünen Spitzchen aus der Erde hervorstreckten,kam eines Nachts die alte gute Mutter zu ihm und erzählte ihm, wie golden und herrlich es im Himmelaussähe. [163]

Am andern Morgen war das kleine Mädchen tot.

»Weine nicht, Mann!«, sagte die neue Mutter, »es ist für das arme Kind so am besten!« Und derMann erwiderte kein Wort, sondern nickte stumm mit dem Kopf.

Als nun das kleine Mädchen begraben war, kam ein Engel mit großen, weißen Schwanenflügeln vomHimmel herabgeflogen, setzte sich neben das Grab und klopfte daran, als wenn es eine Tür wäre.Alsbald kam das kleine Mädchen aus dem Grabe hervor, und der Engel erzählte ihm, er sei gekommen,um es zu seiner Mutter in den Himmel zu holen. Da fragte das kleine Mädchen schüchtern, ob denn

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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bucklige Kinder auch in den Himmel kämen. Es könne sich das gar nicht vorstellen, weil es doch imHimmel so schön und vornehm wäre.

Jedoch der Engel erwiderte: »Du gutes, liebes Kind, du bist ja gar nicht mehr bucklig!« und berührteihm den Rücken mit seiner weißen Hand. Da fiel der alte garstige Buckel ab wie eine große hohleSchale. Und was war darin?

Zwei herrliche, weiße Engelflügel! Die spannte es aus, als wenn es schon immer fliegen gekonnthätte, und flog mit dem Engel durch den blitzenden Sonnenschein in den blauen Himmel hinauf. Aufdem höchsten Platze im Himmel aber saß seine gute alte Mutter und breitete ihm die Arme entgegen.Der flog es gerade auf den Schoß. [164]

Richard von Volkmann-Leander

Von Himmel und Hölle

Es war um die Zeit, wo die Erde am allerschönsten ist und es dem Menschen am schwersten fällt zusterben, denn der Flieder blühte schon und die Rosen hatten dicke Knospen: da zogen zwei Wanderer dieHimmelsstraße entlang, ein Armer und ein Reicher. Die hatten auf Erden dicht beieinander in derselbenStraße gewohnt, der Reiche in einem großen, prächtigen Haus und der Arme in einer kleinen Hütte. Weilaber der Tod keinen Unterschied macht, so war es geschehen, daß sie beide zu derselben Stunde starben.

Da waren sie nun auf der Himmelsstraße auch wieder zusammengekommen und gingen schweigendnebeneinander her.

Doch der Weg wurde steiler und steiler, und dem Reichen begann es bald blutsauer zu werden, denner war dick und kurzatmig und in seinem Leben noch nie so weit gegangen. Da trug es sich zu, daß derArme bald einen guten Vorsprung gewann und zuerst an der Himmelspforte ankam. Weil er sich abernicht getraute anzuklopfen, setzte er sich still vor der Pforte nieder und dachte: »Du willst auf denreichen Mann warten; vielleicht klopft der an.«

Nach langer Zeit langte der Reiche auch an, und als er die Pforte verschlossen fand und nicht gleichjemand aufmachte, fing er laut an zu rütteln und mit der Faust dran zu schlagen. Da stürzte Petruseilends herbei, öffnete die Pforte, sah sich die beiden an und sagte zu dem Reichen: »Das bist du gewißgewesen, der es nicht erwarten konnte. [165] Ich dächte, du brauchtest dich nicht so breit zu machen.Viel Gescheites haben wir hier oben von dir nicht gehört, solange du auf der Erde gelebt hast!«

Da fiel dem Reichen gewaltig der Mut; doch Petrus kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondernreichte dem Armen die Hand, damit er leichter aufstehen könnte, und sagte: »Tretet nur alle beide ein inden Vorsaal; das Weitere wird sich schon finden!«

Und es war auch wirklich noch gar nicht der Himmel, in den sie jetzt eintraten, sondern nur einegroße, weite Halle mit vielen verschlossenen Türen und mit Bänken an den Wänden.

»Ruht euch ein wenig aus«, nahm Petrus wieder das Wort, »und wartet, bis ich zurückkomme; aberbenutzt eure Zeit gut, denn ihr sollt euch mittlerweile überlegen, wie ihr es hier oben haben wollt. Jedervon euch soll es genau so haben, wie er sich es selber wünscht. Also bedenkt's, und wenn ichwiederkomme, macht keine Umstände, sondern sagt's, und vergeßt nichts; denn nachher ist's zu spät.«

Damit ging er fort. Als er dann nach einiger Zeit zurückkehrte und fragte, ob sie fertig mit Überlegenwären und wie sie es sich in der Ewigkeit wünschten, sprang der reiche Mann von der Bank auf undsagte, er wolle ein großes, goldenes Schloß haben, so schön, wie der Kaiser keins hätte, und jeden Tagdas beste Essen. Früh Schokolade und mittags einen Tag um den andern Kalbsbraten mit Apfelmus undMilchreis mit Bratwürsten und nachher rote Grütze. Das wären seine Leibgerichte. Und abends jedenTag etwas andres. Weiter wolle er dann einen recht schönen Großvaterstuhl und einen grünseidenenSchlafrock; und das Tageblättchen solle Petrus auch nicht vergessen, damit er doch wisse, was passiere.

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Da sah ihn Petrus mitleidig an, schwieg lange und fragte endlich: »Und weiter wünschest du dirnichts?« – »O ja! «, fiel rasch der Reiche ein, »Geld, viel Geld, alle Keller voll; so viel, daß man es garnicht zählen kann!« [166]

»Das sollst du alles haben«, entgegnete Petrus, »komm, folge mir!«, und er öffnete eine der vielenTüren und führte den Reichen in ein prachtvolles, goldenes Schloß, darin war alles so, wie jener es sichgewünscht hatte. Nachdem er ihm alles gezeigt, ging er fort und schob vor das Tor des Schlosses einengroßen eisernen Riegel. Der Reiche aber zog sich den grünseidenen Schlafrock an, setzte sich in denGroßvaterstuhl, aß und trank und ließ sich's gut gehen, und wenn er satt war, las er das Tageblättchen.Und jeden Tag einmal stieg er hinab in den Keller und besah sein Geld. –

Und zwanzig und fünfzig Jahre vergingen und wieder fünfzig, so daß es hundert waren – und das istdoch nur eine Spanne von der Ewigkeit –, da hatte der reiche Mann sein prächtiges goldenes Schloßschon so überdrüssig, daß er es kaum mehr aushalten konnte. »Der Kalbsbraten und die Bratwürstewerden auch immer schlechter«, sagte er, »sie sind gar nicht mehr zu genießen!« Aber es war nichtwahr, sondern er hatte sie nur satt. »Und das Tageblättchen lese ich schon lange nicht mehr«, fuhr erfort; »es ist mir ganz gleichgültig, was da unten auf der Erde sich zuträgt. Ich kenne ja keinen einzigenMenschen mehr. Meine Bekannten sind schon längst alle gestorben. Die Menschen, die jetzt lebenmüssen, machen so närrische Streiche und schwatzen so sonderbares Zeug, daß es einem schwindligwird, wenn man's liest.« Darauf schwieg er und gähnte, denn es war sehr langweilig, und nach einerWeile sagte er wieder:

»Mit meinem vielen Geld weiß ich auch nichts anzufangen. Wozu hab' ich's eigentlich? Man kannsich hier doch nichts kaufen, wie ein Mensch nur so dumm sein kann und sich Geld im Himmelwünschen!« Dann stand er auf, öffnete das Fenster und sah hinaus. [167]

Aber obschon es in dem Schloß überall hell war, so war es doch draußen stockdunkel; stockdunkel,so daß man die Hand vorm Auge nicht sehen konnte, stockdunkel, Tag und Nacht, jahraus jahrein und sostill wie auf dem Kirchhof. Da schloß er das Fenster wieder und setzte sich aufs Neue auf seinenGroßvaterstuhl; und jeden Tag stand er ein- oder zweimal auf und sah wieder hinaus. Aber es war nochimmer so. Und immer früh Schokolade und mittags einen Tag um den andern Kalbsbraten mit Apfelmusund Milchreis mit Bratwürsten und nachher rote Grütze; immerzu, immerzu, einen Tag wie den andern.

Als jedoch tausend Jahre vergangen waren, klirrte der große eiserne Riegel am Tor und Petrus tratein. »Nun«, fragte er, »wie gefällt es dir?«

Da wurde der reiche Mann bitterböse: »Wie mir's gefällt? Schlecht gefällt mir's; ganz schlecht! Soschlecht, wie es einem nur in so einem nichtswürdigen Schlosse gefallen kann! Wie kannst du dir nurdenken, daß man es hier tausend Jahre aushalten kann! Man hört nichts, man sieht nichts; niemandbekümmert sich um einen. Nichts wie Lügen sind es mit eurem viel gepriesenen Himmel und mit eurerewigen Glückseligkeit. Eine ganz erbärmliche Einrichtung ist es!«

Da blickte ihn Petrus verwundert an und sagte: »Du weißt wohl gar nicht, wo du bist? Du denkstwohl, du bist im Himmel? In der Hölle bist du. Du hast dich ja selbst in die Hölle gewünscht. DasSchloß gehört zur Hölle.«

»Zur Hölle?«, wiederholte der Reiche erschrocken. »Das hier ist doch nicht die Hölle? Wo sind denndie Teufel und das Feuer und die Kessel?«

»Du meinst wohl«, entgegnete Petrus, »daß die Sünder jetzt immer noch gebraten werden, wiefrüher? Das ist schon lange nicht mehr so. Aber in der Hölle bist du, verlaß dich darauf, und zwar rechttief drin, so daß du einen schon dauern kannst. Mit der Zeit wirst du's wohl selbst innewerden.« [168]

Da fiel der reiche Mann entsetzt rückwärts in seinen Großvaterstuhl, hielt sich die Hände vors Gesichtund schluchzte: »In der Hölle, in der Hölle! Ich armer, unglücklicher Mensch, was soll aus mir werden?«

Aber Petrus machte die Türe auf und ging fort, und als er den eisernen Riegel draußen wiedervorschob, hörte er drinnen den Reichen immer noch schluchzen: »In der Hölle, in der Hölle! Ich armer,unglücklicher Mensch, was soll aus mir werden?«

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Und wieder vergingen hundert Jahre und aberhundert, und die Zeit wurde dem reichen Manne soentsetzlich lang, wie niemand es sich auch nur denken kann. Und als das zweite Tausend zu Ende kam,trat Petrus abermals ein.

»Ach!«, rief ihm der reiche Mann entgegen, »ich habe mich so sehr nach dir gesehnt! Ich bin sehrtraurig! Und so wie jetzt soll es immer bleiben? Die ganze Ewigkeit?« Und nach einer Weile fuhr er fort:»Heiliger Petrus, wie lang ist wohl die Ewigkeit?«

Da antwortete Petrus: »Wenn noch zehntausend Jahre vergangen sind, fängt sie an.«

Als der Reiche dies gehört, ließ er den Kopf auf die Brust sinken und begann bitterlich zu weinen.Aber Petrus stand hinter seinem Stuhl und zählte heimlich seine Tränen, und als er sah, daß es so vielewaren, daß ihm der liebe Gott gewiß verzeihen würde, sprach er: »Komm, ich will dir einmal etwasrecht Schönes zeigen! Oben auf dem Boden weiß ich ein Astloch in der Wand, da kann man ein wenig inden Himmel hineinsehen.«

Damit führte er ihn die Bodentreppe hinauf und durch allerhand Gerümpel bis zu einer kleinenKammer. Als sie in diese eintraten, fiel durch das Astloch ein goldener Strahl hindurch dem heiligenPetrus gerade auf die Stirn, so daß es aussah, als wenn Feuerflammen auf ihn brennten.

»Das ist vom wirklichen Himmel!«, sagte der reiche Mann zitternd. [169]

»Ja«, erwiderte Petrus, »nun sieh einmal durch!«

Aber das Astloch war etwas hoch oben an der Wand und der reiche Mann nicht sehr groß, so daß erkaum hinaufreichte. »Du mußt dich recht lang machen und ganz hoch auf die Zehen stellen«, sagtePetrus. Da strengte sich der Reiche so sehr an, als er nur irgend konnte, und als er endlich durch dasAstloch hindurchblickte, sah er wirklich in den Himmel hinein. Da saß der liebe Gott auf seinemgoldenen Thron zwischen den Wolken und den Sternen in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit und umihn her alle Engel und Heiligen.

»Ach«, rief er aus, »das ist ja so wunderbar schön und herrlich, wie man es sich auf der Erde gar nichtvorstellen kann. Aber sage, wer ist denn das, der dem lieben Gott zu Füßen sitzt und mir gerade denRücken zukehrt?«

»Das ist der arme Mann, der auf der Erde neben dir gewohnt hat und mit dem du zusammenheraufgekommen bist. Als ich euch auftrug, es euch auszudenken, wie ihr es in der Ewigkeit habenwolltet, hat er sich bloß ein Fußbänkchen gewünscht, damit er sich dem lieben Gott zu Füßen setzenkönne. Und das hat er auch bekommen, genauso wie du dein Schloß.«

Als er dies gesagt, ging er still fort, ohne daß es der Reiche merkte. Denn der stand immer noch ganzstill auf den Fußspitzen und blickte in den Himmel und konnte sich nicht satt sehen. Zwar fiel es ihmrecht schwer, denn das Loch war sehr hoch oben, und er mußte fortwährend auf den Zehen stehen; aberer tat es gern, denn es war zu schön, was er sah.

Und nach abermals tausend Jahren kam Petrus zum letzten Mal. Da stand der reiche Mann immernoch in der Bodenkammer an der Wand auf den Fußspitzen und schaute unverwandt in den Himmelhinein und war so ins Sehen versunken, daß er gar nichts merkte, als Petrus eintrat. [170]

Endlich legte ihm aber Petrus die Hand auf die Schulter, daß er sich umdrehte, und sagte:

»Komm mit, du hast nun lange genug gestanden! Deine Sünden sind dir vergeben; ich soll dich in denHimmel holen. [171] Nicht wahr, du hättest es viel bequemer haben können, wenn du nur gewollthättest?« – –

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Brüder Grimm

Das Bäuerlein im Himmel

Es ist einmal ein armes, frommes Bäuerlein gestorben und kam nun vor die Himmelspforte. Zurgleichen Zeit ist auch ein reicher, reicher Herr da gewesen und hat auch in den Himmel gewollt. Dakommt der heilige Petrus mit dem Schlüssel, macht auf und läßt den Herrn herein; das Bäuerlein hat eraber, wie's scheint, nicht gesehen und macht deshalb die Pforte wieder zu. Da hat das Bäuerlein vonaußen gehört, wie der Herr mit aller Freude im Himmel aufgenommen worden ist und wie sie drinnenmusiziert und gesungen haben. Endlich ist es drinnen wieder still geworden, und der heilige Petruskommt, macht die Himmelspforte auf und läßt das Bäuerlein ein. Da hat das Bäuerlein gemeint, eswerde auch jetzt musiziert und gesungen, wenn er käme, aber da ist alles still gewesen; man hat's freilichmit aller Liebe aufgenommen, und die Engel sind ihm entgegengegangen, aber gesungen hat niemand.Da fragt das Bäuerlein den heiligen Petrus, warum bei ihm nicht genauso gesungen wird wie bei demreichen Herrn: es ginge, scheint's, im Himmel so parteiisch zu wie auf der Erde.

Da sagte der heilige Petrus: »Aber nein, du bist uns so lieb wie alle andern und darfst diehimmlischen Freuden genießen wie der reiche Herr, aber schau, so arme Bäuerlein, wie du eins bist,kommen alle Tage in den Himmel. So ein reicher Herr aber: da kommt alle hundert Jahre nur etwaeiner.« [172]

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Georg Dreißig

Das golden glänzende Flaumfederchen

Ein armer Mann war gestorben – lebenssatt und ausgesöhnt mit der Welt. Weit hatten ihn seine Füßeüber die Erde getragen in schönen und in schweren Stunden. Nun war er's zufrieden. Als er aber imHimmel die Augen wieder aufschlug und sich vor dem Erzengel Michael mit der Waage stehen fand, daschlug ihm doch das Gewissen. Er begann zu überdenken, ob das, was er im Erdendasein erlebt underlangt hatte, wohl gut genug gewesen sei, um dem prüfenden Blick des Himmelsfürsten standhalten zukönnen. Seine Taten und Leiden sah er um sich her verstreut liegen; sie erschienen ihm teils wieabgelegte Gewänder, teils auch wie Tand. Dazwischen aber blitzte es hier und dort wie edles Gestein.

Michael hob die Waage. Unbeweglich still ruhten die beiden Schalen im Gleichgewicht. »Laß unsdein Leben wägen«, forderte der Engel den armen Mann auf. »Wie hießest du?« – »Sie nannten michFrieder«, erwiderte der Alte, »Frieder, den Tippelbruder.« Und erklärend fügte er hinzu: »Ich war aufder Landstraße zu Hause, Herr.« – »Wollen sehen, ob du deinen Namen zu Recht getragen hast«, sprachder Engel.

Frieder blickte sich um. Ihm zu Füßen lag ein alter Mantel, dessen Farbe kaum noch zu erkennen war,so verblichen und zerschlissen war das Tuch. Der Alte hob ihn empor und legte ihn auf die eine Schale.Die Waage bewegte sich kaum. »Frieden hast du gestiftet, aber auch Unruhe gebracht«, stellte Michaelfest, »das Gute und das Böse, das man mit deinem Namen verbindet, heben sich auf, Frieder.« – [173]»Ach ja«, erwiderte der Alte, als hätte er gar nichts anderes erwartet, »bin wohl keine helle Leuchtegewesen für die Menschen.« Doch im Tonfall des Bettlers, der ihm noch vertraut war, fügte er hinzu:»Aber ein Raufbruder war ich auch nicht, gewiß nicht, Herr Michael. Der Peter könnt's euch bestätigen.Den kennt Ihr doch, den Peter? Der war aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Mit dem kann ichmich freilich nicht vergleichen. Ach der Peter, der war ein guter Kamerad.« Michael musterte den Altenmit unergründlichem Blick.

»Was kannst du noch auf die Waagschale legen?«, fragte er nun. Da hob Frieder auf, was ihm zuFüßen lag: seine Liebe zur Erde; seine Freude am Gesang der Vögel; seine eigenen Lieder – das warennicht nur Sauflieder gewesen; seine Fähigkeit, auf dem Kamm zu blasen; seine Geduld, Elend zuertragen; seine Bereitschaft zu teilen, was er besaß ... Manches sah jetzt aus wie frische Wiesenblumen,manches wie die geschliffenen Kiesel aus einen Bachbett, manches wie welkes Laub. Hin und wiederauch zerfiel etwas, das Frieder wertvoll erschienen war, beim Aufheben zu Staub. Und anderes mußte erunter dem weisenden Blick des Engels gar in jene zweite Schale legen, die ebenfalls gefüllt sein wollte,die aber das Gute aufzuwiegen trachtete. Ja, ja, Frieder entsann sich: Leichtfertig war er gewesen inseinem Erdenleben, faul auch manchmal, jähzornig in der Jugend, verstockt im Alter. Er hatte hin undwieder etwas mitgehen lassen, das nicht sein Eigen gewesen; das wog nun allzu schwer. Was halfen ihmseine fröhlichen Lieder, die wie blanke Kinderperlen auf der Seite des Guten glänzten, wenn auf deranderen Seite die Liederlichkeit wie kalte Aschebrocken die Schale in die Tiefe drückte!

»Ach ja, der Peter«, seufzte Frieder hin und wieder, »der war so ganz anders, forsch und tatendurstigund so hilfsbereit. [174] Der mochte kein Wässerlein trüben, und wo er mit anpacken konnte, da hat erangepackt. Dem Peter ist's hier sicher besser ergangen.«

Schließlich hatte Frieder auch das Letzte auf die Waage gelegt. Langsam schwangen die Schalen ausund kamen zur Ruhe. Nein, ein großer Unterschied war nicht zu sehen – aber ein kleiner eben doch,schon gar für den scharfen Blick des Erzengels: Unzweifelhaft neigte sich die andere Schale etwas tieferherab als die des Guten, auf der es doch so lustig leuchtete von Lebenslust und Liebe zur Natur. »Nichtschwer genug«, urteilte Michael, und Frieder nickte dazu. »Wenn mir der Peter nur die eine oder anderevon seinen Taten abtreten wollte«, seufzte er, »dann sollte sich die gute Schale schon noch senken, undihr müßtet mich eintreten lassen in Euren Himmel, Herr. Aber da ist wohl nichts zu machen.« – »Liegtdenn auch wirklich alles schon auf der Waage?«, fragte der Erzengel schnell, »hast du nichts vergessen,

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Frieder?« Der Alte schüttelte den Kopf. Doch unter dem prüfenden Blick des Erzengels beugte er sichnoch einmal zur Erde nieder.

Und richtig: dort lag noch etwas, ein golden glänzendes Flaumfederchen. Frieder hob es auf undbetrachtete es überrascht. »Was ist denn das?« fragte er erstaunt, »gehört das auch zu mir?« – »Wirf esnur auf die Schale des Guten«, forderte Michael ihn auf, und auf einmal hatte seine Stimme einen sosilberfrohen Klang, daß dem alten Tippelbruder das Herz zu hüpfen begann. »Also, Federlein, tu deinWunder«, rief er hoffnungsvoll und ließ das Flaumfederchen aus seiner Hand leicht auf die Waagegleiten. Da neigte sich die Schale des Guten tief und tiefer zur Erde hinab.

Wie froh war unser Frieder. »Es langt«, jubelte er ein ums andere Mal, »es langt; die gute Seite hatsich gesenkt. Nicht wahr, Herr Michael, nun laßt Ihr mich ein in Euren Himmel.« – [175] »Gern,Frieder«, erwiderte der Engel, »du bist uns hier sehr willkommen. Aber sag doch, weißt du denn, wasdas für ein Federchen war, das so schwer wiegt hier oben?«

Verwirrt schüttelte der Alte den Kopf. Nein, er wußte es nicht, hatte es sich auch gar nicht gefragt. Ja,was hatte denn den Ausschlag gegeben? »Ist es«, stotterte er schließlich verlegen, »ist es vielleicht eineFeder aus Eurem Flügel, Herr?«

Der Hauch eines Lächelns huschte über das ernste Antlitz des Himmelsfürsten. »Nicht schlecht,Frieder«, erwiderte er, »gar nicht schlecht. Es ist fast so etwas wie die Feder aus einem Engelsflügel. Ja,das stimmt.« Doch ernst setzte er fort: »Es ist das Vertrauen, das du deinem Bruder der Landstraßeimmer so unerschütterlich bewahrt hast, Frieder, dein Vertrauen in Peter, von dem du meinst, daß eralles soviel besser konnte als du selbst.«

Frieder schaute den Engel an, als spräche dieser plötzlich in einer fremden Sprache. Er verstand keinWort. »Der Peter«, murmelte er, »der Peter. Ja, was ist's denn mit meinem Vertrauen in ihn? Das istdoch eine Nichtigkeit.« – »Für dich ist es kaum ein Federlein«, antwortete der Engel, »für uns hingegenist es eine goldschwere Tat des Guten. Für Peter aber war dein Vertrauen die Stütze im Leben, die ihmHalt gab. Ja, er war tatkräftig und hilfsbereit, dein guter Kamerad. Doch die Lust und die Kraft und dieAusdauer, so zu sein, die hatte er von dir. Deinem Vertrauen wollte er sich würdig erweisen. Hättest duihm nicht soviel zugetraut, Peter wäre in der Gosse verkommen, ein armseliges Geschöpf, nur noch imLeiden ein Mensch.«

Staunend hörte Frieder die Worte. Wie er aber noch darüber nachsann, bemerkte er auf einmal, dasses um ihn her ganz hell wurde. Er schaute auf. Jetzt stand nicht mehr der Erzengel mit der Waage vorihm, sondern ein weit geöffnetes Tor lud ihn ein, einzutreten. [176] Im Torbogen erkannte er Peter, ganzjugendlich anzuschauen und vertraut zugleich; der winkte ihm freundlich zu. Neben dem Kameradenaber stand eine lichte Gestalt, die ihm herzlich beide Hände entgegenstreckte. »Ach ja«, erinnerte sichFrieder da plötzlich, »wir waren ja drei auf unseren Wegen, nur hatte ich's vergessen: ich und der Peterund er.« Und frohen Herzens lief er, sich mit ihnen wieder zu vereinigen. [177]

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Hans Christian Andersen

Das Kind im Grabe

Es war Trauer im Haus, es war Trauer in den Herzen. Das jüngste Kind, ein vierjähriger Knabe, dereinzige Sohn, der Eltern Freude und Zukunftshoffnung, war gestorben. Zwei ältere Töchter hatten siewohl, die älteste sollte gerade in diesem Jahr konfirmiert werden, liebliche, gute Mädchen alle beide;aber das verlorene Kind ist immer das liebste, und dieses war das jüngste und ein Sohn. Es war eineschwere Prüfung. Die Schwestern trauerten, wie junge Herzen trauern, besonders ergriffen von demSchmerz der Eltern; der Vater war tiefgebeugt; aber die Mutter war überwältigt von der großen Trauer.Tag und Nacht war sie um das kranke Kind gewesen, hatte es gepflegt, aufgehoben und getragen; es warein Teil von ihr selbst, das hatte sie gefühlt und empfunden, sie konnte es nicht fassen, daß es tot war,daß es in den Sarg gelegt und ins Grab versenkt werden sollte: Gott konnte ihr dieses Kind nichtnehmen, meinte sie, und als es doch geschah und eine Gewißheit war, sagte sie in ihrem krankenSchmerz:

»Gott hat es nicht gewußt! Er hat herzlose Diener hier auf Erden, die handeln, wie es sie gelüstet, siehören nicht die Bitten einer Mutter.«

Sie ließ in ihrem Schmerz von Gott ab, und da kamen finstere Gedanken, Gedanken des Todes, desewigen Todes, daß der Mensch Erde in der Erde würde und daß dann alles vorbei sei. Bei solchenGedanken hatte sie nichts, um sich daran zu klammern, sondern versank in das bodenlose Nichts derVerzweiflung.

In den schwersten Stunden konnte sie nicht mehr weinen. [178]

Sie dachte nicht an die jungen Töchter, die sie hatte; die Tränen des Mannes fielen auf ihre Stirn, siesah nicht zu ihm auf; ihre Gedanken waren bei dem toten Kind, ihr Leben und Sein atmete nur dafür,sich jede Erinnerung an das Kind, jedes seiner unschuldigen Kinderworte zurückzurufen.

Der Begräbnistag kam; Nächte vorher hatte sie nicht geschlafen; gegen Morgen wurde sie vonMüdigkeit überwältigt und fand etwas Ruhe; unterdessen wurde der Sarg in eine abgelegene Stubegetragen und der Deckel dort darauf genagelt, damit sie die Hammerschläge nicht hören sollte.

Als sie erwachte, aufstand und ihr Kind sehen wollte, sagte der Mann unter Tränen zu ihr: »Wirhaben den Deckel geschlossen; es mußte geschehen!«

»Wenn Gott hart gegen mich ist«, rief sie aus, »warum sollten dann die Menschen besser sein!« Undsie schluchzte und weinte.

Der Sarg wurde zu Grabe getragen, die trostlose Mutter saß bei ihren jungen Töchtern. Sie sah sie an,ohne sie zu sehen, ihre Gedanken hatten nichts mehr mit ihrem Heim zu tun. Sie ergab sich demSchmerz, und der warf sie hin und her, wie die See ein Schiff hin und her wirft, das Ruder und Steuerverloren hat. So verging der Begräbnistag, und mehrere Tage folgten im gleichen einförmigen, schwerenSchmerz. Mit nassen Augen und traurigen Blicken sahen die Trauernden daheim sie an, sie hörte ihrenTrost nicht, was konnten sie wohl auch sagen, sie waren viel zu betrübt dazu.

Es war, als kenne sie den Schlaf nicht mehr, und er allein würde doch ihr bester Freund sein, ihrenKörper stärken, der Seele Ruhe schenken; sie brachten sie dazu, sich ins Bett zu legen, sie lag auch stillda wie eine Schlafende. Eines Nachts lauschte der Mann auf ihre Atemzüge und glaubte sicher, daß sieRuhe und Erleichterung gefunden habe. Er faltete daher seine Hände, betete und schlief bald gesund undfest ein. [179] Er merkte nicht, daß sie sich erhob, sich die Kleider überwarf und dann still aus dem Hausging, um dahin zu gelangen, wo ihre Gedanken Tag und Nacht weilten, zu dem Grab, das ihr Kind barg.Sie ging durch den Garten des Hauses, hinaus auf das Feld, wo der Fußweg um die Stadt herum nachdem Friedhof führte; niemand sah sie, sie sah niemand. Es war herrlich sternenklar, die Luft noch somild, es war Anfang September. Sie ging auf den Friedhof zu dem kleinen Grab hin, das war wie eineinziger großer Strauß von duftenden Blumen. Sie setzte sich nieder und beugte ihren Kopf auf das

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Grab, als sollte sie durch die dichte Erdschicht hindurch ihren kleinen Knaben sehen können, an dessenLächeln sie sich so lebhaft erinnerte; der liebevolle Ausdruck in den Augen, selbst auf der Krankenlager,war ja nie zu vergessen; wie sprechend war sein Blick gewesen, wenn sie sich über ihn beugte und seinefeine Hand ergriff, die er selbst nicht mehr zu heben vermochte. Wie sie an seinem Bett gesessen, so saßsie jetzt an seinem Grab, aber hier hatten ihre Tränen freien Lauf, sie fielen auf das Grab.

»Du willst hinab zu deinem Kind?«, sagte eine Stimme dicht neben ihr. Sie tönte so klar, so tief, sieklang in ihr Herz hinein. Sie blickte auf, und da stand neben ihr ein Mann, in einen großen Trauermantelgehüllt, die Kapuze tief über den Kopf gezogen, aber sie schaute unter diese in sein Gesicht hinein. Eswar streng, aber doch so Vertrauen erweckend, seine Augen strahlten, als sei er jung an Jahren.

»Hinab zu meinem Kind!«, wiederholte sie, und es lag eine Bitte der Verzweiflung in ihren Worten.

»Wagst du mir zu folgen?«, fragte die Gestalt. »Ich bin der Tod!«

Und sie nickte bestätigend. Da war es auf einmal, als leuchteten alle Sterne über ihnen mit dem Glanzdes Vollmondes. [180] Sie sah die bunte Farbenpracht der Blumen auf dem Grab; die Erddecke hier gabweich und sachte nach wie ein schwebendes Tuch, sie sank, und die Gestalt breitete ihren großen Mantelum sie, es wurde Nacht, die Nacht des Todes. Sie sank tiefer, als der Grabspaten hinabdringt, derFriedhof lag wie ein Dach über ihrem Kopf.

Der Zipfel des Mantels glitt zur Seite, sie stand in einer mächtigen Halle, die sich groß und freundlichausdehnte. Es war Dämmerung ringsum, aber vor ihr und im selben Nu, dicht an ihrem Herzen, hielt sieihr Kind, das ihr in einer Schönheit zulächelte, größer als jemals zuvor. Sie stieß einen Schrei aus, dochhörbar wurde er nicht, denn ganz nahe, und dann wieder weit entfernt und abermals nahe, ertönte eineschwellende, schöne Musik; nie zuvor hatten so beseligende Töne ihr Ohr erreicht. Sie erklangenjenseits des nachtschwarzen, dichten Vorhangs, der die Halle von dem großen Land der Ewigkeittrennte.

»Meine süße Mutter! Meine Herzensmutter!«, hörte sie ihr Kind sagen. Es war die bekannte geliebteStimme; und Kuß folgte auf Kuß in unendlicher Glückseligkeit; und das Kind zeigte hin auf den dunklenVorhang.

»So schön ist es nicht oben auf der Erde! Siehst du, Mutter, siehst du sie alle? Das istGlückseligkeit!«

Aber die Mutter sah nichts, wohin das Kind zeigte, nichts als die schwarze Nacht; sie sah mitirdischen Augen, sah nicht so wie das Kind, das Gott zu sich gerufen hatte. Sie hörte den Klang, dieTöne, aber sie vernahm nicht das Wort, das sie zu glauben hatte.

»Jetzt kann ich fliegen, Mutter!«, sagte das Kind, »fliegen mit all den andern frohen Kindern, geradedort hinein zu Gott; ich möchte es so gerne; aber wenn du weinst, wie du jetzt weinst, kann ich nicht vondir gehen, und ich möchte so gerne! Darf ich denn nicht? Du kommst ja ganz bald dorthin zu mir, süßeMutter!« [181]

»O bleib, o bleib!«, sagte sie, »nur noch einen Augenblick! Ein einziges Mal noch muß ich dichanschauen, dich küssen, dich fest in meinen Armen halten!«

Und sie küßte es und hielt es fest. Da ertönte ihr Name von oben her; so klagend kamen diese Töne;was war das nur? »Hörst du!«, sagte das Kind, »das ist Vater, der dich ruft!« Und abermals, nachwenigen Sekunden, ertönten tiefe Seufzer wie von Kindern, die weinen.

»Das sind meine Schwestern!«, sagte das Kind, »Mutter, du hast sie ja nicht vergessen!«

Und sie erinnerte sich der Zurückgebliebenen; eine Angst ergriff sie. Sie blickte vor sich hin, undimmer schwebten Gestalten vorüber, sie glaubte einige zu kennen. Sie schwebten durch die Halle desTodes auf den dunklen Vorhang zu, und dort verschwanden sie. Ob wohl ihr Mann, ihre Töchtererscheinen würden ? Nein, ihre Rufe, ihre Seufzer ertönten noch von dort oben, beinahe hätte sie sieganz über dem toten Kind vergessen.

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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»Mutter, jetzt läuten die Glocken des Himmelreichs!«, sagte das Kind. »Mutter, jetzt geht die Sonneauf?«

Und ein überwältigendes Licht strömte ihr entgegen; das Kind war fort, und sie wurde aufgehoben; eswurde kalt rings um sie her; sie hob den Kopf und sah, daß sie auf dem Friedhof auf dem Grab ihresKindes lag; aber Gott war im Traum eine Stütze für ihren Fuß geworden, ein Licht für ihren Verstand.Sie beugte ihre Knie und betete:

»Vergib mir, Herr, mein Gott, daß ich eine ewige Seele von ihrem Flug abhalten wollte und daß ichmeine Pflichten gegen die Lebenden vergessen konnte, die du mir hier gabst!« Und bei diesen Wortenwar es, als ob ihr Herz Erleichterung fände. Da brach die Sonne hervor, ein kleiner Vogel sang überihrem Kopf und die Kirchenglocken läuteten zur Morgenandacht. [182] Es wurde so heilig um sie her,heilig wie in ihrem Herzen. Sie erkannte ihren Gott, sie erkannte ihre Pflichten, und voll Sehnsucht eiltesie nach Hause. Sie beugte sich über den Mann; ihre warmen, innigen Küsse weckten ihn, und siesprachen Worte des Herzens, der Innigkeit. Und sie war stark und mild, wie die Gattin es sein kann, vonihr kam die Quelle des Trostes.

»Gottes Wille ist immer der beste!«

Und der Mann fragte sie: »Woher bekamst du auf einmal diese Kraft, dieses tröstende Gemüt?«

Und sie küßte ihn und küßte ihre Kinder:

»Ich bekam es von Gott, durch das Kind im Grabe.« [183]

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Hans Christian Andersen

Der Engel

Jedes Mal, wenn ein gutes Kind stirbt, kommt ein Engel Gottes zur Erde hernieder, nimmt das toteKind auf seine Arme, breitet die großen, weißen Flügel aus, fliegt hinweg über alle die Stätten, die dasKind lieb gehabt hat, und pflückt eine ganze Hand voll Blumen, die er zu Gott hinaufbringt, damit siedort noch schöner blühen als auf der Erde. Der liebe Gott drückt alle Blumen an sein Herz; aber derBlume, die ihm am liebsten ist, gibt er einen Kuß, und dann bekommt sie Stimme und kann mitsingen inder großen Glückseligkeit.

Seht, all dies erzählte ein Engel Gottes, während er ein totes Kind zum Himmel forttrug, und dasKind hörte es wie im Traum; und sie fuhren hin über die Stätten der Heimat, wo der Kleine gespielthatte, und sie kamen durch Gärten mit schönen Blumen.

»Welche sollen wir nun mitnehmen und in den Himmel verpflanzen?«, fragte der Engel.

Und da stand ein schlanker, gesegneter Rosenbaum; aber eine böse Hand hatte den Stamm geknickt,so daß alle Zweige, voll von großen, halberblühten Knospen, welk ringsum herabhingen.

»Der arme Baum!«, sagte das Kind, »nimm ihn, damit er oben bei Gott zum Blühen kommen kann!«

Und der Engel nahm ihn, küßte aber das Kind dafür, und der Kleine öffnete halb seine Augen. Siepflückten von den reichen Prachtblumen; aber sie nahmen auch die verachtete Ringelblume und daswilde Stiefmütterchen. [184]

»Jetzt haben wir Blumen!«, sagte das Kind, und der Engel nickte, aber sie flogen noch nicht hinauf zuGott. Es war Nacht, es war ganz still; sie blieben in der großen Stadt, sie schwebten umher in einer derengsten Straßen, wo ganze Haufen von Stroh, Asche und Gerümpel lagen; es war Umzugstag gewesen;da lagen Stücke von Tellern, Gipsstummeln, Lumpen und alte Hutköpfe, alles, was nicht gut aussah.

Und der Engel zeigte in all diesem Wirrwarr hinunter auf einige Scherben von einem Blumentopf undauf einen Klumpen Erde, der aus diesem herausgefallen war und zusammengehalten wurde durch dieWurzeln einer großen, welken Feldblume, die gar nichts taugte und deshalb auf die Straßehinausgeworfen worden war.

»Die nehmen wir mit!«, sagte der Engel, »ich werde dir erzählen warum, während wir fliegen!«

Und dann flogen sie, und der Engel erzählte:

»Dort unten in der engen Straße, in dem niedrigen Keller wohnte ein armer, kranker Knabe; von ganzklein auf war er immer bettlägerig gewesen; wenn er am allergesundesten war, konnte er auf Krückenein paar Mal in der kleinen Stube auf und ab gehen, das war alles. An einigen Tagen im Sommer fielendie Sonnenstrahlen eine halbe Stunde lang in den Kellerflur hinein, und wenn dann der arme Knabe dortsaß und sich von der warmen Sonne bescheinen ließ und das rote Blut durch seine feinen Fingerhindurchschimmern sah, die er vor das Gesicht hielt, dann hieß es: >Ja, heute ist er draußen gewesen!<Er kannte den Wald in seinem schönen Frühlingsgrün nur dadurch, daß ihm des Nachbars Sohn denersten Buchenzweig brachte, und den hielt er über seinen Kopf und träumte dann unter den Buchen zusein, wo die Sonne schien und die Vögel sangen. Eines Frühlingstages brachte der Nachbarsknabe ihmauch Feldblumen, und zwischen diesen war zufällig eine mit Wurzeln daran, und darum wurde sie ineinen Blumentopf gepflanzt und an das Fenster dicht neben dem Bett gestellt. [185]

Und die Blume war mit eine glücklichen Hand gepflanzt, sie wuchs, trieb neue Schößlinge und trugjedes Jahr ihre Blumen; sie wurde des kranken Knaben schönster Blumengarten, sein kleiner Schatz aufdieser Erde. Er begoß und pflegte sie und sorgte dafür, daß sie jeden Sonnenstrahl bekam bis auf denletzten, der über das niedrige Fenster hinglitt; und die Blume selbst wuchs hinein in seine Träume, dennfür ihn blühte sie, verbreitete ihren Duft und erfreute das Auge; ihr entgegen wandte er sich im Tode, als

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Unser Herr ihn rief. – Ein Jahr ist er nun bei Gott gewesen; ein Jahr hat die Blume vergessen im Fenstergestanden und ist verwelkt und daher beim Umzug in den Kehricht auf die Straße hinausgeworfenworden. Und es ist diese Blume, diese arme, welke Blume, die wir mit in unsern Strauß genommenhaben, denn diese Blume hat mehr Freude bereitet als die reichste Blume im Garten einer Königin.«

»Aber woher weißt du das alles?«, fragte das Kind, das der Engel zum Himmel hinauftrug.

»Ich weiß es!«, sagte der Engel, »ich war ja selbst der kranke, kleine Knabe, der auf Krücken ging!Meine Blume kenne ich wohl!«

Und das Kind öffnete seine Augen ganz und schaute in das schöne, frohe Antlitz des Engels, und imgleichen Augenblick waren sie in Gottes Himmel, wo Freude und Glückseligkeit war. Und Gott drücktedas tote Kind an sein Herz, und da bekam es Flügel wie der andere Engel und flog Hand in Hand mitihm. Und Gott drückte alle Blumen an sein Herz, aber die arme, welke Feldblume küßte er und siebekam Stimme und sang mit allen Engeln, die um Gott schwebten, einige ganz nah, andere um dieseherum in großen Kreisen, immer weiter fort bis ins Unendliche, aber alle gleich glücklich. Und allesangen sie, kleine und große, das gute, gesegnete Kind und die arme Feldblume, die verwelkt dagelegenhatte, hingeworfen in den Kehricht, zwischen dem Umzugsgerümpel in der engen, dunklen Straße. [186]

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Georg Dreißig

Das Kind, das die Engel weinen hörte

Nachts schlafen wir, weil wir uns ausruhen müssen. Es gibt kluge Leute, die können uns erzählen,daß wir diese Ruhe brauchen, weil unsere Beine müde geworden sind oder unsere Arme oder unsereAugen; einige sagen, es sei für die Muskeln, andere, es sei für die Nerven. Haben sie recht?

Ja und nein. Natürlich ermüden unsere Beine und unsere Arme und Augen. Aber ich fühle mich nichtschläfrig wegen meiner Beine, sondern wegen meiner selbst. Meine Seele möchte ausruhen. Warum?Weil sich die Seele nach einem Tag auf der Erde einsam fühlt und sich nach dem Himmel sehnt. DieSeele sehnt sich danach, bei ihrem Schutzengel zu sein; sie möchte sich wieder daran erinnern, was sieauf der Erde tun soll. Dies ist der wahre Grund, warum wir schlafen.

Unsere Seele verläßt den Körper und steigt auf zum Himmelshaus. Dort, im ersten Raum, treffen wireinen großen Engel, der in einem fort an einem Faden spinnt. Auf jeder Seite des Raumes befinden sichFenster. Nachdem wir den großen Engel begrüßt haben, gehen wir mit unserem Schutzengel, um durchdie Fenster auf der einen Seite zu schauen. Durch diese Fenster können wir zurückblicken auf denvergangenen Tag und erkennen, was wir getan haben, sowohl das Gute als auch das, was nicht so gutwar. Dann gehen wir hinüber auf die andere Seite, und wenn wir dort durch die Fenster schauen,erblicken wir, was uns am folgenden Tag erwartet und wie wir es am besten bewältigen. [187]

Danach werden wir im Himmelshaus herumgeführt; einige Türen sind offen, andere bleibengeschlossen, gerade so, wie es für die Seele gut und richtig ist. Dieses nächtliche Erlebnis imHimmelshaus ist ein beglückendes, selbst wenn ich erkennen muß, daß das, was ich während des Tagesgetan habe, falsch gewesen ist oder sogar Schaden angerichtet hat. Denn ich erkenne auch, was ich tunkann, um es wieder gutzumachen, und weiß, daß mein Engel mir dabei helfen wird, wenn ich tagsübernicht zu schläfrig bin für seine Gegenwart. Wir sehen aber nicht nur unsere eigenen Taten, sondern auchdie anderer Seelen, und wir können uns entschließen, hier oder dort zu helfen. Insgesamt aber ist es so,daß jede Seele etwas anderes sieht. Jede Seele wird ihren eigenen Weg geführt, wie es für sie notwendigund möglich ist.

Nun war da einmal ein Kind, dessen Seele des Nachts zum Himmelshaus aufgestiegen war. Nachdemes mit seinem Engel zurückgeschaut hatte auf den vorangegangenen Tag, wurde es weitergeführt.Plötzlich blieb das Kind stehen. »Horch!« Deutlich konnten sie vernehmen, daß jemand weinte, ganzleise, und doch so traurig anzuhören, daß es dem Kind im Herzen wehtat.

»Wer weint da?« fragte es den Engel. Der Engel aber schüttelte nur den Kopf und bedeutete, siesollten weitergehen. Während des folgenden Tages konnte sich das Kind nicht mehr an das erinnern, wases in der Nacht erlebt hatte. Als es aber das Himmelshaus wieder betrat und den Engel, der spann,begrüßt hatte, kam ihm die Erinnerung wieder. Nachdem es durch die Fenster geschaut hatte, gingen sietiefer ins Himmelshaus hinein, und wieder hörten sie das Schluchzen.

»Horch!« Sie blieben ganz ruhig stehen, und in der Stille konnten sie wieder hören, daß jemandweinte, sanft und leise und doch so traurig, daß es dem Kind im Herzen wehtat.

»Wer weint da?«, fragte es den Engel. Wiederum schüttelte dieser den Kopf und bedeutete ihm, essolle weitergehen. [188] Das Kind gewahrte aber einen kleinen Unterschied; es bemerkte nämlich, daßdie Augen des Engels glücklicher leuchteten als am Tag zuvor.

Wiederum konnte sich das Kind am darauf folgenden Tag nicht daran erinnern, was es während derNacht erlebt hatte; es fühlte nur, daß es auf etwas wartete, aber was dies sein könnte, wußte es nicht. Sokam die dritte Nacht, und alles war wieder so wie in den Nächten zuvor. Als das Kind an dem Engel, derspann, vorbeigegangen war und mit seinem Schutzengel durch das Himmelshaus ging, hörte es wiederdas Weinen.

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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»Horch!« rief es und blieb stehen. Während es so lauschte, bemerkte das Kind, daß sich der Engelihm zugewandt hatte und daß sein Gesicht vor Freude strahlte. Das Kind sah es voller Erstaunen, dochfühlte es, daß es seine Frage leichter stellen konnte. So sagte es: »Wer weint denn da?« Dieses Malantwortete der Engel: »Wenn du willst, kann ich es dir zeigen. Doch mußt du wissen, daß du danachniemals wieder das gleiche glückliche Kind sein kannst wie jetzt.«

»Ich kann sowieso nicht glücklich sein«, erwiderte das Kind, »da mir mit jeder Nacht weher umsHerz wird. Führe mich weiter!« So folgten sie dem Weinen, bis sie zu einem dunklen Vorhang kamen.Hier sagte der Engel: »Ich kann dich nun nicht weitergeleiten. Wenn du die sehen willst, die da weinen,mußt du selbst den Vorhang aufheben und ohne Führung eintreten.«

Das Kind zögerte für einen Augenblick. Sollte es, konnte es wirklich weitergehen? Sein Herz aberdrängte es vorwärts. So hob es den Vorhang und trat ein, und der Engel folgte ihm nach. Staunendschaute das Kind sich um und mochte kaum seinen Augen trauen: Der Raum war voller Engel – und dieEngel weinten, sanft und leise zwar, aber so traurig, daß es ihm das Herz zerreißen wollte. Schließlichfaßte das Kind Mut und redete einen der weinenden Engel an: »Ich habe nicht gewußt, daß Engel weinenkönnen. Der Himmel ist doch ein glücklicher Ort. Bitte sag mir, warum du weinst.« [189]

Der Engel antwortete: »Wir weinen, weil wir die Menschen verloren haben. Wir können sie nichtmehr erreichen, deshalb sind uns die Hände gebunden.«

»Und wie kommt das?«, fragte das Kind.

»Weil sie keine Liebe haben«, erwiderte der Engel. »Nur die Liebe kann Wesen zusammenbinden.Jeder, der das Himmelshaus betreten möchte, muß wenigstens ein klein bißchen Liebe für seinen Engelmitbringen, denn wenn gar keine Liebe da ist, können wir ihn nicht führen.«

Dann erzählte er dem Kind: »Ich bin der Engel eines wohlhabenden Kaufmanns, dessen Schiffe überalle Meere segeln und ihm großen Reichtum einbringen. Als ich ihn zur Erde hinunterführte, auf daß ergeboren werde, hatte er die Seele eines Entdeckers; er wollte die Völker kennen lernen und siemiteinander vereinigen. Seit jedoch das Geld in seine Taschen fließt, ist seine Liebe erloschen, und nurHabgier ist zurückgeblieben. Viel Gutes könnte er mit seinem Überfluß tun, aber er weiß es nicht, weilich ihn nicht erreichen kann.« Und um sich deutend fuhr der Engel fort: »Ähnliches erleben wir alle.«»Und gibt es keine Hilfe?«, fragte das Kind leise.

Die Wirkung dieser Frage war erstaunlich. Das Weinen ließ plötzlich nach, die Engel schauten auf,und hier und da konnte das Kind sogar den Schimmer eines Lächelns wahrnehmen.

Der Engel betrachtete das Kind eine Weile prüfend, bevor er antwortete: »Ja, es gibt eine Hilfe. Wennjemand bereit wäre, seine Liebe zu opfern, würde uns damit geholfen sein.«

»Ist es so einfach?«, rief das Kind erstaunt. Ungewollt war ihm die Frage über die Lippen gekommen.Wenn es sich nur darum handelte, Liebe zu geben, so könnte es ihnen damit helfen.

Der Blick des Engels aber verriet dem Kind, daß damit etwas Schwieriges verbunden war, und daswurde ihm deutlich, als der Engel sagte: [190] »Für ein Erdenkind ist es nicht so leicht, die Liebe zuopfern, die uns ermöglicht zu helfen. Du darfst uns nämlich nichts von der Liebe geben, die du fürandere empfindest – für deine Eltern, deine Brüder und Schwestern, für die Tiere und Pflanzen auf derErde. Nur die Liebe, mit der du dein eigenes Leben liebst, kannst du opfern.«

Das Kind schaute den Engel an, und sein Gesicht war eine einzige große Frage. Wovon sprach er?Der Engel erklärte: »Die Liebe ermöglicht dir, auf der Erde zu leben. Du liebst es herumzulaufen, zuspielen, Dinge zu sehen, zu sprechen und zu singen. Allein deine Liebe für alles dies kannst du als Opfergeben! Und nur Kinder können dies tun. Erwachsene können diese Liebe nicht mehr herschenken.Darum ist es so schwierig, Hilfe zu finden.«

Das Kind begriff jetzt den Ernst dessen, was der Engel gesagt hatte. Mühsam nur konnte es seinenächsten Worte herausbringen; aber obwohl es sehr leise sprach, verstanden alle Engel, was es sagte:»Wenn ich die Liebe, mit der ich mein Leben liebe, opfere, würde das genügen?«

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Es war nicht mehr erstaunt, als der Engel wiederum seinen Kopf schüttelte, denn längst hatte esverstanden, daß alles nicht so einfach war.

»Es gibt viele Kinder, die bereit wären, dies zu tun«, sagte der Engel, »aber es ist noch etwas andereserforderlich. Du mußt auf Erden gute Freunde haben, die dich lieben und die dir helfen, deine alten undneuen Aufgaben zu erfüllen. Erinnerst du dich an deine alten Aufgaben?«

»Ja«, antwortete das Kind, »ich wollte ein Tischler werden.« »Um den Menschen zu helfen, ihreUmgebung zu verschönern«, sagte der Engel, »und dafür würdest du dann die helfenden Hände deinerFreunde benötigen. «

»Würden sie mich verstehen?«

»Wenn sie dich lieben, werden sie dich verstehen.« [191]

Das Kind fühlte nun die Hand des Schutzengels auf seiner Schulter. »Laß uns jetzt gehen«, sprach er.»Denke noch einmal darüber nach, bevor du ja oder nein sagst.«

Am nächsten Tag war das Kind hellwach. Es erinnerte sich zwar nicht mehr an die Ereignisse dervergangenen Nacht, aber es nahm wahr, was um es her geschah, und half, wo es konnte. Dabei versuchtees, so freundlich wie möglich zu sein. Es hatte viel Freude an diesem Tag, und die Menschen waren gutzu ihm.

Während der Nacht, als es durch den Raum mit dem Engel, der spann, gekommen war, traf das Kindein zweites Mal die weinenden Engel und sagte zu ihnen: »Ich habe viele Freunde, die mich lieben, aberwerden sie mich auch weiterhin lieben können, selbst wenn ich nicht mehr mit ihnen herumspringen, siesehen und mit ihnen singen kann?«

»Wenn sie richtige Freunde sind, werden sie dich auch weiterhin lieben können«, war die Antwort,»und wir können ihnen vielleicht auch helfen.«

Am folgenden Tag mochte er nur mit zwei anderen Kindern spielen. Sie hatten es sehr schönzusammen. Das Kind war nur wenig erstaunt, als es die anderen beiden nachts im Himmelshaus bei denEngeln traf, die der Liebe bedurften. Jedes der Kinder trug ein leuchtendes Kreuz auf der Stirn.

»Seid ihr bereit?«, fragte der Engel.

»Wir sind es«, antworteten die Kinder wie mit einer Stimme. »Und würde einer von euch die Geduldaufbringen, seine Liebe zu opfern und dennoch drei weitere Tage auf Erden zu bleiben? Das würdeeuren Freunden helfen, euch schneller zu finden und euch zu verstehen«, sagte der Engel weiter. »Ermüßte bereit sein, dort zu bleiben, ohne herumlaufen, sehen oder sprechen zu können.«

»Ich bin bereit, dies zu tun«, antworteten die Kinder wie mit einer Stimme.

Der Engel lächelte sie an. [192] »Dann sollst du es sein«, sagte er, indem er auf eines der Kinderdeutete, »und wir werden um dich sein und dir Gesellschaft leisten.« Daraufhin winkte er den Kindern,ihm zu folgen. Er führte sie in einen anderen Raum. »Hier«, erklärte der Engel, »könnt ihr euch treffenund zusammen sein – mit wem auch immer ihr euch vereint fühlen möchtet.«

Die Kinder schauten sich um, sahen aber nichts. Dann sagte der Engel: »Ihr müßt an jemanden oderan etwas denken, versucht es einmal!«

So dachten sie an ihr Zuhause. Da sahen sie ihre Familien, alle in tiefem Schlaf. Sie dachten an guteFreunde; alle erschienen. »Können wir mit ihnen sprechen?«, fragten die Kinder.

»Ihr könnt es«, erwiderte der Engel, »aber wahrscheinlich werden sie euch nicht verstehen – nochnicht.«

Als die Kinder am nächsten Tag das Himmelshaus wieder betraten, sahen sie traurig aus. Doch dieKreuze auf ihrer Stirn leuchteten wie Sterne. Dieses Mal kamen sie alle zusammen. Sie grüßten dengroßen Engel, der wie immer spann, und traten zu dem Fenster auf der einen Seite, um auf denvorangegangenen Tag zu schauen. Dann gingen sie zu dem anderen Fenster hinüber, um sich denkommenden Tag anzusehen. Sie konnten aber nichts erblicken.

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Als sie sich umdrehten, hatte der große Engel aufgehört zu spinnen. Er hielt drei Ballen feingesponnenen Garns in seinen Händen. Ein jedes der Kinder empfing einen davon, und sie bemerkten,daß in jedem der Ballen ein goldener Faden eingesponnen war. Dann gingen sie ins Himmelshaus hineinund in den Raum, wo sie die weinenden Engel getroffen hatten. Sie sagten zu ihnen: »Wir bringen euchdie Liebe für unser Leben zum Opfer. Möge es euch und den armen lieblosen Menschen auf der Erdehelfen.«

Das Weinen hatte aufgehört. Die Gesichter der Engel strahlten. Ihre Augen glänzten, und es herrschtegroße Freude unter ihnen. Das tröstete die Kinder. [193]

»Kommt jetzt«, sagte der Engel, »wir wollen sehen, was auf der Erde geschieht.« So gingen siezusammen in den Raum, den sie in der vorangegangenen Nacht zum ersten Mal betreten hatten. Siedachten alle an das Gleiche, und da konnten sie plötzlich erkennen, daß einer von ihnen nicht so frei warwie die anderen. Er war mit etwas, das aussah wie ein Lichtfaden, an einen Körper gebunden, der reglosauf einem Bett lag.

Die Eltern des Kindes standen an seiner Seite, und tiefe Sorge sprach aus ihren Augen.

»Ich bin hier, Mutter«, rief das Kind, »ich bin hier, Vater!« Aber die Eltern schauten nicht auf. Dannversuchte das Kind, sie zu streicheln, aber sie konnten es nicht fühlen.

»Oh Engel«, rief da das Kind aus, »ich glaube, ich muß zurückgehen. Sie hören nicht, und sie fühlennicht. Laß sie mich nicht verlieren!«

»Du hast sie nicht verloren«, erwiderte der Engel, »gib ihnen noch einen weiteren Tag, um dich zufinden.«

Das Kind war froh, daß die beiden Gefährten auch da waren: so war es leichter, Geduld zu üben.

Der zweite Tag kam, und das Kind rief : »Ich bin hier, Mutter! Ich bin hier, Vater!« Doch die Elternschauten nicht auf. Das Kind streichelte sie, und plötzlich sagte die Mutter: »Ich weiß nicht, aber ichhabe das Gefühl, unser Kind ist gar nicht krank. Glaubst du, daß es uns sehen kann?«

»Haben sie das Streicheln gefühlt?«, fragte das Kind.

»Sie haben es gefühlt – in ihren Herzen«, sagte der Engel. »Bald werden sie dich verstehen.«

Das Kind blickte wieder zu seinen Eltern hinab und dachte: »Wenn sie nur aufhören wollten,meinetwegen zu weinen; wenn sie nur wüßten, daß es mir gut geht!«

Da schaute die Mutter auf und sagte: »Laß uns aufhören zu weinen. Unserem Kind geht es vielleichtgut, und unsere Tränen können es nur traurig machen.« [194]

Das Kind jubelte: »Sie haben mich verstanden, oh, sie haben mich verstanden!« Und es fragte denEngel: »Wie konnten sie verstehen, was ich doch nur gedacht habe?«

Der Engel lächelte: »Weil sie dich lieben. Das Herz versteht die Gedanken von jemandem, den esliebt.«

Am dritten Tag rief das Kind nochmals: »Ich bin hier, Mutter! Ich bin hier, Vater!«

Die Eltern schauten nicht auf, der Vater aber sagte nachdenklich: »Unser Kind ist nicht krank,sondern gesünder als wir beide. Eines Tages werden wir es wieder finden.«

Und als das Kind die Mutter streichelte, erwiderte sie: »Ich fühle es schon jetzt – mein Herz schmerztnicht mehr. Unser Kind muß uns sehr nahe sein.«

Als das Kind das hörte, rief es erfreut: »Sie hören und sie verstehen mich!«

»Und werden dich immer besser verstehen. Komm nun«, sprach der Engel. Da wandte sich das Kindihm zu, und das Lichtband erlosch.

Die Kinder blieben im Himmelshaus, verbunden mit allen, die ihnen im Leben nahe gewesen waren.Einige Menschen merkten nichts davon; aber es gab andere, die merkten es wohl, weil ihre Liebe zu den

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Kindern ihnen die Herzen geöffnet hatte. Und es gab noch etwas anderes, das die drei Kinder tunkonnten. Jede Nacht, wenn die Seelen ihrer Freunde zum Himmelshaus emporstiegen, trafen sie mitihnen zusammen und sprachen mit ihnen; und einige ihrer Freunde konnten sich beim Aufwachen amnächsten Morgen noch daran erinnern.

Fand die Seele des reichen Kaufmanns wieder ihren Weg zurück zum Himmelshaus? Ich bin ziemlichsicher, daß sie es tat – wie viele andere auch. In der nächsten Nacht werde ich meine Freunde danachfragen, und ich hoffe, daß ich ihre Antwort nicht vergessen werde. [195]

Georg Dreißig

Die Wanderung

War denn das auch eine Dienstreise? Er hatte ja gar kein Gepäck dabei, nicht einmal seinen kleinenschwarzen Koffer mit der medizinischen Notfallausrüstung, welchen er sonst eigentlich stets bei sichführte – selbst wenn er ins Theater ging. Doch obwohl er das deutlich bemerkte, war er im Augenblicknicht einmal erstaunt darüber. Auch daß er zu Fuß ging und sogar querfeldein, verwunderte ihn nicht. ImGegenteil, es machte ihm Freude, in einer Gegend zu wandern, die ihm gänzlich unbekannt war. Ermachte sich keine Gedanken darüber, wie er hierher geraten war, auch nicht über das Ziel, das er sosorglos ausschreitend anstrebte und das er doch nicht benennen konnte. Er lächelte ein wenig über dasseltsame graugelbe Gewand, das er trug und das ihm bis auf die Füße hinabreichte. Waren das die neuenOperationskittel, welche die Materialverwaltung bestellt hatte und die ewig nicht eingetroffen waren?Aber schon während er die Frage dachte, wußte er, daß dem nicht so war. Es war sein Gewand für dieseWanderung, und so war es gut.

Dr. Erdmuth Wagner war viel gereist in seinem Leben, von einem Ärztekongreß zum nächsten. Erwar eine Kapazität auf seinem Gebiet und bereits nach Amerika und Japan, nach Indien und Australienzu Vorträgen und Kursen, vor allem aber zur Demonstration seiner neuartigen Narkosetechnik eingela-den worden. Er mußte schließlich immer öfter Absagen erteilen, weil er sonst gar nicht mehr zu eigenerArbeit gekommen wäre. [196] Zum Glück waren die Kinder längst groß, und die Frau, selbst Ärztin,hatte ihre eigene Praxis und Verantwortung, so daß er nicht auch noch durch familiäre Verpflichtungenbehindert war. – Wie lange war er nicht mehr gewandert! Sie hatten es früher gern getan, aber der Berufhatte in den vergangenen Jahren keine längeren Pausen mehr zugelassen. Wohl hatte das Herz seiteinigen Monaten Anzeichen der Überarbeitung gezeigt. Aber das war mit Medikamenten immer nochunter Kontrolle zu halten. Nur einmal hatte es unsagbar geschmerzt – wann war das gewesen?

Unwillkürlich blickte der Wanderer sich um, als könnte er sich dadurch besser erinnern. Undtatsächlich! Dort am Wegweiser, der wie ein Kreuz in der Landschaft stand – und den er gar nichtbemerkt hatte, obwohl er doch erst vor kurzer Zeit daran vorbeigekommen sein mußte –, dort mußte esgewesen sein mit dem Schmerz. So kurz erst? Während er noch zurückschaute, war es ihm, als rücke dasKreuz auf einmal in unendliche Ferne. Nur im Dunst des Horizontes, der sich vor seinen Augen weit,weit hinbreitete, meinte er es noch wahrnehmen zu können.

Als Wagner sich wieder dem Weg zuwandte, dem er folgte – obwohl, ein Weg war es eigentlichnicht, sondern nur eine Richtung –, da zeigte sich, daß sich die Landschaft auf einmal sehr veränderthatte. Was bisher eine fast völlig flache Ebene gewesen war, wies nun nicht nur deutliche Erhebungenauf, sondern sogar hohe Schneegipfel, die weit in den azurblauen Himmel hinaufragten. Wagner kniffdie Augen zusammen, wie er es früher vor Bergbesteigungen zu tun pflegte, und musterte die Gegend.Wie lange würde er brauchen, um die Höhe zu erklimmen? Noch schien es früh am Tag, obwohl dieSonne nicht zu sehen war – auch das verwunderte den Wanderer nicht –, denn die Luft war noch kühlund etwas feucht. Wenn er sich nicht zu sehr verweilte, müßte er den ersten Sattel bis Mittag längsterreicht haben. [197] Ob er dann den weiteren Aufstieg noch wagen konnte, mußte später entschiedenwerden, wenn er die Gegebenheiten der Landschaft besser überschaute. Vielleicht gab es dort oben jaauch eine Hütte, wo man fragen konnte; vielleicht konnte er gar eine Landkarte erstehen – er war sonst

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doch nie ohne Karte ins Gebirge aufgebrochen. Doch die Weite der Landschaft wie auch die ewigenSchneegipfel über ihm schienen mit ihrem Schweigen seine Überlegungen allesamt zu verneinen.Tatsächlich war er bisher niemandem begegnet, und obwohl er es doch eigentlich gar nicht wissenkonnte, war er sich sicher, daß es keine Hütte und auch keinen Menschen geben würde, den er nach demWeg fragen könnte, und also auch keine Karte. Aber wiederum war ihm das alles merkwürdig einerlei.Was er auch überlegte, was er sich auch für Gedanken machte – seine Füße schienen längst zu wissen,wohin sie ihn tragen sollten, und Wagner ergab sich ohne das geringste Widerstreben ihrer Führung.

Als er schon eine ordentliche Strecke gewandert war, bemerkte er plötzlich etwas, das er bisher nichtgesehen hatte, weil er es in jener Höhe auch niemals vermutet hätte. Ganz oben in Schnee und Eis ragteeine Stadt auf. Er konnte die Stadtmauer und viele Türme erkennen. Zwar sagte ihm sein Verstand, daßdas nicht sein könne und es sich wahrscheinlich um eine besondere Art der Gletscherbildung handelnmüsse. Doch jenseits aller Überlegungen wußte er, daß es wirklich eine Stadt war, und nun erinnerte ersich auch, daß er sie ja zum Ziel hatte. Zu dieser Stadt war er unterwegs. Wie hatte er das nur vergessenkönnen! – Was aber wollte er dort gleich? Ein Ärztekongreß würde da nicht stattfinden, das wußte ergenau. Aber warum war er dorthin gerufen? »Seltsam«, murmelte Wagner. Dabei ging es ihm, wie esihm schon früher auf dieser Wanderung ergangen war – war das gewesen, als er versucht hatte, dieSchrift auf dem Wegweiser zu entziffern? –, daß er das Wort zwar deutlich in seinem Innern hörte, daßaber kein Laut dabei an sein Ohr drang. [198] Die Landschaft um ihn her schien seine Sprachevollkommen aufzusaugen. »Seltsam«, wiederholte er noch einmal und kräftiger als zuvor. Wieder wardas Wort innerlich deutlich zu hören, erzeugte aber äußerlich nicht den geringsten Laut.

Doch als habe sein unhörbares Sprechen dennoch ein Ohr gefunden, rief ihn plötzlich jemand an.Wagner hatte gerade die erste Höhe erklommen und einen Blick in die Bergwelt vor sich geworfen –roher Fels mit tiefen Schründen, weglose Steinwüstenei – und versucht, einen Pfad zu finden, der ihn derStadt näher bringen könnte, die hoch von den Gipfeln zu ihm herabschaute. Da vernahm er auf einmalden Ruf. »Wer bist du?« Von allen Seiten schien er zu kommen und wurde von vielen Echoszurückgeworfen. So stark war die Erregung der Luft, daß der Wanderer bis in sein Innerstes davondurchbebt wurde. »Wer bist du?« Allmählich verhallte der Ruf, erstarben die Echos. Wagner wundertesich weniger darüber, daß er niemanden sehen konnte, der ihn angerufen hatte, als vielmehr über dieTatsache. daß er hier gänzlich unbekannt sein sollte. »Ich bin Dr. Wagner, der berühmteNarkosespezialist«, rief er, ohne den geringsten Laut hervorbringen zu können. »Sprechzeiten nur nachvorheriger Vereinbarung.«

Und während er dies rief, sah er sich in seinem Laboratorium stehen, wo er die neuestenNarkosemittel an Hunden und Katzen ausprobierte.

»Warum eine solche Überdosis«, hatte ihn die Assistentin gefragt – er liebte es nicht, gefragt zuwerden; man sollte seine Anweisungen befolgen –, und er hatte geknurrt: »Um die Wirkung zu sehen!«[199] Sie würden nie verstehen, daß man sich in solchen Angelegenheiten nicht einfach auf seineÜberlegungen verlassen konnte, sondern daß man sehen mußte, was für Schäden eintraten, wenn einMittel falsch gebraucht wurde, auch wenn alles dann so eintrat, wie man es erwartet hatte: dasschwerfällige Erwachen, die Lähmungen, der völlige Verlust der Instinkte, der früher oder später zumTod durch Austrocknen führte, da die Tiere aus dem frisch gefüllten Napf nicht mehr tranken. DieWissenschaft mußte diese Opfer bringen.

Auf einmal herrschte tiefe Dunkelheit um ihn her. Rechts und links konnten seine Hände glatteFelswände ertasten. Wo war er jetzt? Das Dunkel wurde ihm bedrohlich, die Kälte biß ihm in den Leib.Der Weg war steinig; die scharfen Felsbrocken schnitten tief in seine unbeschuhten Füße. Hinter ihmaber schien ein Bergbach erwacht; der schwoll immer stärker an und jagte ihn vorwärts inbeklemmender Lebensangst. Er achtete der scharfen Steine nicht, er achtete nicht der Dunkelheit undnicht der Tatsache, daß ihm ganz unbekannt war, ob dieser Weg durch die enge Schlucht ihn jemals zueinem Ausgang führen würde. Er lief einfach, so schnell er es eben vermochte, fort von dem tobendenWasser, das seinen Gischt schon auf ihn sprühte und ihn bald, ach bald zu verschlingen drohte. »DieWissenschaft muß diese Opfer bringen«, hallte es um ihn her, »muß diese Opfer bringen, Opfer bringen,Opfer bringen ...« Da heulten die glatten Wände der Schlucht wie seine Hunde, da maunzte es aus der

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Dunkelheit, als wären alle Katzen in seinem Labor verrückt geworden. Die Steine schienen ihn nicht mitihren scharfen Kanten zu schneiden, sondern mit kräftigen Zähnen nach ihm zu schnappen. Plötzlichaber war über allem Getöse, aller Flucht und Verfolgung ein herzzerreißendes Schluchzen zu vernehmen–, wie aus unergründlichen Seelentiefen sich entringend, und der da so sehr weinte, war Wagner selbst.Als er so vom Seelenschmerz geschüttelt wurde, konnte er nicht mehr. Es schwanden ihm alle Kräfte,und er schlug hart vornüber auf die Steine.

Dunkelheit hüllte ihn ein; er fühlte keine Kälte mehr, merkte nicht mehr, ob das Wasser ihnfortschwemmte – die enge Schlucht entlang wie einen entwurzelten Baum. [200] Er lag einfach da, undes war ihm dabei, als ob viele Wesen sich um ihn versammelten, ihn betrachteten, verwundertmiteinander sprachen und sich wieder über ihn beugten. Er fühlte, wie Hände sich nach ihm strecktenund ihn leise berührten – oder waren es Pfoten? Er merkte, wie ihm ganz sanft die Luft gefächelt wurdemit Fächern – oder waren es Schweife? Von all diesen Berührungen und von all diesem sanften Fächelnging ein Empfinden des Wohlseins in ihn über. Er spürte, wie sein Herz wieder ganz ruhig, ganzgleichmäßig schlug. Da öffnete Wagner die Augen.

Er lag auf jener Bergeshöhe, auf welcher er den seltsamen Ruf vernommen hatte mit jenerwiderhallenden Frage: »Wer bist du?« Er erinnerte sich auch seiner Antwort, die ihm aber jetzt seltsamund unzutreffend erschien: »Dr. Wagner, der berühmte Narkosespezialist, Sprechzeiten nur nachvorheriger Vereinbarung.« Was für ein Unsinn! Was hatte er mit jenem Herrn gemein? DessenTierversuche krampften ihm das Herz zusammen, wenn er nur daran dachte, und trieben ihm dieSchamröte ins Gesicht. Nur – wer war er dann, wenn nicht Dr. Wagner? »Ich weiß es nicht«, sagte er zusich selbst und erhob sich.

Als Erdmuth in die Bergwelt vor sich schaute, meinte er, jetzt doch einen Pfad erkennen zu können,wenn dieser auch schwer auszumachen war. Aber er war sich sicher, daß er so den Aufstieg wohl würdebewältigen können. Zuversichtlich schritt er aus. Waren die Grauen jener dunklen Schlucht nur Traumgewesen? Erdmuth fühlte sich viel kräftiger als zuvor, als hätte er einen tiefen erquickenden Schlafgetan. Doch seine Füße zeigten deutlich die Narben von den Wunden, welche die scharfen Steinegerissen hatten, und der Saum seines gelben Gewandes war feucht.

Wie lange mochte er schon gestiegen sein? Er wußte es nicht zu sagen. [201] Immer noch aber wardie Luft morgendlich kühl und feucht, und Erdmuth fühlte sich so frisch, als sei er gerade erstaufgebrochen. So erreichte er die nächste Höhe. Ein Blick voraus verriet ihm, daß er der Stadt im ewigenSchnee deutlich näher gekommen war. Wenn er sich sputete, würde er sie vielleicht doch am Abendnoch erreichen können. Früher hätte er wohl an einer solchen Stelle eine Rast eingelegt, etwas von demmitgebrachten Proviant verzehrt und die Aussicht genossen, während die Kinder, nachdem sie ihrenApfel in sich hineingestopft hatten, um ihn her spielten. Noch früher hatte er selbst dabei mitgemacht.Jetzt aber fühlte er sich nicht nach Rasten. Er wollte sein Ziel erreichen; das spornte ihn an.

Da rief es wiederum mit mächtiger Stimme, die die Luft erzittern ließ und ihn im Innersten erbebenmachte: »Was willst du tun?« Seltsame Frage. Er hatte doch nun sein Ziel deutlich vor Augen. Die Stadtwollte er erreichen. Doch die Frage schien sich, indem sie verhallte, zu verwandeln. Nicht mehr vonaußen tönte sie an sein Ohr, sondern jetzt schien sie wie von Marianne gestellt – damals, als sie nochgemeinsam studiert hatten. Sie hatte mit ihm verreisen, fremde Länder sehen wollen. Er aber hattegemeint, dafür seine Zeit nicht vergeuden zu dürfen, und ihr auf eben diese Frage geantwortet: »Berühmtwerden, weißt du! Die sollen einmal den Hut ziehen vor mir.« Ihre Antwort: »Das tue ich doch jetztschon, Erdmuth«, hatte er lächelnd beiseite gewischt. Er meinte es doch ganz anders, ganz ernst. Und umberühmt zu werden, mußte man arbeiten, fleißig sein und konnte nicht auf Frauengerede hören. So warsie allein gereist. Er aber hatte die Versuchsreihe für seine Doktorarbeit ausgetüftelt, eine Untersuchung,die ihm dann ja nicht nur den Titel, sondern in dem Wettbewerb einer pharmazeutischen Firma auch denersten Preis eingebracht hatte. [202] Das war nicht nur eine erkleckliche Summe Geldes gewesen,sondern damit war sein Name auch in allen medizinischen Zeitschriften genannt worden, in manchensogar mit dem Foto, das ihn auf dem Siegerpodest zeigt ... Als er daran dachte, meinte er, wiederum aufjenem kleinen Hocker zu stehen, auf dem er sich damals so erhaben vorgekommen war. Sein glänzenderAufstieg hatte damit begonnen.

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Plötzlich überkam ihn ein schreckliches Schwindelgefühl. Denn als er jetzt um sich schaute, war esnicht das Siegerpodest, auf dem er stand, sondern ein einsam in den stahlblauen Himmel ragenderBergesgipfel. Auf dessen Spitze, die seinen Füßen kaum genügend Raum zum Stehen bot, stand er nun,und zu allen Seiten fielen die Felswände steil ab. Wie hatte er nur hierher gelangen können? Ein eisigerWind wehte ihn an, und die Kälte drang ihm bis in die Knochen. Tief, tief unter sich gewahrte er dieStadt, in welche er hatte gelangen wollen. So tief unter ihm lag sie, daß er Einzelheiten nicht erkennenkonnte. Wie hatte er sich so versteigen können? Wie durch diese Frage hervorgerufen, klang plötzlichein Weinen zu ihm herauf, leise, aber deutlich. Als er es vernahm, stieg Unmut in ihm auf wie früher,wenn er es gehört hatte. So hatte Marianne geweint, als seine Karriere es ihm nicht mehr erlaubte, mitden Kindern in die Ferien zu fahren, und später, als er sich von ihnen getrennt hatte, um in Zürich denLehrauftrag anzunehmen. Jetzt hörte er auch das Klagen seiner Kinder. Sie hatten ihn manchmal inseiner Arbeit gestört, wenn sie sich im Streit die Nasen aufgeschlagen hatten. Ja, so hatten siegejammert, wenn er sie barsch fortgescheucht hatte. Immer stärker wurden diese Klagelaute; sieschwollen an zu einem immer gewaltigeren Chor, der die Luft erzittern ließ. Und da bemerkte Erdmuth,daß er in größere Gefahr geriet; denn der sich erhebende Klagesturm drohte ihn aus seiner luftigen Höhehinabzustürzen. Doch noch etwas anderes überwältigte ihn. Denn hatte er auch schützend die Händeüber die Ohren gepreßt, um das Weinen nicht mit anhören zu müssen, so erschollen die Rufe doch nunauch in seinem Herzen. [203] »Mein Liebster«, hörte er Marianne weinen, »Vater, Vater«, schluchztendie Kinder und »Herr Doktor, verehrter Herr« mischten sich andere Stimmen ein. Da begann vor seinemBlick der Himmel zu verschwimmen, sein Herz krampfte sich in nie gefühltem Leid zusammen, undschwere Tränen tropften aus seinen Augen. Doch sie fielen nicht hinab. Wie eine Perlenkette reihten siesich aneinander, und die legte sich schwerer und schwerer dem Mann um den Hals, bis sie ihnschließlich hinabzog in die Tiefe. Da stürzte er. Auf einmal aber war alles Klagen verstummt, und auchsein Herz en krampfte sich. Erdmuth fürchtete den Fall nicht. Er bedeutete ihm keine Gefahr; erempfand nur, daß er ihnen dadurch näher kam, zu denen er sich sehnte. »Ich will euch Freund und Vatersein«, rief er ihnen zu. Dann schwanden ihm die Sinne.

Er fühlte sich weich gebettet. Wieder traten viele Wesen zu ihm heran, musterten ihn erstaunt,berührten ihn freundlich und strichen sanft über seinen Leib. Da lösten sich alle Verkrampfungen. Dawich die Eiseskälte aus seinen Knochen, und er wurde durchströmt von neuer Kraft. Er schlug dieAugen auf und fand sich auf jener zweiten Höhe liegend, auf der der Ruf an sein Ohr gedrungen war:»Was willst du tun?« Verwundert stellte er fest, daß er die Antwort ganz sicher wußte: »Vater sein!«,daß sie aber gar nicht nur seine Kinder, sondern auch Marianne einschloß und viele andere.

Er richtete sich auf, um seinen Weg zu erkennen, und fand die Stadt wieder hoch über sich im ewigenSchnee liegen. Kräftig schritt er aus, um sein Ziel zu erreichen, und als hätte sich sein ganzer Körperlängst ans Wandern gewöhnt, gewann er zusehends an Höhe. Doch ihn erwartete eine herbeEnttäuschung, als er die nächste Höhe erklommen hatte. So nah war er da der Stadt bereits gekommen,daß er in der Mauer das Stadttor gewahren konnte. [204] Jetzt aber mußte er feststellen, daß ihn eintiefer Abgrund von jenem Berg trennte, auf dessen Gipfel die Stadt erbaut war, und selbst wenn erwieder hinunter in die Tiefe gestiegen wäre, die Hänge jenes Berges waren so steil, daß er sie gewißnicht würde bezwingen können. Auf einmal vollkommen erschöpft und mutlos, setzte er sich nieder.

Und da hörte er zum dritten Mal einen Ruf an sein Ohr dringen, der ihn bis ins Innerste erzitternmachte. »Wen hast du lieb?«, echote es von allen Seiten. Er versuchte an seine Frau zu denken und andie Kinder. Doch diese Gedanken wollten sich nicht halten lassen; sie lösten sich auf wie Nebelgebilde.Hilfe suchend blickte er auf. Da bemerkte er, daß sich das Tor der Stadt geöffnet hatte und Menschenhervortraten und ihm winkten. Da waren seine Eltern, die längst verstorben waren. Er hatte ihr Grab niebesucht. Da waren Verwandte und Kollegen, die vor kürzerer oder längerer Zeit der Tod ereilt hatte. Siealle winkten ihm zu, und ein jeder Wink schien die Frage zu erneuern: »Wen hast du lieb?« Eine tiefeSehnsucht erfüllte ihn, auf einen einzigen Winkenden deuten zu können, um so die Frage zubeantworten. Doch die Empfindungen der Zuneigung lösten sich stets wieder auf wie Nebel, und dieGestalten am Tor wandten sich ab und gingen wieder hinein in die Stadt. Eine nach der anderenverschwanden sie, und Erdmuth wußte mit fragloser Sicherheit, daß, wenn sie alle gegangen seinwürden, ohne daß er die Frage beantwortet hatte, das Tor sich schließen würde und ihm der Zugang

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verwehrt wäre. Schon drängten sie sich nicht mehr hervor Es warteten nur noch wenige. Nun waren esnoch zwei, noch einer, und auch dieser wandte sich ab. Da schüttelte Verzweiflung den Wanderer.Gleich, gleich würde das Tor sich schließen; gleich, gleich würde er sich ausgeschlossen finden.

Aber das Tor schloß sich nicht, und als er versuchte, den Grund dafür herauszufinden, da drang dasLied einer Amsel an sein Ohr. Jetzt konnte er den kleinen Vogel auch sehen. [205] Er saß im offenenTor der Stadt und spreizte die Flügel, wie um ihm zuzuwinken. Dabei bemerkte Erdmuth, daß eineSchwinge gebrochen war. »Erich«, rief der Wanderer, und laut tönte es über die Schlucht, »Erich, bist dues? Und ist dein Flügel denn nicht verheilt?«

Er sah sich selbst als Knaben weinend zu seiner Mutter kommen, in der Hand jenes leichteFederbündel, das er auf der Straße aufgelesen hatte. »Er hat sich den Flügel gebrochen«, hatte erschluchzend verkündet. Die Mutter aber hatte ihn getröstet, indem sie ihm erlaubte, die Amsel zubehalten und zu pflegen. Das hatte der Bub auch gern getan, und es hatte sich zwischen den ungleichenWesen eine innige Freundschaft entwickelt. Was hatte Erdmuth nicht alles unternommen, um genügendRegenwürmer zu besorgen! Bald hatte sich gezeigt, daß der Flügel, den er unter der kundigen Aufsichtseines Vaters geschient hatte, tatsächlich so weit verheilt war, daß Erich wieder fliegen konnte. Damochte ihn der Junge aber gar nicht mehr fortlassen, und der Vogel schien sich wohl zu fühlen bei ihm.Doch als im nächsten Frühling eine Amsel im Garten rief und Erich dem Ruf mit einem Gesangantwortete, aus dem Erdmuth lauter Sehnsucht nach Freiheit herauszuhören meinte, da hatte der Bub inraschem Entschluß das Fenster geöffnet und den schwarzen Kameraden hinausgelassen. Noch einmalhatte er sein Singen gehört; dann war der Vogel davongeflogen. Aber lange Zeit war er in die Träumedes Knaben zurückgekehrt, der sich sehr um seinen Schützling sorgte, auch wenn die Mutter ihmerklärte, es sei richtig gewesen, den Vogel freizulassen, und er werde sich schon zurechtfinden.

Nun sang Erich wieder, und Erdmuth war ganz sicher, daß er es war und nicht irgendeine Amsel. »Istdein Flügel denn nicht verheilt?«, echote es aus dem Abgrund. Da plötzlich erhob sich das Vöglein indie Luft, breitete die Schwingen aus und flog hinüber zu dem Wanderer. [206] Und indem es flog,wuchs es zusehends, wurde adlergroß und immer mächtiger. Da wußte Erdmuth, daß er sich ihmanvertrauen konnte. Er schwang sich auf den Rücken des großen Vogels, und der trug ihn über denAbgrund hinüber zur Stadt. Als Erdmuth im Tor abgesetzt wurde, begann auf einmal das Mauerwerkrotgolden zu glänzen. Und als sich der Wanderer umwandte, um noch einmal auf seinen Wegzurückzublicken, da bemerkte er, daß die Sonne aufgegangen war und auch sein Gewand in ihrem Lichtleuchtete. Er sah die Bergketten, dahinter die Ebene und fern, ganz fern und zugleich doch so deutlich,daß er die Schrift entziffern konnte, das Kreuz des Wegweisers. Es wuchsen Blumen darum herum wiein einem winzig kleinen Garten. Darauf aber stand: »Erdmuth Wagner«. Da wußte er, daß er am Zielseiner Wanderung angelangt war. [207]

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Nachwort

Die Sprache der Bilder an der Grenze zwischen Leben und Tod

Die Grenze zwischen Leben und Tod verläuft mitten durch unser Leben. Einmal scheint sie sehr fernzu sein, dann wieder kann sie uns plötzlich sehr naherücken. Oft denken wir nicht einmal daran, daß essie überhaupt gibt.

Dieser Grenzbereich kann auch sehr unterschiedlich erlebt werden: wie eine Mauer, an der der eigeneWeg endet, oder wie ein Grenzübergang in ein anderes Land, bei dem man wie durch eine Pforteschreitet.

Wie wir diesen Übergang sehen und erleben, hängt von unserer Lebens- und Todesanschauung undGlaubensüberzeugung sowie unseren Erfahrungen auf der Todesschwelle ab.

Ein materialistisches Weltbild kann nur zu der weit verbreiteten Auffassung >Mit dem Tod ist alleszu Ende< gelangen, denn es betrachtet den physischen Körper als die einzige Realität. Auf der Schwellezum Tod steht demzufolge eine Mauer, an der der Lebensweg im wortwörtlichen Sinne endet.

Ist mit dem Tod des Körpers alles vorbei? Bin ich identisch mit meinem Körper oder wohnen bis zuseinem physischen Tod doch Geist und Seele in ihm?

Gegenwärtig wird der Mensch vielfach auf materielle Prozesse reduziert, die sich in Raum und Zeitabspielen. Nur das Greifbare und Sichtbare wird als Realität anerkannt, nur das, was meßbar, zählbarund wägbar ist. Bewußt oder unbewußt leben wir noch immer mit dem Bild des Menschen als Maschine,von dem wiederum allerlei volkstümliche Bilder abgeleitet sind: das Herz als Pumpe, der Kopf alsComputer, der Stoffwechsel als Motor oder chemische Fabrik und so weiter. [208]

Das tief in unserer Kultur verankerte Bild vom Menschen als Maschine hat verständlicherweise zurFolge, daß es auch das Erleben des Alterns und Sterbens beeinflußt. Eine Maschine verliert zunehmendan Wert, wird abgeschrieben und durch eine andere ersetzt. Tatsächlich jedoch vergrößert sich der Wertdes Menschen mit zunehmendem Alter aufgrund seiner Lebenserfahrung.

Die Vorstellung vom Menschen als Maschine entstammt einem reduzierten Menschenbild, das demMenschen Gewalt antut und von dem unsere gesamte Gesellschaft durchdrungen ist. Ihm zufolgewerden körperliche Eigenschaften wie Gesundheit, Vitalität, ein anziehendes und makelloses Äußeres,Schlankheit, Stärke, Sportlichkeit und Produktivität überbewertet, wohingegen Krankheit, Schmerz,Behinderung, Altern und Sterben nur als >Betriebsstörung< erlebt werden können, als ein Aspekt desLebens, der soweit als möglich vermieden, bekämpft und verdrängt werden muß.

In den letzten Jahren wurden immer wieder Presseartikel, Bücher und Fernsehsendungen dem Rechtauf ein menschenwürdiges Sterben gewidmet, einem Recht, das angeblich jedem zustehe, der das ihmnoch verbleibende Leben als unwürdig erachtet. Wir sollten uns jedoch fragen, ob wir der menschlichenEntwicklung damit nicht Gewalt antun und womöglich bedeutsame Früchte des Lebens nicht reifenkönnen oder uns durch Selbsttötung oder Euthanasie sogar geraubt werden.

Eines der Bücher von Elisabeth Kübler-Ross heißt Death: the final stage of growth (frei übersetzt:Der Tod, das letzte Stadium inneren Wachstums). Dieser Titel bringt zum Ausdruck, daß inneresWachstum und geistige Entwicklung bis zum letzten Augenblick des Lebens möglich sind. In den Tagenund Stunden vor dem Sterben werden oft noch sehr wichtige geistige Entwicklungen vollzogen. [209]

Vielleicht kann man sogar behaupten, daß die wichtigsten Früchte im Leben eines Menschen selbstkurz vor dem Sterben noch reifen können. Doch auch die Phase des Älterwerdens, in der man mit einemgebrechlichen Körper leben muß, kann durch die Loslösung vom Irdischen zu geistiger Tiefe führen.

Einst entfernte ich im Herbst abgestorbene und verwelkte Pflanzen im Garten. Dabei sah ichplötzlich, daß die Stockrosen an der Spitze noch Knospen hatten und einige Blüten kurz vor dem

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Aufbrechen waren. Obwohl die Pflanzen bis oben hin verdorrte Blätter hatten und äußerlich abgestorbenzu sein schienen, war also doch noch Leben in ihnen. Ich ließ sie stehen – und sie blühten noch bis inden November hinein und verschönerten den ganzen Herbst über den verdorrten und herbstlichen Gar-ten. Diese Stockrosen wurden für mich ein kraftvolles Bild für die Tatsache, daß das Leben desMenschen bis zum Tode hin >Blüten und Früchte< tragen kann, Blüten und Früchte, die über dieSchwelle des Todes mitgenommen werden.

Wenn wir unser Augenmerk ausschließlich auf das körperliche Altern des Menschen richten, könnenwir uns nicht vorstellen, daß sich in seinem Inneren eine Metamorphose vollzieht, die beim Tod zu einerGeburt des Geistes führt, der dann, durch viele irdische Erfahrungen bereichert, zum Licht aufsteigt.

Nehmen wir beispielsweise nur die Raupe und die Puppe wahr, können wir uns nicht vorstellen, daßdaraus ein Schmetterling hervorgehen kann. Doch über das Wesen der Raupe, der Puppe und desSchmetterlings kann uns jede Phase im Entwicklungsprozeß etwas vermitteln. So ist es auch beim Men-schen: Wir können nur dann das menschliche Wesen erfassen, wenn wir alle Lebensphasen als Teileines Entwicklungsprozesses zwischen Geburt und Tod sehen können. [210]

Geht man davon aus, daß der Geist des Menschen sich beim Tod vom physischen Körper löst, soverändert sich das Bild der Grenze zwischen Leben und Tod: In der Mauer erscheint eine Öffnung, einePforte, durch die der Geist tritt.

Wer Erfahrungen damit hat, bei einem Verstorbenen zu wachen, kann wahrnehmen, wie der Geist desMenschen sich langsam vom Körper löst.

Das Gesicht des Toten verändert sich während der drei Tage vor der Beerdigung oder Einäscherung.Man kann erleben, wie verschiedene Wesenszüge des Verstorbenen während dieser drei Tage aufseinem Gesicht sichtbar werden, ja sogar, daß die eine Hälfte des Gesichts schon ausdruckslos ist,während die andere noch ein Lächeln oder tiefen Ernst zeigt.

Nach diesen drei Tagen kann man feststellen, daß der Körper nun nur noch ein >Haus< ist, das vomBewohner verlassen wurde.

Nicht nur am Lebensende werden wir mit dem Tod konfrontiert. Toon Hermans schrieb einmal:»Man stirbt nicht plötzlich, sondern jeden Tag ein wenig, doch diese kleinen Tode vergißt man.«

In unserem Leben begegnet uns die Sterblichkeit fortwährend: Wir müssen Abschied nehmen vonunserer Jugend, von Lebensphasen, von einem Haus bei einem Umzug, von einer Arbeit bei Entlassungoder Pensionierung, von einem Partner bei einer Scheidung oder dessen Tod, von unseren Kindern,wenn sie das Haus verlassen, von unserer Gesundheit bei Krankheit oder einer Behinderung. In unseremKörper werden fortwährend Zellen ab- und aufgebaut. Im Rhythmus von sieben Jahren werden alleKörperzellen durch neue ersetzt.

Während unserer ersten zwanzig Lebensjahre sind die Kräfte des Lebens stärker als die des Abbaus.Danach folgt eine Periode von rund zwanzig Jahren, in denen sich beide etwa im Gleichgewicht halten.Ungefähr vom vierzigsten Lebensjahr an werden die Abbaukräfte stärker als die des Aufbaus, was diekörperliche Alterung bewirkt. Wir leben also mit dem Tod. [211]

Goethe nannte dieses Lebensprinzip einmal: >Dieses Stirb und Werde<.

Das Sterben in unserem Leben ermöglicht das Werden, bewirkt Entwicklung. Wollen wirAugenblicke in unserem Leben dauerhaft bewahren, droht unmittelbar die Gefahr, daß unser Wachsen,unsere Entwicklung zum Stillstand kommt. Folglich stirbt unsere Möglichkeit zu wachsen, uns zu entwi-ckeln, wenn wir das Sterben aus unserem Leben verbannen. Jemand hat einmal gesagt: »Ich lebe mitdem Tod, denn ich will, daß er mich lebendig findet, wenn er mich holen kommt.«

Wenn die alten Blätter im Herbst nicht fallen, können im Frühjahr keine neuen wachsen. WennBlüten nicht verwelken, können keine Früchte und Samenkörner entstehen.

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Immer wieder müssen wir das Alte loslassen, um das Neue in unserem Leben zu ermöglichen. InChina sprach man von der >fruchtbaren Leere<. Indem wir etwas loslassen, schaffen wir Raum füretwas Neues.

Im Midrasch findet sich die Aussage. »Bei der Geburt sind unsere Hände zu Fäusten geballt, alswollten wir sagen: >Ich bin der Welt gewachsen.< Beim Tod sind unsere Hände ausgestreckt: >Ich habenichts zurückbehalten; alles ist dein, mein Gott.< «

Die geschlossene und geöffnete Hand kann man als ein Bild des sich ständig wiederholendenLebensprozesses sehen: empfangen, sich mit etwas verbinden, festhalten und wieder loslassen, um sichvon neuem mit etwas anderem verbinden zu können.

Ein Aphorismus des Dichters Novalis lautet: [212]

Wenn ein Mensch stirbt, so wird er Geist.

Wenn ein Geist stirbt, so wird er Mensch.

Bei der Geburt erleben wir den tiefgreifenden Übergang von einer geistigen, vorgeburtlichen zu einerkörperlichen Existenz auf der Erde. Diese Umwandlung erfordert Jahre sorgsamer Aufmerksamkeit,damit Menschenkinder wirklich auf der Erde ankommen und sich zu Hause fühlen. Während diesesInkarnationsprozesses müssen wir uns von der geistigen Welt lösen.

Wir mußten von einer geistigen Existenz und geistigen Wesen um uns her Abschied nehmen und unsan die Existenz auf der Erde gewöhnen, auf der wir von der Familie, in die hinein wir geboren werden,empfangen und begrüßt werden. Auch die Umwandlung zu einer Existenz nach dem Tod kann Jahre inAnspruch nehmen. Das Alter ermöglicht uns die allmähliche Loslösung von der Erde und dieUmstellung auf eine geistige Existenz. Auch dieser Lebensabschnitt erfordert sorgsame Aufmerksamkeitund vor allem Geduld (mit uns selbst) und Weisheit, um den Schmerz, der möglicherweise mit dieserLoslösung verbunden ist, zu ertragen.

So wie wir bei der Geburt von der geistigen Welt Abschied nehmen und auf der irdischen begrüßtund willkommen geheißen werden, so nehmen wir beim Tod Abschied von den Menschen um uns herund werden danach von denen, die uns vorangingen, begrüßt und willkommen geheißen. Auch auf deranderen Seite der Pforte des Todes werden wir wieder viel Zeit benötigen, um uns von unsererkörperlichen Existenz zu lösen. Mir fiel auf, wie sehr die Atmosphäre eines Raumes, in dem einKleinkind schläft, mit der eines Raumes übereinstimmt, in dem ein Toter aufgebahrt liegt.

In beiden Situationen erlebe ich eine Atmosphäre, die große Ehrfurcht erweckt und zugleich Frieden,Weihe und Ruhe ausstrahlt, eine Stimmung, die das Beste im Menschen wachruft. [213] Bei dem Totenempfindet man darüber hinaus Ernst und Trau er wegen des Verlustes, des Abschieds, den es zu nehmengilt, bei dem Kleinkind Glück, Freude und Staunen über das Wunder, daß ein Mensch zur Erde kommtund sich so verletzlich und voller Vertrauen den Menschen überläßt, die es auf Erden empfangen.

Meine Mutter erzählte mir einmal eine Erinnerung aus ihrer Jugend: »Was mich als Kindbeschäftigte, war die Frage: Woher komme ich wohl? Ich dachte, ich sei früher an einem sehr schönenOrt gewesen, den ich aus eigenem Entschluß verlassen habe, um zur Erde zu gehen. Manchmal setzte ichmich ganz allein in das dunkle Wohnzimmer und versuchte, in der Stille sehr konzentriert zu lauschenund zu sinnen, in der Hoffnung, noch etwas aus jener anderen Welt, aus der ich kam, zu erhaschen.Leider hörte ich nie etwas, aber die Sicherheit, daß es diese Welt gibt, blieb mir immer erhalten. Inmeinem späteren Leben brach manchmal ein Schimmer davon durch, es war wie der unhörbareFlügelschlag eines Engels. Es machte mich glücklich und ich fühlte mich beschützt. Gibt es einenSchutzengel? Ich habe das mehrmals gedacht und erlebt.«

Im alten Indien wurde der Lebensweg eines Menschen in einem Bild wiedergegeben:

Wir stehen auf einem Berg, von Licht umhüllt, in einem unendlichen Raum. Dann steigen wir hinab,immer tiefer schreiten wir ins Tal. Das Licht lassen wir hinter uns. Felswände türmen sich um uns auf,

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der Raum um uns her wird enger und enger. Unser Blick wird eingeschränkter, und hin und wiedernimmt eine Wolke oder Nebel uns die Sicht.

Immer tiefer gehen wir ins Tal hinab. Die grandiose, helle Welt des Lichts ist ebenso verschwundenwie die großartige weite Sicht. Nur einen kleinen Teil unserer Umgebung sehen wir noch. Unser Blickwird zunehmend von den Wäldern eingeengt, die wir auf dem Weg ins Tal passieren. [214] Wenn wir imTal angekommen sind, ist der Berggipfel, von dem wir ausgingen, unseren Blicken entschwunden; wirbehalten nur eine ferne Erinnerung daran zurück. Manchmal, an sehr hellen Tagen, ziehen dieWolkenschleier fort, und wir erhaschen einen Schimmer des wunderbaren, glänzenden Berges, der sichhoch in den blauen Himmel erhebt. Doch häufig hängen die Wolken tief im Tal, und dann ist uns jeneandere helle, klare Welt kaum noch vorstellbar. Nachdem wir eine Weile im Tal gewirkt und mitanderen Menschen gelebt haben, erklimmen wir die nächste Anhöhe. Höher und höher steigen wir.Nachdem wir eine Zeit lang von Nebel umgeben waren, gelangen wir plötzlich über die Nebelgrenzehinaus. Der Gipfel ist erreicht. Unter uns liegt im strahlenden Sonnenlicht eine weißglänzendeWolkendecke.

Wir fühlen uns in den kristallklaren, unermeßlich hellen Raum aufgenommen. Nachdem wir unsereErfahrungen im Tal verarbeitet haben, bereiten wir uns darauf vor, den Berg von neuem hinabzusteigen,wieder neue Erfahrungen zu sammeln und in einem anderen Tal wiederum Neues zu lernen. Und so gehtunser Weg >über Berg und Tal<.

Ein derartiges Bild verdeutlicht die Unendlichkeit unseres Weges. Die in unserer Kultur üblicheAuffassung, daß mit dem Tod alles vorbei sei, läßt die Grenze zwischen Leben und Tod als einehermetisch geschlossene Mauer erscheinen.

Wollen wir diese Mauer einreißen, müssen wir lernen, mit dem Tod zu leben und uns der Bildspracheauf der Grenze zwischen Leben und Tod zu öffnen, das heißt, wir müssen jenen Menschen zuhören, dieselber auf jener Schwelle gestanden haben, und ihre so genannten Nah-Todes-Erfahrungen ernstnehmen. Auch die kindliche Bildsprache und die Bilder der Natur können uns dabei helfen, die Mauerabzureißen und mit dem Tod leben zu lernen. [215] Dieses Lauschen wird in der heutigen Zeit allerdingsdurch die Art des Umgangs mit dem Tod sehr erschwert: Während er im täglichen Leben häufig demmenschlichen Auge entzogen wird, zeigt er sich umso deutlicher in den Massenmedien. Bilder inFernsehen, Film und Zeitungen konfrontieren uns auf immer härtere und rücksichtslosere Weise mit demSterben von Menschen.

Außer dem Verbergen einerseits und der spektakulären Zurschaustellung andererseits gibt es nocheine weitere Seite des Todes – vermittelt durch Bilder, die Menschen (Kranke, Sterbende undHinterbliebene) erleben und manchmal mit uns teilen.

Es sind Bilder, die die Mauer an der Grenze niederzureißen vermögen, Bilder, die trösten undermutigen und deren Kraft so groß ist, daß sie Menschen helfen können, eine Krise zu überwinden.

Wenn wir für die Sprache jener Bilder in unserem Leben und der Natur sensibel werden, werden wirsie auch verstehen und versuchen, sie in der Begegnung mit Menschen zu sprechen, die in der Nähe desTodes leben oder sich in einer ernsten Krise befinden. Dazu einige Beispiele.

Eine Frau berichtete mir, ihr Vater, ein alter Bauer, sei über sein Land gegangen und habe ihr gesagt,er werde umziehen. Sie habe vermutet, er rede Unsinn, denn es sei kein Umzug geplant gewesen. EinigeTage später sei er gestorben. Er hatte über seinen nahen Tod gesprochen.

Eine schwerkranke Frau warf den Schwestern vor, sie seien mit ihr in ein anderes Zimmer desPflegeheims umgezogen. Die Schwestern stritten das ab und sagten: »Sehen Sie nur, dasselbe Bild hängtdoch über Ihrem Bett!« – »Das haben Sie natürlich mit hierher gebracht«, erwiderte die Frau. DasGespräch endete im gegenseitigen Unverständnis. Kurz darauf verstarb die Frau.

In beiden Situationen wäre größeres Verständnis entstanden, hätte man geahnt, daß >umziehen< eineMetapher für >sterben< ist. [216]

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Märchen von Leben und Tod – Das Kind, das die Engel weinen hörte

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Der niederländische Krankenhausseelsorger Hans Stolp verdeutlicht dies in sehr bewegender Weisein seinem Buch Wenn der Tod früh kommt. Der Umgang mit schwerkranken Kindern (Als de doodvroeg komt. Omgaan met ernstig zieke kinderen, Kampen 1987), dem auch das vorhergehende Beispielentnommen ist. Er beschreibt darin seine Erfahrungen mit schwerkranken Kindern während seinerTätigkeit in einer Kinderklinik und über seine Art, auf die Bildsprache von Kindern einzugehen.

Einige Monate vor ihrem Tod verfaßt ein dreizehnjähriges Mädchen das Gedicht >Umzug<, dessenSchluß hier zitiert sei:

Fernseher, Uhr, Pflanzen und noch mehr –

alles wird nun eingepackt;

zum letzten Mal wird das Herdfeuer gelöscht

(ich hatte zwar noch Holz gehackt),

dann ... kehrt Stille ein.

Ich vergieße eine Träne und sage:

Adieu, du schönstes aller Häuser!

Auf ein Wiedersehen – vielleicht, vielleicht.

Unbewußt und intuitiv stellt das Mädchen seine Lebenssituation dar. >Umziehen< ist eines derUrbilder für das Sterben, neben anderen wie z. B. dem aus seiner Puppe schlüpfenden Schmetterling,dem Vogel, dem Überqueren eines Flusses, dem Durchschreiten einer Pforte oder eines Tunnels, der Ge-burt, dem Baum, dem Licht und der Sonne.

Nach dem Tod ihrer Tochter sagte eine Mutter: »Zum Glück wußte sie nicht, daß sie sterben würde. «Sie hatte mit ihrer Tochter nicht über deren bevorstehenden Tod sprechen können. Diese jedoch hattekurz davor gebeten: »Mama, liest du mir bitte ein Märchen vor?« Sie wünschte sich >Das Mädchen mitden Schwefelhölzchen< von Andersen. [217]

Dieses Märchen handelt einerseits von einem Mädchen, das in einer kalten Umgebung stirbt, aber esberichtet auch von Licht und Wärme, die es spürt, als es auf der Schwelle zwischen Leben und Tod ineine neue Existenz hinein geboren wird.

Der Bitte des Mädchens begegnete man in seiner Umgebung mit Unverständnis.

Bilder sind auch ein wichtiges Mittel, um eine ängstigende und bedrohliche Erfahrung auszudrücken.Hans Stolp berichtet in dem genannten Buch von einem Mädchen, das von einem Drachen geträumthatte. In ihrem Traum trieb sie in einem kleinen Boot vom Land ab. Vater, Mutter, Bruder undSchwester standen am Ufer. Plötzlich tauchte ein Drachen aus dem Wasser empor und wollte nach ihrgreifen.

Stolp beschreibt, wie er dem Mädchen zu helfen versucht habe, indem er ihre Bilder aufgriff und siefragte: »Wo ist der Drache, traust du dich, ihn zu berühren? Ihn zu streicheln? Dich auf ihn zu setzen?«Durch dieses Phantasiespiel beruhigte sich das Mädchen und überwandt seine Angst. Stolp hatte dasBild ernst genommen und war auf der Verständnisebene des Kindes darauf eingegangen.

Wir können für die Bildsprache auf der Grenze zwischen Leben und Tod sensibler werden, wenn wirversuchen, den Bildern unseres eigenen Lebens und denen der Natur zu folgen. Von Kindern können wirviel lernen, da sie einer bildlichen Sprache noch eng verbunden sind. Lebenserfahrungen, Erzählungen,Märchen und Poesie können uns helfen, die Sprache der Bilder verstehen und sprechen zu lernen. Auchdie Sprachbilder jener Menschen mit Nah-Todes-Erfahrungen können uns das Verständnis für die Bilderder Grenze zwischen Leben und Tod erschließen. [218]

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Bilder im Zusammenhang mit Lebenserfahrungen

Meine Mutter war schwer krank. Als kleines Kind durfte ich offenkundig nicht sehen, wie sie aufeiner Trage zum Kranken

wagen hinausgebracht wurde, sondern mußte in einem Hinterzimmer warten.

Ich hörte Geräusche auf dem Flur und lief zur Tür, die ich zu öffnen versuchte, was von der anderenSeite verhindert wurde. Mit aller Kraft vermochte ich sie einen Spaltbreit zu öffnen. Ich sah Männer inWeiß vorüberhuschen – und zwischen ihnen meine Mutter auf einer Trage. Ich sah nur ihr bleichesGesicht mit den geschlossenen Augen. Doch dann konnte ich den Spalt nicht länger offen halten. Hinterder geschlossenen Tür brach ich in Tränen aus.

Später erzählte meine Mutter, was damals geschehen war, und diese Erzählung hatte großen Einflußauf meine Vorstellung vom Tod und dem Leben nach dem Tod. Hier ihr Bericht:

»Kurz nach dem Krieg hatte ich eine Fehlgeburt und verlor sehr viel Blut. Die Fahrt zumKrankenhaus dauerte sehr lange, denn die Brücke lag noch zerstört in der IJssel. Ich spürte, wie ichimmer tiefer wegglitt. Nach der Behandlung im Krankenhaus hörte ich wunderbaren Gesang hoherFrauenstimmen, und ich fühlte, wie ich in den Raum emporstieg, danach jedoch, als würde ich an demSeil oder der Nabelschnur, die mit meinem Körper verbunden war, aus dem hohen Raum wiederherabgezogen und in meinen Körper zurückgedrängt.

Daran mußte ich denken, als ich vor kurzem eine Puppe ausstopfen sollte. Dafür hat man einengroßen Beutel mit Wolle, die vollständig in den kleinen Puppenkörper hineinpaßt. Ein ähnliches Gefühlhatte ich damals, als ich wieder in meinen Körper zurückkehrte: Etwas sehr Großes wurde in den kleinenKörper eingeschlossen.« [219]

Meine Mutter hatte diese Erfahrung nur wenigen Menschen mitzuteilen gewagt, da sie fürchtete,nicht ernst genommen zu werden. Diese Erinnerung aus meiner Kindheit hat mir – neben anderenErfahrungen – klargemacht, wie wichtig es ist, die Sprache der Bilder der Grenze von Leben und Todernst zu nehmen und verstehen zu lernen.

Rienk Ratsma berichtet in seinem Buch Laat nu mijn hand maar los, Alphen am Rhein 1990 (Lassjetzt ruhig meine Hand los) vom Sterben eines seiner Freunde. In einem Interview sagt er:

»Martin hatte nie etwas mit Religion zu tun haben wollen, beschäftigte sich aber vor seinemLebensende täglich mit dem großen Mysterium, das unserem irdischen Dasein folgt. Das zeigt zumBeispiel sein Bericht von der weißen Taube, die auf seiner Fensterbank landete und unablässig zu ihmhereinschaute. Er war sich gewiß, daß dies eine Bedeutung habe, obwohl er diesem Gedanken eigentlichnicht nachgeben wollte.«

Victor Frankl beschreibt in seinem Buch Trotzdem ja zum Leben sagen (München 1999) eineGrenzerfahrung aus seiner Zeit im Konzentrationslager:

»Monolog im Morgengrauen

Du stehst im Graben bei der Arbeit; grau ist die Morgendämmerung um dich, grau ist der Himmelüber dir, grau ist der Schnee im fahlen Dämmerlicht, grau sind die Lumpen, in die deine Kameradengehüllt sind, grau sind ihre Gesichter. Wieder hebst du an mit deiner Zwiesprache mit dem geliebtenWesen, oder, zum tausendsten Mal, beginnst du dein Klagen und dein Fragen zum Himmel zu schicken.Zum tausendsten Mal ringst du um eine Antwort, ringst du um den Sinn deines Leidens, deines Opfers –um den Sinn deines langsamen Sterbens. [220] In einem letzten Aufbäumen gegen die Trostlosigkeiteines Todes, der vor dir ist, fühlst du deinen Geist das Grau, das dich umgibt, durchstoßen, und indiesem letzten Aufbäumen fühlst du, wie dein Geist über diese ganze trostlose und sinnlose Welthinausdringt und auf deine letzten Fragen um einen letzten Sinn zuletzt von irgendwoher dir einsieghaftes >ja!< entgegenjubelt. Und in diesem Augenblick leuchtet ein Licht auf in einem fernen

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Fenster eines Bauerngehöfts, das wie eine Kulisse am Horizont steht, inmitten des trostlosen Grau einesdämmernden bayrischen Morgens –, >et lux in tenebris lucet<, und das Licht leuchtet in der Finsternis ...Nun hast du wieder durch Stunden den eisigen Boden aufgehackt, nun ist gerade wieder derWachtposten vorübergekommen, um dich ein wenig zu höhnen, und nun fängst du wieder an,Zwiesprache zu halten mit dem geliebten Wesen. Immer mehr fühlst du, es sei anwesend, spürst du: sieist da. Du glaubst, nach ihr greifen zu können, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um ihre Hand zufassen. Ganz stark überkommt dich das Gefühl: sie – ist – da! Da – im gleichen Augenblick – was istdas? Lautlos ist ein Vogel herbeigeflattert und läßt sich unmittelbar vor dir nieder, auf den Erdschollen,die du aus dem Graben geschaufelt, und äugt dich unverwandt und regungslos an ...« Wie ein kleinerGegenstand zu einem sehr aussagekräftigen Bild werden kann, geht aus der Erzählung Die Kerze vonWillem Brandt (siehe S. 116) hervor, in der der Autor von einer persönlichen Erfahrung in einemjapanischen Konzentrationslager im Zweiten Weltkrieg erzählt.

Die Männer hungern. Nur einer hat noch etwas zu essen: den Stummel einer Talgkerze, den ersorgfältig in einem Koffer verwahrt, um ihn zu verzehren, wenn er den Hunger nicht mehr aushielte. Esgeht auf Weihnachten zu. In der Christnacht ergreift der Mann seine Kerze. Sein Freund, der daraufhofft, auch ein Stück davon zu bekommen, erwartet, daß er sie nun verzehren werde. [221]

Aber der Mann geht hinaus, zündet die Kerze mit einem Kienspan an und stellt die brennende Kerzeauf seine Pritsche. Immer mehr Männer kommen herbei und setzen sich um die leuchtende Kerze. DasLicht dieser Kerze nährt viele Männer, und sie erleben intensiv, daß das Licht stärker ist als dieFinsternis: »Jene Kerze leuchtete höher und höher, klarer und klarer, bis zum höchsten First jenes hohendunklen Schuppens und dann übers Dach hinaus bis zu den Sternen, und alles wurde strahlend hell.Niemand hat später noch jemals so viel Licht gesehen. Und wir fühlten uns frei und aufgerichtet undspürten keinen Hunger mehr. Jene Kerze hatte nicht meinen Freund genährt und auch nicht mich – jeneKerze nährte und stärkte uns alle. Das Licht nahm kein Ende.«

Bilder der Natur

Die Natur liefert uns viele Bilder, die uns die Grenze von Leben und Tod vor Augen führen. Wirerleben diese Grenze sehr deutlich im Herbst, wenn die Blätter fallen, aber auch im Frühjahr, wenn dieNatur so überschwenglich ausschlägt. Die leuchtenden Blüten fallen schon nach wenigen Tagen wiederab.

Einmal sah ich eine Nachtkerze – jene Pflanze, an der man an Sommerabenden in kurzer Zeit diegelben Blüten sich entfalten sieht. Ihr Stengel war abgeknickt und hatte nur eine ganz dünne Verbindungmit den Wurzeln. Und doch blühte sie Abend für Abend überreichlich.

Jemand sagte einmal: »Ich hoffe, daß ich dereinst so loslassen kann wie ein Blatt, das im Herbst vomBaum fällt: das Alte loslassen und fallen lassen im Vertrauen, daß die neue Knospe sich bereits gebildethat, wie es beim Baum ist.« [222]

Als ich selbst einmal große Probleme hatte und keinen Ausweg mehr sah, erblickte ich eine jungePappel, die durch den Straßenasphalt hindurch wuchs. Dieses Bild teilte mir mit: Die Wachstumskräftesind so stark, daß sie alles durchstoßen können.

Eine Frau, die infolge einer Gehirnblutung für arbeitsunfähig erklärt worden war, berichtete: »Ichging durch den Wald. Überall waren Spinnweben, deren silberne Fäden von der tiefstehenden Sonneangestrahlt wurden. Die Fäden verliefen quer über den Weg und zerrissen, als ich hindurchging. Auch inmeinem Leben sind viele Fäden und Muster gerissen. Ich muß versuchen, neue Fäden zu spinnen, neueMuster zu weben, so daß ich wieder vorankomme.«

Auf der Heimfahrt von einem Begräbnis sah jemand vor einem dunklen Himmel einen wunderbarenRegenbogen, der mit seinen Enden den Wohnort des Verstorbenen mit seinem Grab verband.

Eine Frau hatte zwei Angehörige zugleich verloren. Einige Tage nach der Beerdigung ging sie aneinem See spazieren. Plötzlich sah sie zwei Schwäne aufsteigen und langsam fortfliegen.

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Die Menschen, die diese Erlebnisse berichteten, schöpften aus solchen Naturbildern große Kraft.

Victor Frankl beschreibt in seinem oben genannten Buch, was ein Naturbild für einen Schwerkrankenoder Sterbenden bedeuten kann. Der Autor ist bei einer schwerkranken Frau in der Krankenbarackeeines Konzentrationslagers.

»>Dieser Baum da ist der einzige Freund in meinen Einsamkeiten<, meinte sie und wies durchsFenster der Baracke. [223] Draußen stand ein Kastanienbaum gerade in Blüte, und wenn man sich zurPritsche der Kranken hinabneigte, konnte man, durch das kleine Fenster der Revierbaracke, eben nocheinen grünen den Zweig mit zwei Blütenkerzen wahrnehmen. >Mit diesem Baum spreche ich öfters<,sagt sie dann. Da werde ich stutzig und weiß nicht, wie ich ihre Worte zu deuten habe. Sollte sie delirantsein und zeitweise halluzinieren? Darum frage ich neugierig, ob der Baum ihr vielleicht auch antworte –ja? – und was er ihr da sage. Darauf gibt sie mir zur Antwort: >Er hat mir gesagt: Ich bin da – ich – bin –da – ich bin das Leben, das ewige Leben ...< «

Nachdem Anne Frank bereits zwei Jahre in ihrem Versteck gelebt hat, schreibt sie in ihr Tagebuch:

»Von meinem Lieblingsplatz auf dem Fußboden sehe ich ein Stück vom blauen Himmel, sehe denkahlen Kastanienbaum, an dessen Zweigen kleine Tropfen schillern, und die Möwen, die in ihremeleganten Gleitflug wie aus Silber scheinen. (...) Aber ich sah auch aus dem offenen Fenster über eingroßes Stück von Amsterdam hin, über alle Dächer bis an den Horizont, der so im hellen Blauverschwommen war, daß ich die Scheidungslinie nicht deutlich sehen konnte. >Solange es das nochgibt<, dachte ich, >diese strahlende Sonne, diesen wolkenlosen blauen Himmel, und ich das nocherleben kann, darf ich nicht traurig sein.<

Für jeden, der einsam oder unglücklich ist oder in Sorge, ist das beste Mittel, hinauszugehen,irgendwohin, wo er allein ist, allein mit dem Himmel, mit der Natur und Gott. Dann, nur dann fühlt man,daß alles ist wie es sein soll und daß Gott die Menschen in seiner einfachen, schönen Natur glücklichsehen will. Solange es so ist – und es wird wohl immer so sein –, weiß ich, daß es unter allen Umständeneinen Trost gibt für jeden Kummer, und ich glaube bestimmt, daß die Natur so vieles Leid erleichtert.«[224]

Die Bildsprache der Kinder

Beeindruckend sind die Zeichnungen und Äußerungen von Kindern über den Tod, die Tobias Brocherin dem Buch Wenn Kinder trauern. Wie sprechen wir über den Tod? (Zürich 1980) wiedergibt.

Ein Mädchen zeichnet den Lebenslauf als Spirale mit einem Menschen darauf, der immer älter wirdund schließlich stirbt. Auf die Lebensspirale zeichnet sie auch ein Herz. Die Linie des Körpers führt zumSarg, die des Herzens geht einen anderen Weg. Dazu schreibt sie: »Wenn ich auch mal sterbe, aber meinHerz stirbt dann nicht. Weil immer im Herzen alles gut ist. Und im Himmel ist auch alles gut.«

Ein anderes Mädchen malt ein Grab, von dem aus ein Regenbogen zum Himmel führt. An ihmklettert das Mädchen zum Himmel empor. Es schreibt: »ich stelle mir vor, daß ich auf einemRegenbogen in den Himmel klettere – und daß der liebe Gott mich in ein Baby verwandelt – und daß ichwieder zur Welt komme, und immer so weiter, daß ich immer bessere Leben habe. Wenn ich dashundertmal gemacht habe, fängt alles von vorne an.«

Ein Junge malt sein Leben ebenfalls als Spirale, in der verschiedene Ereignisse seines Lebensdargestellt sind. Die Lebenslinie besteht aus vielen Farben, deren dunkelste im Grab endet. Über dasGrab malt er jedoch in allen hellen Farben, die er auch innerhalb der Spirale benutzt hat, einen Kreis, inwelchem er aufsteigt. Dazu schreibt er: »Ich stelle mir vor, daß, wenn ich tot bin, ich bei Gott wiederaufwache.«

In seinem Buch Als de dood vroeg komt berichtet Hans Stolp über die Bildsprache von schwer krankenoder sterbenden Kindern: [225] Aus seiner reichen Erfahrung als Krankenhausseelsorger beschreibt erBilder, die Kinder benutzen, um ihre Erfahrungen und Gefühle zu ihrem Sterben auszudrücken – Bilder,

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die wir bestätigen und nachvollziehen und durch die wir der Erlebniswelt kleiner Kinder verbundenbleiben können, denn gerade diese Bilder berichten von einer neuen Wirklichkeit, in die das Kind nachseinem Tod eintritt.

In Bleib, mein goldener Vogel. Ein sterbender Kind erzählt (Solothurn 1989) beschreibt Hans Stolpderartige Bilder, die sterbende Kinder geschaut haben:

»Ich wünschte, ich wäre tot, bei Papa. Ich bin so müde. Man muß immer stark sein und kämpfen. Ichkann fast nicht mehr. Die Tränen laufen mir über die Wangen. Zum Glück ist es dunkel, niemand kannsie sehen. Neben meinem Bett strahlt plötzlich ein Lichtfleck auf. Der Lichtfleck wächst, wird zu einerGestalt, die hell glänzt. Die Gestalt sieht aus wie der Gott, der auf dem Bild von der Jakobsleiter gemaltwar. Aber noch viel schöner. Plötzlich verschwindet der Schmerz. Und ich habe keine Angst und binauch nicht mehr müde, nur noch froh und glücklich. Die Gestalt beugt sich über mich, legt eine Hand aufmeine Stirn. Sie sagt: >Vergiß nicht, daß ich immer bei dir bin, Johan, auch wenn du mich nicht siehst.<Noch nie hat sich eine Hand auf meiner Stirn so wunderbar angefühlt. Alles Unangenehmeverschwindet. Dann ist es plötzlich wieder dunkel. Unverhofft schlafe ich ein.«

Der schwerkranke Junge erzählt auch von Zeichnungen, die er erhalten hat.

»Am besten gefällt mir Suzans Bild. Sie hat einen großen Schmetterling gemalt. Der Körper istschwarz, die Flügel sind golden mit einer blauen Verzierung. Der Schmetterling fliegt zur Sonne hinauf.Auf dem Boden steht ein Mann und winkt dem Schmetterling nach. Dieses Bild finde ich amschönsten.«

Das Bild wird aufgehängt, und es scheint, als verändere sich das ganze Zimmer dadurch. [226]

Das Bild des Schmetterlings ist sehr anschaulich beschrieben in Vlinder voor Marianne (dt.:Schmetterling für Marianne) von Virginia Lee (Rotterdam 1992).

Marianne, ein kleines Mädchen, stirbt. An ihrem Bett steht ein Glas mit einem Kokon. »Und plötzlichkam neben dem Bett ein großer Schmetterling zum Vorschein und stieg langsam zur Decke auf. Dortflatterte er eine Weile herum, fand das Fenster und flog hinaus.«

Ein Schmetterling, der aus seinem Kokon schlüpft, ist ein universales Bild für das Sterben einesMenschen. Eine Verwandlung, eine Metamorphose vollzieht sich. Die Seele und das Ich, die in demMenschen gewohnt haben, verlassen die leibliche Hülle, die auf der Erde zurückbleibt. Das >Wesen<des Menschen steigt auf zum Licht. Die alten Griechen benutzten für Schmetterling und Seele dasselbeWort, nämlich >Psyche<.

In der Biographie über Elisabeth Kübler-Ross von Derek Gill (Stuttgart/Berlin 1981) wird berichtet,wie diese nach dem Krieg in ein Konzentrationslager kommt und auf vielen Wänden gezeichneteSchmetterlinge findet. Der Schmetterling wird später zum Symbol der weltweiten Elisabeth-Kübler-Ross-Stiftung, >Shanti Nilaya< (letztes Haus des Friedens).

Arie Boogert beschreibt in seinem Buch Beim Sterben von Kindern (Stuttgart 1998), wie einvierjähriges Kind, das ebenso wie seine fünfzehn Monate jüngere Schwester an Scharlach erkrankt ist,das Sterben seiner Schwester erlebt (zitiert nach der Autobiographie von Friedrich Rittelmeyer).Rittelmeyer berichtet darüber:

»In der Nacht, als sie dem Scharlach erlag, besuchte mich ein Traum, der mehr als ein Traum war.Durch das Fenster trat ein Engel ins Zimmer. Mich beachtete er nicht. [227] Aber er kam zum Bettchenmeines schlummernden Schwesterchens, nahm das Kind fürsorglich in seine Arme und entschwebte mitihm und an alles, was ich gesehen, da wurde ich sehr traurig. Es schien mir, jeder müßte davon wissen,doch wagte ich nicht, davon zu erzählen, da ich ahnte, daß niemand mir glauben würde, so klein wie ichwar, denn ich zählte erst neun Jahre.«

Diese zuletzt beschriebene Empfindung gleicht denen vieler Menschen, die eine Nahtod-Erfahrungdurchgemacht haben. Sie fühlen sich mit diesen Erlebnissen sehr allein, denn sie wagen diese kaumjemandem zu erzählen, da sie fürchten, nicht ernst genommen zu werden. Darum ist es sehr wichtig,solche Erlebnisse sehr wohl als glaubwürdig zu akzeptieren und dafür offen zu sein.

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Die Bilder, von denen Menschen berichten, die Nahtod-Erfahrungen erlebt haben, können uns auchhelfen, den Sterbeprozeß nachvollziehbar zu machen. Vertieft man sich in derartige Bilder, können siefür uns >lebendig werden< – und wir können in der Begegnung mit einem Sterbenden vielleicht ein Bildoder Gleichnis nennen, das zur Situation paßt.

Bilder in Märchen und Erzählungen

Viele Märchen geben die Erfahrungen von Menschen an der Grenze zwischen Leben und Tod inSprachbildern wieder. Das Märchen Die Sterntaler der Brüder Grimm vermittelt zum Beispiel ein Bilddes >Stirb und Werde< unseres Lebens. Indem wir loslassen, schaffen wir die Möglichkeit für etwasNeues. Das Märchen zeichnet auch ein Bild der Weltentsagung, des Loslassens aller materiellen Güter,was die Öffnung für den Geist ermöglicht. Auch ist das Märchen ein Beispiel für das christliche Idealder Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Rudolf Steiner beschreibt dies folgendermaßen: »Liebe ist wieein Glas Wasser, das sich in dem Maße füllt, in dem es geleert wird.« [230] Das Märchen kann auch alsDarstellung eines Sterbeprozesses empfunden werden, bei dem wir unsere irdischen Hüllen eine nachder anderen ablegen, so daß wir unser irdisches Kleid gegen ein himmlisches tauschen können. Habenwir dann nichts mehr und stehen völlig bloß da, empfangen wir das himmlische Gewand >vomallerfeinsten Linnen<, und die Sterne des Himmels werden zu einem Teil unseres Lebens. So verwandeltsich äußerliche Armut in inneren Reichtum.

Die Erzählung von Godfried Bomans Der König, der nicht sterben wollte (siehe S. 78) berichtet überdas Ringen des Menschen auf der Grenze zwischen Leben und Tod, mit der sich der König konfrontiertsieht. Der Arzt hat ihm mitgeteilt, daß er sterben werde. Der König jedoch glaubt es nicht, er will seinbevorstehendes Ende nicht wahrhaben. Alles, was ihn an den Tod gemahnt, der ihn holen wird, mußvernichtet werden: die Natur, die uns jedes Jahr von neuem den Prozeß von Keimen, Wachsen, Blühen,Verwelken und Sterben vor Augen führt, die Uhren, die uns daran erinnern, daß die Zeit fortschreitetund daß einmal der Augenblick unseres Todes naht.

Der Tod kündigt dem König an: »Ich komme dich holen, wenn die Blätter fallen und es halb zehnschlägt.« So läßt der König alle Bäume fällen, die ihre Blätter im Herbst verlieren, und alle Uhrenzerstören, so daß niemand mehr weiß, wie spät es ist. Dieses Märchen führt uns vor Augen, wie wir inder heutigen Zeit häufig mit dem Tode umgehen: Wir leisten Widerstand gegen den Tod bis zumÄußersten und verdrängen alles, was mit Alter und Tod zu tun hat. [231]

Märchen erzählen vom >Stirb und Werde< unseres Lebens, von Tod und Wiederauferstehung(Sneewittchen, Die drei Männlein im Walde, Brüderchen und Schwesterchen), vom Loslassen derphysischen, materiellen, irdischen Existenz (Die Sterntaler, Hans im Glück), von der Suche nach einemHeilmittel (Das Wasser des Lebens), vom Kampf gegen die Angst und von aufkeimendem Mut (DerKönigssohn, der sich vor nichts fürchtet), vom Kern, vom Wesen des Menschen, der sich in einemhäßlichen, kranken oder geschundenen Körper verbirgt (Schneeweißchen und Rosenrot, Allerleirauh,Der Eisenhans, Das Eselein, Hans mein Igel, Die Gänsehirtin am Brunnen), von der Konfrontationmit dem Tod (Der Gevatter Tod, Die Boten des Todes), vom Einander-Verlieren und Wiederfinden(Die Wassernixe) und vom Leben nach dem Tod (Frau Holle).

Viele Volksmärchen enthalten religiöse bzw. christliche Bilder, die auch in der Bibel auftauchen.Hier wie da wird der Weg des Menschen beschrieben, beide stellen bildhaft Ursprung und Zukunft desMenschen dar, seinen Weg – den der Menschheit – von der Vergangenheit durch die Gegenwart zurZukunft.

Der Beginn der Märchen verweist oft in eine Welt voller Licht, Frieden und Harmonie, z. B. beimSpiel mit der goldenen Kugel beim elterlichen Palast an einem klaren Brunnen. Der Schluß vielerMärchen – >... und sie lebten glücklich bis an ihr Ende – verweist in die Zukunft, enthält eineProphezeiung.

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Oft findet – als Bild der Vereinigung des männlichen und weiblichen Teils des Menschen, als Bildder Heilung des unsere Existenz prägenden Bruches - eine Hochzeit statt. Zwischen jener Vergangenheitund dieser Zukunft wird in farbigen Bildern der Weg des Menschen dargestellt, ein Weg, der vom Lichtdurch tiefe Finsternis und immer wieder zu einem neuen Licht führt, einem Licht, das der Mensch selbstsuchen muß.

In der Bibel beginnt der Weg des Menschen im Paradies. Wie am Anfang vieler Märchen lebt derMensch auch hier noch in Harmonie mit der Schöpfung und Gott. Das Licht ist noch nicht verdunkelt,der Mensch weiß noch nichts von Gut und Böse. [232] Wie viele Volksmärchen endet auch die Bibelmit dem Bild der Braut (in der Offenbarung des Johannes) und dem Bild eines >neuen Himmels undeiner neuen Erde<. In den Volksmärchen heißt es: >Und er regierte das Reich mit Liebe und Weisheit<.

Auch der in der Bibel gezeichnete Weg des Menschen führt aus der Vergangenheit (Paradies) zu einerfernen Zukunft: »Und ich sah ... das neue Jerusalem von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitetwie eine geschmückte Braut für ihren Mann« (Offenbarung des Johannes, 21,2).

Wie in den Märchen führt auch dieser Weg durch tiefe Täler, Finsternis und Prüfungen: Verstoßungaus dem Paradies, Sklaverei, Zug durch die Wüste, tiefe Verzweiflung (Hiob), Opfer, Tod undAuferstehung Christi, durch die der Mensch wieder seinen Weg – den der Menschwerdung – gehenkann.

In den aussichtslosesten Situationen ist auch im Märchen häufig die Rede von einem Opfer, mit demandere aus einer Verzauberung erlöst werden müssen, und auch im Märchen ermöglichen Tod undWiederauferstehen eine neue Entwicklung.

Doch zwischen den Bildern der Bibel und denen der Märchen bestehen noch viele andereBerührungspunkte: der jüngste Sohn, der einen schwierigen Auftrag ausführt, und seine Brüder, die ihnzu töten trachten; der Schwache, Unscheinbare, der sich als stärker erweist als der Angesehene; derKampf mit dem Drachen, der eine Jungfrau bedroht; der Teufel in vielen Gestalten und Verkleidungen;die Zahlen drei, sieben, zwölf und vierzig; diverse andere Bilder, wie Wasser, Brot, Wein, Hirte, König,Sonne, Baum, Kind und so weiter.

Im Grunde geben die meisten Märchen das Gleichnis vom Verlorenen Sohn aus dem Evangeliumwieder: [233] Leben beim Vater in Harmonie, Bruch dieser Harmonie durch das Hinausgehen in dieWelt, Bezauberung durch den Schein der äußeren Welt, Versinken in ein Leben tiefster Erniedrigung,Suche des Weges zurück zum Ursprung (der Verbindung mit dem Vater), Wiederaufnahme in dieHarmonie mit allen gemachten Erfahrungen und dem durchlittenen Leid.

Märchen als >Wasser des Lebens<

Wenn wir schwerkranken und sterbenden Menschen Märchen erzählen oder vorlesen, so sprechen wirvon dem Weg, den sie selbst beschreiten. Aus den Bildern können sie Kraft schöpfen, da sie erfahren,daß auf Prüfungen die Erlösung folgen kann.

Da Märchenbilder ebenso wie die Bilder der Bibel die Religiosität Kranker oder Sterbenderansprechen, helfen sie ihnen bei dem Übergang in die geistige Welt. Märchen sind wie das >Wasser desLebens<, das einzige Heilmittel, das den König heilen konnte – ein erquickender und heilender Trankaus der Quelle des Lebens. Im Märchen reichen Kind und Weiser einander die Hand. Mit einemMärchen sprechen wir in einem kranken oder sterbenden Menschen auch >das Kind< und zugleich >denWeisen< an: die Kräfte der Offenheit, der Unbefangenheit, der Verwunderung, des Glaubens und desVertrauens, verbunden mit einer tiefen, durch Lebenserfahrung erworbenen Weisheit. [234]